Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 18

Die Dämmerung, die über den Bergen die ersten Fäden spann, webte im Tal schon die grauen Schleier.

Wolfrat war aus dem Sudhaus heimgekehrt und saß mit Sepha am Tisch. Sie hatte die Kraft gefunden, das Bett zu verlassen – es war die Kraft, die der Kummer und die Sorge gibt.

Ihr karges Nachtmahl hatten sie schon verzehrt, aber sie saßen noch, schweigend; jedes hielt die Arme über den Tisch gelehnt und grübelte vor sich hin.

Lippele kniete auf der Bank und guckte zum Fenster hinaus. »Schau, Mutter, schau, der Berg tut brennen!« Es störte ihn nicht, daß er keine Antwort erhielt. »So, so,« schmollte er mit nickendem Köpfl, »wenn die Dittibas verbrennen tut, da droben!«

Wolfrat erhob sich ungestüm, schritt ein paarmal in der Stube auf und nieder und warf sich im Ofenwinkel auf die Bank. Sepha schlug die Hände vor das Gesicht.

Eine stille Weile verging, dann streckte Lippele neugierig den Kopf. »Vater! Männerleut kommen.«

Seph erblaßte und Wolfrat sprang auf das Fenster zu.

»Sie kommen, Seph!« sagte er und griff nach dem Tisch, als befiele ihn ein Schwindel.

»Jesus Maria!« stöhnte das Weib, flog auf ihn zu und umschlang ihn mit zitternden Armen.

Er richtete sich auf. »Nimm dich zusammen, Seph!« sagte er ruhig. »Sie dürfen kein unrechtes Wort hören. Komm, setz dich her da!« Er drückte sie auf die Bank. »Und red keinen Laut! Vom Gesicht schaut dir im Zwielicht keiner was ab. Und wenn es schief ausgehen sollte – ich glaub's nit, Seph, sei ruhig – ich mein halt für alle Fäll,« seine Stimme dämpfte sich zu hastigem Geflüster, »so laß ich dir eine Hilf zurück in der Not, einen Schatz, der zu heben ist. Mir ist er verschlossen, solang ich leb. Aber wenn's einmal aus ist mit mir, dann sollst du was haben davon, und mein Bub. Ein goldener Schatz, Seph! Und der Schlüssel dazu: das ist die Dirn.«

Sie starrte ihn an; von allem, was er sagte, verstand sie nur das eine: daß er an das Schlimmste dachte.

Das Fenster wurde dunkel, als die Männer draußen vorübergingen.

Wolfrat nahm hastig seinen Platz hinter dem Tisch wieder ein.

Die beiden Knechte, die Herr Schluttemann ausgeschickt, traten in die Stube; der Fronbot, den sie mitgenommen, blieb draußen vor der Haustür stehen.

Lippele rutschte hurtig von der Bank herunter, lief auf die Mutter zu und schmiegte sich hinter ihren Arm.

»Ist der Polzer daheim?« fragte einer der Knechte.

»Wohl!« sagte Wolfrat. »Was gibt's?«

Der Knecht zögerte mit der Antwort; sein Blick streifte das Weib. »Geh, komm ein Weil mit uns vors Haus!«

»Ich hab den ganzen Tag geschafft und bin müd.«

»Wirst aber heut noch einen weiten Weg machen müssen.«

»Warum? Und wohin?«

»Warum, das wirst du erfahren, und wohin, das wirst du sehen.«

Wolfrat lachte. »Da bin ich aber neugierig. Wer will denn was von mir?«

»Der Vogt.«

»Der Vogt?« wiederholte Wolfrat überrascht. »So? So?« Er strich mit der Hand übers Haar und erhob sich. »Ja, freilich, da muß ich schon gehen. Aber wenn ich recht gehört hab, ist ja der Vogt seit Freitag im Gejaid – freilich, hab's ja von euch selber gehört, wie ich auf der Alm meine Schwester gesucht hab. Was will er von mir? Da droben?«

Die Knechte wollten ihn fassen; er trat zurück und machte zwei Fäuste. »Oho! So ist's gemeint? Ich geh von selber mit, weil der Vogt mich haben will. Aber anrühren soll mich keiner, sonst schlag ich zu.«

»So komm!«

Wolfrat nahm den Hut von der Ofenstange und ging auf sein Weib zu. »Behüt dich Gott, Seph! Bis morgen abend bin ich wieder daheim.« Er reichte ihr die Hand und hob den Buben in die Höhe.

»Vater,« klagte Lippele, »du tust mich drucken!« Als der kleine Bursch auf der Erde stand, rollte er die Schultern, dehnte die Ärmchen, als wären ihm alle Knöchlein aus den Fugen geraten, und als müßte er sie wieder einrenken.

»Also weiter!« sagte Wolfrat und ging den beiden Knechten voran zur Stube hinaus.

»Mutter?« fragte Lippele. »Wohin muß der Vater?«

Dumpf schluchzend warf Sepha sich über den Tisch; sie hatte ein Gefühl, als wäre ihr jählings etwas eisig Kaltes in das Herz gefallen.

Als Wolfrat aus der Haustür trat, packten ihn die Knechte unversehens, der Fronbot warf den Strick, und ehe Wolfrat ans Wehren denken konnte, waren ihm schon die Hände hinter dem Rücken gebunden. Er sprach kein Wort mehr. Als sie ihn durch den Hag auf die Straße führten, warf er einen langen Blick auf das Totenbrett seines Kindes.

»Bet, bet,« sagte das Brett, »vielleicht bist du der nächst!«

Da kam der Knecht, den Herr Heinrich geschickt hatte, die Straße einhergerannt. Keuchend blieb er vor den anderen stehen.

»Willst du was?« fragten sie.

Er schüttelte den Kopf und ließ sie ihres Weges ziehen. Während er ihnen nachblickte, hörte er aus dem Haus des Eggebauern lautes Geschrei und wirren Lärm, dann eine heulende Weiberstimme. Gleich darauf kam eine Magd durch den Garten auf die Straße gerannt.

»Was ist denn los bei euch?« fragte der Knecht.

»Der Bäuerin ist was geschehen, ich muß zum Bader laufen.«

Er rannte neben ihr her. »So red doch, was ist denn der Bäuerin?«

»Der Krank ist schon über ein Jahr lang in ihr und hat ihr ungut zugesetzt. Und da hat ihr der Bader gesagt, sie könnt nur gesunden, wenn man ihr ein Herzkreuzl eingeben tät. Der Bauer hat ihr keins verschaffen können, und deswegen ist die Bäuerin allweil so schiech mit ihm gewesen und hat gezannt und gepaget in einem fort. Heut auf den Abend sind sie wieder aneinander geraten, und die Bäuerin im Zorn ist aus dem Bett gesprungen und hat ihm die Kunkel an den Kopf gehaut. Dabei ist sie ausgerutscht und der Läng nach hingeschlagen auf den Boden. So ein schweres Leut! Und da muß ihr einwendig was gebrochen sein, und drum muß ich zum Bader laufen.«

Die Dirn wurde dem Knecht zu flink; er blieb hinter ihr zurück und wartete auf den Fronboten, der die beiden Knechte und ihren Gefangenen nur eine kurze Wegstrecke begleitet hatte.

Die Dämmerung wandelte sich zur Nacht. Als die Knechte mit Wolfrat das Seedorf hinter sich hatten und den Wald erreichten, steckten sie die Fackel in Brand; der sie trug, stieg voran; dann kam Wolfrat, und hinter ihm ging der andere Knecht; er hatte den Strick, der von Wolfrats gebundenen Händen ausging, an seinen ledernen Gurt befestigt. Nur zuweilen sprachen die Knechte ein paar Worte, die den Weg betrafen. Wolfrat redete keinen Laut. Er starrte vor sich hin auf den Pfad oder in den Wald hinein, in dem der rötliche Schein der qualmenden Fackel einen gespensterhaften Kampf zwischen der fahlen, unruhig zuckenden Helle und den schwarzen Schatten erregte; alles erhielt Leben; die moosigen Felsblöcke waren anzusehen wie die Köpfe von Ungeheuern die aus der Erde zu steigen schienen; Baumstrünke mit dürrem Astwerk tauchten aus der Finsternis hervor gleich abenteuerlichen Gestalten, mit borstigem Haar und zum Fang gestreckten Armen.

Als Wolfrat vor fünf Tagen diesen gleichen Weg in der Nacht emporgestiegen, war es still und finster gewesen im Wald. Und langsamer war's gegangen. Das Kreuzbild, das er auf dem Rücken getragen, hatte sich mit den ausgestreckten Armen bald an Bäumen, bald an Zweigen verfangen. »Grad, als hätt's mich halten wollen!« dachte er.

Auf den Almen rasteten sie; dann ging's wieder weiter.

Der Morgen dämmerte, als sie sich der Kreuzhöhe näherten. Mit scharfen dunklen Linien hob sich das heilige Bild vom bleichen Himmel ab. Seit Wolfrat das Kreuz gewahrt hatte, konnte er den Blick nimmer von der Erde erheben. Als er am Kreuz vorüberschritt, geneigten Hauptes, mit scheuen Augen, rann ihm ein kalter Schauer durch das Herz. »Er lebt doch, ich hab ihn doch nit erschlagen!« schrie es in seiner Seele. Aber die Furcht wollte nicht von ihm weichen. Und eines wußte er: beten konnte er niemals wieder in seinem Leben, seit er an dieser Stelle, den Namen Gottes heuchlerisch auf den Lippen tragend, den Mordgedanken unter seiner Stirn geboren hatte. Er hatte nicht einmal beten können am Grab seines Kindes; so oft er auch begonnen: »Vater unser« – immer wieder stand das blutbefleckte Kreuz vor ihm und schloß ihm die Lippen.

Er atmete auf, als sie an der bösen Stelle vorüber waren.

Über das Steintal blickten im Morgengrau schon die Hütten her. In den Felswänden hörte man die Steine gehen, die von den ziehenden Gemsen gelöst wurden. Einzelne Wölklein, tief violett, schwammen langsam am blassen Himmel.

Es begann schon voller Tag zu werden, als sie die Hütten erreichten. Auf der Bank vor dem Herrenhause ließen sie sich nieder; die Türen waren noch geschlossen, alles war still; sogar die Quelle murmelte schläfrig, als wäre sie versiegt in der Nacht und begänne erst jetzt wieder zu fließen, da es tagen wollte.

In der Jägerhütte schlummerte Haymo auf seinem Lager, und Frater Severin, der bei ihm hätte wachen sollen, schnarchte auf der Holzbank; er hatte am vergangenen Abend ein schweres Werk geleistet: er ganz allein hatte das dritte ›Pärchen‹ Rechberg und Stein bezwingen müssen, da Herr Heinrich den Vogt zu sich in die Schlafstube genommen, um den Heuboden für Gittli zu räumen.

Herr Schluttemann, dem die gewohnte ›Bettschwere‹ fehlte, erwachte zuerst. Lautlos öffnete er den Fensterladen, und da gewahrte er die Knechte und den Sudmann; eine Weile stand er unschlüssig und kraute sich den Kopf; dann ging er hinaus; darüber erwachte Herr Heinrich.

Wolfrat und die Knechte erhoben sich, als der Vogt aus der Tür trat; kopfschüttelnd ging er auf den Gefangenen zu; er donnerte und blitzte nicht wie sonst; nur ernster Vorwurf klang aus seiner Stimme, als er zu Wolfrat sagte: »Polzer, Polzer! Was hast du da jetzt angestellt? Das wird dir einen bösen Tag bringen.«

Es wäre Wolfrat wohler zumut gewesen, wenn der Vogt geschrien und mit den Fäusten gefuchtelt hätte. »Ich weiß nit, was Ihr meinet, Herr! Aber wissen möcht ich wohl, warum mich Eure Leut überfallen und am Strick dahergeführt haben wie einen Ochs, den man metzgen will.«

»Polzer! Polzer! Tu nicht leugnen!« sagte Herr Schluttemann mit den sanftesten Lauten, deren er fähig war. »Sonst wird dich einer fragen müssen, der eine glühende Zung hat und eiserne Zähn.«

Wolfrats bleiches Gesicht wurde aschfarben. »Ich brauch nichts leugnen und nichts eingestehen. Ich weiß nit, was Ihr wollt von mir.«

»Polzer, Polzer! Ich will dir in aller Güt nur sagen –« Der Vogt verstummte, denn Herr Heinrich war aus der Tür getreten. Nur einen Bückling machte Herr Schluttemann und deutete auf den Gefangenen.

Lange ließ Herr Heinrich schweigend seinen Blick auf Wolfrat ruhen, und dieser ertrug den Blick und zuckte mit keiner Wimper.

»Bindet ihm die Hände los!«

Herr Schluttemann machte große Augen. »Reverendissime, ich bitte zu bedenken –«

»Ich habe bedacht!« sagte Herr Heinrich kurz. »Löset ihn, dann soll er mir folgen.« Er trat in die Herrenstube.

Wolfrat atmete auf, reckte die befreiten Arme und folgte dem Propst.

»Weck einer den Frater!« sagte Herr Schluttemann zu den Knechten und ging hinter Wolfrat her. Kaum hatte er die Herrenstube betreten, als Gittli vom Heuboden über die Leiter niederglitt, verstört und totenblaß. Die Stimmen hatten sie geweckt. Sie wankte zur Tür hinaus, hörte die Worte nicht, die Frater Severin ihr zurief, sah die Knechte nicht stehen und glotzen – mit gestreckten Händen und fliegenden Haaren stürzte sie der Jägerhütte zu und brach vor Haymos Lager in die Knie.

»Jesu mein! Gittli! Was hast du?« stammelte Haymo, dem der Schreck fast die Sprache nahm.

»Sie haben ihn, o Mutter Maria, sie haben ihn!«

»Wen, Gittli?«

»Der's getan hat! Mein Bruder, Haymo! Es ist mein Bruder!« Stöhnend warf sie die Arme über das Bett und drückte das Gesicht in die Decke.

Haymo war erblaßt. Ihr Bruder! Das Wort hatte ihn fast gelähmt, er konnte keinen Finger rühren.

Jetzt hob sie langsam das Gesicht, rutschte auf den Knien näher, umklammerte seine Hände und sah zu ihm auf, verzweiflungsvolle Angst in den bettelnden Augen.

Sie brauchte nicht zu sprechen, er verstand. Brennende Röte flog über seine Stirn. »Ich darf's nit hehlen, Gittli! Ich darf nit.«

»Haymo! Schau doch, wie ich dich bitten tu!« Glitzernde Zähren rannen ihr über die Lippen. »Er ist mein Bruder, und sie hauen ihm die Hand ab und schlagen ihn zu Tod wie den Grünwieser-Konrad in Salzburg, der einen Hirsch gefangen hat. Und die Schwährin, die arme Schwährin, die muß versterben, wenn sie's hört, und schau, am Ostertag ist ihr doch erst ein Kind verschienen, so ein liebes, gutes Kindl! Haymo?«

»Ich darf nit, darf nit!« stammelte er mit versinkender Stimme.

Sie schlug die Hände vor das Gesicht und wankte zur Tür hinaus. Er streckte die Arme nach ihr, aber seine Lippen wollten ihren Namen nicht finden.

Hinter der Hütte, zwischen dem tief niederhängenden Gezweig der Fichten sank sie auf die Erde. Hätte sie lauschen können, sie hätte von der Herrenstube her durch das offene Fenster die redenden Stimmen hören müssen.

Wolfrat stand vor Herrn Heinrich, als wären seine Glieder von Stein. »Und wenn Ihr mich hundertmal fragt, Herr,« sagte er mit kalter Ruhe, »ich weiß keine andere Widerred. Ich hab den Weg gemacht, weil mir der Eggebauer das Lehent geliehen hat. Ich hab den Herrgott hinaufgetragen, hab ihn ans Kreuz genagelt, vor Tag bin ich fertig gewesen, hab nichts gesehen und gehört, hab mich wieder aufgemacht und bin daheim gewesen vor der neunten Stund. Wie die Dirn über Nacht nit heimgekommen ist, hab ich mich freilich sorgen müssen. Aber bis Mittag, da hab ich, hab ich –« Er stockte. »Ich hab zu schaffen gehabt.«

»Du hast dein Kind begraben?«

Er nickte. »Und auf den Abend hab ich im Sudhaus sein müssen. Erst in der Nacht hab ich fort können und schauen nach der Dirn. Wie ich auf der Alm gehört hab, was geschehen ist, hab ich mir gedacht: sie soll nur bleiben, bei so was ist ein Weiberleut allweil gut. Und bin heimgegangen. Und hätt ich's denn ausgeredet überall, wenn ich es selber getan hätt?«

»Sag, weshalb ist deine Schwester zu Berg gegangen?«

»Ich weiß es nit.«

»Wollte sie Schneerosen pflücken für das Kind? Zum Engelkränzlein?«

Er zögerte mit der Antwort. Das wäre ein Ausweg gewesen! Aber nein, lügen auf sein totes Kind, das brachte er nicht zuwege.

»Nun?«

»Ich weiß es nit.«

Herr Schluttemann machte einen Bückling. »Reverendissime? Sollte man nicht die Dirn holen?«

Herr Heinrich wehrte mit der Hand. »Lasset das Mädchen aus dem Spiel!«

Wolfrats Augen blitzten, und seine Brust hob sich. Da winkte von irgendwo eine Hilfe! Das wußte er nun: Gittli hatte ihren Schwur gehalten. Jetzt hatte er nur eines noch zu fürchten, und das ließ nicht lange auf sich warten. Herr Schluttemann machte abermals einen Bückling und sagte:

»Reverendissime! So wär es wohl an der Zeit, den Haymo wider ihn zeugen zu lassen?«

»Und Ihr meinet, dadurch würden wir der Wahrheit auf die Spur kommen?«

»Ei freilich!«

»So?« sagte Herr Heinrich in einem Ton, der vermuten ließ, als wäre er anderer Meinung. »Gut, gehen wir!« Er erhob sich. »Komm!« sagte er zu Wolfrat. »Wenn du die Wahrheit sprachst, so hast du nichts zu fürchten.«

Wolfrat brachte keinen Laut über die Lippen. Einen Augenblick schien die Ruhe ihn verlassen zu wollen. »Schwören kann er nit, daß ich es war,« sagte er sich in seiner zähen Hoffnung, »mein Gesicht war angerußt, nit einmal mein Weib hätt mich erkannt.« Er hob den Kopf und folgte Herrn Heinrich mit schweren Schritten. Sie gingen hinüber zur Jägerhütte, wobei der Vogt keinen Blick von Wolfrat wandte; auch gab er den Knechten heimlich einen Wink, daß sie sich in der Nähe halten sollten.

Unter der Tür der Jägerhütte trat ihnen Haymo entgegen; er trug den Arm in einer Schlinge; sein Gesicht war weiß wie Kalk. Wolfrat senkte den Blick.

»Sieh dir diesen Mann an, Haymo!« sagte Herr Heinrich. »Der soll es getan haben. Erkennst du ihn?«

Wolfrat hob die Augen und erzitterte vor dem Blick, den Haymo auf ihn richtete; denn er las aus diesem Blick, daß der Jäger ihn erkannte. Doch Haymos Lippen blieben geschlossen.

»Sprich,« mahnte Herr Heinrich, »erkennst du ihn als jenen, der es getan hat?«

»Nein, Herr!«

Über Wolfrats Gesicht flog heiße Röte. Herr Heinrich blickte sich um, als suchte er jemand; er sah nur, wie die niederhängenden Zweige der Fichten sich bewegten. Der Vogt aber griff sich mit beiden Händen an den Kopf, rannte auf Haymo zu, fuchtelte ihm mit den Fäusten vor der Nase umher und stotterte: »Mensch, wo hast du deine Augen? So schau ihn doch an! Ich sage dir, er muß es gewesen sein! Schau ihn doch an! Gelt, du erkennst ihn?«

»Nein, Herr Vogt!« sagte Haymo mit bebender Stimme. »Der's getan hat, war geringer am Leib und hat aschfarbenes Haar gehabt. Der da war's nit.«

Herr Schluttemann hob die Arme und ließ sie auf seine Hüften fallen, als wollte er sagen: »Jetzt steht mir der Verstand still!«

»Ihr sehet, Vogt, man kann sich irren!« sagte Herr Heinrich. »Wir müssen den Mann freigeben.« Er nickte, als wäre die Sache für ihn erledigt, und ging der Herrenhütte zu. Unter der Tür rief er den Frater. »Die Knechte sollen packen, wir steigen vor Mittag noch zu Tal. Du, der Vogt und das Mädchen, ihr gehet mit den Knechten über die Almen. Ich warte hier mit dem Haymo, bis das Maultier kommt. Dann nehmen wir den Abstieg nach dem See, er ist kürzer und für Haymo minder beschwerlich.«

Vor der Jägerhütte stand Haymo noch immer auf der gleichen Stelle. Als er den Propst in der Tür verschwinden sah, atmete er tief auf, wandte sich wortlos ab und trat in die Hütte.

Wolfrat und Herr Schluttemann waren allein.

»Schau, schau,« sagte der Vogt und kraute sich das Genick, »jetzt hab ich dir unrecht getan!«

Wolfrat schwieg und blickte langsam nach beiden Türen.

»So sei halt jetzt zufrieden, Polzer, und tu dich nicht kränken!« stotterte Herr Schluttemann. »Daß dir die Schicht ausbezahlt wird, die du heut im Sudhaus drunten versäumt hast, dafür sorg ich schon, ja, ja!«

»Kann ich jetzt gehen, Herr?« fragte Wolfrat ruhig.

»Freilich, Polzer, freilich! Geh nur heim zu deinem Weib!« Freundlich klopfte der Vogt dem Sudmann auf die Schulter. »Wenn's im nächsten Jahr wieder hapert mit dem Lehent, dann komm nur, ich laß schon reden mit mir.«

»Es wird's nit brauchen, Herr! Behüt Euch Gott!« Wolfrat zog den Hut in die Stirn und ging dem Steig zu, während Herr Schluttemann kopfschüttelnd das Herrenhaus betrat.

Da rief Herr Heinrich aus dem Fenster: »Wolfrat? Wohin?«

»Heim will ich, Herr! Ich kann doch gehen?«

»Wenn du willst. Doch wär's mir lieb, wenn du eine Weile noch bleiben möchtest. Ich hätt eine Arbeit für dich.«

»Wohl, Herr!« sagte Wolfrat zögernd.

»Setz dich nur da her auf die Bank und warte, bis ich komme!«

Mit finsteren Augen ging der Sudmann zur Bank; man sah es ihm an, er tat's nicht gerne, unter dem Kittel rührte er die Schultern, als wäre ihm nicht wohl zumut in seiner Haut.

Zwischen den Zweigen der Fichten schlüpfte Gittli hervor und huschte in die Jägerhütte. Haymo saß auf dem Bett. Sie flog auf ihn zu und umschlang seine Hand. »Vergeltsgott, Haymo, Vergeltsgott tausendmal, weil du Erbarmen gehabt hast mit ihm!«

»Hab ich nit müssen?« sagte er. »Und wenn's mich gleich meine Seel gekostet hätt!« Seine Augen hingen an ihr mit sehnsüchtiger Schwermut.

»Schau, Haymo,« zitterte es von ihren Lippen, »er hat freilich was Arges getan! Aber gelt? Ich hab's doch ein lützel wieder gutgemacht? Wie er gekommen ist und hat's der Schwährin gestanden, und ich bin drin in der Kammer gewesen und hab's gehört, schau, da hat mich doch keins nimmer halten können. Gelaufen bin ich und gelaufen, bis ich dich gefunden hab. Und gelt, ich hab's doch wieder ein lützel gutgemacht?«

Er ließ ihre Hände und überflog sie mit bangem Blick. »Nur weil du's wieder gut hast machen wollen?« fragte er mit versagender Stimme. »Sonst wegen gar nichts bist du gekommen?«

Sie blickte erschrocken zu ihm auf. »Weswegen sonst denn hätt ich kommen sollen? Was hast du? Was schaust du mich denn so an?«

Er schwieg und fuhr sich mit der zitternden Hand über die Stirn.

»Aber so red doch!« bat sie in herzbeklemmender Angst.

Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

»Gott, was hast du denn, ich hab dir doch nichts getan?«

Sie wollte seine Hand fassen. Da klang von draußen die Stimme des Fraters: »Gittli? Gittli?« Er trat in die Stube. »Da bist du ja! So komm doch, Dirnlein, komm doch, du sollst mir packen helfen.« Bei der Hand zog er sie mit sich fort.

»Haymo?« stammelte sie noch, aber da  stolperte sie schon über die Schwelle hinaus.

Als sie an Wolfrat vorüberkam, senkte er den Kopf. Sie wollte zu ihm sprechen; der Frater hielt fest und zog, da gab es kein Bleiben. In der Küche tat sie wortlos, was man ihr sagte.

»Bruder,« flüsterte Herr Schluttemann dem Frater zu, »packet das ›Pärchen‹, das noch übrig ist, oben auf! Dann haben wir noch eine Kurzweil, wenn wir rasten.«

Frater Severin nickte verständnisvoll.

Eine Viertelstunde später waren sie alle zur Heimfahrt gerüstet. Als Wolfrat die beiden Knechte mit hochbeladenen Kraxen davonschreiten sah, erhob er sich von der Bank. Die Ungeduld der Furcht zitterte ihm in allen Fibern. Er trat an das Fenster und rief hinein: »Soll ich noch allweil warten, Herr?«

»Ja, Wolfrat!« klang Herrn Heinrichs Stimme, als eben Gittli zu ihm in die Stube kam, um Abschied zu nehmen. Er sah sie freundlich an. »Geh mit Gott, mein Kind!« sagte er und bot ihr die Hand. Als sie diese Hand küßte, fiel eine Zähre aus ihren Augen. »Gittli? Bekümmert dich etwas?«

Sie schüttelte den Kopf und schlich davon. Vor ihrem Bruder blieb sie stehen. »Gelt, ich kann der Seph schon sagen, daß du bald heimkommen wirst?«

»Sagen kannst ihr's allweil!«

Sie wollte gehen. Unruhig blickte Wolfrat ihr nach. Jetzt sprang er auf.

»Dirn!«

Sie wandte sich, und da streckte er wortlos die Hand. In Kummer, die Lippen stumm bewegend blickte sie zu ihm auf, als sie ihre Hand in die seine legte.

»Tummel dich, Dirnlein, daß wir weiterkommen!« mahnte Frater Severin.

»Ich geh schon!« Sie eilte zur Jägerhütte und fand die Stube leer. Erschrocken kam sie herausgelaufen. »Wo ist der Haymo?«

»Vor einer Weil hat er dem Hund gepfiffen,« rief ihr Wolfrat zu, »und ist da hinaufgestiegen nach den Halden.«

Zitternd blickte sie in die leere Stube.

»Ist das ein Narr, ein unguter!« brummte Frater Severin. »Nit einmal warten kann er, bis man ihm Behüt Gott sagt! Komm, Dirnlein, komm!«

Zögernd, mit gesenktem Kopf, schritt Gittli hinter Herrn Schluttemann und dem Frater einher. Immer wieder blieb sie stehen und blickte nach der Jägerhütte zurück, so daß die beiden immer weiter vorauskamen. Nun führte der Weg in eine Mulde, und die Hütten verschwanden. Da sank sie auf einen Stein und schluchzte in die Hände.

»Jetzt ist er harb auf mich. Und ich hab ihm doch nichts getan.«

Aus dem Tal herauf hörte sie den Frater ihren Namen rufen. Sie trocknete mit dem Ärmel die Augen und fing zu laufen an.


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