Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 25

Bei grauendem Morgen erreichte Zenza das Dorf. Sie rastete nicht. Eilenden Ganges wanderte sie auf der Straße weiter; sie hatte den Rock geschürzt und führte in der Hand einen Stecken, den sie im Bergwald gebrochen. Noch stieg keine Rauchsäule aus den Dächern, und Stille herrschte über allen Feldern und Wiesen. Es war Fronleichnamstag!Zweiundzwanzig Jahre vor Beginn unserer Geschichte war die Fronleichnamsfeier von Papst Johannes XXII. als allgemeines Fest der Christenheit eingeführt worden. Das höchste Fest des Jahres! Viele Häuser waren schon mit Birkenbäumchen und Laubkränzen geziert, und vor anderen Gebäuden, die noch ungeschmückt waren, lagen die Birken haufenweise bereit. Niemand begegnete ihr; die Leute schliefen noch; nur manchmal fuhr kläffend aus einem Gehöft ein Hund hervor, der ein schweres Scheit Holz an den Hals geknebelt trug, das ihn hindern sollte, in den Klosterwäldern ein kleines Jagdvergnügen aufzusuchen.

Zwei Stunden tüchtigen Marsches, und Zenza erreichte den Markt Schellenberg. Hier waren die Leute schon munter; Erwachsene zierten die Häuser, Kinder bestreuten die Straße mit Blumen, die Salzknappen schmückten das Sudhaus und bauten einen Altar.

Zenza hungerte. Sie trat in die Taferne. »Grüß dich Gott, Leutgeb!« sagte sie zum Wirt. »Kennst du mich?«

»Wenn ich recht mein, bist du dem Eggebauer seine Tochter?«

»Wohl!«

»Wo gehst du hin in aller Früh?«

»Auf Salzburg hinein.«

»Willst du dir den Umgang anschauen?«

»Wohl! Und ich bin überhops von meiner Alm davon und hab vergessen, daß ich einen Zehrpfennig mitgenommen hätt. Willst du mir Essen und Trinken geben? Mein Vater zahlt schon, wenn er vorbeikommt. Und wenn du noch ein übriges tun magst, gib mir zwanzig Heller auf den Weg!«

Die Tochter des reichen Eggebauern hatte ein leichtes Fordern; hätte sie nicht zwanzig Heller, sondern zwanzig Schillinge begehrt, der Leutgeb hätte einen Katzenbuckel gemacht und wär gesprungen, um den Kasten aufzutun.

Zenza schob die Münzen in die Tasche, den Stutzen Rotwein leerte sie auf einen Zug, Brot und Selchfleisch nahm sie in die Hand und begann zu essen, während sie weiterwanderte.

Abermals zwei Stunden, und der Untersberg lag hinter ihr. Weit und eben, noch von den zarten Nebeln des Morgens überflossen, dehnte sich das Grödiger Moos. Bald verwehte ein frischer Wind den grauen Duft, der über die Landschaft gebreitet lag, und im Glanz der Morgensonne, stolz und schön, winkte ihr die leuchtende Stadt entgegen. Auf den ragenden Zinnen der Hohensalzburg, auf dem steilen Dach des Domes zu St. Peter, auf dem schlanken, zierlichen Turm der Franziskanerkirche, auf jedem Herrenhaus, überall wehten die weißen und roten Fahnen des Festes.

Als Zenza das Nonntaler Tor erreichte, begannen schon alle Glocken zu läuten. Der junge Torwärtel hielt ihr die Hellebarde vor und wollte die Maut von ihren Lippen erheben; statt eines Kusses zahlte sie mit einem Nasenstüber, schlug den Spieß beiseite und rannte durch die enge Gasse, im Strom der Leute verschwindend, die zum Domplatz eilten. Zenza überließ sich dem schiebenden Gedränge, ratlos, was sie beginnen sollte. Das Heim der Domfrauen würde sie wohl bald erfragen können. Aber wie sollte sie ins Kloster gelangen? Wie sollte sie Gelegenheit finden, Gittli ohne Zeugen zu sprechen? Während sie grübelte, wurde sie gedrückt und geschoben; vom Hall der vielen Glocken begannen ihr die Ohren zu singen; und in dem hundertstimmigen Lärm, bei dem klappernden Getrappel der Pferde, bei dem Geschrei der vor den Hufen Flüchtenden wurde ihr völlig wirr und taub zu Sinne.

Schließlich stand sie mitten in dichtem Menschengewühl auf einem großen Platz; ringsum Kirchen und ragende Gebäude, alle reich geziert mit Fahnen, Bildern, kostbaren Teppichen und Stickereien, mit Birkenbäumchen, Laubgewinden und leuchtenden Blumen.

Das Geläut der Glocken hatte ausgesetzt; nun begann es wieder, mit ihm vermischten sich, aus einer nahen Gasse schallend, die schmetternden Klänge der Posaunen, die hellen Töne der Zinken, die dumpfen Wirbel der Pauken, dazu ein mächtig anwachsender Gesang von Kinder-, Frauen- und Männerstimmen, die durcheinanderflossen wie brausende Wellen. Vor Zenzas Augen, deren Herz erzitterte in frommem Schauer, entwickelte sich mit funkelnder Pracht die heilige Prozession. Voran auf weißen Rossen die Herolde in goldgestickten Wappenröcken, dann die bunt gewandete Truppe der Posaunenbläser, Zinkenisten und Pauker, eine Schar Kriegsknechte, ein rasselnder Reitertrupp, die Fronboten und alles Gesinde des erzbischöflichen Hofes, die Ritter im Scharlachkleid, die Räte in schwarzen Talaren und mit schweren Goldketten; auf tänzelnden Pferden die Lehensritter in funkelndem Harnisch und mit blanken Schwertern, welche blitzten in der hellen Sonne; eine schier endlose Reihe von Mönchen und Laienpriestern, flackernde Lichter tragend; zwischen allen Gruppen wehende Kirchenfahnen und gaukelnde Laternen, heilige Statuen und Reliquienschreine; und jetzt der Baldachin, strotzend von Gold, mit nickenden Federbüschen auf jeder Stange, behangen mit Bändern und Goldschnüren, deren Quasten in den Händen schmucker Edelknaben ruhten, umgeben von gepanzerten Wächtern, umwallt von duftenden Weihrauchwolken; und unter dem schwankenden ›Himmel‹ die Domherren im goldschweren Levitenkleid, in ihrer Mitte Herr Heinrich von Pirnbrunn, der neuerwählte Erzbischof von Salzburg, die weiße, goldgebänderte Inful auf dem Haupt, um die Schultern den von edlen Steinen blitzenden Rauchmantel, in den Händen die strahlende Monstranz.

Es stockte der Zug, der Erzbischof bestieg die Stufen des unter freiem Himmel erbauten Altars, der Gesang verstummte, die Posaunen und Zinken schwiegen, das Geläut der Glocken setzte jählings aus, über dem von Farben, Silber, Gold und Sonne leuchtenden Platz lag atemlose Stille. Da schrillten die Klingeln, die Weihrauchwolken wallten, es hob sich die Monstranz, alles Volk sank auf die Knie, und an jede von Ehrfurcht und heiligem Schauer erfüllte Brust schlug dreimal die zitternde Faust: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!«

Einen Augenblick – und alles war wieder Bewegung und Gewoge, Gesang und Tönen, Klang und Geläut, Funkeln und Geflimmer.

Du stiller, träumerischer Zauber der heidnischen Sonnwendnacht, wie hättest du nicht erblassen sollen vor dem Glanz und der Glorie dieses Tages, welchen Papst Johannes zum höchsten Fest der Christenheit erhoben hatte, um die »Herrlichkeit der Kirche auch vor den Augen ihrer Gegner zu offenbaren und deren Seelen zu erschüttern und zu gewinnen!« –

Der Baldachin war an Zenza schon vorübergezogen, aber sie hatte immer noch zu schauen und zu staunen in Hülle und Fülle. Da kamen in prächtigen Gewändern die Edelherren und Edelfrauen, eine lange, lange Reihe. Dann wieder Mönche und Priester, singende Knaben und Mädchen. Und jetzt –

Durch Zenzas Herz zuckte ein heißer Schreck, und mit brennenden Augen starrte sie in den Zug.

»Das sind die Domfrauen,« sagte ein Weib an ihrer Seite, »und die adeligen Fräulen.«

Voran ging die Oberin mit sechs Schwestern, in schlichten blauen Gewändern, die blassen Züge überschattet von weißen Hauben, am Gürtel den Rosenkranz aus roten Korallen. Ihnen folgte, einem wandelnden Blumengarten vergleichbar, eine blühende Mädchenschar, alle gleich gewandet, in weißen, schleppenden Kleidern, die entblößten Schultern und Arme von zarten Schleiern überfallen, weiße Rosenkränzlein im gelösten Haar. Und von den Schönen die schönsten, sechs an der Zahl, trugen auf duftender Blumenbahre ein liebliches Marienbild.

An einer dieser Trägerinnen hing Zenza mit erschrockenen Augen. Als die Bahre vorüber war, fuhr sie auf, wie aus einer Betäubung erwachend. Mit stoßenden Ellbogen drängte sie sich aus dem Knäuel der Menschen hinaus in die freie Gasse.

Der Zug hatte gewendet und zog nun an sich selbst vorüber. Es gab ein wirres Gedräng, bei welchem es niemand auffiel, daß eine neugierige Bauerndirn fast mitten in die Schar der adeligen Fräulein hineingestoßen wurde. Aus nächster Nähe spähte Zenza in das Gesicht der Marienträgerin, über deren schmächtige Wangen eine brennende Röte flog.

»Kennst du mich?« flüsterte Zenza, während in der vorüberziehenden Spitze des Zuges die Posaunen schmetterten und die Zinken klangen.

»Kennst du mich, Gittli?« wiederholte sie und flüsterte weiter: »Deinetwegen bin ich gekommen. Du mußt davonlaufen aus dem Kloster! Noch heut! Ich wart vor dem Klostertor. Den ganzen Tag! Und wenn's sein muß, die ganze Nacht! Aber kommen mußt du. Du mußt! Der Haymo stirbt.«

Zenza hatte kaum ausgesprochen, als ein Stadtknecht sie mit unsanftem Arm zurückstieß in das Gedräng.

Der Zug geriet in Stockung. Eine der Marienträgerinnen war ohnmächtig geworden, und als sie niedersank, konnten die hinzuspringenden Mädchen nur mit Mühe noch das heilige Bild vor dem Sturz bewahren.

»Jetzt hat sie's gar umgeworfen!« murmelte Zenza, während sie neugierig den Kopf über die Schultern der vor ihr stehenden Leute reckte. »So eine klebere Zetzen! Und an so eine hängt sich ein solcher Bub!« Fast war es Schadenfreude, was aus ihren Augen blitzte, als sie sah, wie Gittli von zwei Domfrauen an den Armen gestützt und fortgezogen wurde.

Es währte noch eine volle Stunde, bis die Feier vorüber war und das Gedräng der Menschen sich löste. Von Gasse zu Gasse fragte sich Zenza bis zum Heim der Domfrauen. Auf einem Eckstein kauerte sie sich nieder und wartete, bis die Domfrauen mit ihren Pfleglingen in das Kloster zurückkamen. Gittli war nicht dabei. Zwei Schwestern hatten sie schon nach Hause geführt und zu Bett gebracht; die Ohnmacht wurde dem Staub und der Hitze zugeschrieben, und man legte es als Schwäche aus, daß Gittli auf keine Frage Antwort gab. Geduldig ließ sie alles mit sich machen, nahm die stärkenden Tropfen, die man ihr reichte – und nun lag sie in ihrem Nest, von einer Schwester behütet, und starrte mit angstvollen Augen ins Leere. Wohl war es ihre erste Regung gewesen auf den Knien und mit aufgehobenen Händen zu betteln: »Lasset mich heim!« Aber das hatte sie seit jenem Tag, der sie ins Kloster brachte, schon zu hundert Malen nutzlos getan. Sie mußte schweigen und den günstigen Augenblick zur Flucht erwarten. Den Weg für eine solche Flucht hatte sie sich längst schon ausgesonnen, doch immer hatte ihr der Mut gefehlt, ihn zu betreten. Jetzt aber mußte sie fort, sie mußte. »Der Haymo stirbt.« Dieses Wort hätte ihr den Mut gegeben, sich durch Feuer und Wasser hindurchzuschlagen.

»Der Haymo stirbt.« Immer, immer hörte sie nur dieses eine Wort. Das Herz schlug ihr wie ein Hammer, und dennoch rann das Blut so kalt wie Eis durch ihre Glieder. »Der Haymo stirbt.« War er denn nicht genesen? Hatte Herr Heinrich gelogen, als er diese Botschaft sandte, diese erste und einzige Freude, die sie hier zwischen den dumpfen, ihre ganze Lebensfreude erdrückenden Mauern erfahren durfte? Oder war Haymos Wunde wieder aufgebrochen? Hatte ihn ein neues Unheil getroffen? War er auf seinen gefährlichen Wegen gestürzt? Hatte ein Raubschütz, ein wildes Tier ihn angefallen? Quälende Bilder stiegen vor ihren Augen auf, und aus jedem dieser Bilder schrie ihr eine jammernde Stimme zu: »Der Haymo stirbt! Der Haymo stirbt!«

Fröhlicher Lärm unterbrach sie in ihren martervollen Gedanken. Etwa zwanzig Mädchen stürmten in den großen Schlafsaal, um die Kleider zu wechseln und sich vom Straßenstaub zu reinigen. Rings um die Wände standen die weißen Betten, jedes neben einem schmalen Schrein; die freie Mitte des Saales nahm der riesige Waschtisch ein, dessen Innenraum, einem gewaltigen flachen Trichter gleichend, mit blankem Kupfer ausgeschlagen war; rings auf dem breiten Rand war für jedes Mädchen ein Krug mit Wasser in Bereitschaft gestellt. Das gab ein lieblich heiteres Bild, wie sich die Mädchen um den Waschtisch drängten, mit gelösten Haaren, im kurzen Unterkleid, mit nackten Armen und Schultern, plaudernd und kreischend, lachend und kichernd, mit Wasser spritzend und plätschernd, die Augen leuchtend, die Wangen brennend. Und daneben Gittli in den Kissen, stumm und bleich, verzehrende Angst in jedem Blick, in jedem Herzschlag zitternde Furcht und heiße Sehnsucht.

Den ganzen Tag über blieb Gittli kaum ein Viertelstündchen allein; sie hatte so viele Freundinnen, als das Heim der Domfrauen an jungen Mädchen barg. Zu Anfang hatten diese anderen das scheue, unbeholfene Ding mißachtet, verspottet und gehänselt wegen seiner bäuerischen Sprache und seines furchtsamen Wesens. Aber das Geheimnis, das um die kleine ›Brigitte von Dorfen‹ gebreitet schien, reizte die Neugier; ihre stille, träumerische Schwermut weckte das Mitleid; und schließlich bezwang Gittlis natürlicher Liebreiz auch das widerspenstigste dieser jungen Mädchenherzen. Sie nahm die zärtlichen Freundschaften hin wie etwas aufgezwungenes; sie lebte nur in sich selbst, und so war ihr alles, was sie hier umgab, an diesem letzten Tage noch so fremd und bedrückend, wie es ihr am ersten Tag gewesen. Sie kam sich vor wie in einem Fastnachtsspiel, darin man ihr die Rolle der verwunschenen Prinzessin wider Willen aufgezwungen hatte. Und wenn sie jetzt um Haymos willen in Angst und Bangen der Stunde entgegenzitterte, die ihre Flucht ermöglichen würde, mischte sich in ihre beklemmende Marter auch ein Aufatmen, ein tröstendes Vorgefühl ihrer Erlösung aus diesen schrecklichen Mauern.

Als es zu dämmern begann, blieb Gittli, während im Refektorium die Abendmahlzeit gehalten wurde, eine halbe Stunde allein. Zitternd erhob sie sich und zog das Gewand an, das neben dem Bett noch auf dem Sessel lag: das weiße, ausgeschnittene Schleppkleid und die gelben Schnabelschuhe. Ein Mäntelchen, das sie aus dem Schrein hervorholte, versteckte sie unter dem Kissen. So angekleidet legte sie sich nieder.

Jetzt kamen die Stunden quälender Angst; kaum hatte sie die Decke bis an das Kinn gezogen, da brachte ihr eine dienende Schwester das Abendessen. Zuerst stellte sie sich schlafend; als sie geweckt wurde, beteuerte sie unter Stammeln und Tränen, daß sie nicht ein ›lützel‹ Hunger hätte. Um zu essen, hätte sie sich aufrichten und dabei verraten müssen, daß sie angekleidet im Bette lag. Die Schwester ging, aber gleich wieder kam eine neue Gefahr: die Frau Oberin erschien, um sich nach Gittlis Befinden zu erkundigen.

»Dank der Nachfrag, ehrwürdige Mutter,« stammelte das Mädchen, »mir ist schon völlig wieder gut. Aber schläfrig bin ich. So viel gern schlafen möcht ich.«

»So schlaf, mein Kind! Aber mummel dich nicht so in die Decke! Da muß dir heiß werden, und dann wirst du dich in der Nacht erkälten.«

»Wenn mich aber so viel friern tut!« wehrte Gittli mit versagender Stimme und hielt die Decke krampfhaft fest.

»Frieren, Kind? Du wirst doch kein Fieber haben?« sagte die Oberin erschrocken. »Komm, gib deine Hand her, ich will den Puls fühlen.«

Ein ganz klein wenig schob Gittli die zitternde Hand unter der Decke hervor.

»Ach, du armes Kind! Deine Hand glüht wie Feuer, und dein Puls hämmert.« Die Oberin eilte zur Tür und zog an der Schellenschnur. Die dienende Schwester, die erschien, wurde um eine fieberstillende Arznei geschickt. Und wie Gittli sich auch sträubte – sie mußte schlucken. Ein naßkaltes Tuch wurde um ihre Stirn gebunden; aber das ›Fieber‹ wollte nicht weichen, die Glut ihrer zitternden Hände nicht erkühlen.

Die Oberin schickte die dienende Schwester um Essig fort und richtete an Gittli eine besorgte Frage um die andere. In der quälenden Angst vor der drohenden Entdeckung verwirrten sich die Antworten des Mädchens immer mehr, so daß es wahrhaftig den Anschein gewann, als spräche aus ihr das sinnverwirrende Fieber.

»Kind, Kind! Du wirst mir doch nicht ernstlich erkranken!« jammerte die Oberin. »Gib die Decke weg, ich höre die Schwester schon kommen, wir müssen dich mit Essig waschen.«

Gittli schluchzte und bettelte; aber es half ihr nichts; die Oberin löste ihr die Hände und nahm die Decke fort. Trotz der tiefen Dämmerung, die schon im Raume herrschte, erkannte die Oberin sofort, daß das Mädchen völlig gewandet und mit den Schuhen im Bette lag.

»Brigitte? Was soll das heißen?«

Gittli hatte sich aufgerichtet, die Füße unter das Kleid gezogen und hielt die zitternden Arme über der Brust verschlungen, mit verstörten Augen zur Oberin aufblickend.

Da half keine Ausrede mehr; nun mußte man ihre Absicht durchschauen, man würde ihre Flucht verhindern – und »der Haymo stirbt, der Haymo stirbt!«

Sie mußte fort, jetzt, gleich auf der Stelle, und wenn es ihr Leben gälte! Sie sprang aus dem Bett, riß mit jähem Ruck das Mäntelchen unter dem Kissen hervor, warf es um die Schultern und stürzte der Türe zu, als eben die Schwester mit der Essigschüssel eintreten wollte. Ein Schrei, ein Klatsch auf den Dielen, und vorüber an der taumelnden Nonne, welche die Schüssel hatte fallen lassen, rannte Gittli in den dunklen Säulengang hinaus. Hinter ihr her die beiden Frauen mit lautem Geschrei. Im Spielsaal verstummte der fröhliche Lärm, die Tür wurde aufgerissen, und mit erschreckten Gesichtern kamen die Mädchen herbeigelaufen.

»Was gibt es? Was ist geschehen?« So rief es mit zwanzig Stimmen durcheinander.

Die beiden Nonnen konnten sich dem Ring, der sich um sie gebildet hatte, kaum entwinden; Gittli gewann einen weiten Vorsprung, verschwand um die Ecke des Ganges, und während hinter ihr der Lärm der Stimmen verhallte, rannte sie Trepp auf und ab, durch dunkle Korridore, bis sie die Klosterkirche erreichte. Laut kreischte die eiserne Tür in den Angeln. Ein Schauer faßte Gittlis Herz, als sie zwischen den Säulen der Krypta den Schein des ewigen Lichtes schimmern sah; ein stammelndes Gebet auf den Lippen, eilte sie der finsteren Turmhöhle zu und hastete über die steile Treppe hinauf, bis sie das erste unvergitterte Fenster erreichte. Es lag über der Erde fast so hoch wie der Giebel an ihres Bruders Haus. Sie zögerte – »Der Haymo stirbt!« schrie es in ihr – und da sprang sie. Der harte Sturz betäubte sie fast, aber nur einen Augenblick währte ihr Taumeln, dann rannte sie an der öden Mauer entlang und schrie mit gellender Stimme: »Zenza! Zenza!«

Wie ein Wiesel kam das Mädel herbeigeschossen. »Bist du endlich da? Ich hab mir die Seel schier herausgewartet.«

»Fort, fort, Zenza,« stieß Gittli aus keuchender Brust hervor, »oder sie kommen und holen mich wieder.«

Zenza faßte die Wankende am Arm und riß sie mit sich fort. Sie erreichten das Nonntaler Tor und huschten hinaus, gerade bevor es geschlossen werden sollte.

Als sie aus dem dunklen Schatten der die Straße geleitenden Bäume hinausgelangten auf das offene Grödiger Moos, blieb Gittli stehen. »Ich kann nimmer laufen, das dumme Häs kommt mir allweil unter die Füß.«

»Ja,« spottete Zenza, »fein hat man dich aufgeputzt, das muß ich sagen! Wie die Gredl in der Kirch!«

»Gelt?« jammerte Gittli, faßte das Kleid, riß um den ganzen Saum herum eine handbreite Borte mitsamt der Schleppe weg und warf sie in den Straßengraben.

Dann fing sie wieder zu laufen an. Und im Laufen fragte Gittli mit zagender Stimme: »Zenza, mein Gott, sag mir doch, was fehlt ihm denn?«

»Was soll ihm denn fehlen?« lautete die murrende Antwort. »Du fehlst ihm.«

»Zenza!« stammelte Gittli, und weiter brachte sie kein Wort mehr über die Lippen; nur ein erstickter Laut quoll aus ihrer Kehle, als wolle ihr das schwellende Herz die Brust zersprengen; und sie fing zu laufen an, daß Zenza ihr kaum zu folgen vermochte.

Noch ehe sie Schellenberg erreichten, waren die feinen Schnabelschuhe zertreten und die dünnen Sohlen durchgelaufen. Gittli ließ sich auf einen Straßenstein nieder und zerrte die zerfetzten Schuhe von ihren Füßen.

»So ein Gelumpert!« brummte Zenza. »Aber was machst du jetzt?«

»Barfuß lauf ich. Komm nur, komm!«

Und weiter ging es, immer weiter auf der mondhell gewordenen Straße.


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