Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 14

Bei Einbruch der Dämmerung erreichten die Bergfahrer das Steintal in der Röt. Sie hatten im Almenwald die Bärenfährte auf dem Steig gefunden und die Spur, obwohl sie auf dem schneefreien Waldgrund nur mühsam zu erkennen war, über eine Stunde weit verfolgt – Desertus allen anderen voran. Ein übles Los hatte Frater Severin dabei gezogen; er fand den Mut nicht, allein auf dem Steig zu warten, so trollte er seufzend und keuchend hintennach, über Felsblöcke und Wurzelknorren, über Steinlöcher und Windbrüche.

Die Richtung der Fährte versprach Herrn Heinrich keine Jagd; der Bär hatte sich talwärts gegen den See gewendet.

Als der Propst, Herr Schluttemann und Pater Desertus den Steig wieder erreichten, mußten sie geraume Weile auf Frater Severin warten. Endlich kam er, und Herr Heinrich fand in des Fraters Aussehen alle Ursache, um zu sagen: »Bruder, ich schätze dich schon um fünf Pfund leichter. Gelt, das ist gesünder, als im Kellerstübl hocken und die neuen Fässer kosten?«

»Wenn Ihr es sagt, muß es wohl wahr sein!« klagte Frater Severin und suchte an dem Kuttenärmel einen noch trockenen Fleck für seine Stirn. Im Weiterschreiten sandte er einen jammervollen Blick zum Himmel und seufzte: »Das Kellerstübl!« Wie war es dort so schön, so kühl! Und durch die offene Tür sah man den schier endlosen Keller mit den vom Zwielicht umwobenen Fässern, die in Reih und Glied lagen, eine stattliche Armee von Sorgenbrechern. Besaß doch das Stift Berchtesgaden in der Umgebung von Krems und Klosterneuburg zahlreiche Weingüter: im Tailland, auf der Frechau, zu Oberndorf, Eisentür, Armstorf, Wank, Sattelsteig, Mörtal, Rechberg und Stein! Frater Severin war in keiner Litanei so sattelfest wie in der Kunde dieser seinem Ohr so lieblich klingenden Namen. »Rechberg und Stein!« Das Beste hob er sich immer für zuletzt auf; und der Klang dieser beiden Worte stimmte ihn so träumerisch, daß er, des Weges nimmer achtend, über ein Felsloch stolperte und seine Nase nur mit knapper Not vor einem unsanften Kuß der Mutter Erde bewahrte.

Wie eine Erlösung aus dem Fegfeuer begrüßte er bei Einbruch der Dämmerung den Anblick der beiden Jagdhäuser; es war wohl immer noch eine halbe Stunde zu steigen, aber er sah doch wenigstens die winkende Ruhe vor Augen.

Herr Heinrich, der gleichmäßigen, berggewohnten Ganges den anderen voranschritt, verhielt plötzlich den Fuß. »Mir ist, als hätt ich einen Ruf gehört.«

Sie blieben alle stehen und lauschten. Da klang es von der Höhe des Steintales nieder, von dort her, wo die Hütten standen, mit langgezogenem angstvollem Ruf: »Hoidooh!«

»Eine Mädchenstimme!« sagte Desertus. »Und sie klingt wie der Schrei eines verzweifelten Herzens.«

»Dort oben ist jemand in Not! Lasset uns rascher ausschreiten! Vorwärts! Vorwärts!« befahl Herr Heinrich.

Als sie eine gute Strecke Weges weiter emporgekommen waren, klang abermals der Ruf: »Hoidoooh! Hoidooh!« Trotz der Dämmerung nahm Herr Heinrich mit seinem scharfen Auge auf einem vorspringenden Fels unfern der Jagdhütte die Gestalt des rufenden Mädchens wahr. Er höhlte die Hände um den Mund und gab den Ruf zurück.

Das Mädchen mußte den Ruf vernommen haben, denn man hörte einen Schrei, wie in Freude und doch in Jammer, und dann, vom Winde herabgetragen, die gellenden Rufe: »Leut! Leut! Um Gottes willen, da her, da her! Hoidoooh!«

»Diese Stimme!« murmelte Desertus. »Ich habe sie schon gehört!« Und den anderen voran eilte er, so rasch es der steile Weg gestattete, durch die Senke des Tals empor. Herr Heinrich hielt sich nahe hinter ihm, Herr Schluttemann blieb keuchend zurück, Frater Severin rang atemlos die Hände und fiel auf einen Steinblock nieder.

Als Desertus den Fuß der letzten Höhe erreichte, kam Gittli mit jammernden Worten ihm entgegengestürzt.

»Sie ist es!« stammelte er, und drückte, den Schritt verhaltend, die zitternde Faust auf seine Brust.

Nun stand sie vor ihm; wirr hingen ihr die Haare um das bleiche, von Angst verstörte Gesicht. Sie wollte sprechen, da erkannte sie ihn und erschrak. Sie machte eine Bewegung, als hätte sie fliehen mögen; aber die Sorge um jenen anderen bannte in ihr die Furcht vor diesem einen. Schluchzend fiel sie vor ihm nieder und schrie: »Helfet ihm! Helfet ihm!«

Er hob sie auf. »Wem soll ich helfen? Rede, Mädchen, rede doch!«

Da klang die Stimme Herrn Heinrichs: »Was ist geschehen?«

Gittli riß sich aus den Händen des Chorherren, eilte dem Propst entgegen, umklammerte seine Hand, und während sie ihn mit sich fortzog, zur Jagdhütte, klagte sie: »Ach, guter, lieber Herr, schauet, ich bitt Euch, helfet ihm, er muß versterben!«

»Wer, Mädchen, wer?«

»Der Haymo, der Haymo!«

»Mein Jäger? Was ist mit ihm? Ist er gestürzt?«

»Nein, nein, viel ärger noch! Es hat ihn –« Ihre Stimme erlosch; sie durfte nicht reden, sie hatte geschworen! »Ich weiß nit, weiß nit,« schrie sie auf, »ich hab ihn gefunden und hab ihn heimgebracht, gestern, und er hat so gut geschlafen die ganze Nacht. Und heut in der Früh, da hat er noch gern genommen, was ich ihm gekocht hab. Zu Mittag aber, da hat er angefangen, hat schiech geredet, hat um sich geschlagen, und allweil hat er aufspringen und fort wollen. Ich hab ihn gebittet und gebettelt, daß er sich halten soll und den Arm nit rühren. Und schauet, mit zwei Händ hab ich ihn heben und zwingen müssen. Und auf einmal ist er weggefallen, daß ich schon gemeint hab, er verlischt wie ein Licht. Und so liegt er noch allweil. Und einmal war ich bei ihm, und das andermal wieder bin ich hinausgelaufen und hab geschrien und geschrien, weil ich gemeint hab, es müßt und müßt wer kommen! Ach, was hab ich ausgestanden!«

Sie hatten die Hütte erreicht; Gittli eilte voran, Herr Heinrich und Desertus folgten. Auf dem Herde brannte ein flackerndes Feuer.

»Schauet her,« stammelte Gittli, »da liegt er und tut keinen Rührer nimmer!«

Herr Heinrich trat an das Lager. »Licht, Dietwald, Licht!« Desertus riß ein zur Hälfte brennendes Scheit aus dem Feuer und hob es über das Bett. Während Herr Heinrich den Kranken zu untersuchen begann, zog Gittli sich scheu in einem Winkel zurück; dort stand sie mit angstvollen Augen, die zitternden Hände am Mund.

»Was ist das? Ein Wundverband?« Herr Heinrich richtete sich auf. »Hast du ihn angelegt?«

»Ja, Herr! Weil er geblutet hat!«

Jetzt stolperte Herr Schluttemann keuchend über die Schwelle. »Was gibt's? Alle Wetter! Was gibt's? Was gibt's?«

»Seht nach, Herr Vogt, ob unsere Leute noch nicht kommen,« sagte Herr Heinrich, »ich brauche das Kästlein mit Verband und Balsam.«

»Was fehlt dem Bursch?«

»Das werdet Ihr erfahren, wenn ich selbst es weiß. Geht!«

Herr Schluttemann war beleidigt und verschwand. Der Propst beugte sich über Haymo. »Er schläft,« sagte er nach einer Weile zu Desertus, »sein Herzschlag ist matt, aber ruhig, sein Atem gleichmäßig. Er mag einen schweren Anfall von Wundfieber überstanden haben und liegt nun in der Betäubung der Schwäche. Ich sehe keine Gefahr.«

Gittli faltete die Hände und rührte stumm die Lippen.

»Du dort, komm her!« rief Herr Heinrich ihr zu. »Wie heißt du?«

»Gittli!«

»Komm her, Gittli! Und sag mir, was du alles getan hast zu seiner Hilfe.«

Zögernd kam sie näher, und nun erkannte er sie. »Warst du nicht vor wenigen Tagen beim Vogt? Du bist die Schwester Wolfrats, des Sudmanns?«

Gittli zuckte zusammen.

»So komm doch näher und rede! Was hast du für meinen Jäger getan?«

»Ich bitt Euch, Herr Heinrich, quälet das Kind nicht!« sagte Desertus mit schwankender Stimme. »Ich glaube den Grund zu kennen, der sie hierher geführt. Gestern in der Nacht starb im Haus ihres Bruders ein Kind.«

»Ein Kind des Wolfrat?« Herr Heinrich ging auf das Mädchen zu. »Du wolltest Schneerosen holen? Zum Engelkränzlein? Und da hast du den wunden Mann gefunden und bist bei ihm geblieben Tag und Nacht und hast alles für ihn getan, was nur zu tun war?« Er strich die Hand über Gittlis Haar. »Du bist ein braves, tapferes Mädchen. Ich will es dir und deinem Bruder danken.«

Gittli wandte sich ab und wankte zur Tür hinaus. Draußen fiel sie auf die Bank und weinte in heißem Kummer vor sich hin.

Walti kam herbei, zog ihr die Hände herab und schaute ihr ins Gesicht. »Jeh, du bist es? Warum heulst du denn?«

Sie riß sich los und schluchzte noch lauter.

»Flennst du wegen dem da drin? Geh, du bist dumm! Der hat einen Gesund wie ein Trumm Eisen. Und wenn's auch ihm ein Bißl weh tut, du spürst es ja nit!« Er lehnte sich an die Hüttenwand und gähnte. Da sah er dicken Rauch aus der Herrenhütte qualmen. »Da schau! Der Frater feuert schon. Du! Da werden gute Sachen gekocht. Weißt, beim Heraufsteigen bin ich allweil hinter den Kraxen hergegangen. Du! Das hat gerochen! Aaah! Fein!« Er schnalzte mit der Zunge. »Meinst du, wir kriegen auch was?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schlich er zur Herrenhütte und spähte durch die offene Tür.

Der Eingang führte in eine geräumige Küche mit offenem Herd; daneben lag eine kleine Herrenstube, deren einfaches Gerät aus rötlichem Zirbenholz gefertigt war, und die Schlafkammer mit zwei Heubetten. Von der Küche stieg man über eine Leiter zum Bodenraum, auf welchem Bergheu in genügender Menge aufgeschüttet war, um für ein halbes Dutzend Schläfer weiche Liegerstatt zu bieten.

Neben dem Herd, auf dem ein helles Feuer brannte, stand Frater Severin; er hatte die Ärmel der weißen Kutte aufgestülpt, eine blaue Schürze vorgebunden und war damit beschäftigt, ein ›Spießchen Schwarzreiter‹ zu putzen, die, mit Eiern übergossen und am Feuer rasch gebacken, für den Abendtisch einen köstlichen Imbiß gaben.

Auf den Stufen vor der Tür der Herrenstube saß Herr Schluttemann, nachdenklich, mit gesträubtem Schnauzbart, grimmig die Augen rollend. Die Geschichte mit Haymo war eine Nuß, die zu beißen gab. Des zwecklosen Grübelns müde, schüttelte er schnaubend das Haupt, fuhr mit den Fäusten durch die Luft und platzte los: »Teufel! Teufel! Wenn ich denke, daß ich jetzt drunten im Kellerstübl sitzen könnt!«

»Mit Pater Hadamar und dem Küchenmeister,« schmunzelte Frater Severin, »bei Rechberg und Stein!«

»Höret auf, höret auf,« stöhnte Herr Schluttemann, »ich kann's nicht hören, es reißt mir die Seel aus dem Leib.« Dann wieder in grimmige Melancholie versunken, fragte er: »Es ist doch wohl gesorgt für unseren Durst?«

Frater Severin zuckte die Achseln. »Wie es Herr Heinrich anbefohlen. Fünf Tage sollen wir bleiben. Zehn Flaschen sind befohlen. Rechnet aus, wieviel auf einen trifft!«

»Verflucht wenig!« meinte Herr Schluttemann mit langem Gesicht. »Verflucht wehnig! Frater! Frater! Mir wird die Leber brandig werden. Ich kann das Wasser nicht vertragen. Aber schon gar nicht!«

Frater Severin betrachtete den unglücklichen Vogt mit zwinkernden Augen, dann leckte er die von den Schwarzreitern fett gewordenen Finger ab, trat auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Habt Ihr den Binkel gesehen, den der Walti getragen hat?«

»Ja, warum?«

Frater Severins Miene wurde immer geheimnisvoller. »Und habt Ihr's nit scheppern hören in dem Binkel?«

Herr Schluttemann legte den Kopf auf die Seite und zeigte das Weiße in den Augen. Ein schüchternes Licht der Hoffnung schien in seiner trostlos finsteren Seele aufzudämmern. »Redet, Frater, was hat gescheppert?«

»Zehn heimliche Flaschen! Rechberg und Stein. Hinter der Hütte liegen sie in kühler Erde vergraben, und wenn Herr Heinrich schlummert, holen wir uns ein Pärchen.«

»Frater Severin, Ihr seid ein Heiliger!« rief Herr Schluttemann und wollte dem Frater um den Hals fallen.

Der schob ihn von sich. »Nit so laut, Herr Vogt!« Er schielte nach der Türe. »Herr Heinrich könnt uns hören.«

Des Fraters Sorge war unbegründet. Herr Heinrich weilte noch immer in der Jägerhütte. Er hatte einen neuen Verband um Haymos Wunde gelegt und den Arm in einer Schlinge befestigt, damit nicht eine ungestüme Bewegung des Schläfers eine neue Blutung hervorriefe. Nun blickte er suchend umher.

»Wo ist das Mädchen?«

Desertus ging rasch zur Türe. Vor der Hütte saß Gittli auf der Bank; ihre Tränen waren versiegt; verloren starrte sie hinaus in die sinkende Nacht. Desertus berührte ihre Schulter. Sie fuhr erschrocken zusammen und erhob sich.

»Komm, Gittli! Herr Heinrich fragt nach dir.« Er nahm ihre Hand und führte sie in die Stube.

»Nun, willst du nicht sehen, wie es deinem Pflegling geht?« sagte der Propst. »Komm her! Sieh nur, wie gut und ruhig er schläft!«

In wortlosem Danke wollte sie Herrn Heinrichs Hand küssen.

»Laß doch, du Kind!« sagte er. »Ich habe zu seiner Rettung nicht das mindeste getan. Haymo wäre ein verlorener Mann gewesen ohne dich. Er hat dir allein zu danken, daß er nun leben wird.«

Ein Seufzer, heiß und freudig, schwellte Gittlis Brust. Mit leuchtendem Blick hing sie an Haymos blassen Zügen; dann fuhr sie mit der Hand über die feuchten Augen und wandte sich zur Tür.

»Wohin willst du?« fragte Herr Heinrich.

»Jetzt braucht er mich nimmer!« lispelte sie. »Heim will ich gehen.«

»Mädchen! Es ist finstere Nacht!« sagte Desertus erschrocken.

»Ich fürcht mich nit. Es ist sternscheinig, den Weg kenn ich auch, und auf der Alm kann ich nächtigen.«

»Dort schlafen die Knechte!« warf Herr Heinrich ein; dann lächelte er. »Und denke nur, wenn Haymo morgen erwacht und fragt nach dir? Was sollen wir ihm sagen? Willst du nicht bleiben?«

»Wenn ich darf?« stammelte sie. »Schauet, Herr, ich nehm doch keinem seine Liegerstatt weg. Ich setz mich dort auf den Herd.«

Sie wollte in ihren Winkel schleichen, aber Herr Heinrich rief sie noch einmal zurück. »Gittli,« sagte er freundlich, »du bist doch kein Kind mehr, du solltest nicht so herumlaufen.« Er deutete auf ihre Arme, die bis über die Schultern nackt waren, und auf einen Riß, der in ihrem Hemd fast bis zum Gürtel ging.

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Ich hab mir die Ärmel weggerissen, weil ich das Leinen gebraucht hab. Für ihn.«

Da ging er auf sie zu, legte ihr die Hand auf den Scheitel und sagte leise: »Deo placebis in nuditate tua!« Und zu Desertus sich wendend, fuhr er in lateinischer Sprache fort: »Kann eines Fürsten Tochter reicher sein an edlen Steinen und Geschmeide, als dieses Bettelkind an Schätzen des Gemüts?«

Der Chorherr schwieg; seine träumenden Augen hingen an Gittli, die zum Herde ging, in ihre Jacke schlüpfte und sich leis in den Winkel kauerte.

Herr Heinrich war an Haymos Lager getreten und hatte seine Hand auf die Stirn des Schlummernden gelegt. »Das Fieber ist gemildert, und der Schlaf wird ihn erquicken. Er hat gesundes Blut und eine gute Natur. Ich hoffe, wir haben den Mann in drei Tagen wieder leidlich auf den Beinen. Ich will Wein herüberschicken, davon soll er bekommen, wenn er munter wird in der Nacht. Und Frater Severin soll bei ihm wachen.«

»Überlasset mir dieses Amt!« sagte Desertus rasch. »Der Bruder ist müde.«

»Gut, so bleibe!« Herr Heinrich reichte dem Chorherren die Hand, nickte Gittli mit freundlichem Lächeln zu und verließ die Stube.

Zu Häupten des Lager setzte sich Desertus auf die Bank.

Es war still in der Stube. Gittli rührte sich nicht in ihrem Winkel; man hörte nur Haymos tiefe Atemzüge, und auf dem Herde knisterte es zuweilen noch leise in den glühenden Kohlen.

Draußen murmelte das Wasser, von der Herrenhütte herüber klang in Zwischenräumen die laute Stimme des Vogtes, und tief aus dem Steintal herauf ertönte der Gesang der vier Knechte, die zu den Almen niederstiegen:

»Das Herzelein
Im Herzensschrein
Tut gar so weh dem schwarzen Knaben:
Das braune Mägdlein möcht er haben;
Ja haben,
Wenn man es ihm nur gäb,
Ja gäb, ja gäb!«

Nach einer Weile kam Walti, um den Chorherren zum Imbiß zu rufen; er brachte auch einen Teller für Gittli. »Du, das ist gut!« flüsterte er dem Mädchen zu. »Ich hab's auch schon verkosten dürfen, und was übrig bleibt, das krieg ich alles, hat der Frater gesagt.« Gittli richtete sich auf und begann zu essen, während Desertus die Stube verließ. Als er die Herrenhütte betrat, sagte er zu Frater Severin: »Schickt ein Kissen und eine Lodendecke hinüber für das Mädchen; das Kind hat ein hartes Lager auf den Herdsteinen.«

Nun saßen sie beim Schein einer Kienfackel in der Herrenstube beisammen, der Propst, Herr Schluttemann und Desertus, der letztere schweigend in sich versunken, während Herr Heinrich und der Vogt die an dem Jäger verübte Untat besprachen. Herr Schluttemann beschwor die ganze Rache seines flammenden Zornes über das Haupt des Untäters, den er finden wollte, und wenn er sich auch in den untersten Schlupf der Hölle verkrochen hätte; sobald es Tag würde, gedachte er sich mit den Knechten auf den Weg zu machen, um in weitem Kreise rings um die Hütte jeden Busch und jede Felsschrunde zu untersuchen; ein Haken würde sich schon finden, an den der Faden eines Verdachtes sich anknüpfen ließe.

Als Desertus in die Jägerhütte zurückkehrte, fand er Gittli schlafend im Herdwinkel. Das Kissen, das ihr Walti gebracht, hatte sie unter Haymos wunden Arm gelegt; nur die Lodendecke hatte sie für sich behalten und zum Polster geballt unter ihren Kopf geschoben. So lag sie, die beiden Hände unter der Wange, die müden Glieder vom Schlafe sanft gelöst; sie schien auf den harten Steinen so gut zu ruhen, als läge sie in weichen Daunen. Die glimmenden Kohlen strahlten einen roten Schimmer über ihr Gesicht, so daß es aus dem Dunkel hervorleuchtete wie ein liebliches Rätsel.

Lange stand Desertus vor dem schlafenden Mädchen. Immer näher zog es ihn, er beugte das Knie, er streckte die Arme, er neigte das Gesicht in dürstender Sehnsucht. Da bewegte sich Gittli und stöhnte leis, wie unter schweren Träumen: »Haymo.«

Desertus taumelte zurück; die Hände vor das Gesicht schlagend, wankte er zur Tür und sank auf die Schwelle nieder. »Herr! Herr! Du versuchest mich über meine Kräfte!« rang es sich mit erstickter Stimme von seinen Lippen, und die brennenden Augen starrten hinaus in die Nacht, empor zu den ruhelos flimmernden Sternen.

In den Fenstern der Herrenhütte war das Licht schon erloschen; Herr Heinrich schlief. Durch die Klumsen der geschlossenen Türe quoll aber noch ein matter Schein; dort saßen Frater Severin und Herr Schluttemann beim erlöschenden Feuer auf dem Herdrand, leise plaudernd, mit dem ›heimlichen Pärchen‹ beschäftigt, das sie aus dem Versteck hervorgeholt. Walti hockte in einem Winkel und vertilgte die Reste des Mahles; dann trank er noch einen Krug Wasser leer und kletterte über die Leiter hinauf ins Heu.

Als den beiden anderen ›des Himmels höchste Gnade‹ zur Neige ging, bekam Herr Schluttemann seine üblichen ›Zustände‹. Er schien völlig vergessen zu haben, wo er sich befand, wähnte im Kellerstübl zu weilen und fürchtete, daß mit jedem Augenblick die handfesten Boten der Frau Cäcilia eintreten könnten, um ihn zu holen. »Aber ich geh nicht, Bruder, ich geh nicht! Jetzt sitz ich einmal, Donnerwetter, und jetzt bleib ich!« Frater Severin drückte ihm die Hand auf den Mund und zerrte ihn zur Leiter; mit aller Mühe, stoßend und schiebend, brachte er ihn endlich über die Leiter hinauf und warf ihn ins weiche Heu. »Cäcilia, Cäcilia, du treibst es heut wieder arg mit mir!« brummte Herr Schluttemann, halb erstickt von dem über ihn herfallenden Heu. Eine Weile lallte er noch fort, dann begann er zu schnarchen. Frater Severin folgte diesem Beispiel, und da ging nun ein Sägen um die Wette los, daß Walti erwachte und kein Auge mehr schließen konnte; dazu hatte er bald eine Faust des Herrn Schluttemann im Gesicht, bald dessen Füße auf der Brust oder zwischen den Beinen; er verkroch sich in den äußersten Winkel, aber Herrn Schluttemanns Füße fanden den Weg zu ihm. Schließlich erhob er sich, glitt über die Leiter hinunter und legte sich auf den warmen Herd. Jetzt konnte er schlafen.


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