Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 9

Über dem Haus des Sudmanns lag still und sternenhell die Osternacht. Nur die Ache rauschte; sonst kein Laut in der ganzen Runde; denn der Eine, der in dieser Nacht zu dem kleinen Hause gegangen kam, wandelte auf unhörbaren Sohlen; er pochte an die verschlossene Tür – sie öffnete sich nicht vor ihm, und dennoch trat er ein.

In der Stube erwachte das Weib; ein leises Stöhnen hatte sie geweckt. Sie lauschte – und da hörte sie es wieder. Es war das Kind.

»Katzi was hast du?« fragte sie. Aber das Kind gab keine Antwort. Sepha war am Abend so schwach gewesen, daß sie sich nicht auf den Füßen erhalten konnte. Und jetzt mit einmal hatte sie Kraft. Mit stammelndem Laut sprang sie aus dem Bett. »Polzer!« rief sie – in ihrem Schreck hatte sie ganz vergessen, daß Wolfrat außer Hause war. Mit zitternden Händen tastete sie in der Finsternis nach dem Feuerzeug; nur matte Funken brachte sie aus dem Stein, und der Zunder wollte nicht brennen. »Mein Gott, mein Gott, hätt ich mich doch nit schlafen gelegt!« jammerte sie. Bis lange vor Mitternacht hatte sie wach gesessen, dann war die Natur stärker geworden als ihr Wille. Gittli wollte die ganze Nacht bei dem Kinde bleiben, aber Sepha selbst hatte das Mädchen zur Ruhe geschickt. Das ›Katzi‹ schien gut und fest zu schlummern. Freilich, es war ein böser Tag gewesen, der vorausgegangen, und bedrückten Herzens hatte Seph ihren Mann das Haus für die Nacht verlassen sehen; sie merkte es ihm auch an, daß er nicht gerne ging. Wär es nur nicht um die paar Heller gewesen, die es zu verdienen gab! Als er, schon den Hut auf dem Kopf, noch einmal die Hand über die Stirn des Kindes strich, da sagte er: »Gib dich, Seph, morgen soll's besser sein!« Seine Stimme hatte wohl gezittert, und dennoch hatte sein Wort zuversichtlich geklungen. Vielleicht wußte er ein stärkendes Kraut oder eine heilsame Wurzel, die er von der Bergfahrt mit heimbringen wollte – vielleicht die Nieswurz, die Wurzel der Schneerose. Von ihr hatte auch Gittli schon gesprochen.

Endlich war es der Seph gelungen, Licht zu machen. Mit der flackernden Kerze leuchtete sie über das Bett und erschrak bis ins innerste Herz. Das Gesicht des Kindes kam ihr so verwandelt vor, als wäre das nicht mehr ihr eigen Kind, sondern ein fremdes. Sie taumelte zur Kammertür und stieß sie auf. »Gittli! Gittli!«

Das Mädchen antwortete schlaftrunken.

»Ich tu dich bitten, steh auf,« sagte Seph mit tonloser Stimme, »das Kindl ist so viel ungut!«

Barfuß, das rote Röckl überwerfend, erschien Gittli unter der Tür.

»Da schau: mein Kindl, mein Kindl, mein Kindl!« schluchzte Seph und hielt die Leuchte über das Bett.

Gittli beugte sich über das Kind und faßte sanft seine Ärmchen, die mit geballten Fäusten nach aufwärts lagen. »Mimmibatzi,« flüsterte sie mit süßer Zärtlichkeit, »Mimmidatzi, kennst du mich nimmer? Schau, die Dittibas ist bei dir!« Eine Weile wartete sie vergebens auf Antwort. Dann rief sie noch einmal alle Angst ihres Herzens in der Stimme: »Mimmidatzi!«

Ein kaum merkliches Zucken ging über das Gesicht des Kindes, ein leises Stöhnen, nicht wie in Schmerz, sondern wie in weher Sehnsucht quoll aus dem regungslosen, leicht geöffneten Mund; aber der kleine Körper rührte sich nicht, das Köpfchen, umringelt von goldblondem Gelock, lag starr auf die Seite geneigt, und unter den zarten, halbgesunkenen Lidern blickten die einst so schelmisch leuchtenden Augen unbeweglich hervor, ohne Glanz und Leben.

»Mein Schatzi, mein liebs, was hast du denn?« stammelte Gittli und schaute, die Wangen von Tränen überronnen, mit einem hilflosen, angstvollen Blick in Sephas Gesicht.

»Mein Gott, mein Gott, wär nur der Polzer daheim!« jammerte das Weib und sank neben dem Bett in die Knie. »Wenn er nur daheim geblieben wär! Mein Gott! Was tu ich denn? Mein Kindl, mein Kindl! Ich weiß mir keinen Rat, ich weiß mir nimmer zu helfen! Was tu ich denn?«

»Schwährin, bleib, bleib! Ich lauf und hol den Bader!« schluchzte Gittli. Und wie sie stand, barfuß, im dünnen Röckl, rannte sie davon.

Sie achtete auf dem Wege nicht der spitzen Steine, die sich schmerzend in ihre Sohlen drückten, nicht der Frische der Nacht, die sie schauern machte; sie rannte nur und rannte, bis sie keuchend auf dem Marktplatz das Haus erreichte, in dem der Bader wohnte. Wie von Sinnen schlug sie an der Tür den Klöppel, immerfort, so lange, bis im Obergeschoß ein Fenster geöffnet wurde.

»Wollt Ihr aufhören oder nit! Was ist denn das für ein Lärm in der Nacht?« rief eine Männerstimme herunter.

»Ach, ich bitt Euch, wir haben ein krankes Kind daheim!« schluchzte Gittli mit aufgehobenen Händen. »Kommt doch, kommt, ich bitt Euch gar schön, ich bitt, bitt, bitt!«

»Wer bist du denn?«

»Die Gittli bin ich, die Schwester vom Sudmann Polzer.«

»Sooo?« Der Name, den Gittli genannt, gab dem Bader zu denken. Ja, hätte sie den guten Einfall gehabt, hinaufzurufen: ich bin Zenza, die Tochter des reichen Eggebauern – dann hätte sie was erlebt, wie der Bader gesprungen wäre! »Sooo? Also ja, geh nur heim, und sag, ich komm schon, sobald es Tag wird.«

Klirrend schloß sich das Fenster. Gittli stand wie betäubt und griff mit beiden Händen an den Kopf. War es denn möglich? Ein Kind – solch ein süßes, herziges Ding! Und es gab einen Menschen, der sich nicht die Seel aus dem Leibe lief, um zu helfen.

Helfen? Helfen? Wer jetzt? Wer? Pater Eusebius? Der hatte das Bübl des Klostervogtes wieder gesund gemacht. Gittli rannte, und atemlos erreichte sie die Klosterpforte. Die Glocke läutete schrill, denn mit dem ganzen Gewicht des Körpers hatte sich Gittli an den Strang gehängt.

»Pater Eusebius? Wo ist der gute Pater Eusebius?« schluchzte sie, als sich das vergitterte Fenster öffnete.

»Ein Dirnlein? In der Nacht?« staunte der Pförtner. »Was willst du vom Pater?«

»Wir haben ein krankes Kind daheim, der Pater Eusebius soll ihm helfen. Ach, guter Frater Pförtner, ich bitt Euch, bitt Euch –«

»O du mein Gott, Kind, den Pater, den holst du heut nimmer. Der ist seit zwei Tagen in der Bartholomäer Klause.«

Gittli mußte sich an die Mauer stützen, um nicht umzusinken.

»Aber sag, was fehlt dem Kind?«

»Es rührt sich nimmer und sieht nimmer. Und kennt mich nimmer. Ach, Frater Pförtner, so ein liebes, gutes Kind!«

»Mußt nit weinen, Mädel, der liebe Gott wird schon helfen! Und – wart ein Weil!« Das Gesicht hinter dem Gitter verschwand, dann streckte sich eine Hand heraus mit einer kleinen Flasche. »Nimm Dirnlein, nimm! Es ist das Beste, was ich hab: Oleum Saneti Quirini vom Kloster Tegernsee.«

Gittli griff zu mit beiden Händen.

»Reibe dem Kind die Stirn damit ein, und die Schläfe, und die Pulsadern an den Händen, und die Stelle, wo das Herz schlägt, und bete dazu drei Vaterunser! Das hilft. Das hat schon vielen Tausenden geholfen. Und jetzt geh, Dirnlein! Gelobt sei Jesus Christus!«

»Amen!« stammelte Gittli. Es war ein Laut voll heißen Dankes. Und schluchzend flog sie davon, aber sie weinte nicht mehr in Schmerz, sie weinte vor Freude. Was sie in den Händen hielt und an ihr Herz drückte, war die sichere Rettung: geweihtes, heiliges Öl! Immer und immer wiederholte sie Wort um Wort: »Die Stirn, die Schläfe, die Adern, und wo das Herz schlägt!« Und damit sie nur ja mit dem Beten nicht zu kurz käme, fing sie jetzt schon an, während sie rannte und rannte: »Vater unser, der du bist im Himmel –«

Erschöpft, keines Wortes mächtig, erreichte sie das Haus.

Sepha kam ihr entgegen, das Gesicht verstört, kalkweiß und von Zähren überronnen. »Kommt er? Kommt er?«

Gittli schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie noch nicht; doch während sie die eine Hand auf die fliegende Brust drückte, drängte sie mit der anderen schon die Flasche in Sephas Hände.

»Mein Gott, Gittli, so red doch,« jammerte das Weib, »schau, die Angst bringt mich um!«

»Nimm – nimm – das muß ihm helfen! Das hat schon tausend, tausend Mal geholfen, hat er gesagt. Vater unser, der du bist im Himmel –« Und betend sank sie neben dem Bette nieder, in dem das Kind noch lag, wie sie es verlassen hatte.

»Aber Gittli, so red doch, wie soll's denn helfen, was soll ich denn machen damit?«

Mehr mit Zeichen als mit Worten wiederholte Gittli den Rat, den ihr der Frater Pförtner gegeben. Neben dem Bette kniend, mit tränenerstickter Stimme betend, hielt sie das flackernde Talglicht, während Sepha tat, was der Mönch geraten. Mit zitternden Händen, unter Weinen und zärtlichem Stammeln entblößte die Mutter das Kind, das vor ihr lag wie eine vom Stengel gefallene Blüte. Ein zartes, holdes Körperchen, rund und weiß, wie aus Wachs gebosselt, aber alle Glieder gefesselt von starrem Krampf.

Endlich richtete Sepha sich tief atmend auf; alles war geschehen, was geschehen mußte. Sie legte die Kissen zurecht und breitete sorglich wieder die warme Decke über das Kind, das unempfindlich schien für alles, was ihm geschah.

»Meinst du, Gittli, es hilft?«

»Ja, ja, es muß helfen!«

»Der liebe Herrgott soll's geben! Wär nur der Polzer daheim!«

Nun saßen sie, Sepha und Gittli, die eine zu Häupten, die andere zu Füßen des Kindes, Stunde um Stunde, leise betend und des Wunders harrend, das sie mit Zuversicht erhofften.

Einmal streckte sich das Kind unter leisem Stöhnen, und die verkrampften Fäustchen schlugen seitwärts.

»Gittli!« stammelte das Weib.

»Tu dich nimmer sorgen! Es hilft, schau, es hilft schon. Weißt, er wehrt sich halt, der Krank, weil er spürt, daß er fort muß.«

Wieder saßen sie, betend und wartend. Auf leisen Sohlen schlich die Nacht davon, und durch die Fenster fiel der graue Dämmerschein des erwachenden Ostermorgens.

Seph atmete auf. »Jetzt wird der Polzer doch bald kommen?«

Gittli nickte; die Hände im Schoß gefaltet, daß sie, keinen Blick vom Gesicht des Kindes verwendend.

Wieder einmal befühlte Sepha die kleinen, starr geschlossenen Hände. Sie erschrak. »Gittli! Ich weiß nit – das Kindl wird so kalt! Da, greif her! Was meinst du denn?« Ihre Augen waren starr geöffnet, und ihre Stimme zitterte vor Angst.

Gittli umschloß mit beiden Händen die kalten, wachsbleichen Fäustchen des Kindes. Sie konnte nicht sprechen. Bang erschrocken schaute sie zu Sepha auf.

»Was meinst du,« stammelte das Weib, »wenn ich ihm Tücher warmen tät?«

»Ja, ja!«

Sepha zerrte einen Arm voll Leinenzeug aus einer Truhe, stürzte in die Küche, machte Feuer und preßte das Leinen in eine irdene Schüssel, um es an der Glut zu wärmen. Schluchzend riß sie die Haustür auf; der helle Glanz des Ostermorgens leuchtete ihr entgegen. Sie taumelte auf der Schwelle, raffte sich auf und rannte auf die Straße, um auszuschauen, ob ihr Mann nicht käme. Nichts, nichts, so weit ihre brennenden Blicke reichten.

»Mein Gott, mein Gott, wär er nur daheim geblieben!« stammelte sie und wankte zurück.

In der Stube kniete Gittli vor dem Bett, des Kindes kalte Finger behauchend, die zwischen ihren Händen lagen. Sie wurden nicht wärmer. »Seph, Seph!« rief sie in quälender Angst und wollte zur Tür. Doch während sie sich erhob, schien es ihr, als hätte das Kind sein Köpfchen bewegt. Sie hatte recht gesehen. Ein leises Zucken ging über die Augenlider, und der kleine Mund bewegte sich, als wollt er sprechen.

»Mimmidatzi!« schluchzte Gittli in neu erwachtem, freudigem Hoffen und warf sich auf die Knie.

Da hob das Kind ein wenig die Ärmchen und tastete mit gespreizten Fingern in die Luft. Gittli meinte, das Kind suche ihre Hände. »Ja, ja, mein Schatzi, das Handerl geben, gelt?« flüsterte sie in heißer Zärtlichkeit, die beiden Hände des Kindes fassend. »Dittibas geht nit fort, nein, schau, ich bin bei dir! Kennst du mich nimmer, Schatzi?«

Es legte sich auf das bleiche Mündlein wie ein sanftes, müdes Lächeln; ein seufzender Atemzug, dann streckte sich das Körperchen, und durch die kalten Finger rann noch ein leises Zittern.

Jetzt kam die Mutter mit den warmen Tüchern gerannt. »Seph, Seph!« rief ihr Gittli mit stammelnder Freude entgegen. »Besser geht's, besser! Es kennt mich schon wieder, und wie ich mit ihm geredet hab, da hat es mich angelacht. Schau nur, Seph, schau nur, es lachet noch allweil!«

»O du lieber, lieber Herrgott!« lallte Sepha. Die Freude benahm ihr fast die Stimme.

Nun griffen sie alle beide zu mit fliegenden Händen und hüllten das Kind von den Füßen bis an den Hals in die warmen Tücher; und wenn die Tücher zu erkühlen begannen, wurden sie wieder ersetzt durch andere, warme.

Und immer lächelte das Kind; nur war das kleine Gesicht so weiß wie Schnee, und der geschlossene Mund war anzusehen, als hätt er sich verwandelt in ein blasses Veilchen.

Stunde um Stunde verging. Und immer lächelte das Kind.

»Ich mein, es schlaft!« flüsterte Gittli. Und dann plötzlich kam ihr ein Gedanke: »Seph, ich lauf ins Kloster hinauf. Meinst du nit, es wär gut, wenn ein Pater beten tät?« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie in ihre Kammer, schlüpfte in die Schuhe, zog eine Jacke über, streifte mit flüchtigem Kuß die rote Wange des Buben, der in ihrem Bette schlief wie ein Murmeltier, und rannte aus dem Hause.

Als sie die Straße erreichte, sah sie zwischen den Bäumen einen Chorherren des Weges kommen. Den hatte ihr der liebe Gott geschickt, so meinte sie. »Herr Pater, Herr Pater!« rief sie und winkte ihm zu. Nun stand er vor ihr – Pater Desertus, der Fischmeister; er hatte im Kloster die Frühmesse gelesen und wollte heimkehren in seine Klause.

Gittli erschrak, da sie ihn erkannte. Sie zögerte, nur einen Augenblick, dann trat sie auf ihn zu, mit bittend erhobenen Händen, die Augen naß von Tränen.

Dunkle Röte flog über seine bleichen Züge, seine Augen flammten, und wie in heißer Sorge streckte er die Hände nach ihr und fragte: »Mädchen, was ist dir? Weshalb weinst du?«

»Ach, Herr Pater, wir haben ein krankes Kind daheim, ich bitt Euch, kommet mit mir und betet für das arme Würml!«

»Beten?« Über die Lippen des Priesters irrte ein Lächeln, das Gittli nicht zu deuten vermochte. Scheu wich sie vor ihm zurück. Er faßte ihre Hand und sagte: »Komm! Wir wollen sehen, was zu helfen ist.«

Sie wollte seine Rechte küssen, doch er wehrte es fast erschrocken. »Führe mich!« sagte er und folgte ihr mit raschen Schritten; dabei verwandte er keinen Blick von ihrem Gesicht, immer wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er irgend etwas, das ihn zu bewegen schien in seinem tiefsten Innern, nicht fassen und begreifen.

Nun erreichten sie die Haustür, und da ließ er die Hand des Mädchens und fuhr sich über die Stirn, wie um etwas von sich abzustreifen, was er nicht über die Schwelle tragen wollte.

Gittli bekreuzte sich, als der Chorherr ihr voran in die Stube schritt. Sepha erhob sich vom Bett und zog sich scheu in einen Winkel zurück; Gittli blieb mit gefalteten Händen an der Tür stehen, und so folgten die beiden Frauen mit brennenden Augen jeder Bewegung des Priesters, der neben dem Bette stand, tief über das regungslose, lächelnde Kind gebeugt.

Nun richtete er sich auf, schwer atmend, und sein Antlitz schien noch blässer geworden. Mit wehmutsvollem Blick suchten seine Augen die Mutter. »Komm her zu deinem Kinde!« sagte er mit leiser, schwankender Stimme.

Ein Zittern fiel über Sephas Glieder, in ihrem Gesicht erstarrte die Angst jeden Zug, nur die Arme konnte sie strecken, aber ihre Füße waren auf der Diele wie festgewurzelt.

»Hier ist keine Hilfe mehr. Es müßte denn sein, daß Herr Jesus in diese Stube träte und zu deinem holden Kinde spräche wie zur Tochter des Jairus: Steh auf und lebe!«

Gittli erbleichte. Und Sepha rang nach Atem, aber noch immer wollte sie nicht fassen, was geschehen.

»Ach, guter Pater,« stammelte das Mädchen, »schauet nur hin, es lachet ja, es lachet!«

»Das Lächeln der Erlösung!« Und Sephas Hand erfassend, sagte er: »Dein Kind ist heimgegangen zu seinem Schöpfer.«

»Ach du lieber Gott!« schrie Gittli schluchzend auf. Wie von Sinnen stürzte sie zum Bett, doch ehe sie es erreichte, brachen ihr schon die Knie, auf den Knien rutschte sie weiter, schluchzend und schreiend, und mit Gesicht und Armen warf sie sich über die Füße ihres entschlafenen Lieblings: »Schatzi, mein Schatzi!« In heißem Weinen erstickten ihre Worte.

Sepha stand noch immer wie ein steinernes Bild. Nun rang es sich mit gellendem Schrei von ihren Lippen: »Mein Kind!« Mit beiden Fäusten stieß sie den Priester von sich, faßte mit zuckenden Händen das zarte, wachsbleiche Körperchen. Ihre Glieder erlahmten, starr quollen die Augen aus dem von Schmerz verzerrten Gesicht, und mit stöhnendem Laut, wie das gehetzte Wild ihn ausstößt, wenn es niederbricht inmitten der Meute, sank sie über das Bett, das Kind umklammernd: »Kann denn unser Herrgott so was zulassen! Mein Kind! Mein Kind! So was – so was muß über mich kommen! Warum denn? Warum denn? Warum denn?«

»Warum? Du armes Weib!« Pater Desertus legte die Hand auf Sephas zuckende Schulter. »Tausende und Abertausende vor dir haben diese Frage schon hinausgeschrien aus brennendem Herzen, und keinem noch ist Antwort gekommen, nicht aus der Höhe, noch aus der Tiefe. Warum? Auf frühlingsgrüner Wiese steht eine Blume, hold und lieblich in ihren reinen Farben, in ihrem süßen Duft, wie ein gütiger Gedanke Gottes, der zur Erde niederflog und Wurzel schlug, um zuweilen als eine Freude der Menschen. Da kommt die Nacht mit ihrem tötenden Reif. Und ein Tier zieht über die Weide und tritt mit fühllosem Huf die erfrorene Blume in den Kot. Warum? Auf sonniger Halde steht ein Baum, gesund und strotzend von Kraft. Er hat geblüht in zahllosen Kelchen, und nahe schon ist die Zeit, da er für treue Pflege danken will mit köstlichen Früchten. Doch vor der Ernte kommt der Sturm, ein Stoß nur, und der schöne stolze Baum liegt auf der Erde, verwüstet und gebrochen! Warum? Warum? Im weiten Feld steht die reifende Saat, getränkt vom Schweiße hoffender Menschen. Der Hagel vernichtet sie. Warum? In freundlichem Tal steht Hütte an Hütte, zufriedene, lachende Menschen unter jedem Dach. Da brechen am Bergsee die steinernen Dämme, eine Stunde nur, und Trümmer und Leichen bedecken das Tal. Warum? Redlichen Sinnes zieht ein guter Mensch seines Weges, sein Blick ist Treue, und Liebe jeder Schlag seines Herzens. Da fallen die Wölfe über ihn her, oder ein Blitz erschlägt ihn, oder eine Brücke weicht unter seinem Fuß. Warum? Es steht eine herrliche Burg, fest und stolz –« Die Stimme des Chorherren verwandelte sich, klang dumpf und heiser. »In ihren Mauern wohnt das Glück, rein und heilig, wie es noch je hervorgegangen aus Gottes Hand. Aus ihren Toren zieht ein glückseliger Mann. Und da er wiederkehrt, dürstend nach dem Anblick seines Weibes, nach den süßen Augen seiner Kinder, findet er nur rauchenden Schutt und verkohlte Gebeine. Warum? Warum? Warum?«

Sepha richtete sich auf, verschlang die Hände, und zu dem Priester aufblickend, alle Verzweiflung ihres Herzens im Auge, schluchzte sie: »Ach Herr, redet doch nit so grausam und hart zu mir, sagt mir doch ein Wort des Trostes, nur ein einziges Wort!«

»Ich weiß dir keinen Trost, ich sehe dein Kind und finde keinen. Nur eine Wahrheit kann ich dir sagen, die ich erkannte mit blutendem Herzen: wer lebt, muß leiden, wer lacht, wird weinen müssen, und verlieren, wer besitzt!«

Sepha schlug die Hände vor das Gesicht.

Da klang aus der offenen Kammer eine Kinderstimme: »Muetter!« Und Lippele erschien auf der Schwelle im langen Hemd, die runden Wangen hoch gerötet vom gesunden Schlaf, in der Hand ein kleines hölzernes Pferd ohne Kopf und mit halben Beinen.

Sepha sprang auf, stürzte auf den Knaben zu mit schluchzendem Schrei und riß ihn empor an ihre Brust.

Pater Desertus war zur Tür gegangen; es schien, als wollte er sich noch einmal zurückwenden; aber schwer aufatmend deckte er die Hand über seine Augen und verließ das Haus.

Gittli lag noch immer auf den Knien, das Gesicht in die Arme gedrückt. Erst als Sepha wieder zum Bette trat, hob das Mädchen die brennenden Augen, sah zu der Schwäherin auf und schlug in hilflosem Schmerz die Hände ineinander.

Sepha kniete zur Seite des Bettes nieder, stellte den Knaben auf die Erde, und ihr Schluchzen mühsam bekämpfend, sagte sie: »Schau, Lippele – dein Schwesterl, schau nur, schau – geh, gib ihr noch ein Handl und sag ihr: behüt dich Gott, mein Schwesterl, du mein liebs!«

Lippele schaute auf das stille, wie im Traume lächelnde Kind, dann wieder auf die Mutter und fragte: »Warum denn?«

»Mußt nit fragen, Lippele, tu's nur, tu's!«

Lippele streckte den Arm; als er die Kälte des starren Händchens fühlte, erschrak er und brachte kein Wort hervor. Ängstlich schaute er zu der Mutter auf und hob die beiden Arme nach ihr. Sepha umschlang ihn, der gewaltsam verhaltene Schmerz brach mit neuer Macht aus ihrem gepreßten Herzen, und so kauerte sie schluchzend auf der Erde, das Gesicht des Knaben übergießend mit ihren Tränen.

»Muetter, Muetter!« stammelte das Kind und begann zu weinen, weil es die Mutter weinen sah. Gittli erhob sich und wankte in die Kammer; drinnen, am offenen Fenster, stürzte sie schluchzend nieder. Mit breitem Strahl fiel die Morgensonne auf den gebeugten Mädchenkopf.

Draußen webte der Glanz und Schimmer des Ostertages; die Ache rauschte und in den Nachbarhöfen krähten die Hähne. Auf den Obstbäumen, deren Knospen schon zur Blüte drängten, zwitscherten die Meisen und flogen hin und her, Halme tragend für den Nestbau.


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