Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 13

Herr Heinrich von Inzing fuhr zu Berge, um den falzenden Auerhahn zu jagen. Er hatte das Kleid des Priesters gegen ein ritterliches Jagdgewand vertauscht, trug um die Hüften das Weidgehenk und die Armbrust hinter dem Rücken. In gleicher Weise war Herr Schluttemann bewaffnet; aus seinen rollenden Augen aber blickte kein Schimmer froher Jägerlaune; Frau Cäcilia, die ihn notgezwungen für eine Woche aus ihrem Zaum entlassen mußte, hatte ihm einen Abschied bereitet, der auf eine für acht Tage voll ausreichende Wirkung bemessen war.

Eine Probe dieser Wirkung bekamen an der Seelände die beiden Fischerknechte zu spüren, die in einem weitbauchig gezimmerten Kahn auf den Propst und sein Gefolge warteten. Sie hatten nach der Meinung des Vogtes den Boden des Schiffes nicht genügend gesäubert, und so fuhr unter Herrn Schluttemanns Schnauzbart hervor ein Donnerwetter auf sie nieder, daß sie die Köpfe duckten wie Hirschkälber, wenn ihnen der erste Schnee auf die Luser fällt.

Walti und die vier Knechte wurden beordert, den Weg nach der Röt über die Almen zu nehmen. Frater Severin wollte sich ihnen anschließen. »Die Leut tragen kostbare Sachen auf dem Buckel,« meinte er, »es muß einer dabei sein, der ein Aug auf sie hat.«

»Nein, Bruder, komm nur mit uns!« lächelte Herr Heinrich. »Die Leute gehen zu langsam für dich. Du mußt wacker ausschreiten, damit du Fett verlierst, sonst fällt dir im Garten das Bücken schwer.«

Frater Severin seufzte und ergab sich in sein schweißtreibendes Schicksal.

Das Boot stieß in den See, dessen schimmernden Spiegel kein Lufthauch trübte. Die Tropfen, die von den plätschernden Rudern fielen, glitzerten in der Sonne wie Edelsteine; alle Berge waren von Duft umwoben; über die grauen, hochgetürmten Felswände und durch den immergrünen Bergwald zogen sich die schäumenden Sturzbäche hernieder gleich silbernen Adern.

»Sagt, Herr Vogt,« und mit genießenden Augen blickte Herr Heinrich umher, »wo in aller Welt noch steht ein Kloster, dessen Fürst sich eines Münsters rühmen kann, wie ich es besitze: die Säulen der Wände für die Ewigkeit gebaut, die Fliesen ein einziger Smaragd, und als Dach der Himmel mit Gottes leuchtendem Auge.«

Herr Schluttemann ließ ein Gebrumm vernehmen, das seine Zustimmung kundgeben sollte. Im Hinterteil des Schiffes seufzte Frater Severin: »Gottes Auge hat einen heißen Blick, ›Gottes Güte‹ wär kühler.« Er tauchte die Hand in das kalte Wasser und benetzte seine Stirn.

Die Fischerknechte wollten die Richtung mitten durch den See nach der Fischunkel halten, von der aus der kürzeste Weg in die Röt emporführte. Herr Heinrich aber befahl ihnen: »Zur Seeklause, wir nehmen den Aufstieg von dort!«

»Reverendissime«, wandte Herr Schluttemann ein, »das ist aber ein teuflischer Umweg!«

»Den Umweg kenn ich, doch ist mir der Teufel noch nie auf ihm begegnet.« Lächelnd blickte Herr Heinrich zu Frater Severin zurück.  »Wir gehen den minder steilen Weg, dir zuliebe. Festina lente, sagte der Heide Augustus – du sollst sänftiglich vom Fleische fallen.«

»Ach, Herr Heinrich,« klagte Frater Severin, »ich könnt Euch erwidern mit einem Heidenwort: Naturam expellas furca, tamen usque recurret! Aber wie kann Heidenweisheit ein Trost sein für einen guten Christen. Und da mir geschah, wie Lukas, der Evangelist, Kapitel 6, Vers 38 prophezeite: Ein gutes, ein gedrückt volles Maß wird euch in den Schoß gegeben – so wollet bedenken, Herr Heinrich, daß der heilige Johannes in seiner Offenbarung, Kapitel 2, Vers 25 befiehlt: Und was ihr habt, das sollt ihr bewahren!« Sorgend legte er die Hände über sein Bäuchl.

Herr Heinrich lachte; Vogt Schluttemann aber dachte an Frau Cäcilia: auch ein gedrückt volles Maß, das er bewahren mußte!

Knirschend fuhr das Boot in sandig verlaufendes Ufer, das durchbrochen war vom Bett eines schäumenden Baches. Herr Heinrich, der Vogt und Frater Severin stiegen ans Land, und die Fischerknechte stießen den Kahn in den See zurück, um die Heimfahrt anzutreten.

»Steiget nur immer voran und wartet meiner auf der Höh!« sagte Herr Heinrich.

Der Vogt und Frater Severin überschritten auf schwankendem Stege den Wildbach und verschwanden auf dem jenseitigen Ufer im sanft ansteigenden Bergwald. Herr Heinrich ging den Wildbach entlang, bis er eine aus Steinen erbaute, an eine hohe Felswand angelehnte Klause erreichte. Er öffnete die Tür; die Klause war leer.

»Dietwald!« rief er mit lauter Stimme; niemand zeigte sich. »Sollte er hinausgefahren sein zum Fischfang?« Nein, der Einbaum lag an das Ufer gezogen. Herr Heinrich folgte einem schmalen Fußpfad. Immer näher trat die ragende Felswand an den Wildbach heran, von der andern Seite näherte sich der Bergwald, so daß eine enge Schlucht gebildet wurde, auf deren Grund die schäumenden Wasser in tief zerrissenem Bett mit ohrbetäubendem Lärm hinwegrauschten über mächtige Steinklötze und zerschmetterte Baumstämme. Wo die Schlucht ein Ende nahm, stürzte der Bach aus schwindelnder Höhe hernieder in ein von siedendem Schaum erfülltes Becken, das der fein zersprühende Wasserstaub, von einem Sonnenstrahl durchleuchtet, mit buntfarbigem Schimmer überwob. Neben dem Wasserfall zeigte sich an der Felswand der Eingang einer Höhle, vor der ein hohes steinernes Kreuz errichtet war, schon grau verwittert und halb überzogen von gelblichem Moos.

Dem Kreuz zu Füßen, auf einem Holzblock, saß Pater Desertus, der Fischmeister des Klosters. Er hielt den einen Arm auf das Knie gestützt und das Haupt auf die Hand geneigt; mit der andern Hand nahm er von dem dürren Astwerk, das der Wildbach an das Ufer geschwemmt hatte, einen Zweig und warf ihn in das wirbelnde Wasser; verloren in Gedanken, schaute er zu, wie der Strudel den Zweig verschlang, wie ihn die Wellen mit sich fortrissen. Dann nickte er vor sich hin und warf einen anderen Zweig.

Er hörte vor dem Rauschen des Wassers die nahenden Schritte nicht und blickte betroffen auf, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. »Herr Heinrich?« Grüßend neigte er das Haupt und erhob sich.

»Was treibst du hier?« fragte lächelnd der Propst.

»Das Spiel meiner Tage.«

Herr Heinrich betrachtete den Chorherren ernst und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Komm, laß uns zur Klause gehen, hier hört man kaum den Klang des eigenen Wortes.«

Er wanderte den Pfad zurück, und Pater Desertus folgte. Vor der Klause ließen sie sich auf die Steinbank nieder. Warm schien die Sonne über ihnen, das gemilderte Rauschen des Wildbachs tönte wie Musik, draußen lag der glatte See, wie grüne Seide schimmernd, und über die steilen Wände, die ihn umzogen, hoben der Wazmann und die sieben Wazmann-Kinder ihre weißen Zinken in das reine Blau des Himmels.

»Ein schönes Plätzchen!« sagte Herr Heinrich. »Hier bist du wohl gerne?«

»Ja, denn ich lebe und störe doch die Freude keines anderen Menschen. Aber sagt, was führt Euch zu mir?«

»Muß ich nicht zu dir kommen, da du mich zu meiden scheinst?«

»Ich tu es um Euretwillen. Mein Blick verjagt das Lächeln, und Ihr lächelt gerne.«

»Ja, Dietwald, seit ich erkennen lernte, daß Weinen zwecklos ist. Doch lassen wir das. Ich bringe dir einen Gruß.«

Langsam hob Pater Desertus das Gesicht. »So lebt noch ein Mensch, der Ursach hätte, meiner zu denken?«

»Der Kaiser!«

Über das bleiche Antlitz des Chorherren flog eine heiße Röte, und es zuckte durch seine Glieder, als stünde ein Roß vor ihm, das es zu besteigen gälte, als hinge ein Schwert in der Luft, das er fassen müßte. Doch rasch ging diese Regung vorüber; er legte die Hand auf das Kreuz an seiner Brust und sagte mit versinkender Stimme: »Ich danke für den Gruß. Grüßet Herrn Ludwig wieder!«

»Er hat mir einen Brief geschrieben, ach, von Sorgen schwer! Sie setzen ihm bitter zu in Avignon und schüren ihm Zwietracht an allen Ecken und Enden. Hätt er Kriegsmannen so viel, wie Sorgen, er hätt ein Heer, wie es noch kein Kaiser gesammelt. Und sieh, Dietwald, in allen Sorgen denkt er dein und läßt dich grüßen und fragt nach deinem Wohlergehen und hofft, daß dein Kummer sich gemildert hätte. Er hat dir den Tag von Ampfing nicht vergessen. Du hast ihm sein Reich erfechten helfen.«

»Und habe um jenes Tages willen mein eigen Reich verloren! Meiner Güter bestes! Allen Wert und alle Sonne meines jungen Lebens, mein Glück, meine Seligkeit!«

»Dietwald!« mahnte Herr Heinrich. »Darf so ein Priester sprechen?«

Pater Desertus hörte nicht; es loderte aus ihm hervor wie entfesseltes Feuer. »Wie war ich stolz an jenem Tag, als ich vor Ludwig stand, ein Sieger unter Siegern, mit stumpfgeschlagenem Schwert, der Glanz meiner Rüstung erloschen im Blut der Feinde! Wie ein Falk flog meine Seele, und mein Herz wie eine sehnende Taube nach ihrem Nest – heim zu, heim zu! Neun Tage noch hält mich die Pflicht. Dann geht es heimwärts, wie im Sturm, Tag und Nacht durchreitend. Das Roß bricht unter mir. Schon im Sturze greif ich nach einem andern. Heim, heim, zu Weib und Kind! So hell und freudig hat mein Schlachtruf nie geklungen, wie dieser Jubelschrei meines Herzens. Bei grauendem Morgen erreiche ich den Bannwald meiner Burg. Jeder Baum, der an mir vorüberfliegt, ist mir ein Weiser zu meinem Glück. Nun ist Friede, nun darf ich ruhen. Ich sehe schon die heimliche Stube mit dem sonnigen Erker, sehe mich sitzen, mir zur Seite mein junges Weib, die von dunklem Gelock umflutete Wange an meine Schulter lehnend, zu mir aufblickend mit leuchtenden Augen. Und hier, auf meinem Knie, da schaukelt mein Knabe, macht große Augen und lauscht, denn ich erzähle vom Kaiser, von Fehde und Sieg. Und in der Wiege schlummert mein süßes Mädel und träumt in sein werdendes Leben hinein wie eine Knospe in den sonnigen Tag. Heim, heim, heim! Dort ist schon die Höhe im Wald, von der ich den Giebel meiner Burg erblicken muß. Ich spähe, spähe und spähe. Und sehe nichts. Hat sich mein Haus verrückt? Hat sich der Wald verwachsen? Ein zitterndes Ahnen befällt mich, ich peitsche mein Roß, ich reite, reite. Dort ist der Saum des Waldes, jetzt hab ich ihn! Ich hebe mich auf im Sattel, mein Blick fliegt über das Tal. Und ich sehe – sehe –«

Schaudernd schlug er die Hände vor das Gesicht, und seine Stimme erlosch in dumpfem Stöhnen.

»Dietwald!« sagte Herr Heinrich tiefbewegt. »Kannst du deinem Herzen nicht gebieten, so gebiete deiner Zunge. Sie soll nicht nennen, was hinter dir liegt, seit du den Scheitel beugtest, um Gottes Knecht zu werden.«

Desertus hörte nicht. Er ließ die Arme sinken und starrte mit brennenden Augen ins Leere. Und dann, als stünde geisterhaft ein Bild vor ihm, deutete er vor sich hin: »Das? Das ist mein Glück? Ein Haufen Trümmer, glühende Steine und rauchendes Gebälk? Das war mein Haus? Es steht das Tor noch, mit dem Wappen darüber: der weiße Islandfalk im blauen Feld! Und das? Sind das die Tauben, die im Turm genistet? Tauben, die wie Raben krächzen, wie hungernde Geier schreien? Sie wittern das Futter. Wie die Äpfel um den Baum, so liegen die Leichen. Der dort, mit dem grauen Kopf und der gespaltenen Stirn, das ist Reinhold, mein Pförtner. Er hat immer gern geschlafen. So wach doch auf, Alter! Rede doch! Wo ist mein Weib, wo sind meine Kinder? Soll ich dir eine Handvoll Asche zeigen? Sieh doch her! Ist das mein süßes Weib? Oder das? Und hier, der verkohlte Knochen? Das ist wohl mein schöner Knab? Oder gar dein Hund? Und dort, sieh nur, im Schutt, dort glimmt es noch? Das ist die Wiege? Ja?«

»Dietwald! Erwache!« rief Herr Heinrich und rüttelte ihn am Arm.

Er schaute auf mit verlorenem Blick. »Erwache! Das war das erste Wort, das ich hörte! Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag – wie ein Bergmann nach Gold, so wühlte ich nach verkohlten Gebeinen – und schrie: Wer hat mir das getan? Ich hatte keinen Nachbar, der mir grollte, hatte keinen Feind. In meinem Jammer wußt ich keinen Weg. Die Augen blind vom Weinen, bin ich gegangen und gegangen. An der Pforte des Klosters fiel ich nieder. Sie trugen mich in eine Zelle und riefen: Erwache! Erwache! Und ich blieb und ließ geschehen, was geschah.«

»Mit Schmerzen, Dietwald, hab ich es lang erkennen müssen: es war für dich der rechte Weg nicht. Hättest du doch Trost gesucht in Kampf und Tat, auf dem Schlachtfeld, nicht in der Zelle!«

»Ich hoffte, ihn zu finden! Durch Tage und Nächte, Wochen und Jahre lag ich in brünstigem Gebet und schrie zu Gott aus tiefster Seele: Laß mich vergessen! Ich schlug mit der Geißel meinen Rücken blutig, um durch die Schmerzen meines Leibes die Qual des Herzens zu betäuben. Es half nicht, half nicht. Ich konnte nicht vergessen, konnte nicht hoffen. Wenn ich kämpfte um das Heil meiner Seele, so träumte ich den Kuß meines Weibes. Wenn ich den Himmel suchte, fand ich ihn in meiner Kinder Augen, die mir entgegenblickten aus der Luft meiner Zelle, aus jedem Blatt des heiligen Buches, aus jedem Bildwerk in der Kirche, aus jedem Abbild des Erlösers.«

»Und fandest du nicht Trost bei deinen Brüdern, von denen mancher eine Welt von Schmerzen überwand, da er sich Gott ergab?«

»Meine Brüder? Sagt Ihr das im Ernst, Herr Heinrich? Ich meine doch, Ihr kennt Eure Chorherren?«

»Verdamme die Schwachen nicht. Kleine Seelen haben kleine Wünsche. Sieh diesen Berg an: das edle Wild treibt es nach der Höhe, die zufriedenen Hasen nisten hier unten im niederen Gebüsch. Und sie beide sind doch Geschöpfe aus eines Schöpfers Hand.«

»Meine Brüder? Hätt ich unter ihnen nur einen gefunden, der gewesen wäre, wie Ihr seid! Meine Brüder? Sie freuten sich der Wälder und Felder, die ich dem Kloster brachte, und hatten für mich nur Worte: Gott hat gegeben, Gott hat genommen. Gott! Gott! Gott!«

»Wie sprichst du dieses Wort! Dietwald!« Herr Heinrich erhob sich. »Du glaubst nicht an Gott? Ein Priester!«

Mit ernsten Augen sah Desertus zu ihm auf. »Ich glaube an Gott. Wer hätte diesen Stein zu meinen Füßen erschaffen, wenn Er nicht? Wer hätte diese ewigen Felsen gebaut und über schwindelnd tiefe Gründe diesen schönen See ergossen, wenn Er nicht? Wer die Luft bevölkert, das Wasser und den Wald, wenn Er nicht? Wer hätte diesem Baum die nährende Wurzel gegeben, die treibende Kraft des Markes und den Wohlverstand, mit dem er seine Zweige nach der Sonne breitet. Wenn Er nicht? Aus wessen Hand wäre der Liebreiz geflossen, der mein Weib umschimmerte? Die süße Unschuld in den Augen meiner Kinder? Wenn nicht aus seiner Hand? Wer hätte mich selbst erschaffen und mein Herz erfüllt mit jauchzender Freude und seligem Glück? Wenn Er es nicht getan? Doch wer vernichtete mein Glück? Wer riß mir die Freude aus dem Herzen und füllte meine Brust mit Qual und Pein? Wer ließ mein Weib verbrennen und meiner Kinder holdes Leben erlöschen in Glut und Rauch? Wer schickt den Blitzstrahl über diesen Baum, wer in sein Mark die Fäulnis? Wer schlägt mit Schmerzen und Tod, was atmet in Wasser, Luft und Wald? Wer stürzt die Felsen vernichtend über Tal und Hütten, und wer empört den See, daß er die Ufer überschäumt und alles ringsumher verwüstet, was doch ein Werk ist aus Gottes eigener Hand? Wer? Wer? Wer? Und warum?«

In Herrn Heinrichs Augen leuchtete ein herzlicher Blick. »Wer täte das alles? Wenn Er nicht? Aber warum? Ja, mein Sohn, da bin ich überfragt!« Lächelnd legte er die Hand auf die Schulter des Chorherren. »Sieh, Dietwald, ich könnte sagen: Was Übles kommt, ist eine Strafe oder eine Prüfung. Aber das sag ich nicht, zu dir nicht! Gott prüft nicht. Er weiß doch, wie schwach die Menschen sind. Und wer, wie Gott, so groß ist in der Liebe, ist im Zorne nicht so klein. So kleinlich, wie du bist, mit deinem törichten Warum! Ja, Dietwald!« Er setzte sich an des Paters Seite und faßte seine Hand. »Du Kind von zweiundvierzig Jahren! Im Schmerze kannst du fragen: Warum?«

»Herr Heinrich!« stammelte Desertus.

»Hast du aber auch gefragt in der Freude, im Glück? Gelt, da hast du genommen und genossen? Da war dir um den Grund nicht bange, warum dir gegeben wurde. Das Gute leuchtet dir ein, da glaubst du an Gott. Nur im Schmerze willst du ihn nicht fassen und begreifen und Gott nicht finden. Das ist nun freilich schwer, und noch keiner, der lebte, hat es ganz zuwege gebracht. Sogar Christus, der Herr, hat am Kreuze gefragt: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Da sprach der Mensch in ihm. Sag mir, Dietwald: wäre Er denn Gott, wenn wir Menschen ihn so leicht verstünden? Und wenn du fragst: warum? Weißt du denn auch, ob Er nicht Antwort gibt? Er spricht vielleicht zu dir im Wehen dieser Frühlingsluft, im Rauschen dieser Wellen. Nur ist dein Ohr zu klein für alle Größe seiner Stimme.«

»Nein, nein, ich hör ihn!« flüsterte Desertus.

»Du, nicht wahr, du hörst den Donner der Lawine, wenn du über die Berge steigst im Frühling, du weißt, weshalb sie fallen muß. Und stumm bewundernd stehst du vor dem herrlichen Schauspiel der Gottnatur, erhoben in deinem Herzen. Hört ihren Donner aber auch die Fliege, die in einer Rinse der Felswand klebt? Nein. Ihre Sinne sind zu kurz. Sie klebt. Und wird verschüttet und erstickt. Soll sie auch fragen: warum? Soll ewiger Schnee die Halden drücken und keine Blume keimen lassen, nur damit die Fliege nicht gekränkt wird? Nicht wahr, das geht nicht an. Du liebst die Blumen, du sagst mit deinem Verstande: der Schnee muß fallen. Die Fliege will es nicht begreifen. Von der Fliege zu dir ist ein weiter, weiter Weg, doch nimm ihn millionenfach, und du füllst die Strecke nicht aus von dir zu Ihm! In schwindelnder Höhe geht Er seinen Weg, ein Schritt, und Er ist über alle Berge, ein Schritt, und Meere liegen hinter Ihm und jeder Schritt bringt Werden und Vergehen. Er kennt den Urgrund aller Dinge, Er sieht das Ziel vor Augen, Er denkt der Blumen seiner Ewigkeit. Doch wir, tief unter Ihm, wir, Dietwald, sind die Fliegen unter der Lawine.«

Desertus schlang die Arme um Herrn Heinrichs Hals und drückte das Gesicht an seine Brust.

»Ja, ruh dich aus! Du bist müde vom Leben. Und wenn dir die Kräfte wiederkommen, dann beginne neu den Weg und blicke auf zu Ihm! Du siehst von seinem Antlitz einen Zug auf jeden Fels geschrieben, ein Abglanz seiner Augen leuchtet dich an aus jeder schimmernden Welle im See, und einen Hauch seines Atems hörst du im Rauschen des Waldes. Und da du, ein Mensch, Ihn nun einmal nicht fassen kannst in seiner Größe, so halt Ihn fest in seiner Liebe. Ich meine doch, du hättest sie empfunden. Und was du besessen? Hast du es denn wirklich verloren? Nur weil du es nimmer halten kannst mit Händen? Blicke doch in die Tiefe deines Herzens! Liegt dort nicht alles, was an Glück dein eigen war, rein und heilig behütet, ein köstlicher Reichtum an dauerndem Erinnern? Dietwald! Dietwald! Du willst klagen? Weißt du denn auch, um wie viel reicher du bist als ich?«

Desertus hob mit fragendem Blick die Augen.

»Alle holde Freude des Lebens hast du genossen, bis dein Glück sich wandelte in einen Schmerz, wie ein schöner Frühlingstag in eine Nacht mit kaltem Reif. Mein Leben aber war ein Leidensgang, Schritt für Schritt. Eine reine Freude hat mir nie geblüht, und jede Frucht, nach der ich griff, trug den Wurm oder die Fäulnis in ihrem Kerne. Ich habe mehr gelitten, als du, da ich nur Schmerzen gewann, ohne Freude zu verlieren. Ich hatte einen Bruder, der mich haßte, weil ich der ältere war; hatte eine Mutter, die nur ihren Tand und ihre Falken liebte; hatte einen Vater, der mich verstieß, weil ich nicht schmeicheln konnte; das Weib, das mich ohne Liebe nahm, brach mir die Treue; mein Freund, der einzige, an den ich glaubte, war ihr Verführer; ich diente redlich meinem Fürsten, wurde des Verrats beschuldigt und in Ketten geworfen. Aus dem Kerker floh ich ins Kloster. Ich haßte die Menschen und konnte Gott nur fürchten. Nicht mit Inbrunst, in Zittern hab ich gebetet und suchte den Grimm meines Herzens zu ertöten in schwerer Pönitenz. Doch Haß und Furcht hingen fest an mir. Wenn ich aus dem Kloster niederstieg ins Tal, sah ich die Not nur und der Menschen Pein. Wenn ich emporstieg auf die Berge, sah ich nur die Schrecken der Natur, Verwüstung und Zerstörung, den Gott in seinem Grimme. Mit schaudernder Seele floh ich wieder heim in meine Zelle, sang und betete und schwang die Geißel.«

»Und wie kam Euch die Erlösung?«

»Es war an einem Tage spät im Herbst. Ich lag auf meinem Bett, entkräftet, blutend aus den Wunden, welche die Geißel gerissen hatte, die brennenden Augen auf die kahle Wand geheftet. Die häßlichen Bilder meines kalten, nutzlosen Lebens zogen vor meinem taumelnden Geiste vorüber, und jeder Gedanke war ein Schrei zu Gott: Töte mich, töte mich, weshalb noch soll ich leben! Da vernahm ich in meiner Zelle ein leises Tippen, wie vom Fall eines Wassertropfens. Hinter dem Rahmen eines Heiligenbildes war ein Schmetterling herausgefallen. Er hielt die Flügel geschlossen und rührte sich nicht. Ich griff nach ihm, und er ließ sich fassen. Seine Füße waren starr, die Schwingen gelähmt. Er war erfroren in der herbstlichen Kälte meiner Zelle. ›Dein Schicksal ist das meine!‹ sagte ich und ließ ihn zu Boden fallen. Da stieg die Sonne über die Berge, und durch das offene Fenster meiner Zelle fiel ein warmer Strahl gerade auf die Stelle hin, auf welcher der Falter lag. Es währte nicht lang, da begann er, auf der Seite liegend, die Füße zu rühren. So zappelte er eine Weile, aber es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. Ich hielt ihm den Griff meiner Geißel hin, er klammerte sich an das Holz und stellte die Schwingen auf. Lange saß er ruhig. Dann plötzlich legte er die Flügel auseinander, schloß sie wieder, kroch vom Holz der Geißel auf die Erde, und weiter und weiter, immer der Sonne nach, und an der Mauer empor, auf das Gesims des Fensters. Hier saß er noch, als müßte er rasten. Immer spielte er mit den Schwingen. Und dann mit einmal begann er zu flattern. Erst schwer und mühsam. Immer leichter wurde sein Flug, und so schwebte er hinaus zum Fenster und gaukelte in den blauen Himmel.«

Herr Heinrich schwieg und blickte lächelnd empor in das endlose Blau.

»Da kam es über mich, ich wußte nicht wie. Mir war, als hätte Gottes Stimme mir geboten: Steh auf und lebe! Ich erhob mich, wusch meine Wunden und kühlte sie mit Balsam. Wie ein Träumender trat ich aus dem Kloster und wanderte hinaus in das herrliche Tal. Die Sonne spann in den Lüften, silberne Fäden flogen, und in den bunten Farben des Herbstes leuchtete der Laubwald. Die Kinder liefen auf mich zu und küßten meine Hände. Traulich blickten ihre lieben Augen zu mir auf. Alle Felder waren belebt, überall hörte ich Lachen und Gesang. Die Leute eggten und streuten die Wintersaat, ohne doch zu wissen, ob sie essen würden von diesem Brot. Und als ich heimkehrte in das Kloster, trat ich vor Herrn Konrad von Altentann, meinen Propst, und sagte: ›Gebt mir Arbeit!‹ Ach, die Tage, die nun kamen! Ich zog wie ein Roß, das des langen Stehens im Stalle müd geworden. Überall griff ich zu. Ich ordnete und mehrte das Gut meines Klosters, hob den Salzbau, war Fischmeister, Kellermeister, Wildmeister. Wo immer nur ein anderer müde wurde, trat ich an seine Stelle. Und alles wandelte sich mir zur Freude. Ich milderte die Strenge meiner Oberen, versöhnte die grollenden Landsassen, half, wo zu helfen war. Und je mehr ich den Menschen helfen durfte, desto mehr begann ich sie zu lieben. Ihr Dank, Dietwald, hat mich das Lächeln gelehrt. Und keinen schloß ich aus. Meinen Bruder stützte ich in schwerer Not, die Kinder jenes Weibes hob ich aus Elend empor zu freundlichem Leben, und meinem Fürsten, welcher Kaiser geworden, diene ich mit der ganzen Treue meines Herzens. Sage, Dietwald, war es nicht eine Gotteslehre, die mir der Falter gab, da er emporflog in das Blau? ›Willst du den Himmel finden, dann geh in die Sonne!‹ Das tu ich, Dietwald. Ich suche am Leben die Sonne, und in den unvermeidlichen Schatten trag ich die Helle, so gut ich es vermag. Da fließt mir jeder Tag wie ein schönes Gottesgeschenk. Ich freue mich jeder Blume, die auf meinem endenden Wege blüht. Und schickt mir Gott mit aller Freude zuweilen auch einen Schmerz, dann trag ich ihn und such ihn zu verwinden. Aber ich frage nicht: warum ich leide.« Er legte die Hand auf des Paters Schulter und fügte lächelnd bei: »Daß ich leide, genügt mir! Homo sum, Dietwald, homo sum!«

Desertus hatte den Kopf an die Mauer seiner Klause gelehnt, hielt die Hände im Schoß verschlungen, und während er durch die schwankenden Zweige der Buchen, an denen die Blätter schüchtern sproßten, emporblickte zum blauen Himmel, perlten langsam Tropfen über seine bleichen Wangen – die ersten Tränen nach langen Jahren.

Herr Heinrich schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Verzage nicht, Dietwald! Auch dein Falter wird noch fliegen. Flog er in fünfzehn Jahren nicht, gib acht, er fliegt im nächsten!«

»Fünfzehn Jahre!« glitt es leise von des Paters Lippen. »Und mir ist, als wäre es gestern gewesen, als läge dazwischen nur eine einzige Nacht, eine lange, bange, grauenvolle Nacht, nach der kein Tag mehr kommen will!« Die Hände des Propstes fassend, rief er in heißem Flehen: »Herr Heinrich, hebet mich empor zu Euch, dorthin, wo Sonne ist! Geht mich an! Ich habe gekämpft und gerungen, bis alle Kräfte mir versiegten. Und ich fand auch Stunden ruhiger Ergebung. Als Ihr erkanntet, daß die Enge der Zelle mich erdrückte, und als Ihr mich hierher gesandt in diese herrlichste Kirche Gottes, da ward es still in mir, während der Föhn mich umrauschte und draußen im See mein Einbaum gegen die Wellen kämpfte. Und nun alles, alles wieder verloren!« Seine Augen glühten, und seine Stimme verrann in dumpfem Murmeln. »Verloren seit vier Tagen! Und Pein ist, was ich fühle! Sehnsucht, was ich denke! Verlangen, was ich sinne! Ein Gespenst ist mir erschienen –«

Herr Heinrich erschrak. »Dietwald!«

»Ein Gespenst, wie aus der Asche gestiegen, und dennoch Fleisch und Blut, mit meines Weibes Haar, mit meines Weibes Augen, mit dem holden Kindermund, der mir gelächelt in Liebe.«

»Dietwald!« Herr Heinrich sprang auf und rüttelte den Arm des Chorherren. »Deine Sinne taumeln und dein Geist ist krank. Was dir das Herz erfüllt, tritt in die Lüfte. So fing es bei vielen an. Einer wurde heilig und hundert wurden Sünder, eidvergessene Schelme. Greife nach einem Halt, oder du bist verloren! Ich muß dir Arbeit geben. Die Angel zu ködern für Hecht und Ferch, das taugt dir nicht.«

»Herr!« stammelte Pater Desertus. »Ich soll fort von hier?«

»Höre mich an! Kaiser Ludwig will mit dem Papst verhandeln. Es zwingt ihn die Not. Und er will einen Priester senden, doch einen, der ein deutsches, ritterliches Herz unter seiner Kutte trägt. Er fragte mich um Rat. Ich hatte an dich gedacht. Nun will ich, daß du gehst. Und ich hoffe, daß ich mich in dir nicht täusche.« Herrn Heinrichs Worte klangen, als schlüge Stahl auf Stein.

Über das Gesicht des Chorherren glitt eine matte Röte; er richtete sich auf. »Wann soll ich reisen, Herr?«

»Du wirst es erfahren. Und in andere Luft sollst du mir noch heut! In kühlende Gletscherluft! Begleite mich! Was stehst du noch? Rasch, Dietwald! Schürze deine Kutte, nimm das Griesbeil und den Basthut!«

Pater Desertus trat in die Klause.

Herr Heinrich blickte ihm nach mit sorgenvollen Augen. »Gespenster sieht er? Warte nur, wir wollen sie jagen!«

Zur Bergfahrt gerüstet, kehrte Desertus zurück.

Als sie den Wildbach entlang gingen, kamen sie zu einer Stelle, an der sich über moosigen Grund eine Bucht mit spiegelndem Wasser gebildet hatte.

»Herr Heinrich!« sagte Pater Desertus und deutete in das Wasser.

»Was soll ich sehen?«

»Diese beiden: der eine trägt das Kleid der Kirche, der andere das Lederwams, die Armbrust und das Weidgehenk. Welcher von den beiden ist der Priester?«

Herr Heinrich lächelte. »Ich sehe nur zwei Menschenköpfe, der eine grau, der andere noch schwarz.«

Dem Pater voran überschritt er sicheren Ganges den schwankenden Steg.


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