Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 30

Am andern Morgen, zu früher Stunde schon, verließ Desertus das Stift und ging dem Klösterlein der frommen Schwestern zu.

Einige Stunden später wanderte Herr Heinrich nach dem See. Als er am Eggehof vorüberkam, sah er beim Hag, der das Gehöft vom Polzerlehen trennte, den Eggebauer mit Wolfrat beisammenstehen. Der Bauer ließ den Kopf hängen. Wolfrat hatte ihm den Einarm um die Schultern gelegt und schien dem Bekümmerten herzlich zuzusprechen.

Mit sinnendem Lächeln schritt Herr Heinrich dahin unter dem welkenden Laubdach der die Straße geleitenden Bäume. »Wieder einer, der im Schatten die Sonne fand! Freilich, nur einer! Aber laß einen einzigen Tropfen in den See fallen, er zieht doch immer seine Wellen und rühret hundert andere!«

Nach einer Stunde erreichte Herr Heinrich die Seelände. Die beiden Fischerknechte, die mit dem Spannen der feuchten Netze beschäftigt waren, zogen die Kappen und traten ihm entgegen.

»Habt ihr den Jäger nicht herkommen sehen über den Steig?«

»Den Haymo? Nein, Herr!«

»Dann habet acht eine Weil! Er wird wohl kommen. Doch braucht ihr ihm nicht zu sagen, daß ich nach ihm fragte. Saget ihm nur: wenn er mich etwa sprechen wollte, dann fänd er mich beim neuen Haus.«

Herr Heinrich ging, und die Knechte glotzten ihm nach.

Es währte nicht lang, so hörte man auf dem Steig ein Griesbeil klirren und klappernde Schritte näher kommen.

Haymo tauchte unter den Bäumen auf. Sein Gang war langsam und müde; das Gesicht sah verhärmt aus, obwohl es gerötet war, denn er hatte schwer getragen; die Armbrust war um seinen Hals gehängt, und der Rücken mit einem vollgestopften Bergsack beladen.

»Was tragst du da?« fragte einer der Knechte.

»Mein Sach!« erwiderte Haymo mit zuckenden Lippen.

»Was ist denn? Es liegt doch allweil noch kein Schnee droben? Ziehst du schon ab von der Röt?«

Der Jäger nickte.

»Mußt du in ein anderes Revier? Auf den Roint oder auf den Griesberg hinauf?«

Haymo schüttelte den Kopf.

»Wo willst du denn hin jetzt?«

»Ins Kloster hinein zum Herrn.«

»Den kannst du näher haben. Grad ist er zum neuen Haus hinaufgegangen.«

»Zum neuen Haus?« Haymo sah verloren auf und tat einen schweren Atemzug. »Kann ich bei euch derweil meinen Sack einstellen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er in die Fischerhütte, legte den Bergsack in die Stube, nickte den Knechten einen Gruß zu und folgte der Straße.

Das ›neue Haus‹ war leicht zu finden. Über die goldig schimmernden Baumwipfel leuchtete das weiße Schindeldach herüber mit dem bändergeschmückten Tannenbäumchen. Als sich Haymo zögernd dem Tor näherte, das den frisch geflochtenen Hag durchbrach, blieb er stehen, wie von freudigem Schreck betroffen. Es war ihm, als hätte er aus einem der offenen Fenster ein klingendes Lachen gehört. Er lauschte. Alles blieb still. Ein bitteres Lächeln zitterte um seinen Mund. War ihm das in diesen langen, bangen Wochen nicht zu hundert Malen geschehen? Wenn er durch den stillen Bergwald gestiegen, oder gipfelwärts über ödes Gestein, versunken in seine träumende Sehnsucht, dann hatte er plötzlich diese liebe, klingende Stimme gehört, bald wie aus weiter Ferne, bald wieder, als wäre sie dicht an seinem Ohr. Und hatte er sich mit stockendem Herzschlag umgewandt, so waren rings um ihn her nur die leeren Lüfte gewesen, der stille Wald und die schweigenden Felsen. Und wenn er in dunkler Nacht auf der Wolfshaut lag, vor Ermüdung fiebernd an allen Gliedern, wenn nach martervollem Sinnen und Grübeln der Schlaf ihm die Lider schwer machte, daß sie sanken, dann klang es plötzlich hell und weckend in seinem Schlummer: »Haymo!« Und er fuhr in die Höhe, strich die zitternde Hand über die Stirn und lauschte, und fand sich allein, umgeben von tiefer Finsternis, und nur seine Seufzer klangen in der stummen Hütte.

»Es geht mir überall nach!« murmelte er, während er mit irrem Blick das stattliche Haus überflog.

Zögernd betrat er den Hofraum und erbleichte, als er einer alten Ulme zu Füßen, auf einem mossigen Steinblock, Herrn Heinrich sitzen sah.

»Haymo? Du?«

Der Jäger zog die Kappe, und während er sie zwischen den Händen zerknüllte, trat er näher mit gesenktem Kopf.

»Grüß Gott, Herr!«

»Wie kommst du da her? Was hat dich ins Tal geführt?«

»Herr!« Die Stimme des Jägers schwankte. »Heut ist der Michelstag.«

»Der Michelstag?« sagte Herr Heinrich erstaunt. »Richtig, der Michelstag! So, so! Der Michelstag? Und deshalb kommst du herunter?«

»Wohl! Ich hätt nimmer bleiben dürfen, auch wenn ich mögen hätt.« Immer leiser wurde Haymos Stimme. »Heut geht mein Dienst aus.«

»Richtig, richtig! Von heut an hab ich um einen Klosterjäger weniger. Und weniger um den besten. Und nun bist du gekommen und willst mir Behüt Euch Gott sagen, gelt? Und dann willst du dir einen neuen Herrn suchen?«

Haymo knüllte an der Kappe, verdrehte den Kopf, als quäle ihn ein Krampf im Nacken, und zog die Brauen zusammen wie einer, der auf der Folter liegt und doch keinen Schmerzenslaut will hören lassen. »So rede doch, Haymo, schau mich an!«

Nur noch tiefer senkte Haymo den Kopf, während er mit heiserer Stimme Wort um Wort vor sich hinstieß: »Ich bitt, Herr, daß Ihr es kurz machet! Wenn's mich auch gleich nimmer fortlassen will – von Euch – fort muß ich doch.«

»Mußt du? So? Und was willst du jetzt?«

»Was ich wollen muß! Ein einziges halt! Grad noch ein einzigs im Leben! Allweil das einzig! Und ich weiß kein Straßl nimmer, wo ich's find. Ich hab mich verschuldigt, jetzt muß ich's büßen. Und wenn ich gleich einmal noch hinlauf an mein Glück – es bleibt nur ein halbes.« Er wandte sich ab.

»Haymo!«

Der Jäger erzitterte bei dem warmen, herzlichen Klang seines Namens.

»Hab ich recht gehört? Du möchtest gern bleiben bei mir?«

Haymo sagte nicht Ja und nickte nicht mit dem Kopf; er wandte sich nur noch mehr von Herrn Heinrich ab und drückte das Kinn an die Brust.

Der Propst betrachtete ihn eine Weile mit leisem Lächeln. »Also bleiben möchtest du? Schau, Haymo, das merk ich gern, daß ich dir lieb geworden bin als Herr. Schade! Warum hast du nicht früher gesprochen? Denn jetzt – jetzt wird es zu spät sein. Heut ist der Michelstag. Du bist nicht mehr mein Klosterjäger.«

Ein schwerer Atemzug erschütterte die Brust des Jägers.

Immer fröhlicher lächelte Herr Heinrich. »Wer weiß, wir zwei hätten vielleicht noch können auf gleich kommen miteinander.«

Haymos Augen streiften den Propst mit einem scheuen Blick.

»Aber Pater Desertus hat im letzten Kapitel einen Antrag gestellt, und der ist durchgegangen. Das Stift hat einen Wildmeister ernannt, von heut an. Der soll über die ganze Jägerei des Klosters gesetzt sein. Er ist ein weidgerechter und strenger Jäger. Wie ich ihn kenne, wird er seine Leute fest an der Schnur halten. Und mit einem, der aus Mutwill oder Narretei seinen Dienst aufsagt, mit solch einem wird er sich schwer befreunden. Meinst du nicht auch? – Was hast du denn? Schaust du dir das Haus dort an? Ein schmuckes Haus, gelt? Da soll der neue Wildmeister wohnen. Über vier Wochen hält er Hochzeit. Schau, Haymo, dort unter der Tür, das ist sein Bräutl.«

Haymo, dem die Kappe entfallen war, stand mit zitternden Händen und wankenden Knien. Jetzt erblassend, dann wieder die Wangen überflogen von brennendem Rot, riß er Mund und Augen auf und starrte nach der Tür, aus welcher Pater Desertus trat, Gittli an seiner Hand. Wie hold und schmuck war das Mädchen anzusehen! Ein roter Rock umfloß in weichen Falten ihre schlanke Gestalt, aber er war nicht kurz geschnitten nach Bauernart, sondern reichte, wie bei einem Fräulein, bis auf die Fußspitzen; schneeweißes Linnen umbauschte die Schultern und Arme, und knapp spannte sich ein dunkelgrünes, mit Silber verschnürtes Mieder um die junge Brust. Gittlis Augen leuchteten, wie glühende Rosen lag es auf ihren Wangen, und gleich einer schwarzen Krone schmückten die straff geflochtenen Zöpfe ihre Stirn.

Haymo lallte mit schwerer Zunge. Aber da hatte ihn Gittli schon erblickt und kam auf ihn zugeflogen mit freudigem Schrei. Stammelnd und schluchzend hing sie an seinem Hals, während Haymo, durch das über ihn herstürzende Glück um alle Besinnung gebracht, noch immer mit den Händen ins Leere tappte. Gittli nahm sich nicht einmal die Zeit zu einem Kuß. Hastig löste sie sich wieder von Haymos Brust, und mit der einen Hand seinen Arm umfassend, griff sie mit der anderen nach der Hand des Paters.

»Gelt, Herr Pater, gelt, ja? Ich darf ihm gleich alles zeigen?«

Desertus nickte mit frohen Augen. Und da zog sie den Stammelnden mit sich fort, unter sprudelnden Worten: »So schau doch, Haymo, schau! Was sagst du? Schau dir das schöne Haus an! Da sollen wir wohnen miteinander, hat der gute Pater gesagt! Und schau nur, das steinerne Bankl vor der Tür! Da können wir sitzen und Haimgart halten auf den Abend, hat der gute Pater gesagt. Und er selber wird manchmal kommen,  hat er gesagt. Wie der uns mögen tut, ich sag dir's, ein Vater kann seine Kinder nit lieber haben. Und schau, Haymo, schau, in das leere Nischerl über der Tür, hat er gesagt, da kommt ein Muttergottesbild hinein. Das tut unser Haus hüten und unser Glück! Aber schau nur, das Anwesen da drüben, das hast du noch gar nit gesehen! Da kommen zwei Pferd hinein, hat er gesagt, und vier Küh, daß wir Milch haben, grad was wir brauchen. Und, du –« Sie schlug die Hände ineinander, und ihre Augen gingen über vor Entzücken. »Du! Das Kucherl muß ich dir zeigen! Ich sag dir, da glänzet alles vor lauter Kupferzeug! So komm doch, komm –«

Mit beiden Händen faßte sie seinen Arm und zog ihn zur Tür hinein.

Im dämmerigen Hausflur stand er still und preßte die Fäuste auf die Brust.

Noch immer begriff er nicht. Aber eines schien er doch endlich zu glauben: daß wirklich und leibhaftig sein Mädchen vor ihm stand. Und plötzlich, unter stammelndem Laut, umschlang er Gittli mit heißem Kuß.

Draußen stand der Propst neben dem schweigsamen Chorherren.

»Komm, Dietwald!« sagte Herr Heinrich lachend. »Den Kuß warten wir nicht ab, bis er ein Ende nimmt. Komm, laß uns gehen! Sie sollen diese Stunde für sich allein haben. Wenn sie so weit aus ihrem seligen Rausch erwachen, um nach einem Dritten fragen zu können, dann suchen sie dich schon.«

Noch lange hing Desertus mit den Augen an der Tür, bis er sich loszureißen vermochte, um dem Propst zu folgen. Zwischen goldig leuchtenden Hecken schritten sie der Straße zu. Weiß glänzte ihnen im Sonnenschein der See entgegen.

Desertus legte die Hand auf Herrn Heinrichs Arm.

»Ich will Euch ein Rätsel zu lösen geben! Was ist wärmer als diese Sonne, lichter als dieser Tag, reiner als dieser klare See?«

»Deines Kindes Glück. Und deines Herzens Freude. Ja, Dietwald, du hast recht getan! Ich habe dir meinen Rat nicht aufgedrängt. Hier mußte dein eigenes Herz die richtige Sprache finden, ganz allein. Und du hast sie gefunden.«

»Hätt ich mich besinnen sollen? Nur einen Augenblick? Was wollte ich mehr als meiner Tochter Glück? Jeder andere Weg hätte Weh und Elend über sie gebracht, hätte ihr Leben zerstört und alle Blüten abgestreift von ihrem holden Dasein. Und kein Rang und Name, nicht Glanz und Reichtum hätte sie dafür entschädigt. Ist das Leben noch Leben, wenn ihm die Sonne fehlt, das Glück? Hätte mich in jener finsteren Nacht, die mir alles nahm, das Schicksal vor die Wahl gestellt: willst du bleiben, was du bist, oder willst du ein Bettler werden und nur das Glück deines Herzens mit hinübertragen in die arme Hütte? – glaubt Ihr, ich hätte mich besonnen? Und hätt ich nun anders wählen sollen für mein Kind? Was sie um ihres Glückes willen verliert? Entbehrt sie es denn? Würde sie den Geliebten ihrer Liebe werter halten, wenn er den Schild am Arm und die Helmzier über den Locken trüge? Und ich?« Desertus lächelte. »Haymo ist ein freier Mann. Und verwahrt er auch keinen Adelsbrief in seinem Schrank, er trägt auf seiner Stirn den Adel tüchtiger Mannheit und eines treuen, redlichen Gemüts. Ich lieb ihn. Er ist mein Sohn.«

»Und väterlich hast du für ihn gesorgt!« lachte Herr Heinrich. »Wäre der Propst von Berchtesgaden nicht dein treuer Freund, und hätte er nicht selber seine Freude an diesem jungen Glück, er hätte böse Augen gemacht zu dem tiefen Griff, den du in den Klostersäckel getan. Ich vermute, es war noch lange nicht der letzte. Aber sag –« Die Stimme des Propstes wurde ernst. »Du hast auch heute nicht mit ihr gesprochen?«

»Nein, Herr! Ich konnte nicht.«

»Und das Mädel hat genommen und genommen? Und mit keinem Gedanken ist es ihr aufgefallen: woher kommt das alles?«

»Wäre ihr Glück denn voll und ganz, wenn sie fragen könnte: warum?«

Herr Heinrich nickte, und schweigend schritten sie weiter.

Immer wieder blickte Desertus zurück nach dem hellen, zwischen schimmerndem Laub verschwindenden Dache. »Oft lag mir das klärende Wort auf der Zunge,« sagte er nach einer Weile, »aber wenn ich sah, wie dieses große kleine Herz so übervoll war von Liebe, dann schwieg ich wieder. Hätt ich sie schrecken und betäuben sollen mit Neuem, Unerwartetem? Jetzt? Kommt sie in ihrem Glück erst wieder zu Atem, dann wird sich von selbst die Stunde finden, in der sie mich als Vater erkennen und Vater nennen wird. Es dürstet wohl mein Herz nach dem süßen Laut von meines Kindes Lippen. Aber ich will mich gern gedulden. Vaterliebe, das heißt nicht: nehmen, sondern: geben! Und bin ich nicht schon reich geworden nach aller Armut meines Herzens? Tag und Nacht darf ich sinnen und schaffen für meines Kindes Glück, an seiner Freude darf ich mitgenießen, darf mich erquickt und getröstet fühlen durch seine Nähe.« Desertus blieb stehen und faßte den Arm des Propstes. »Seht, Herr, wie freundlich das Heim meines Kindes herschimmert durch die Bäume!«

»Ein schönes Bild! Komm, wir wollen rasten!«

Aus dem Fuß eines Hügels, der dicht an die Straße reichte, schob sich eine Felsplatte gleich einer Bank hervor. Hier ließen sie sich nieder. Kleine Schatten und große Lichter zitterten auf der Erde, denn durch die halbentlaubten Bäume fand die Sonne fast freien Weg. Ein leichter Windhauch raschelte durch alles Gezweig, und langsam, wie in gaukelndem Spiel, fielen die welken Blätter. Mit stillen Augen betrachtete Desertus ihren lautlosen Fall.

Herr Heinrich fragte: »Stimmt es dich trübe, daß die Blätter fallen?«

»Nein, Herr, der Winter kommt nur, um den Frühling zu bringen!«

»So? Es gab eine Zeit, da du sagtest: der Sommer blüht nur, damit seine Blust vom Winter verschüttet werde unter Schnee und Eis!«

Desertus preßte die Hände auf seine tiefatmende Brust. »Mein Auge ist sehend worden. Ich fühle die Sonne wieder, und Schatten um Schatten weicht von mir. Vor dem holden Antlitz meines Kindes löst sich aller Jammer meines Lebens in süßen Trost, und in Verklärung schweben die Gestalten der Verlorenen um mich her.«

Herr Heinrich lächelte. »Ist alles Geschehene denn anders geworden?«

»Nein, Herr, aber ich seh es mit anderen Augen. Glaubet mir, so tief, wie ich, hat noch kein Mensch erfahren, daß wir nicht leben können, wenn wir die Sonne nicht suchen, und daß uns zum Leben nötig, wie Luft und Brot, noch ein drittes ist: Das helle Sehen!«

»Eine schöne Wahrheit, Dietwald! Aber sie ist nicht neu. Das hat vor mir und dir schon ein anderer gesagt, der allen Schmerz des Lebens fühlte und dennoch die Liebe nicht verlor. Besinne dich: Matthäus, 6. Kapitel, 22. Vers!«

Mit leiser Stimme sprach Pater Desertus die Worte der Bergpredigt vor sich hin: »Dein Auge sei deines Lebens Leuchte. Ist nur dein Auge lauter, so wird auch dein Leben in der Helle wandeln. Ist aber die Finsternis in dir, und dein Auge sieht finster, so wird auch die Finsternis dich umgeben auf allen Seiten.« Er faßte die Hände des Propstes und stammelte: »Herr! Nehmet meinen Namen von mir! Ich will nicht länger Desertus heißen.«

»So heiße Pater Theophilus

Sie saßen schweigend. Über Tal und Höhen leuchtete die warme Sonne des Herbstes, und die sinkenden Blätter in ihrem schimmernden Gelb waren anzusehen wie fallende Feuerzungen.

Plötzlich streckte der Chorherr in Erregung den Arm. »Sehet, Herr!«

Ein weißer Falter gaukelte vorüber.

»Das ist wohl der letzte!« sagte Herr Heinrich. »Auch er wird sterben. Aber er war mit der Sonne gut Freund und darf nun einen Tag genießen, den Tausende seinesgleichen nicht erlebten.«

Sie sahen dem Falter nach. Er folgte mit seinem Flug dem Lauf der Straße, flatterte um die weißen Steine, hob sich empor zu den Wipfeln der Bäume, gaukelte zurück auf die niedere Hecke, aus deren Gezweig der Wind die silberig blitzenden Spinnfäden wehte, und bald sich verhaltend, bald wieder eilig weiterfliegend, erreichte er die große Wiese vor dem neuen Haus. Hier suchte er jede verspätete Blume auf und sog aus dem welkenden Kelch noch einen Tropfen Seim.

Dann flatterte er an der weißen Mauer empor, und lange, lange gaukelte er um das mit Bändern geschmückte Tannenbäumchen auf dem First.

Hand in Hand, mit brennenden Gesichtern, traten Haymo und Gittli aus der Tür.

»Wo sind sie denn?« stammelte Gittli. »Schau nur, Haymo, sie sind nimmer da!«

Suchend blickten die beiden umher. Da näherten sich langsame Schritte dem Tor. Ulei, der Bildschnitzer, betrat das Gehöft. Er trug auf den Armen eine hohe Figur, die von grüner Leinwand umhüllt war.

»Das soll ich abgeben, hat's geheißen. Es gehört über die Tür hinauf!« sagte er.

Ulei stellte die Figur auf die Steinbank und löste mit zitternden Händen das Tuch.

»Haymo, schau nur! So was Liebes und Schönes! Wie wenn's lebig wär und tät uns anschauen!«

Leichte Röte huschte über Uleis bleiche Züge. Das Lob hatte ihm Freude gemacht. Wortlos wandte er sich ab und verließ das Gehöft. Haymo und Gittli merkten nicht, daß er ging. Sie standen schweigend aneinandergelehnt und betrachteten das mit Farben bemalte Schnitzwerk.

Der Sockel stellte eine graue Wolke dar, umringelt von einer Schlange, auf deren Kopf das Bildnis mit beiden Füßen stand. Ein blaues Kleid verhüllte mit eng gereihten, strengen Falten den ganzen Körper; die schlanken Finger hielten einen Lilienstengel; das weiße Gesicht mit den blauen Augen war leicht geneigt, und gleich einem Mantel fiel das gelöste Blondhaar um die Schultern. Die Stirne schmückte ein Kranz aus blühenden Schneerosen.

»Haymo! Schau doch ihr Gesicht an!« flüsterte Gittli. »Merkst du nit, wem es gleich schaut?«

Er nickte und stand in den Anblick des Bildes versunken.

Gittli faltete die Hände, und während glitzernde Tropfen über ihre Wangen rollten, sprach sie leise ein Gebet.

»Was meinst du?« sagte Haymo. »Wenn ich's gleich hinaufstellen tät? Die hütet unser Haus. Die schon!«

Er wälzte einen hohen Pflock herbei, und während er das Bildwerk achtsam emporhob in die Mauernische, eilte Gittli davon; sie suchte und suchte, aber sie fand nur welkende Blumen. Da sah sie das rankende Immergrün, das sich neben dem Hoftor um den Stamm der alten Ulme spann. Sie brach alle Ranken, und Haymo flocht sie um den Sockel des Bildes.

Nun standen sie wieder Seite an Seite, eines den Arm um den Hals des anderen gelegt, und blickten zu dem Bild empor.

»Gelt?« flüsterte Haymo. »Die soll die ersten Blumen haben all Jahr!«

»Allweil die schönsten. Und wenn es lenzen tut, steigen wir miteinander hinauf in die Röt. Und da kann der Schnee haustief liegen. Wir holen einen Rosenstrauß herunter, gelt?«

Sie reichten sich die Hände.

Nach einer Weile sagte Haymo, tief atmend: »Komm, Schatz, wir müssen die Herren suchen! Mein Gott, sag nur, wie sollen wir so viel Guttat heimzahlen können?«

»Gelt, ja?« lispelte Gittli. Eine bessere Antwort wußte sie nicht.

Haymo sperrte die Tür und zog den Schlüssel ab. Als sie das Hoftor schon erreicht hatten, fragte Gittli: »Hast du auch richtig zugesperrt? Und zweimal umgedreht?«

»Wohl!«

»Schauen wir lieber nochmal hin!«

Sie gingen zur Tür zurück, und eins nach dem anderen rüttelte an der Klinke.

Nun machten sie sich auf den Weg. Beim Hoftor blieben sie noch lange stehen, betrachteten das Haus, und immer wieder kehrten ihre Blicke zu dem Bild über der Tür zurück.

Haymo schüttelte immer wieder den Kopf. Plötzlich zog er das Weidmesser aus der Scheide und drückte die scharfe Spitze in den Rücken seiner Hand.

»Jesus, was treibst du denn!« stammelte Gittli erschrocken.

»Spüren möcht ich, ob ich wach! Allweil mein ich, daß ich träumen tu und müßt aufwachen mit jedem Augenblick!«

»Geh! Wie du einen ängstigen kannst!« Gittli klammerte die Arme um seinen Hals.

Er küßte sie – wieder und wieder – und schien dabei doch endlich die Überzeugung zu gewinnen, daß er völlig wach wäre.

Langsam gingen sie zwischen den Hecken dahin. Sie mußten sich dicht aneinanderschmiegen, denn der Pfad war schmal.

*         *
*

Herr Heinrich hatte wahr prophezeit. Über vier Wochen hielt der neue Wildmeister Hochzeit. Pater Theophilus legte die Hände des jungen Paares ineinander; als er den Segen sprach, schwankte vor freudiger Bewegung seine Stimme, daß sie bei jedem Wort zu erlöschen drohte. Gittlis Augen waren leuchtend zu ihm emporgerichtet. Seit dem vergangenen Abend wußte sie, daß es ihr Vater war, dem sie alles Glück verdankte.

Bis auf den letzten Platz war die Kirche gefüllt. Zuvörderst im Herrenstuhl, neben Herrn Heinrich, kniete der Vogt, in dessen nicht gar feierlichem Antlitz eine merkwürdige Erregung zuckte. Er zwirbelte den dicken Schnauzbart und schielte immer wieder zu Herrn Heinrich auf. Die Hochzeit des Haymo mit der Schwester des Wolfrat hatte ihm ein Licht aufgezündet.

Als die Trauung vorüber war, wurde das junge Paar von Glückwünschenden umdrängt. Nur Seph und Wolfrat fehlten. Weshalb nur waren sie nicht gekommen?

Als einer der letzten trat Herr Schluttemann zu dem Paar. Er machte einen Bückling vor der errötenden Braut und faßte Haymos Hand. »Also Herr Wildmeister, viel Glück fürs Leben! Und einen guten Rat will ich Euch geben dazu: lügen, Herr Wildmeister, lügen müßt Ihr nimmer!«

»Herr Vogt?« fragte Haymo lachend. »Wie meint Ihr das?«

»Schon gut, schon gut! Ich weiß, was ich weiß!«

Stolzerhobenen Hauptes stapfte Herr Schluttemann davon. Er war wohl auch zum Brautmahl geladen; aber er wollte zuvor noch in der Vogtstube Nachschau halten. Als er das Kloster betrat, klangen von der Kirche herüber die Hörner der Jäger, die das junge Brautpaar mit schmetterndem Weidmannsgruß empfingen.

Herr Schluttemann fand in der Wartestube nur wenige Leute vor, die er eilig abfertigte. Schon wollte er die Vogtei verlassen, da kam noch einer mit polterndem Eilschritt herbeigerannt.

»Herr Vogt! Herr Vogt!«

Beim Klang dieser Stimme spitzte Herr Schluttemann die Ohren.

»Was? Der traut sich noch herein zu mir?«

Er runzelte die Brauen und stemmte die Fäuste in die Hüften, als er seine Vermutung bestätigt sah und den Rottmann Polzer erkannte.

Wolfrat blieb an der Tür stehen und stützte sich mit dem Einarm an den Pfosten, keuchend vom raschen Lauf, das lachende Gesicht von glitzerndem Schweiß überronnen.

»Was ist denn das schon wieder für eine Narretei?« donnerte Herr Schluttemann. »Will man vielleicht den Vogt wieder uzen? Wart nur, jetzt will ich dir aber zeigen –«

Weiter kam Herr Schluttemann nicht, denn Wolfrat, der die Worte des Vogtes gar nicht zu hören schien, sagte mit Lachen: »Herr Vogt! Nehmet nur gleich das Leutbuch her! Und schreibet hinein: wir haben ein Kindl gekriegt – ein Dirnl, Herr Vogt, ein liebes Dirnl! Blaue Äugerln hat's und bluhweiße Löcklen! Und Mariele soll's heißen – Polzer Mariele! Schreibet, Herr Vogt, schreibet! Ich muß zum Pfarrer laufen –«

Da rannte er schon davon, lachend und keuchend.

Herr Schluttemann stand noch immer mit gespreizten Beinen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Natürlich!« knurrte er. »Nur allweil Kinder, allweil Kinder, daß nur die Lugenschüppel nicht minder werden auf der Welt! Aber wart nur! Du kommst mir schon wieder! Dann sollst du merken, daß ich mich nur ein Mal hab anschmieren lassen!« Er hob die Fäuste gegen die Stubendecke. »Ooooh! Die Menschen sind doch schlechte Leut!« Zornig riß er an der Glocke. Der Fronbot trat ein. »Geh hinüber in die Küch und nachher zum Kellermeister, laß dir einen richtigen Korb voll Freßzeug geben und einen Krug Wein – trag alles hinunter zum Rottmann Polzer und sag: Das schick ich ihm zur Kindstauf! Dem Gauner!«

Mit vollen Backen blasend, ging Herr Schluttemann auf den Schrank zu, nahm das in Schweinsleder gebundene Leutbuch heraus, schlug es bedächtig auf, tauchte brummend die Gänsefeder ein und schrieb:

»Den 26. des Anderherbst, a.d. 1338, dem Rottmann Wolfrat Polzer ein Dirnlein geboren, heißt Mariele.«

»Punktum!« sagte Herr Schluttemann und spritzte die Feder wieder aus.

Durch das offene Fenster klangen jauchzende Stimmen und die schmetternden Klänge der Jagdhörner.


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