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Bild: A. F. Seligmann

9.

Die kalte, stille, sternenklare Nacht lag über den schneegrauen Bergen und über dem finsteren Thal. Kein Laut des Lebens; nur das Rauschen der Ache, die ihre Wellen ruhelos durch das Thor der Berge hinauswälzte in das Grödiger Moos.

In dem nahen Dorfe kein Licht. Nur schwarze Dächer. Doch in der Ferne ein matter und rauchiger Glanz: die Nachtröte der Stadt, die da draußen lag. Wie hundert winzige Sterne hing es in dieser trüben Helle. Das waren die erleuchteten Fenster der fürstlichen Pfalz. Und langsam, eines nach dem andern, erloschen die schimmernden Lichter.

Verschwommen, kaum noch vernehmlich, tönte von Salzburg her der Schlag einer Glocke durch die stille Nacht: die erste Stunde des Tages, der aus schwarzem Schoß geboren wurde, um das Licht zu bringen.

Da ließ sich am Waldsaum neben der Straße ein Rascheln im dürren Laub vernehmen, und dann ein stöhnender Laut, wie der Seufzer eines Leidenden.

»Ist dir besser ein wenig?« fragte eine zitternde Greisenstimme mit scheuem Klang.

Die gebrochene Stimme eines Weibes gab zur Antwort: »Mir ist halt, wie mir sein muß.«

»Meinst, daß wir heimgehen können?«

Ein hartes Lachen. »Wo bin ich denn daheim?«

»Bist nicht daheim in deines Vaters Haus?«

Keine Antwort kam.

Schweigend saßen die beiden am Waldsaum, ohne sich zu regen, schwarz in der Finsternis, die unter den Bäumen lag.

Noch dunkler wurde die Nacht. Zerrissene Wolkenbänder, schwer und langgezogen, schwammen von Süden über die Berge herauf. Immer weiter krochen sie am Himmel gegen die Stadt hinaus, wie die Vorboten eines Wetters, das sich in den Kesseln der Berge zusammenbraute, um sich über den Zinnen der Hohensalzburg zu entladen.

»So komm doch, schau! Die Nacht ist kalt, und du mußt ja frieren.«

»Mich kann nimmer frieren. In mir ist Feuer.« Wieder jenes harte Lachen.

Und Stille wieder.

Die Nacht ging hin auf ihren dunklen Sohlen, Stunde um Stunde. An den Häusern von Grödig glomm schon hier und dort ein Lichtschein in den kleinen Fenstern auf – die Leute erwachten zur Arbeit des Morgens. Ein scharfer Windstoß kam aus dem Thal herausgefahren, und ein kurzes Rauschen wehte über die Wipfel des Waldes hin.

»Magst nicht gehen, Kindl?«

Keine Antwort. Dann jäh die tonlose Frage: »Vater, wo ist mein Kränzlein?«

»Das ist dir aus dem Haar gefallen, derweil du von Sinnen gewesen bist.« Die Stimme des Alten versank, daß sie kaum noch zu hören war. »Ich hab's deinem Josef unter die Händ geschoben, wie sie ihn fort haben auf dem Brett.«

Ein Laut, wie das schrille Auflachen einer Irrsinnigen. Dann ein Stöhnen wie in namenloser Qual – und eine Stimme, aus welcher Schreck und Grauen zitterten: »Da mußt hergreifen, Vater!« Ein leises Geräusch, als hätte man mit der Hand über ein rauhes Brett gestrichen. »Spürst du's, Vater? ... Mein Kleid ist hart von dem roten Leben, das in die Fäden geronnen! ... Spürst du's, Vater?« Wieder ein Lachen. »So greif doch her! ... Oder thut dir grausen, Vater? ... Da thätest unrecht haben, weißt! Denn was an mir ist, schau, das ist meines Josefs Leben! Ist so viel warm und lind gewesen in ihm ... und so viel hart und kalt ist's worden an mir! ... So greif doch her!«

In diese Worte klang ein keuchender Laut, wie er in der Kehle eines Mannes würgt, der im tiefsten Weh seines Herzens keine Thräne findet. Und dann ein wilder Zornschrei in die Nacht hinaus: »Joß Friz!«

»Vater? ... Wen rufst?«

»Einen, auf den ich hören hätt sollen. Hätt ich's gethan ... der gestrige Tag wär nicht gekommen!«

Eine Weile war Stille. Dann klang die Stimme des Weibes, langsam und hart: »Warum hast nicht gehört auf den?«

»Weil die Sorg in mir gewesen ist. Die Sorg meiner Lieb ... um dich und um den Buben.«

»Das mußt mir sagen, Vater! ... Alles! ... Wer ist der Mann, nach dem du schreist in unserer Not? ... Joß Friz? Der all mein Elend nicht hätt geschehen lassen? ... Vater, wer ist das?«

Er sprach mit flüsternden Worten, in heißer Hast, und sagte ihr alles, was geschehen war in jener Sonntagnacht auf der Gern. Sie hörte ihn schweigend an. Und schwieg noch immer, als er mit zerdrückter Stimme vor sich hinkeuchte: »Verstehst mich, Kind, warum ich jetzt schreien muß: Joß Friz, wo bist?« Und als er keine Antwort hörte, fragte er: »Warum redest nicht?«

»Weil ich dir wehthun muß, wenn ich red.« –

»So thu mir weh!«

Sie schwieg.

An dem schmalen Himmelsstreif, den die aufziehenden Wolken gegen Norden und Süden noch freigelassen hatten, begann es zu dämmern. Mit schwarzem Umriß stiegen die Hügel der Ferne, die Dächer und Thürme von Salzburg in diesen falben Schein. Ein mattes Zwielicht irrte über die Wolken hin, und in dem engen Bergthal wandelte sich die Finsternis zu dumpfem Grau, aus dem die zerstreuten Schneeflecke, die in der Sonne des vorigen Tages nicht völlig zerschmolzen waren, schon herausschimmerten mit trübem Weiß.

In dem nahen Dorfe schlugen die Hunde an, als kämen Leute auf der Straße gegangen, man hörte die Hähne krähen und hörte das Läuten einer kleinen Glocke, die zur Frühmesse rief.

Da hob der Mann mit heiserem Lachen die Faust. »Beten! Beten! Und Beten! ... Und zahlen dafür, daß man beten darf! ... Und das ist alles, was sie haben für uns.« Seine Stimme zitterte vor Zorn. »Kindl, schau, ich war allzeit ein guter Christ. Aber seit ich das rote Gotteswort gesehen hab, das der Salzburger Bischof predigt, derzeit ist mir mein Christentum vergangen. Ich weiß nicht, was der Luther predigt ... aber alles, was anders ist, als wie's die Unsrigen treiben, das alles muß besser sein. Seit gestern bin ich Martinisch worden. Ich kenn den Herrgott nicht, an den ich heut glauben muß ... aber der gestrig ist der meinig nimmer!«

»Vater!« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. »Seit ich ein Kind gewesen, hab ich dich allweil reden hören wie einen Mann. Jetzt macht dich unser Elend reden wie ein Kind. Was Martinisch heißt, das weiß ich nicht. Aber eins, Vater, das weiß ich: Gott ist Gott. Und der blaue oder grüne Kittel, den sie seinem Bildstöckl anthun in der Kirch, macht ihn nicht anders, als wie er ist. Und die sein heilig Wort und Gebot versauen, die nehmen ihm kein Bröslein weg von all seiner Macht und Größ.«

»Kindl! Wie redest!«

»Ich red, wie's in mir ist! Und das ist von Gott. Von dem ist alles. Von Gott ist mein Josef gewesen, und mein liebes Glück ist von Gott gekommen. Und mein Josef ist wieder bei Gott, und bei Gott ist all mein Glück. Und Gott ist das Recht. Und die mit Gott sind, müssen wider das Unrecht sein. Drum muß ich dir wehthun, Vater, und muß dir sagen: du bist kein Christ gewesen.«

»Kindl ...«

»Du bist kein Christ gewesen!« Das war die Stimme eines Weibes – und dennoch klang sie wie die Stimme eines Mannes, in dem das Weh und der Zorn erstarrte zu eisiger Ruhe. »Sonst hättest helfen müssen, daß Gottes Recht eine feste Kirch in unserem Leben hat! Und hättest, so oft dich in deiner Seel ein Joß gerufen, sagen müssen: da bin ich, Joß! Und daß du geschwiegen hast in deiner Sorg, das ist doppelte Sünd gewesen ... an dir, an meinem Josef und an deinem Buben, von dem du nicht weißt, wo er blutet. Unrecht thun, ist Sünd. Aber Unrecht leiden und Fäust haben und sich nicht wehren um Gottes Recht, das ist doppelte Sünd. Und grad wie du, so bin ich selber gewesen. Allweil hab ich gezittert in Sorg, hab dem Unrecht geflucht und hab mir doch keinen Herren zum Feind gemacht. Und hab meinen Josef lieb gehabt und hab doch allweil gebettelt: thu nichts wider die Herren! ... Jetzt schau mich an! ... Und sag mir, was ich hab von meiner Sorg! ... Der gute Glauben, Vater, der ist Alles! Die Sorg ist schon das halbe Elend! Und recht thun ist das Beste! Und wider das Unrecht schlagen, ist frommes Werk. Und wär mein Josef noch am Leben, und thät er wieder, was er gethan hat, so müßt ich sagen: das ist recht gethan! Und einem jeden, der es ihm wehren möcht, dem thät ich das Messer in die Gurgel stoßen und thät mich köpfen lassen und lachen dazu wie der Toni. Und schau, Vater ... drum versteh ich nicht, warum du schreien mußt: Joß Friz, wo bist? ... Hast denn nicht selber eine Faust?«

Wie ein heißer Zornschrei klang es: »Zwei Fäust hab ich! Zwei!«

»Und willst mit deinen Fäusten wider das Unrecht schlagen?«

»Ich will!«

»So bist der Erst, den ich geworben hab! Und tausend will ich werben. Und meines Josefs Blut soll Feuer werden, mit dem man das Unrecht fortbrennt von der Welt, wie von einem Acker das Schadenkraut! ... Thu deinen Hals her, Vater!«

Aus ihrem starren, blutgetränkten Kleide hatte sie einen Faden hervorgezerrt. Den band sie um ihres Vaters Hals. »Das Fädlein, dem mein Josef die Farb gegeben, das soll nimmer kommen von deinem Hals, eh nicht das schuldlose Blut ...«

Jäh verstummend erhob sie sich und blickte in der grauen Dämmerung, die schon lichter geworden, über die Straße hinaus.

Da kamen zwei Menschen gegangen: ein Bursch in Bauerntracht, dem das Gehen sauer wurde, und eine junge Dirn, die ihn stützte.

»Hast Schmerzen, Bruder?« fragte das Mädchen, während es näher kam.

»Daß ich schier nimmer weiter kann!«

»Nur noch ein bißl thu dich plagen! Schau, jetzt hab ich dich bald daheim! Und da sollst ...« Erschrocken verstummte die Dirn und sah das Weib an, das vom Waldsaum auf die Straße getreten war. Im Grau des Morgens erkannte sie die Gesellin, mit der sie auf dem Wagen nach Salzburg gefahren.

Ihr Bruder fragte: »Wer ist denn die?«

»Die Berchtesgadnerin, die der arme Josef geheuert hat ... und die gestern so rot geworden ist.«

Langsam trat Maralen den beiden entgegen: »Dirn, geh ein Stückl Wegs voraus! Ich muß ein Wörtl mit deinem Bruder reden.«

Es war ein Ton in dieser Stimme, daß in der Dirn ein Gedanke an Widerspruch nicht aufkam. Sie gab die Hand ihres Bruders frei und ging mit scheuem Blick an dem jungen Weib vorüber.

Maralen stand vor dem Burschen und fragte leis: »Wer bist?«

»Ein Schelm!« So klang die Antwort in Zorn und mit heiserem Lachen. »Das hat mir der Salzburger mit Blut auf den Buckel geschrieben. Und was die Herren sagen, muß wahr sein, gelt!«

»Wahr muß sein, was Gott sagt und das Recht. Und Gott muß sagen: ›An dir ist ein blutiges Unrecht geschehen.‹ Und was die Herren auf deinen Buckel geschrieben ... willst das heimtragen, du? Und willst das Unrecht leiden, wie ein Kindl das Zahnen? Und willst nicht merken, daß dir Gott eine Faust gegeben, mit der du schlagen sollst? Und willst deinen blutstarren Buckel genesen lassen, daß du ihn bald wieder bucken kannst für den nächsten Rutenhieb?«

Mit einem Fluch die Faust ballend, wandte der Bursch das Gesicht nach der Stadt zurück.

Da legte ihm Maralen die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Ich will deinem Zorn ein Wörtl sagen! Lus auf!«

Er sah ihr in die Augen, die in dem bleichen Gesichte brannten mit heißem Feuer. »So red!«

»Die wider das Unrecht sind, mit denen ist Gott. Und Gottes Hilf, die macht alle Schwachen stark. Und wenn du tausend Brüder hättest, die wider das Unrecht schlagen ... thätest du's halten mit ihnen?«

»Lieber heut als morgen!« keuchte der Bursch durch die Zähne, die er im Schmerz aufeinander biß.

Maralen nickte. Sie nahm den Saum ihres Kleides auf und zerrte aus dem Gewebe einen starren Faden – starr von dem eingetrockneten Blut. Langsam zog sie den Faden durch die Finger, daß er geschmeidiger wurde, und band ihn um den Hals des Burschen: »Du Bruder vom roten Fädlein! Thu deinen Schwur in meine Hand!«

Er faßte die Hand des jungen Weibes. »Was muß ich schwören?«

»Daß du den roten Faden nimmer abthun willst von deinem Hals, eh nicht der zahlende Tag gekommen.«

»Ich schwör's.«

»Und daß du meinem Gottesbund ein treuer Bruder sein willst, treu auf Leben und Sterben.«

»Ich schwör's.«

»Und daß du schweigen willst wie der Stein in der Wand, und zu keinem ein Wörtl reden, zu deinem Vater nicht, zu deiner Mutter nicht, zu deiner Schwester nicht, zu deiner Liebsten nicht, zu keiner Seel!«

»Ich schwör's! Und was muß ich noch wissen? Was muß ich thun? Wann muß ich schlagen?«

Bild: A. F. Seligmann

Maralen schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Wenn in der Nacht ein Feuer brennt auf dem Untersberg, auf dem Totenmann und auf dem hohen Göhl, dann such dir eine Wehr, die schneidig ist. Und eh die Glock zur Frühmeß läutet, sollst du mit deinem Eisen zu Schellenberg vor dem Leuthaus stehen ... auf dem Fleck, auf dem mein Josef den Bruder Matthäus hat trinken lassen.«

Stumm nickte der Bursch und blickte mit heiserem Lachen gegen die Stadt zurück, über deren Mauern der wolkenlose Himmelsstreif von tiefem Rot überleuchtet war.

»So geh! Und laß deine Schmerzen rasten! ... Guten Morgen, Bruder!«

»Guten Morgen auch, Schwester!« Mühsamen Schrittes ging der Bursch davon und zog die Schultern auf, als möchte er die drückenden Falten seines Kittels von dem wunden Rücken lösen. Dann kam er wieder zurück und sagte: »Wenn du werben willst, so geh nach Salzburg hinein. Und du findest hundert Brüder in jeder Stund! Deine unschuldige Not und deines Josefs Blut, die laufen in den Gassen um wie Feuer. In allen Herbergen und Leuthäusern ist ein wildes Schreien gewesen die ganze Nacht. Den Freimann, wie er aus der Festung gekommen, haben sie halb tot geschlagen, und haben dem Richter Gold an seinem Haus alle Fenster eingeworfen und die Hausthür mit Saublut angestrichen. Die Salzburger haben lang schon genug an ihrem Herren, der an ihrem Gut und Leben hängt wie ein Egel. Und was er gestern gethan, das hat dem geduldigen Faß den Boden ausgeschlagen. Geh nach Salzburg hinein! Und tausend Brüder hast!«

»Ich weiß mir tausend, die ich näher und fester hab. Geh heim! Und schau zum Himmel hinauf ... das Wetter, das kommen soll, das muß aus den Bergen wachsen!«

Maralen wandte sich von dem Burschen und ging ein Stücklein die Straße hinaus, denn sie sah drei Menschen kommen, ein Weib und eine Dirn, die einen graubärtigen Knappen an beiden Armen stützten. Noch ehe Maralen die drei erreichte, zog sie schon den Faden aus ihrem Kleid. –

Die Röte, die an dem freien Himmelsstreif im Osten erschien, floß mit purpurnem Schein über alle Wolken hin. Die schwarzblauen Schatten und die roten Lichter kämpften auf dem drängenden Gewölk, als würde dort oben eine Schlacht zwischen den Geistern des Tages und der Finsternis geschlagen; bald verschlang ein Schatten die aufgeglommene Helle, bald wieder drang der lichte Schimmer in die dunklen Klüfte der Wolken.

Noch lag das weite Feld und das enge Thal im trüben Grau. Doch die Höhen der beschneiten Berge begannen schon mit tiefem Rot zu brennen. Immer weiter floß dieser Blutschein über die Wälder nieder – und als die Sonne, der eine flimmernde Strahlengarbe voranschoß, langsam aus der Tiefe stieg, da ging es wie ein rotes Fluten über die Wolken und über den Grund der Erde. Alles und alles glostete in diesem Feuer, und die ferne Stadt, das ebene Feld, die Straße, der Bach, das enge Thal und die steilen Waldgehänge, alles war überronnen wie mit brennendem Blut. Sogar die Schatten in ihrer Schwärze hatten noch roten Schein.

Immer tiefer goß sich der Blutglanz dieses Morgens in das Thal der Ache hinein, bis die enger werdende Schlucht sich zu wenden begann und die vortretenden Berge sich in die rote Lichtflut schoben. Doch der Schnee, der immer reichlicher lag, je tiefer sich das Thal in die Berge senkte, spiegelte im Schattenblau des Morgens die rote Glut, mit der die Wolken leuchteten.

Und langsam erlosch der blutende Glanz, der so jäh gekommen. Die Sonne war über das dichte Gewölk gestiegen, das alle Helle des Morgens aufsog in seine drängenden Nebelmassen. Als wäre schon wieder der Abend da, so wurden die Berge trüb und grau. Der Himmel war dunkel – der Schnee allein schien all die müde Helle des jungen Tages auszustrahlen.

Ein scharfer, kalter Wind fuhr aus dem Thal heraus und über die Berge nieder. Die auf der Straße, von Salzburg her, den Heimweg suchten, langsam und schmerzenmüde, konnten schon von weitem hören, wie in der Burghut am Hangenden Stein die eiserne Wetterfahne auf dem Hausdach kreischte.

Als die Ersten, jener junge Bursch und seine Schwester, das Straßenthor erreichten, fanden sie das Fallgitter noch geschlossen. Das wurde erst eine Stunde nach Tagesanbruch aufgezogen.

Die beiden setzten sich auf eine steinerne Bank in einem Winkel der Thorhalle. Nach einer Weile kam der graubärtige Sachse mit seinem Weib und seiner Tochter; dann ein junger Knappe mit seiner Mutter, ein Bauer mit seinem Buben, ein paar andere noch – bis es zwölf von den Neunzehn waren, die der Salzburger ›ungekränkt‹ entlassen hatte.

Nur die Weiber jammerten und schalten. Die Männer schwiegen. Doch jeder suchte mit fragendem Blick in den Augen des anderen zu lesen – und wenn einer [von] ihnen nach seinem Halse griff, als hätte er ein ungewohntes Gefühl an der Kehle, dann lächelten die anderen so seltsam – und lächelten noch, auch wenn sie stöhnen mußten unter den Schmerzen, die auf ihren blutenden Rücken brannten.

Die Glocke auf dem Schellenberger Kirchthurm schlug die siebente Morgenstunde. Über der Thorhalle hörte man den Klang von Schritten, und ächzend ging das Fallgitter in die Höhe.

Der Weg war offen.

»Du! Die Mannsleut mußt dir anschauen!« sagte auf der Thorbastei der Wärtel zu dem Knecht, der ihm geholfen hatte das Gitter aufzuziehen. »Da geht ein jeder, als thät er Eier auf dem Buckel tragen.«

Und der Knecht meinte: »Ist eh noch gut, wenn der Salzburger bloß den gesalzenen Stecken gelupft hat. Zwölf sind durch. Neune fehlen noch. Und ob die kommen ... da möcht ich meine Morgensupp nicht verwetten drum.«

»Thu nicht so laut, du!« flüsterte der Wärtel. »Der Bub, an dem unser Herr den Narren gefressen, sitzt in seiner Stub da drunten am offenen Fenster. Und der Herr hat uns das Maul verboten über alles, was gestern gewesen ist.«

»Wegen dem Buben doch nicht! Bloß wegen dem Fräulen, weißt ...«

»Sei still!«

Der Wärtel trat in die kleine Wachtstube, die auf der Bastei an die Mauer gebaut war – und der Knecht stieg über ein hölzernes Trepplein des Wehrganges in den Burghof hinunter.

Trübe Morgenhelle dämmerte über dem Hof. Doch windstill war es zwischen den Mauern, obwohl es in der Höhe pfiff und sauste.

An des Thurners Wohnhaus war die Flurthür noch geschlossen. Aber die verglaste Thür der kleinen Altane stand schon offen.

Zwischen Stall und Scheune gingen Knechte hin und her, holten Wasser vom Brunnen und trugen in Körben das Futter für die Stallthiere.

Im Wehrhaus, in einer ebenerdigen Stube, saß Juliander am offenen Fenster. Frisch geschnitzte Armbrustbolzen und weiße Taubenfedern lagen auf dem Gesimse vor ihm. Doch seine Hände ruhten. Den Kopf an die Mauer gelehnt, sinnenden Ernst auf der Stirn und in den blauen Augen, blickte er zum Wohnhaus hinüber, hinauf zu der kleinen Altane. Der Schritt des Knechtes, der vorüber ging, weckte ihn aus seinem Schauen und Träumen. Er atmete tief und fuhr mit der Hand über die Augen. Dann begann er die Arbeit wieder, nahm eine Feder, zog die Fahne von der Spule und fügte sie mit Kitt in den Falz eines Bolzenschaftes. Da klang im Hof die Stimme des Fräuleins: »Lorenz! Der Vater will wissen, ob der Rottmann schon heimgekommen ist von Salzburg?«

»Nein, Fräulen.«

»So sollst zum Vater hinein, in die Kammer!«

Beim Klang dieser Stimme war das Blut in Julianders Gesicht gestiegen. Doch er blickte nicht auf und wandte doppelten Eifer an seine Arbeit. Auch als ein leichter Schritt immer näher kam und die Helle seines Fensters sich verdunkelte, hob er die Augen nicht. Morella stand eine Weile vor dem Fenster und schien auf einen Gruß zu warten. Und weil Juliander so ganz versunken war in seine Arbeit, daß er weder zu sehen noch zu hören schien, legte sie die Arme über das Gesims und rief: »He! Du! Was machst du denn da?«

»Bolzen thu ich fiedern. Das hat mir Euer Vater gezeigt, gestern am Abend.«

»Und hat das so große Eil, daß du gleich gar nimmer aufschauen darfst?«

Jetzt hob er das Gesicht und fragte ein wenig verwirrt: »Bist schon wieder gesund, Fräulen?«

»Gesund?« Ihr Ärger schien verflogen, und heiter lachte sie auf. »Ich bin ja doch gar nicht krank gewesen. Die dumme Resi hat sich eingebildet, ich hätt mich verkühlt. Und da hat sie's mit ihrem heißen Würzwein so gut gemeint, daß ich den ganzen Tag verduselt hab bis in die Nacht hinein.«

Juliander lächelte. »Gottlob, Fräulen, weil du mir nur nicht kranken thust!« Er atmete auf, und wie Sonne war es in seinen glänzenden Augen.

Sie sah ihn an, wie man ein sonderbares Ding betrachtet. »Bub! Wie du schauen kannst!«

Ein sausender Windstoß ging über die Dächer hin. »Grob Wetter wird kommen!« meinte Juliander.

Und Morella sagte: »In so böser Zeit, da hab ich unser altes Haus am liebsten. Da geht das wilde Lärmen hoch über alle Dächer weg. Und bei uns herunten, zwischen den Mauern, da ist's allweil still und warm.«

Während die beiden hinaufsahen in das treibende Gewölk, ließ der Wärtel am Thor die Brücke nieder, und der Rottmann, den der Thurner so ungeduldig erwartete, trabte auf dampfendem Maulthier in den Hof. »Wo ist der Herr?«

»Geh nur hinein,« rief ihm Morella zu, »der Vater wartet schon.« Dann sah sie schweigend auf Julianders Hände, der die Arbeit an den Bolzen wieder aufgenommen hatte. »Du, das machst du aber gut!« Sie nahm von den Bolzen einen und betrachtete ihn mit Kennerblick. »Besser fiedert auch der Wärtel keinen Bolz. Und der kann's am besten! ... Da muß ich einen Probschuß machen!« Sie eilte ins Haus und in die Stube. Aus der Kammer hörte sie die zornbebende Stimme des Vaters. Aber sie horchte nicht auf, nahm die Armbrust von der Wand des Erkers und eilte in den Hof zurück. »Juliander!« rief sie, während sie mit Anstrengung die Sehne der zierlich gearbeiteten Waffe spannte. »Komm und bring einen Bolzen ... oder zwei!«

Um den Umweg durch die Thüre zu sparen, sprang er gleich durchs Fenster.

Sie lachte, nahm einen Bolzen und legte ihn auf die Schiene der Armbrust. »Siehst du den braunen Astfleck, da drüben am Wehrgang, auf dem dicken Balken?«

»Wohl.«

Wie ein gelernter Schütze stellte sie die Füßchen breit, legte die Armbrust an die Wange, holte Atem und nahm ihr Ziel. Die Sehne schwirrte – und mitten in dem braunen Fleck des Balkens stak der Bolz. Mit einem leisen Ruf der Freude ließ sie die Waffe sinken, und in ihren Augen blitzte der Stolz über den guten Schuß. Ein wenig spöttisch und überlegen fragte sie: »Magst du's auch versuchen?«

Er nickte, nahm ihr ohne viel Umstände die Armbrust aus der Hand, spannte mit leichtem Zug die Sehne und schoß. Man hörte einen Schlag, als wäre der Schuß ins Holz gefahren; doch man sah im Balken keinen zweiten Bolzen stecken. Auflachend sagte Morella: »Das ist daneben gegangen, irgendwo in die Bretter hinein.« Noch die Armbrust in der Hand, ging Juliander schweigend auf den Balken zu. Dann wandte er lächelnd das Gesicht. »Schau her, Fräulen!« Sie kam und machte große Augen – die beiden Bolzen staken so dicht nebeneinander im Holze, daß sie auf die dreißig Schritte ausgesehen hatten wie ein einziger Schaft. Verwundert sah Morella den Burschen an. »Wo hast du denn das gelernt?«

»Wir haben von Ähnls Zeiten her so eine Wehr daheim. Und weißt, in der Gern, da fliegen viel Stößer und Sperber um. Unsere Hennen und Tauben wären nicht sicher, wenn ich nicht ein bißl schießen könnt.« Als er's gesagt hatte, fiel ihm erst ein, daß der Schuß nach dem Sperber verboten war. Verlegen stammelte er: »Das ist mir jetzt so herausgerutscht ... aber gelt, du sagst es keinem?«

Lachend schüttelte sie den Kopf, daß ihr die zausigen Löcklein tanzten.

»Das ist doch auch ein Unrecht, daß man so was verbietet. Ich kann doch nicht ruhig zusehen, wenn der Sperber meine Tauben würgt.«

»Hast recht! Und bist du wieder daheim und es kommt einer, so schieß ihn nur herunter!« Sie nahm die Armbrust aus seiner Hand. »Aber jetzt zieh die Bolzen aus dem Holz!«

Das ging nicht so leicht. Die beiden Bolzen schienen wie verwachsen – Juliander mußte sie alle beide mit einem Ruck aus dem Holze reißen. Und ohne die Schäfte zu zerbrechen, waren sie nicht mehr von einander zu trennen – die Spitze des einen war durch den Stahlring des anderen in das Holz gedrungen – und diesen Ring nannte man ›das Leben‹ an einem Bolz.

Julianders Wangen glühten. Er hätte nicht fühlen müssen, was scheu und verschlossen in seinem Herzen glomm, und wäre kein Kind des Volkes gewesen, hätte dieser Vorfall nicht eine abergläubische Deutung in ihm erweckt. Ganz beklommen hielt er dem Fräulein auf der flachen Hand das verkettete Pärchen hin, und seine Stimme zitterte, als er sagte: »Da, schau!«

Doch Morella, mit ihrem heiteren Lachen, sah nichts anderes, als einen merkwürdigen Zufall. »Wie das nur sein kann, daß ein Bolz dem anderen so tief ins Leben geht! ... Da mußt du schon gleich zwei neue machen, daß der Vater keinen vermißt.«

Er nickte stumm und ging auf das Wehrhaus zu.

Als er in seiner Stube schon wieder bei der Arbeit saß, kam Morella an das Fenster. »Du! ... Was fragen hab ich dich noch wollen.« Juliander blickte auf und schob die zitternden Hände hastig unter das Gesims.

Die Armbrust am Band um die Schulter hängend, legte sich Morella mit dem Arm ins Fenster. »Das möcht ich wissen, und das mußt du mir sagen ... ob er wieder gesund geworden ist?«

»Wer, Fräulen?«

»Der, von dem du gesungen hast in deinem Lied: Jung Hänslein? Ist er wieder genesen von dem bösen Schuß?«

Juliander besann sich und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«

Da furchte sie in Unwillen die dunklen Brauen, und das strenge Hasenmäulchen zuckte. »Man denkt doch über solch ein Lied hinaus noch weiter!«

Er sah sie an, mit dürstender Schwermut in den Augen, und sagte langsam: »Dem ist der Bolz ins Leben gegangen. Gestern, wie ich gesungen hab ... oder heut erst ... schau, das weiß ich nimmer ... da hab ich mir allweil denken müssen: er ist in den Burggraben gefallen und das Wasser hat ihn behalten. Und das Grafenkind ist allweil auf der Mauer gestanden und hat hinuntergeschaut ins Wasser. Und ihr liebes Gesichtl ist ganz weiß geworden. Denn wie das Hänslein tot gewesen, da hat sie erst gemerkt ...«

»Räpplein! He! Räpplein!« klang von der Hausthür her die erregte Stimme des Thurners.

»Ja, Babbo, ich komm!« Doch ihre Hand blieb auf dem Fensterrahmen liegen, und so stand sie und sah den Burschen an, mit einem ganz erstaunten Blick.

Da schrie Herr Lenhard schon wieder: »Räpplein! He! So komm doch!«

»Ja, Babbo!« Sie eilte davon und zum Haus hinüber. Als sie den Vater ansah, merkte sie gleich, daß er Sturm unter den Haaren hatte. Und weil sie wußte, daß der Rottmann heimgekommen, fragte sie: »Hat der Salzburger die Zehrung nicht gezahlt für seinen Durchzug?«

»Die hat er gezahlt, jeder Pfennig ist da.« Herr Lenhard nahm sein Kind bei der Hand. »Aber komm in die Stub herein, ich muß dir was sagen!«

Sie traten in die Stube, und Morella fragte mit einem Blick der Sorge: »Babbo?«

Dem Thurner schien eine würgende Hand an der Kehle zu liegen. Um Luft in seinen Hals zu bringen, mußte er mit einem welschen Fluch die Faust auf die Tischplatte schmettern. Dann schrie er mit einer Stimme, daß die Fenster klirrten: »Meiner Seel, die Herren treiben's, daß ich schon selber bald wünschen möcht ...« Seinen Wunsch verschluckte er. Doch sein Zorn war nicht beschwichtigt. Nach einem stürmischen Marsch durch die Stube drohte er mit erhobenem Finger gegen die Thür. »Sie sollen sich hüten! Und sollen ihren langmütigen Herrgott bitten um Verstand! Oder dem stillen Wesen, das umgeht im ganzen Land und in allen Köpfen, wachsen über Nacht die eisernen Fäust und ein schreiendes Maul! ... Dann gnad euch Gott, ihr Herren!«

»Babbo!« stammelte Morella erschrocken.

Herr Lenhard sah sein Kind an und schien den Ausbruch seines Zorns zu bereuen. Die Backen aufblasend, ein wenig ruhiger geworden, kam er auf Morella zugegangen und nahm ihr Köpfchen zwischen die Hände. »Räpplein, ich hab dir gestern einen heißen Schoppen eingießen lassen, daß du schlafen und nicht sehen sollst. Aber jetzt muß ich dir alles sagen, denn du mußt mir helfen.«

»Um Christi willen! Babbo!« Mit großen, angstvollen Augen sah sie zu ihm auf. »Was ist denn geschehen?«

»Der Salzburger hat gestern gehaust in meiner Pflegschaft, wie ein satter Wolf im Pferch ... fressen mag er schon nimmer, und allweil zerreißt er noch! ... Räpplein, nimm dein Herz in feste Händ! Denn ich weiß, du bist den Menschen gut, die leiden müssen.«

Er sagte ihr alles, was zu Schellenberg auf dem Dorfplatz und zu Salzburg auf der Nonnthaler Wiese geschehen war. »Und das junge Weib, das gestern so rot geworden ist von ihres Mannes Blut ... denk, Räpplein, das ist die Schwester von dem armen Buben da draußen.«

»Ach Gott ...« Ganz bleich war sie geworden, und ihre erschrockenen Augen schwammen in Thränen.

»Und jetzt sei tapfer, Mädel! Das mußt du ihm beibringen ...«

»Babbo! Nein ... nein ...« Sie wehrte entsetzt mit der Hand.

»Ja, Räpplein! Ein gutes Wörtl aus liebem Mund ist besser für solche Botschaft als ein Männerfluch! Bleib nur, ich schick dir den Buben gleich herein!«

»Babbo, Babbo ...«

Doch Herr Lenhard war schon zur Thüre draußen.

Zitternd stand Morella inmitten der Stube, noch immer die Armbrust in der Hand. Und immer sah sie mit ihren nassen Augen nach der Thür – und zuckte zusammen, als sie im Hausflur einen Schritt vernahm.

Juliander trat in die Stube. »Euer Vater, Fräulen, der hat mich zu dir geschickt.« Das sagte er mit einem Glanz in den Augen, als hätte er eine Freude erlebt.

Schweigend ging Morella zum Erker, um die Armbrust fortzulegen. Dort stand sie eine Weile, das Gesicht zum Fenster gewendet, die Hände an das kleine Tischlein geklammert. Dann richtete sie sich auf, als hätte sie plötzlich den Entschluß erzwungen, und ging auf Juliander zu, in ihren Augen einen Blick des Erbarmens, warm und herzlich. »Komm Juliander!« Sie nahm seine beiden Hände und zog ihn zur Bank. »Ich muß dir was sagen ... komm, setz dich da her zu mir!«

Wie er sie ansah – das war wie der Blick eines Träumenden. Und er schien gar nicht zu wissen, daß er mit lauten Worten aussprach, was er dachte. »So gut und lieb bist allweil ... du ... und der Thurner auch ... der hat mir grad ein Wörtl gesagt, wie's mein Vater nicht wärmer sagen könnt.«

»Was ich dir sagen muß, das ist hart, Juliander!«

Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Was du mir sagst, das kann doch nie nicht hart sein!«

Weil sie nicht sprechen konnte, nickte sie nur.

Da las er die Sorge in ihren Augen und schien zu fühlen: Das ist Sorge um mich! Er wurde ernst und besann sich eine Weile, bevor er fragte: »Hat leicht der Salzburger von Eurem Vater begehrt, daß er mich vor Gericht liefert?« Nun lächelte er wieder und sagte ruhig: »Soll mich der Thurner halt geben! Lieber leid ich alles, eh daß dein Vater um meinetwegen eine Unbill haben sollt!«

Noch fester schloß sich ihre Hand um die seine, und ihre schwimmenden Augen sahen ihn an, als hätte die lächelnde Ruhe dieses Wortes sie bewegt in ihrem Innersten. Nun plötzlich schien ihr das Sprechen leichter zu werden. Und sie sagte ihm alles – mit ihrer linden, süßen Stimme, die immer ein wenig zitterte – und auch für das Härteste fand sie noch ein mildes Wort.

Bild: A. F. Seligmann

Die rote Nachricht wirkte auf Juliander, daß Morella erschrak. Wie zu Stein geworden, saß er vor ihr, das Gesicht entfärbt, die Augen verstört, in der Brust den kämpfenden Atem und ein Schluchzen, das sich nicht hinaufrang in die Kehle und keine Thräne fand. Sie wollte ihn trösten und wußte nicht, wie – sie suchte nach Worten und fand nicht, was sie ihm sagen sollte – und so that sie, wozu ihr Herz und das Erbarmen sie trieb. Wie man ein Kind beruhigt, das zu Tod erschrocken ist, so strich sie ihm mit der Hand übers Haar, streichelte ihm die Wangen und küßte ihn leis auf die heißen Augen, die nicht weinen konnten.

Da sprang er auf, streckte zitternd die Arme nach ihr, bewegte mit tonlosem Gestammel die Lippen, schlug die Hände vor das Gesicht und taumelte aus der Stube.

Morella saß noch immer auf der Bank, als Herr Lenhard eintrat. »Der arme Bub!« sagte er. »Als thät die Welt untergehen, so ist er an mir vorbei.« Er sah die Tochter an. »Räpplein? Was hast du? Ist dir der Kummer des Buben so tief gegangen?«

Langsam erhob sie sich und strich mit der Hand über die Stirn, als wäre ein Denken und Fühlen in ihr, das sie selbst nicht klar zu erfassen vermochte. »Babbo ...« Wie ein Schleier lag es auf ihrer Stimme. »In dem Buben muß die Lieb zu den Seinen tief sein wie ein Brunnen! ... Und in dem Buben ist so viel dankbare Treu ... der könnt sterben für uns, bloß daß ich ein Blüml hab oder du einen Trunk, nach dem dich dürstet.« Sie ging auf den Vater zu und sagte ernst: »Babbo! Den Buben mußt du heimschicken zu seinem Vater und zu seiner Schwester.«

Herr Lenhard schnaufte tief und zeigte ein finsteres Gesicht. »Räpplein, das geht jetzt nimmer, auch wenn ich wollt. Es ist wahr, ich hab den Salzburger Knechten das Wort vom festen Verwahr auf mein ritterlich Wort nur gesagt, weil ich den Buben für mich behalten hab wollen. Aber jetzt kann ich 's nimmer ändern. Und denk, was auf der Nonnthaler Wies geschehen ist. Ob Unschuld oder Schuld, der Bub wär keinen Schritt mehr sicher. Und das wirst du doch auch nicht wollen, daß der Salzburger den Buben ...«

Sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Nein, Babbo! Nein!« Und schlang die Arme um seinen Hals. »Da laß ihn nur nimmer aus! Und wenn er Jahr und Tag bei uns bleiben müßt! ... Der Bub ist's wert, daß wir uns sorgen um ihn.«

»So!« Herr Lenhard konnte lachen bei aller Erregung, die in ihm war. »So? Kommst du schön langsam auf meinen Gusto? Weißt, Räpplein, ich hab eine gute Nas. Und was an dem Buben ist, das hab ich gemerkt in der ersten Stund. Gieb nur acht, der wird dir noch allweil besser gefallen! Und einen Landsknecht will ich machen aus ihm, wie der Kaiser keinen bessern hat. Morgen fang ich die Schul mit dem kurzen Spieß an. Das lernt er bald. Und dann kommt der Langspieß dran, Stoß und Parad von Spieß wider Spieß, der Hochstich gegen den Reiter und der Ausfall zum Igel ...«

Während der Thurner diese pädagogischen Pläne schmiedete, lag Juliander in seiner Kammer drüben auf das Bett geworfen, das Gesicht in die Arme gegraben. Sein Schmerz war ohne Laut. Doch sein Kopf und seine Schultern zuckten unter dem Schluchzen, das sich stumm nach innen würgte. Stunde um Stunde lag er so.

Dann saß er auf dem Rand des Bettes, die schlaffen Hände auf den Knieen, ohne sich zu regen, mit den heißen Augen immer niederstarrend auf die Dielen.

Ein kaltes Licht erfüllte die Kammer, denn draußen vor dem Fenster sank es wie ein weißer Schleier nieder. Der Sturm in den Lüften war still geworden, und es hatte zu schneien begonnen.

Als es Mittag wurde, kam Herr Lenhard selbst und brachte für Juliander das Essen und einen Krug mit Wein. »Komm, Bub! Jetzt iß ein Bröslein und schluck einen festen Zug! Was uns weh thut, macht uns hungern und dürsten. Die tiefsten Züg hab ich allweil gethan, wenn mir ein lieb Ding aus meinem Leben gefallen ist.« Er legte den Arm um Juliander und führte ihn zum Tisch. »Und einen Knecht hab ich auch schon fortgeschickt, daß dein Vater und deine Schwester kommen sollen.«

»Vergeltsgott, du guter Herr!« Tief atmete Juliander auf. Seine geballten Fäuste zuckten, und wie Feuer brannten seine Augen. »Wenn du nicht wärst und dein liebes Kind ... heut müßt ich allem fluchen, was Herr heißt!«

»So!« Mit grimmigem Lachen wandte sich Herr Lenhard zur Thüre. »Da wär halt ein Fluchwort mehr in der Welt ... und alles wär, wie's ist.«

Als er hinüber kam ins Wohnhaus, stand Morella unter dem Schleier der fallenden Flocken auf der Schwelle. »Wie geht's ihm, Babbo?«

»Daß ich Erbarmen mit ihm haben muß!«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sagte zögernd: »Meinst nicht, ich soll eine Arbeit für ihn suchen ... bei der ich ihm helfen könnt?«

Der Thurner schüttelte den Kopf. »Den müssen wir schon allein lassen. Die kleinen Schmerzen schreien nach einem Tröster. Aber die großen, Räpplein, machen alles am liebsten mit sich allein aus.«

Er klopfte den Schnee von den Schuhen und trat ins Haus.

Nach einer Weile kam der Knecht, den Herr Lenhard zum Wiesengütl geschickt hatte, mit der Nachricht zurück: er hätte keinen Menschen im Lehen gefunden, die Thür der Herdstube wäre verschlossen gewesen und im Stalle hätten die hungernden Kühe gebrüllt.

»Gehst halt am Abend wieder hin!«

Während der Thurner und Morella bei der Mahlzeit saßen, hörten sie von der Thorbastei den Hornruf, der die Ankunft von Gästen verkündete.

»Wer kann denn kommen?« fragten sie alle beide und eilten zur Hausthür.

Das Thor war schon geöffnet, die Brücke niedergelassen. Auf schönem Rappen, welcher zierlich tänzelte, kam ein Junker in den Hof geritten – eine schmucke Jünglingsgestalt, ein hübsches und lachendes Gesicht. Dem Gaste war es augenscheinlich darum zu thun, mit seinem Anblick gute Wirkung zu erzielen. Noch auf der Brücke hatte er den Schnee von seinem breitkrempigen, mit langen Straußenfedern geschmückten Hut geschüttelt, und nun ließ er den beschneiten Mantel von den Schultern gleiten. Er trug die Adelskette um den Hals und war nach der Mode gekleidet: das bunte Gewand von den Schultern bis zu den Knieen gebändert, zerhauen und geschlitzt, mit Seide in allen Farben gepufft und gesprenkelt. Er war anzusehen wie das lebendig gewordene Farbenkästlein eines Malers.

»Babbo? Wer ist das?«

»Ich weiß nicht!«

Dem Junker folgten vier gepanzerte Reiter und eine bejahrte Frau in bürgerlichem Gewand, die im Stuhlsattel auf einem Maulthier saß.

»Die tragen ja die Frundsbergischen Farben!« sagte Herr Lenhard und meinte die Reiter. Und Morella meinte die alte Frau, als sie lachend rief: »Babbo! Das ist ja die Hanna von der Mindelburg!«

Das Waffengeklirr der Gepanzerten und der Lärm der Hufe, deren Geklapper der dünne Schnee nicht dämpfen konnte, klang in Julianders Kammer. Hier stand das Mahl, das Herr Lenhard gebracht, noch immer unberührt. Wohl hatte sich Juliander an den Tisch gesetzt, zu dem ihn der Thurner geführt, doch seine Arme hingen wie tot an ihm hinunter, und sein Kopf war gegen die Mauer gesunken. Er schien den Lärm da draußen im Hof nicht zu hören. Doch als die helle, heitere Stimme des Fräuleins klang, erwachte Juliander aus seiner Starrheit. Langsam wandte er die verstörten Augen zum Fenster, und da konnte er sehen, wie der Junker sich vor Morella verneigte, wie er ihre Hand faßte und zierlich hob, um das Fräulein mit höfischer Galanterie in das Haus zu führen.

Dunkel strömte das Blut in Julianders bleiche Wangen.

Lange war da draußen schon jeder Laut verstummt, die Pferde waren geborgen, die Reiter im Wohnhaus untergebracht, die Stapfen im Schnee schon wieder halb verschneit – und noch immer starrte Juliander hinaus in den Schleierfall der weißen Flocken. Dann griff er mit zitternden Fingern an seine Augen, warf sich über den Tisch und wühlte das Gesicht in die Arme.

Und wieder – nach Stunden – weckte ihn die Stimme Morellas. In einen Mantel gehüllt, die schwarzen Haare behangen mit weißen Flocken, ging sie unter heiterem Geplauder mit dem fremden Junker über den Hof und zu einer Stiege des Wehrganges. Juliander konnte die zierlichen Reden des Junkers und das Lachen des Fräuleins hören. Es war ein Uebermut in diesem Lachen, als hätte sie süßen Wein getrunken, den sie früher noch nie gekostet.

Immer wieder hörte Juliander dieses Lachen, immer wieder klang es aus den Luken des Wehrganges, bis die beiden Stimmen hinter dem alten Thurm erloschen.

Als der Abend dämmerte und die fallenden Flocken im Grau der Luft nicht mehr zu sehen waren, verließ ein Knecht den Burghof. Nach einer Stunde, als es schon dunkel geworden, kehrte er zurück. Und ein alter Bauer kam mit ihm.

»Wart ein Weil!« sagte der Knecht, während die Brücke aufgezogen wurde. »Erst muß ich dem Herren sagen, daß du da bist.« Er ging in das Haus und traf im Flur den Thurner, der mit Frau Resi aus dem Keller heraufgestiegen kam. Aus der Stube hörte man das Geklimper einer Laute und den Klang einer geschulten Stimme:

»Die Röslein sind zu brechen Zeit,
Und der da klug ist, bricht sie heut,
Denn wer sie nicht im Sommer bricht,
Den freuen sie im Winter nicht.«

Der Knecht ging auf den Thurner zu. »Herr, des Buben Vater steht draußen.«

Herr Lenhard stellte den Thonkrug nieder, den er aus dem Keller gebracht. »Führ den Alten in die Thorstub! Ich komm gleich.« Er klopfte den Kellerstaub von seinen Händen und wollte dem Knechte folgen. Aber da blieb er stehen und horchte auf das Lied, das aus der Stube klang:

»Die Röslein muß man brechen sacht.
In stiller Stund, zur Mitternacht,
Da ist ihr Duft so süß und fein,
Wie nie am Tag im Sonnenschein.«

Bild: A. F. Seligmann

Der Thurner runzelte die Stirn und rief über die Schulter: »Resi! Mach dir in der Stub zu schaffen, bis ich komm! Der Junker geht mir ein bißl gar zu scharf ins Zeug!« Er verließ das Haus und schritt über den finsteren Hof zu der matt erleuchteten Thorstube hinüber.

Es dauerte nicht lang, und Herr Lenhard trat mit dem Bauern in den fallenden Schnee heraus. »So, Alter! jetzt weißt du alles, und jetzt geh hinein zu deinem Buben! Da drüben im Wehrhaus, wo das Spanlicht aus dem Fenster scheint, da sitzt er in seiner Kammer. Und sei verständig, Alter, und mach dem Buben den Kopf nicht scheu! So lang er bei mir ist, hat er sein Leben sicher vor dem Salzburger. Und kommen kannst du, so oft du magst! ... Gut Nacht, Alter!«

»Vergeltsgott, Herr!« sagte Witting. »Vergeltsgott für alles, was Ihr an meinem Buben gethan!«

Mit hastigen Schritten kehrte der Thurner ins Haus zurück.

Witting stand noch eine Weile im Schnee und spähte mit scheuem Blick in dem finsteren Hof umher und über all die erleuchteten Fenster hin. Dann ging er auf das Wehrhaus zu.

Als er in die kleine Kammer trat, die von einer Glutpfanne schwül erwärmt und von einem an der Mauer brennenden Kienlicht mit zuckendem Schein erleuchtet war, fuhr Juliander vom Sessel auf. »Vater!« Das war kein verständliches Wort, nur ein schluchzender Laut.

»Grüß Gott halt, Bub! ... Weil ich nur weiß, wo du bist! Und weil ich dich wieder seh!«

Ihre Hände hielten sich umschlossen, und so standen sie schweigend voreinander, Aug in Auge, als wüßten sie mit Blicken besser zu reden, als mit Worten.

Das währte lange, bis Juliander aufatmend sagte: »Gelt Vater ... harte Zeit ist kommen über uns!«

»Ja, Bub! Wird wohl hart sein!« Dem Alten zitterten die Kniee. Er ließ sich auf den Rand des Bettes nieder. »Komm, setz dich ein bißl her zu mir!«

Mit zögernden Worten – als möchte der eine den Kummer des andern schonen, oder als hätte jeder vor dem andern etwas zu verbergen – so scheu und zurückhaltend sprachen sie von allem, was geschehen, und von dem armen, jungen Glück, durch das die Schneide eines ungerechten Schwertes gefahren.

Vor sich hinnickend, strich Witting mit müder Hand über sein graues Haar: »Mit dem Josef und dem Lenli seinem Glück ist's gegangen wie mit dem Brautmahl im Schellenberger Leuthaus ... das haben wir bezahlt mit dem letzten Schilling, und keines hat gegessen davon.« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, und so saß er eine stumme Weile.

»Warum ist denn das Lenli nicht gekommen?« fragte Juliander mit zerdrückter Stimme. »Hätt ihr so gern ein liebes Wörtl gesagt.«

Der Alte ließ die Hände sinken, und in seinen nassen Augen glomm es auf wie das Feuer verschlossenen Zornes. »Die geht zu keines Herren Thür mehr hinein, oder man müßt sie mit Ketten ziehen. Und hätt mich die Sorg um dich nicht hergetrieben ...« er verstummte und lauschte scheu auf die Stimmen der Knechte, die draußen im Flur mit Lachen und Schwatzen an der Thür vorübergingen.

»Ist das Lenli bei uns daheim?«

Witting schüttelte den Kopf. »Sie will im Wiesengütl bleiben, als ihres Josefs Weib ... und will ...« Er kämpfte um jedes Wort. »Und will das rote Kleid gar nimmer abthun ... und will das Blut nicht aus dem Haar waschen, und will ...« Ein Schauer rann ihm über den Nacken. »Bub! Wenn du unser Lenli sehen möchtest ... gar nimmer kennen thätst das liebe Ding!« Immer tiefer sank dem Alten der Kopf auf die Brust.

Schweigend hatte Juliander nach der Hand des Vaters gegriffen, und in langsamen Tropfen fiel es ihm von den Augen auf die Lippen nieder.

Nach einer Weile fing Witting wieder zu reden an: daß er im Wiesengütl bleiben wolle, bis sich das Lenli in den harten Kummer und in das einsame Hausen eingewöhnt hätte; daß er gar nicht wisse, wie es daheim in der Gern mit dem Lehen stünde und wie die neue Magd so allein für sich mit der Arbeit vorwärts käme; und daß er später, nach der ersten harten Zeit, immer ein paar Tage zu Schellenberg für das Lenli schaffen und dann wieder ein paar Tage heimkehren wolle, um in der Gern nach dem Rechten zu sehen – bis der Bub wieder freien Weg hätte und das Lehen daheim übernehmen könne. Doch während Witting das alles sagte, schien er mit den Gedanken nur halb bei seinen Worten zu sein. Eine wachsende Unruh zitterte in seiner Stimme, mit scheuen Blicken spähte er immer wieder nach dem Fenster und lauschte gegen die Thür, in seinen Augen und Zügen wechselten die Zeichen eines Zornes, der nach einem Ausbruch dürstete, mit allen Zeichen angstvoller Sorge – und immer, während er redete, wühlte er mit der Faust in einer Tasche seines Kittels, als trüge er in dieser Tasche etwas verborgen, was er zeigen und doch verstecken möchte. Und plötzlich unterbrach er sich mitten im Wort und flüsterte: »Ich muß dir was sagen, Bub!«

»Was, Vater?«

Der Alte zögerte. Wieder spähte er nach dem Fenster – und es schien, als wäre ihm ein anderes Wort als jenes, das er sprechen wollte, auf die Zunge getreten. »Julei ...« stammelte er, »was mir der Thurner gesagt hat, daß er Gutes an dir gethan ... ist das wahr, Bub?«

»Ja, Vater, das ist wahr! Einen besseren Herren giebt's nimmer auf der Welt. Wenn der Thurner und sein liebes Fräulen nicht wär, so hättest mich erstochen auf der Straße gefunden, oder mein Kopf thät zu Salzburg auf der Mauer stecken.«

Mit einer hastigen Bewegung, mit einem Blick der zärtlichsten Sorge legte Witting den Arm um die Schulter seines Buben – und schwieg.

Da sah Juliander den braunen Faden, den der Alte um den Hals gebunden trug. »Vater, was hast denn da?«

Im gleichen Augenblick hörte man schwere Schritte draußen im Flur, die Thüre wurde aufgerissen, und Herr Lenhard trat in die Stube. »Bauer,« sagte er, »ich vergönn dir das Bleiben bei deinem Buben ... aber schau, jetzt muß ich dich fortschicken. Es geht auf die Thorstund zu.«

Witting erhob sich. »Freilich, da muß ich fort!« Das sagte er so seltsam, als wäre ein doppeltes Empfinden in ihm: der Kummer, daß er von seinem Buben scheiden mußte, und Freude darüber, daß jenes Wort, das er dem Buben hätte sagen sollen, jetzt ungesprochen blieb. Es war wie ein Blick des Dankes, mit dem der Alte zum Thurner aufsah – wie ein Blick, welcher bettelte: Herr, sei meinem Buben gut!

Und Herr Lenhard, als hätte er diesen Blick verstanden, sagte mit zufriedenem Lachen: »Kannst ohne Sorg sein, Bauer! Dein braver Bub ist gut aufgehoben bei mir!«

Mit zitternden Fäusten umklammerte Witting die Hand des Sohnes. »Soll dich halt der liebe Herrgott hüten!«

»Behüt dich Gott auch, Vater! Und thu mir das arme Lenli grüßen, gelt!«

Schweigend nickte der Alte, und noch immer wollte er die Hand seines Buben nicht lassen.

Herr Lenhard öffnete die Thür und brummte: »Mach weiter, Bauer, der Wärtel muß schließen!«

Witting verließ die Stube. Unter der Thüre wandte er noch einmal das Gesicht, nickte seinem Buben zu und atmete erleichtert auf.

Als er draußen auf der Straße stand, in der Nacht und im stillen Fall der Flocken, sah er zu, wie das Thor sich schloß und wie die Brücke mit rasselnden Ketten hinaufging.

»Gott sei Lob und Dank! Der Bub ist hinter guter Mauer!«

Er wandte sich und ging dem Dorfe zu. Sein Schritt gab in dem tiefen Schnee keinen Laut. Keuchend ging ihm der Atem, während er den steilen Hang hinaufstieg, der zum Wiesengütl führte. Vor der Schwelle blieb er stehen und drückte den Arm über die Augen, als wäre in ihm ein Grauen vor dem Bild, das er wieder sehen sollte. Nun öffnete er die Thür und trat in die Herdstube. »Da bin ich, Lenli!«

Beim flackernden Feuer saß Maralen auf dem Herdrand, die Hände im Schoß und regungslos wie ein versteintes Geschöpf. Nur ihre Augen hatten Leben und sahen mit stummer Frage den Vater an. Noch immer trug sie das starr und braun gewordene Kleid der Hochzeit, nur die Brautschürze und das Kränzlein fehlte. Wie eine dunkle schwere Haube lag ihr das blutgetränkte Haar um den Kopf, und auf der bleichen Stirn und an den Schläfen sah man noch braune, halbverwaschene Flecken.

Schweigend hörte sie zu, während der Vater erzählte: wie er den Buben gefunden und was mit ihm geschehen, wie freundlich der Thurner an ihm gehandelt hätte und wie sicher der Bub bei dem guten Herren aufgehoben wäre. Ein hartes Lächeln irrte um den bleichen Mund des Weibes, als Witting das Wort von dem ›guten Herrn‹ sagte. Und als er schwieg, fragte Maralen mit rauher Stimme: »Hat der Bub geschworen?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Es ist nicht Zeit gewesen, daß ich hätt reden können mit ihm.« Er griff in die Tasche seines Kittels und legte einen starren Faden auf Maralens Hand. »Da hast dein Fädlein wieder!« Er wandte sich ab, griff mit zitternder Hand nach einem Holzscheit und schob es in die Herdflamme, die lodernd brannte und keine Nahrung nötig hatte.

Maralen schleuderte den Faden in das Feuer und lachte auf. Dann erhob sie sich, hüllte ein rotes Tuch um Kopf und Schultern, nickte einen stummen Gruß und ging zur Thüre.

»Kind!« stammelte der Alte. »Was willst denn?«

»Werben.«

»Die Nacht ist finster, Lenli! Und der Schnee geht nieder!«

»Mein Weg ist in der Nacht so sicher, wie dein Bub bei seinem guten Herren! Und je kälter der Schnee, um so besser kühlt er, was brennt.« Sie hatte die Thür geöffnet. Und lachte wieder. »Mußt dich nicht verstellen, Vater! Dich kenn ich, weißt! Als hättest vor deiner Brust eine gläserne Scheib! Und ich seh: dein Herz ist ein doppeltes worden, ein rotes und ein weißes. Das rote ist mutiger Zorn um mein Elend, das weiße ist mutlose Sorg um meinen Bruder. Denk an deinen sicheren Buben, Vater ... und mich laß werben! Gut Nacht!«

»Lenli!« rief er und streckte die Arme.

Aber sie hatte die Stube schon verlassen – und als er zur Thüre sprang, sah er draußen nur die finstere Nacht und das leuchtende Viereck, das der Schein des Herdfeuers in das Gewirbel der Flocken zeichnete.

»Lenli! Lenli!« schrie er. Doch keine Antwort kam.

Er rannte in die Nacht hinaus, suchte hin und her und konnte im Schnee den Weg nicht finden, den Maralen gegangen.

Bild: A. F. Seligmann


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