Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 11

Als um die Mittagsstunde vom Münsterturm der Hall der Glocken über Berg und Tal schwebte, hatte Gittli schon die Almen erreicht. Ihre Kräfte waren fast erschöpft, und doch lag vor ihr noch ein weiter, weiter Weg. Über das offene Almfeld, von dem sie den Kreuzwald schon erblicken konnte, eilte sie noch in vollem Lauf hinweg. Doch als sie einen steilen brüchigen Hang erreichte, auf dem die Regenstürze des Frühjahrs jede Spur eines Pfades vertilgt hatten, ging ihr der Atem aus, und die Glieder versagten. Zu Tod erschöpft sank sie auf einen Rasenfleck; schluchzen konnte sie nicht, nur stöhnen. Mit der Brust auf der Erde liegend, drückte sie das glühende Gesicht in das kühle Gras und krampfte die Hände in den Grund. Sie meinte zu sterben, zu ersticken. Und dennoch fühlte sie nicht die eigenen Schmerzen, sie dachte nicht an sich selbst, immer nur an ihn! Jetzt lag sie hier, ein Häuflein Elend und Schwäche – und er lag hilflos dort oben, verblutend, sterbend. Sie richtete sich halb empor und schrie mit gellender Stimme in die lautlose Stille der Berge: »Hoidoooh! Leut! Leut!«

Niemand gab Antwort; nur das Echo ihrer Stimme klang hohl zurück von Wald und Wänden.

Weshalb nur hatte sie zu seiner Hilfe die Leute nicht gerufen, wo Leute waren? Drunten im Tal, im Dorf? Hatte sie an den Schwur gedacht, bei dem sie die Hand auf das erkaltete Herz des Kindes gelegt? »Ach Gott, das Kindl, das Kindl!« Nun konnte sie wieder schluchzen. Oder hatte sie gemeint, daß sie allein ihm helfen, allein ihn retten und heilen könnte, wie durch ein Wunder? Nein, nein! An gar nichts hatte sie gedacht, weder an das eine, noch an das andere – sie war gerannt und gerannt, blind und taub, ohne zu denken, ganz von Sinnen. Und jetzt lag sie hier, so weit von ihm, noch weiter von den Menschen im Tal. Und wenn er verbluten mußte, verschmachten in Schmerzen und Not, dann war es ihre Schuld, nur ihre Schuld allein!

Sie mußte zu ihm, sie mußte, mußte, und wenn ihr die Füße brechen und alle Glieder vom Leibe fallen sollten. »Haymo! Haymoli! Schau, ich komm schon!« Mühsam raffte sie sich auf, keuchend überwand sie den steilen Hang. Droben im dunklen Hochwald, der sie umfing, lehnte sie sich für kurze Weile an einen Baum, bis sie Atem fand, dann wankte sie weiter. Die sachte Neigung des Waldes und ein ausgetretener Pfad erleichterten ihr den Weg.

Plötzlich blieb sie lauschend stehen; hinter einer Biegung des Steiges hörte sie Steine kollern, hörte tappende Schritte, als käme, schwer auftretend, einer mit nackten Füßen gegangen. Heiß fuhr ihr die Freude zum Herzen. Das war Hilfe, die ihr der liebe Herrgott sandte! Sie wollte rufen, aber der Laut erstarb ihr in der Kehle.

Um die Biegung des Pfades kam ein Bär getrottet, die Nase des dicken Kopfes spürend zur Erde gesenkt. Ohne recht zu wissen, was sie tat, raffte Gittli einen Stein auf und hob den Arm zum Wurfe; doch als der Bär verhoffend den Kopf aufrichtete, machte der Schreck sie erstarren. Sie rührte wohl die Lippen; aber nicht in Worten, nur in Gedanken sprach sie den Bärensegen:

»Großvater Zottefell,
Süßfuß, Waldgesell,
Rühr mich nit an,
Birg deinen Zahn,
Hüt deine Tatz,
Weiche vom Platz,
Krumm, krumm,
Um mich herum!«

Regungslos standen der Bär und das Mädchen sich gegenüber; Gittli mit erhobenem Arm, vom Entsetzen fast versteinert, der Bär betroffen, beinahe selbst erschrocken über die unerwartete Erscheinung. Eine Weile betrachtete er mit schiefgehaltenem Kopf das Mädchen, dann schüttelte er den Pelz, wandte sich seitwärts in den Wald und trollte zwischen den Bäumen davon. Der Stein fiel aus Gittlis Hand, der Bann ihrer Glieder löste sich, und von peinigender Furcht getrieben, stürzte sie davon. Doch nicht für ihr eigenes Leben fürchtete sie. Das Abenteuer war gefahrlos überstanden. Aber der Bär war von dort gekommen, wohin der Weg ging! Die Angst stellte ihr ein Bild vor die Seele, das sie schaudern machte bis ins innerste Mark. Sie rannte und rannte; alle Erschöpfung war von ihr gewichen. Entsetzen, Jammer und Sorge hatten ihre erlöschenden Kräfte neu belebt.

Jetzt erreichte sie das offene Steintal und sah auf der Höhe schon das Kreuz in die Lüfte ragen, umflimmert vom Schein der Sonne.

Nun stieg sie über den letzten Hang empor. Immer wieder mußte sie stehen bleiben. Nicht die Ermüdung, sondern die herzbrechende Angst vor dem Anblick, der ihrer wartete, benahm ihr den Atem und fesselte ihre Glieder. Alle Pein, die sie erfüllte, sprach aus dem trostlosen Blick ihrer Augen.

Wankend erreichte sie die Höhe. »Haymo, Haymo!« Der Platz vor dem Kreuze war leer. Nur eine halb vertrocknete Blutlache bezeichnete die Stelle, an der die Tat geschehen war. Und versprengtes Blut klebte auch an dem Kreuz und seinem Bilde. »Du! Du bist dabei gewesen und hast es geschehen lassen.« Dann wieder schrie sie: »Haymo! Haymo!« Keine Antwort kam. Da gewahrte Gittli, daß eine blutige Fährte auf dem Pfad hinwegführte gegen die Jagdhütte. Ein Schimmer freudiger Hoffnung erwachte in ihr: Haymo mußte leben, er hatte noch die Kraft besessen, sich aufzurichten, sich heimzuschleppen. Immer wieder den Namen des Jägers rufend, folgte sie der Spur, die er gezeichnet mit seinem Blut. Und jeder neue Tropfen, den sie fand und der sie leitete, war ihr ein neuer brennender Schmerz.

Immer näher kam sie der Hütte, und immer wollte ihr jammernder Ruf noch keine Antwort finden. An der Hütte, die sie mit einem Steinwurf schon hätte erreichen können, sah sie die Tür geschlossen. Diese Wahrnehmung jagte ihr neue Angst in die Seele.

Jetzt lenkte der Pfad aus den dichten Büschen der Krüppelföhren auf eine Rodung – und da lag er vor ihr, mitten auf dem Steige, leblos, mit Blut besudelt, das Haupt versunken in welkem Krautwerk, mit seitwärts geschlagenen Armen, deren Finger noch den Bergstock und die Armbrust umklammert hielten.

»Haymo! Haymoli!« rang es sich in Schmerz und doch in Freude von ihren Lippen, während sie niederstürzte an seiner Seite. Sie faßte seine Hände, rüttelte seine Arme, hob sein Haupt empor. Kein Zeichen des Lebens rührte sich in seinen Zügen, kein fühlbarer Hauch entströmte seinem halb geöffneten Mund, fahle Blässe lag auf den eingefallenen Wangen, und bläulich schimmerten die Lippen und die geschlossenen Lider. Dennoch erlosch die Hoffnung nicht in ihrem Herzen; sie konnte das Schlimmste nicht fürchten, an seinen Tod nicht glauben – und das Undenkbare denkt man nicht – und sie hielt ihn in ihren Armen, fühlte die Wärme seines Körpers! Und zum Jammer blieb ihr keine Zeit, sie mußte helfen, helfen, helfen!

In einer tiefen Felsschrunde gewahrte sie einen Klumpen Schnee; sie sprang hinüber, warf sich auf die Erde, griff mit beiden Armen hinunter und faßte, was ihre Hände fassen konnten. Mit dem Schnee begann sie Haymos Gesicht zu reiben; wohl färbte eine matte Röte seine Wangen, aber das schlummernde Leben wollte nicht erwachen. Was tun? Was tun? Da schoß ihr die Erinnerung an jenen Spruch durch die Sinne:

»Zwei Tropfen machen rot –«

Eine Nieswurz! Mit brennenden Augen spähte sie umher. Auf hundert Schritte fast, einem hohen Fels zu Füßen, meinte sie eine Staude zu erkennen; sie rannte hin und hatte sich nicht getäuscht: rings um das Stöckl hingen noch die verblühten Schneerosen an den welken Stengeln. Mit den Fingern grub sie die Wurzel aus der Erde, und während sie zurücklief, säuberte sie Wurzel und Hände an ihrem Rock.

Nun lag sie wieder neben Haymo auf den Knien, brach die Wurzel in zwei Stücke, hielt sie über seine Lippen und drückte und preßte, bis aus dem Mark der Wurzelstücke zwei große Tropfen auf Haymos Lippen fielen. Mit heißpochendem Herzen wartete sie, keinen Blick von seinem Munde verwendend. Aber seine Lippen wollten sich nicht rühren, und nicht die leiseste Bewegung zeigte sich an seiner Kehle.

Sie rüttelte seine Schultern und schluchzte dicht an seinem Ohr: »Haymo, so tu doch schlucken, ich bitt dich um Tausendgottswillen, tu doch schlucken!« Dann wieder wartete sie – vergebens. »O Gottele, Gott, was tu ich denn?«

Sie faßte einen Ballen Schnee, brachte ihn durch die Wärme ihrer Hände zum Schmelzen und ließ das Wasser über Haymos Lippen träufeln. Seine Mundhöhle füllte sich, ein Zucken lief über seinen Körper, ein heftig stoßender Atemzug, ein Gurgeln und Röcheln, dann wieder lag er still; seine Lippen bewegten sich; er hatte geschluckt, und gleichmäßig strömte sein Atem.

Schluchzend und lachend in Freude, schlang Gittli die Hände um sein Gesicht und hob es an ihre Brust. Sie spürte an dem Hauch seiner Lippen, wie sein Atem sich kräftigte, sie sah, wie seinen Wangen, wenn auch nur matt, die Farbe des Lebens wiederkehrte. Seine Arme bewegten sich, er rührte den Kopf, langsam öffneten sich seine Augen und lange, lange sah er das Mädchen an mit verlorenem Blick. »Kennst du mich, Haymo, kennst du mich?« stammelte sie und beugte den Kopf zurück, damit ihm nicht ihre rinnenden Tränen in das Gesicht fielen. »Kennst du mich? Schau, ich bin's doch, die Gittli!« Nun erkannte er sie. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust, seine Augen schimmerten, und ein Lächeln huschte um seinen Mund. Er wollte sprechen, aber seine Zunge konnte nur lallen.

»Tu dich nit plagen, mußt nit reden!« stammelte sie, während sie den Arm unter seinen Nacken legte, um ihn aufzurichten. »Komm, tu dich anhalten an mir, so! Halt nur recht fest! Schau, es geht schon, es geht!« Ihr ganzer Körper schwankte unter dem Gewicht, mit dem der Entkräftete an ihrem Halse hing. Dennoch brachte sie ihn auf die Füße. »So, und jetzt mach ein Schrittl! Und jetzt noch eines! So, so!« Er wandte halb den Kopf und tastete mit dem freien Arm gegen die Erde. Sie verstand ihn: er wollte sich von seiner Waffe nicht trennen, sie war ein Stück seines Lebens; als er vor dem Kreuz in tiefer Ohnmacht erwachte, hatte sein erster Blick der Armbrust gegolten, und bevor er sich von der Stelle schleppte, hatte er das Weidmesser, noch rot und naß von seinem eigenen Blut, in der Scheide verwahrt.

Gittli ließ ihn halb in die Knie sinken, und es gelang ihr, die Armbrust zu erfassen. »Schau, Haymo, schau, ich hab sie schon! Jetzt aber komm nur, komm! Wir müssen schauen, daß ich dich heimbring. Das Griesbeil hol ich dir später, jetzt muß ich's liegen lassen. Schau, ich brauch meine Händ für dich!« Sie hatte das Schießzeug hinter die Schulter gehängt und umschlang den Wankenden wieder mit beiden Armen; und so schleppte sie ihn vorwärts, Schritt um Schritt, jeden Fußbreit Weges, den er mit taumelnden Knien gewann, als ein heiß erkämpftes Gut begrüßend, jeden zitternden Ruck seiner Füße mit zärtlichen Worten preisend wie eine Heldentat. Einmal zuckte er stöhnend zusammen.

»Haymo!« flog es in Angst von ihren Lippen.

Der heiße Klang seines Namens schien ihm neue Kraft zu geben; er ballte die Fäuste, wie um den Schmerz zu bezwingen, hob das Gesicht zu ihr und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Es tut nit weh!«

Wieder ging es weiter, Schritt für Schritt. Endlich erreichten sie die Hütte; nur mühsam gelang es dem Mädchen, Haymo zum Lager zu bringen; sie ließ ihn auf das Wolfsfell sinken und schob das Polster unter seinen Kopf. Dann wankte sie selbst vor Erschöpfung, ein Schwindel befiel sie, und schwer atmend, zitternd an Händen und Knien, saß sie eine Weile mit taumelnden Sinnen auf der Bank. Als sie sich erholte, gewahrte sie, daß Haymo das Bewußtsein wieder verloren hatte. Sie stürzte zu ihm; als sie den ruhigen Gang seines Atems spürte und den matten, aber gleichmäßigen Schlag seines Herzens, da war sie wieder getröstet. Sie richtete sich auf und nahm ihren Kopf zwischen die Hände: was mußte, was konnte sie tun? Hier in dieser Öde, auf sich allein gestellt? Sie jammerte und klagte nimmer. Erst dachte sie, und dann ging sie ans Werk, in fliegender Hast und dennoch ruhig und besonnen. Wohl faßte und ermaß sie nicht ganz die Schwere des Ernstes, der auf ihre jungen Schultern gelegt war. Doch aus dem Kinde war ein Weib geworden, das wohl die jäh erwachte Sprache seines Herzens noch nicht hörte und verstand, ihrem zwingenden Geheiß aber unbewußt gehorchte, wie das in Lüften treibende Blatt der Gewalt des Sturmes. Tapfer und siegesfreudig kämpfte sie für den todwunden, hilflosen Mann, ohne zu wissen, daß sie rang um das köstlichste Gut ihres Daseins, um das Leben des Geliebten.

Was Gittli empfand, verhüllte sich vor ihr in dem kindlichen Gedanken: daß sie mit Leib und Seele diesem Manne dienen und an ihm sühnen müsse, was die mörderische Hand ihres Bruders verschuldet hatte.

Bei der Armut des Lebens, das sie unter dem Dach des Sudmanns geführt, hatte Gittli von Kind auf gelernt, manchem Übel mit eigener Hand zu wehren, ohne fremde Hilfe. Das kam ihr nun zustatten. Bei einer Musterung der Stube fand sie das Nötigste: Feuerstein und Zunder, gesalzenes Fleisch, das eine kräftige Suppe gab, Hirschtalg zur Bereitung einer Wundsalbe und Leinen zum Verband; mit dem letzteren war es wohl spärlich bestellt; aber da war gleich geholfen; sie riß sich die weißen, bauschigen Ärmel ihres Hemdes von den Schultern.

Rasch und sicher ging ihr alles, was sie tat, von den kleinen, flinken Händen. Und bei allem, was sie begann, flog immer wieder ein Blick hinüber zu dem stillen Mann. Durch Tür und Fenster leuchtete die Sonne, und würzig strömte die Frühlingsluft der Berge in den kleinen Raum, in dem das Schicksal zweier Menschen auf der Waage schwebte.

Gittli hatte Feuer gemacht und das sorgsam ausgewaschene Fleisch zum Sieden gesetzt. Nun eilte sie ins Freie, um eine frische Nieswurz auszugraben und Harz von den Fichten zu sammeln, die um die Hütte standen. Am Feuer läuterte sie einen Teil des Harzes, vermischte es mit geronnenem Hirschtalg und stellte die fertige Salbe an einen schattigen Ort, damit sie verkühle. Im Fleischtopf brodelte schon die werdende Suppe. Ach, wenn es doch Sommer wäre, dachte Gittli; sie kannte alle heilsamen und kräftigen Bergkräuter; welch eine würzige Suppe hätte sie bereiten können! Aber noch sproßte auf den Berghalden kein Kraut und blühte keine Blume. Ein Glück nur, meinte sie, daß der liebe Herrgott die Schneerosen erschaffen hatte!

Sie holte frisches Wasser und trug in einer Pfanne allen Schnee zusammen, den sie in den Felsschrunden rings um die Hütte fand. Und nun mußte geschehen, was ihr am schwersten wurde; mit zitternden Händen, scheu und beklommen, begann sie das Werk. In der Tischlade hatte sie ein Messer gefunden. Mit ihm trennte sie auf der Seite, auf welcher Haymo die Wunde trug, den Ärmel von seinem Wams und löste über der Schulter die Nähte bis zum Hals. Ein Zittern befiel sie, als sie die bloßgelegte Wunde erblickte, die mit blutigen Rändern klaffte wie eine Mund mit roten Lippen. Die Blutung schien gestillt, doch rings um die Wunde zog sich eine breite, brennende Schwellung.

Gittli hatte die Hände vor die Augen geschlagen; rasch fand sie wieder den in Schmerz und Pein verlorenen Mut. Sie wusch die Wunde, kühlte mit Schnee die glühende Schwellung und erneuerte immer wieder den schmelzenden Schnee, bis die Röte der Haut zu schwinden, die Schwellung sich zu senken begann. Jetzt verteilte sie die Salbe auf einen Leinwandlappen, legte ihn über die Wunde und verklebte den Rand mit Harz.

Nun war es getan! »Aaaach Gottele!« seufzte sie aus erleichtertem Herzen, und beugte sich über Haymo. Regungslos hatte er alles mit sich geschehen lassen; seine Ohnmacht hatte sich, ohne daß er aus ihr erwachte, verwandelt in den tiefen Schlummer der Schwäche.

Um die bösen Geister von ihm zu treiben, welche Gewalt über Schlafende haben, machte sie auf seine Stirn und Brust das Zeichen des Kreuzes, flocht aus einem langen Heuhalm, den sie aus dem Lager zog, einen Drudenfuß und legte ihn zu Häupten des Bettes auf die Erde. Dann eilte sie zum Herd zurück. Die Suppe war kräftig und wohlschmeckend geraten; das Fleisch schnitt Gittli in kleine Stücke und zerrieb sie auf einer reinlichen Felsplatte mit einem Kieselstein zu Brei, den sie der Suppe beimengte; dann setzte sie noch einen Tropfen vom Saft der Nieswurz zu – er machte das Herz frischer schlagen und das Blut lebendiger strömen – und die Suppe war fertig.

In der einen Hand den hölzernen Löffel, in der anderen den Napf mit der Suppe, setzte sie sich auf den Rand des Bettes.

»Haymo?«

Er rührte sich nicht.

Sie neigte sich zu seinem Ohr. »Haymoli!«

Da streckte er sich mit langem Atemzug und schlug die Augen auf.

Sie nickte ihm lächelnd zu. »Da schau, was ich dir gekocht hab! Oh, du, das ist gut!« Als hätte sie ein Kind vor sich, führte sie den Löffel an ihre Lippen und tat, als ob sie koste. »Aaah! Das ist was Feines! Magst du es essen, ja?« Er versuchte sich aufzurichten, doch kraftlos fiel ihm der Kopf zurück auf das Polster. »Aber bleib doch, tu dich nur gar nit plagen, schau, es geht schon!« sie rückte näher, hielt ihm den Löffel an den Mund, und während er nahm und mühsam schluckte, an ihr hängend mit feuchten Augen, redete sie mit ihm, wie sie zu hundert Malen mit ihrem kleinen, süßen Mimmidatzi geredet hatte.

Ein Kind der Sorge war ihr mit diesem Tage genommen worden, ein Kind der Sorge wieder gegeben.

Während sie ihm Löffel um Löffel reichte, merkte sie, daß auch in ihr der Hunger brannte. Seit dem vergangenen Abend hatte sie keinen Bissen genossen. Im Kasten lag ein Laib Schwarzbrot – das war gut genug für sie. Alles andere mußte sie für Haymo bewahren. Verlassen durfte sie ihn nicht, und es konnten Tage vergehen, bis ein Mensch zur Hütte kam. Drunten wußte niemand um Haymos Schicksal, außer dem einen, der auch auf der Folter nicht reden würde. Ein Schauer rann ihr durchs Herz, als sie an Wolfrat dachte und ihn wieder stehen sah mit erhobenem Beil – der Bruder wider die Schwester! Sie hatte ein Empfinden, als stünde sie vor einem bodenlosen Abgrund, so breit, daß keine Brücke hinüberreichte – und drüben stünde dieser Mann. Und seltsam: es kam ihr vor, als wär es immer so gewesen. Als kleines Ding hatte sie ihn gefürchtet, dann war sie der Sepha von Herzen gut geworden und hatte die Kinder geliebt, als wäre sie ihnen Schwester und Mutter zugleich.

Wie ein flüchtiger Schatten zog dieser Gedanke durch ihr Herz; er wich der hellen Freude darüber, daß Haymo die Suppe genossen hatte bis auf den letzten Tropfen. Nun lag er wieder still, mit geschlossenen Augen.

Sie stellte den Napf auf den Herd zurück, schnitt sich ein Stück Schwarzbrot, trug einen hölzernen Pflock vor Haymos Lager und ließ sich darauf nieder. Nun durfte sie ruhen. Was sie zu tun vermochte, hatte sie getan. Alles übrige mußte der liebe Herrgott leisten und Haymos junge, kräftige Natur.

Während Gittli ihr Brot verzehrte, stiegen wieder die finsteren, schmerzvollen und blutigen Bilder dieses Tages vor ihr auf, von der nächtigen Stunde an, da Sephas angstvoller Ruf sie aus dem Schlummer geweckt hatte. »Ach, das Kind, das Kind!« Solch ein liebes, süßes, unschuldiges Ding! Wie kann nur das geschehen? Gestern hielt man es noch in seinen Armen, hat es geherzt und geküßt, hat sich die Seele warm gefreut an seinem holden Leben, hat mit dem Herzen sich hineingetrunken in die blaue, lautere Tiefe seiner Augen. Und wo ist es heut? Weg, fort, irgendwo – wohin keine Arme greifen und keine Sehnsucht reicht!

»Ach, und die Seph! Mein Gott, mein Gott, die arme Seph!«

Es legte sich auf Gittlis Herz wie ein schwerer Stein; sie schlug die Hände vor das Gesicht.

Da klang die lallende Stimme Haymos an ihr Ohr: »Gittli!«

Hastig fuhr sie sich über die Augen. »Ja, Haymoli, schau, ich bin schon bei dir! Willst du was?«

Er tastete mit kraftlosen Armen nach ihr, und als sie seine Hand mit beiden Händen umschloß, lallte er: »Gittli – vergelt's Gott!«

Sie schüttelte den Kopf und lachte ihn an. Sie hatte doch nur getan, was sie mußte.

Seine Hand ließ sie nicht wieder los. Und während sie nun so saß, Stunde um Stunde, bald in heißer Sorge zu ihm aufblickend, bald wieder verloren in finster und sonnig durcheinanderschwimmende Gedanken, kam auch in ihr die Natur zu Recht und Geltung. Die Erschöpfung löste ihre Glieder, ihr Kopf sank auf den Rand des Lagers, und als sich draußen der Tag zum Abend wandelte, schlief sie schon und atmete in langen Zügen.

Vor der Hütte gurgelte der rinnende Quell, und leise rauschte der Bergwald in der Ferne.


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