Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Jörn und Lisbeth gingen am Waldrande entlang. Sie waren in der Stadt gewesen, um eine Wohnung zu besehen und Möbel zu kaufen. Am zweiten Weihnachtstage wollten sie auf dem Heeshofe stille Hochzeit feiern und am selben Tage noch nach der Stadt fahren.

Sie hielt sich so dicht an ihm, daß er sich in ihrem Kleide verfing, das in rüstigem Gehen zur Seite flog.

»Es fehlt nicht viel,« sagte er, »so stürze ich noch. Der Schnee ist glatt genug dazu.« Er zwang sie, langsamer zu gehen.

Sie lachte. »Du,« sagte sie und drängte sich wieder dicht an ihn: »Ich bin so glücklich.«

»Das ist natürlich,« sagte er.

»Wieso natürlich?«

»Nun,« sagte er und sah sie schelmisch an: »Es ist ja bald Weihnachtsabend. Jedes Kind freut sich auf den Tannenbaum.«

»Ach,« sagte sie und schüttelte seinen Arm. »Was meinst du, werden wir glücklich miteinander sein und es auch bleiben?«

»Kein Zweifel!« sagte er. »Siehst du: wir wissen beide, 490 wen wir heiraten, daß es ein Heiliger nicht ist; und wir haben die Absicht, jeden in seiner Haut und seiner Art zu lassen. Daran gehen so viele Ehen in die Brüche, daß einer den anderen drängen und zwingen will, zu denken und zu thun wie er selbst. Ich meine im Gegenteil, man muß den anderen in seinem Eigenen, wenn es nicht gar zu unklug ist, bestärken, damit man doch einen ganzen Menschen neben sich hat, einen runden, ganzen Menschen. Was sagen sie? Eiche und Epheu? Tasse und Untertasse, was? Bett und Unterbett, nicht? Ach, die Dummheit! Sondern sie sollen nebeneinander stehen wie ein Paar gleiche, gute Bäume. Nur daß der Mann an der Windseite stehen soll. Das ist alles.«

»Wie klug du darüber redest!«

»Nun, ich habe es mit Lena Tarn versucht. Die war ein Eisenkopf. Ich auch. Und es ging fein.«

Schweigend dachten sie an die Tote.

»Sie war damals wie für mich geschaffen,« sagte Jörn Uhl gedankenvoll. »Jung war sie und frisch und immer unverzagt. Eine Gelehrte war sie nicht. Sie hatte keinen Sinn für Bücher. Sie sah nicht einmal in die Zeitung. Sie lachte und sagte: Das Lesen hätte sie in der Schule ein für allemal abgemacht. So ungefähr, wie man die Milchzähne ablegt. Ein köstlich, drollig Menschenkind war sie. Ich muß, wenn ich mir ihr Wesen und ihr Treiben wieder vorstelle, an Wietens Märchen denken. Sie war wie aus der Erde heraus gewachsen, wie ein junger, schöner, starker Baum, der mit Wind und Sonne kluge Rede führt, ohne auf der Schulbank gesessen zu haben.«

»Wie war sie sonst? Ich meine, als Frau.«

»So . . . du meinst . . . Ja, wie ein Naturkind. Es kam eine Zeit, da schrie sie nach Liebe, und es kam eine andere, da verachtete sie dergleichen.«

491 Sie faßte nach seinem Arm und sagte, die Augen am Boden: »Ich bin zuweilen traurig, daß du so verständig mit mir bist. Einmal, vor zwei Jahren, als wir den Kriegskameraden besuchten, warst du anders. Du hast mich doch auch so lieb, wie Lena Tarn?«

Er legte den Arm fest um sie und nahm sie an sich, daß sie ihm an der Brust stand und sie sich nicht rühren konnte, und sah sie so an, daß sie ihr Gesicht an seiner Schulter verbarg.

»Geh nach Haus,« sagte er, »daß du nicht kalt wirst. Ich will noch rasch ins Dorf hinauf gehen.«

»Du willst nach Elsbe aussehen. Ach Gott, wenn sie doch käme! Ich gehe mit dir.«

Als sie auf die Anhöhe kamen, von wo man die Straße weit hinunter sieht, die von Hamburg über Itzehoe in die Einsamkeit der Heese führt, stand Fiete Krey da – sah auch in die Weite. Sie fanden aber nichts und gingen heim.

* * *

Sie saßen bedrückt bei einander und sagten nicht viel. Wieten strickte an einem Paar Kinderstrümpfen und stellte an jedem Abend weiche, warme Filzpantoffeln hinter den Ofen. Thieß hing den großen, messingnen Bettwärmer an den Haken neben der Thür. Und keiner fragte, für wen diese Dinge bereit gehalten würden.

An einem Abend unterbrach Lisbeth das Schweigen: »Fiete, erzähl' uns, wie ist deine Frau gestorben?«

Fiete Krey fuhr aus Träumen auf und sah von einem zum anderen. Als er auch Wietens graue Augen auf sich gerichtet sah, sagte er: »Ich habe mich gewundert, daß ihr noch nicht danach gefragt habt. Wenn ihr es wissen wollt, – und ich glaube wohl, daß es ganz gut paßt zu unserem 492 Warten, – so will ich euch erzählen, warum und woran Trina Kühl, die Jungdeern auf der Uhl war, gestorben ist.

»Wie ich sie verlor? Ich habe sie ebenso verloren, wie ich einmal als Junge einen ganzen Packen Zeugkneifer verlor. Ich sah einen Junghasen am Waldrande, und vergaß das Fuhrwerk und die Waren, und sprang dem Tiere nach in den Wald hinein. Da kam der Lump vorbei, der Dieter Krey von Süderdonn. Du kennst ihn, Thieß: er schielt etwas.«

»Ja,« sagte Thieß, »er schielte. Er schielte stark, Fiete. Das kannst du ruhig behaupten. Er suchte mit dem rechten Auge Sterne und mit dem linken Regenwürmer. Er hatte keinen guten Blick, Fiete.«

»Na, der kommt vorüber und nimmt mir den Packen vom Wagen und fährt davon. So habe ich mehrmals das Beste verloren, was ich hatte, weil mir plötzlich etwas anderes in den Sinn kam und mir den Kopf heiß machte. Ich lief dem nach und verlor das Erste. Ich bin nicht wie Thieß, der den Torfsack festhält und fünfzig Leute zur Hilfe aufruft.

»Wir hatten einige Jahre miteinander gelebt, kinderlos, Trina Kühl und ich. Da kam ein Brief von Jasper Krey aus Wentorf, daß seine Trina-Tante gestorben wäre und er nun endlich erben würde. Da ließ ich Frau und Farm in Stich und kam herüber, um mir ein- oder zweitausend Mark Geld zu holen. Ich fürchtete, Jasper Krey würde mir das Geld nicht schicken, sondern es hindurchbringen wie sein erstes Erbe.

»Sie war auf der einsamen Farm zurückgeblieben; ich hatte aber sie und die Farm der Obhut eines jungen Deutschen, eines Schlesiers, übergeben, der die Nachbarfarm besaß. Er war der Sohn eines Arztes, hatte studieren sollen, hatte aber unruhiges Blut gehabt, von seiner Mutter her. 493 Diese ist nämlich die Tochter eines deutschen Forschungsreisenden gewesen, und hat, als die Mutter sie noch unterm Herzen trug, viele hundert Meilen mit ihren Eltern durch Indien und Australien wandern müssen. Davon ist es gekommen, daß sie nachher im Leben keine Ruhe gehabt hat. Als sie in Schlesien die Frau des Arztes geworden ist, hat sie wochenlange, weite Fußwege gemacht, im Sommer und im Winter, von innerer Unruhe von Dorf zu Dorf getrieben. Diese unruhige Wanderlust ist, wenn auch gemildert, auf alle ihre Kinder übergegangen: sie sind, kaum flügge, der Reihe nach aus dem Hause in fremde Länder gegangen. Eines von diesen Kindern war also nach Amerika gekommen und war unser Nachbar. Er war ein gerader und kluger Mensch. Seine Klugheit war uns, den Einsamen, unterhaltend und nützlich; seine Geradheit machte, daß wir ihn lieb gewannen.

»Wir kamen abends oft zusammen. Dann spielten wir zuerst ein wenig Karten. Das wurde mir aber bald langweilig, und ich las die englischen Zeitungen, die er mitbrachte: ich wollte ja die Sprache des Landes kennen, ich wollte ja reich werden in dem Lande. Ich bin bitter arm geworden.

»Während ich las und dann und wann nach der Bedeutung eines Wortes fragte, freute ich mich, daß die beiden so einträchtig miteinander spielten oder sich freundlich unterhielten, wobei Trina Kühl die plattdeutschen Brocken ins Englische warf, wie Rübenschnitzel in Bohnenschrot. Mir war das alles lieb, und ich freute mich darüber; denn erstmal lernte ich durch den Umgang mit dem Nachbarn viel. Er hatte so eine besondere Fähigkeit, sich in die Art eines Landes hinein zu finden; er war in einem halben Jahre heimischer als mancher in zwanzig. Dann auch war es mir lieb, daß er sie unterhielt; denn sie hatte sich schon früher 494 oft über mich beklagt: ›Du bist so langweilig. Erzähl' doch etwas!‹ Und wenn ich etwas erzählte, hatte sie kein Interesse daran und sagte: ›Du kannst nicht erzählen.‹ Endlich aber gefiel mir, daß sie besonders zärtlich mit mir war, wenn er abends bei uns gewesen war. Sie hatte sonst leicht etwas Gleichgültiges und zuweilen fast etwas Widerwilliges gegen mich gehabt, so daß ich wohl halb scherzend, halb im Ernst gesagt hatte: ›Ich glaube, du hast mich nicht recht lieb.‹ Das war nun besser geworden.

»Nun, als ich also den Brief von Jasper Krey bekam und abreise, da haben die beiden denn also in der Wildnis allein gehaust. Sechs Meilen weit kein Mensch als sie beide und ein alter, tauber Mann, den ich angestellt hatte, nach dem Vieh zu sehen. Und allmählich, bald, da ist es so weit gewesen, da haben sie sich guten Morgen gewünscht, indem sie einen weißen Stock gegen das dunkle Hausdach gestellt haben: So ruft man ja in Deutschland die Arbeiter vom Felde heim zum Essen. Bald haben sie gemeint, es wäre thöricht, daß sie jeder für sich äßen. Da ist sie am Vormittag zu ihm hinüber gegangen und hat ihm das Essen bereitet; und sie haben zusammen gegessen, und gleich nach dem Essen ist sie davon gelaufen. Bald ist er an jedem Abend zu ihr gekommen, und sie haben miteinander Karten gespielt. Bald haben sie nicht mehr Karten gespielt, sondern haben sich gegenüber gesessen und haben Handgreifen gespielt, und er hat ihre Hand, wenn er sie gefangen hat, so festgehalten, als hätte er ein wildes Schwert in der Hand; sie aber hat seine Hand, wenn sie die fing, wie glühendes Eisen wieder fahren lassen. Bald haben sie mit Jubel und Angst gesehen, daß sie nicht voneinander bleiben konnten.

»Da haben sie meinen Brief bekommen, daß ich mit nach Frankreich in den Krieg müßte. Da haben sie in den 495 Zeitungen geforscht, ob der Krieg wohl bald zu Ende wäre, und haben sich mit dem deutschen Komitee in New York in Verbindung gesetzt, ob der Name von dem Sechsundachtziger Johann Friedrich Krey, derselbe, der hier vor euch sitzt, in den Totenlisten gestanden hätte. Und sie haben jeder am anderen wohl gemerkt, daß sie wünschten: ›Wenn er doch nicht wiederkäme.‹ Da ist immermehr aus Lust Leid geworden. Da haben sie sich klar darüber ausgesprochen: ›Wir haben uns lieb. Was fangen wir an?‹

»Sie haben beschlossen, sich voneinander los zu reißen. Er ist zu einem Freunde gereist, welcher am Michigansee Vögel und Fische fing, und hat dort bleiben wollen, bis ich wieder gekommen wäre. Aber der Krieg zog sich in die Länge. Er hat sie immer deutlicher gesehen, wie sie mit einem stillen Gesicht am Fenster stand und in die Weite sah. Dann wieder hat er fest geglaubt, sie wäre in diesem Augenblick in großer Gefahr und riefe laut nach ihm. Da hat er seinen Freund verlassen und ist in der Nacht bei ihrem Hause angekommen und hat still vor der Thüre gesessen, bis die Morgenröte aufgekommen ist.

»Und da, mit den ersten Sonnenstrahlen, ist sie, die er in ihrem eigenen Hause glaubte, von seinem Hause her übers Feld gekommen. Als sie ihn da auf der Schwelle hat sitzen sehen, hat sie sich an die Stirn gegriffen und hat ihm gestanden, sie hätte in seinem Hause geschlafen, unter seinen Wolldecken. Da sind sie denn zusammen ins Haus gegangen und haben den Beschluß gefaßt, die Sünde zu bekämpfen, so lange sie noch könnten, dann aber zu sündigen; und dann, wenn ich, Fiete Krey, wieder käme, die Sünde bar zu bezahlen nach dem harten Wort: ›Der Tod ist der Sünde Sold.‹

»Nachdem sie diesen Beschluß gefaßt haben, sind sie etwas ruhiger geworden. Der Gedanke: Wir können es 496 thun, und wir können es lassen, der Gedanke, frei zu sein, Selbstherren ihres Schicksals, hat sie stolz gemacht. Sie haben sich angelacht und sich zugenickt, und sind abends mit dem Wort auseinander gegangen: ›Morgen, wenn wir wollen! Morgen!‹ So haben sie vier Wochen lang ihr heißes Wollen unter die Füße getreten.

»Da kam ich von Deutschland zurück; es traf sich, daß ein Farmerssohn, der gut beritten war, mir zuvor kam, und ihr die Nachricht brachte, daß ich in gut einer Stunde kommen würde. Du haben die beiden kurze und heiße Beratung gehabt: ›Was thun wir? Ein einziges Mal?‹ Und so lange ein Vogel aufpfeift, haben sie gesagt: › Dies eine Mal.‹

»Aber plötzlich ist ihnen klar geworden: ›Dazu haben wir so lange und so tapfer gegen das Böse gekämpft, weil wir siegen sollten. Komm! Zu Pferde! Wir wollen ihm entgegengehen und ihm heute abend noch alles sagen.‹

»So kamen sie mir entgegen. Und am Abend, nachdem ich selbst auserzählt hatte, und ich ihn nach seinem Hause begleitete, da sagte er mir von ihrer Liebe, ihrem Kampf und Sieg. Ich sagte nicht viel dazu. Als ich ihn aber verlassen hatte, und er weit genug von mir weg war, daß er mich nicht hören konnte: da lachte ich laut. Und ich kam zu ihr hinein und lachte. Wir legten uns schlafen, und sie war zutraulich, und ich hatte eine gute Nacht und dachte und lachte: Gut ist es, Fiete Krey, daß es so gekommen ist. Die Gleichgültigkeit, die Schläfrigkeit ist vorüber. Ein feines Weib hast du jetzt. Sie ist jetzt wach geworden. Du mußt deinem Nachbar dankbar sein.

»Thieß, wie war ich dumm! Ach, du verstehst nichts davon! Lisbeth! Ich, Fiete Krey, einer von den klugen Kreien, war dümmer als dumm. Eines Tages, da sie in meinem Arme hing, und sie mich wieder einmal heiß küßte, 497 fast wie von Sinnen, da fragte ich sie, warum sie die Augen so fest geschlossen hätte: da antwortete sie mir, daß sie bei all ihren Liebkosungen immer an den anderen dächte und mit all ihrer Leidenschaft bei dem anderen wäre. Ich möchte böse sein oder nicht, sie könne nicht anders. Es wäre ihr trostloses Schicksal.

»Da wurde mir klar, daß es schlimm mit uns beiden stand. Ich habe die ganze Lage ruhig mit ihr besprochen. Ich fragte sie, ob sie mich damals lieb gehabt hätte, als sie meine Frau geworden wäre. Da antwortete sie: sie wäre damals siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen, ein junges, unerfahrenes Ding, das weder sich selbst noch das Leben gekannt hätte. Was wisse solch junges Ding, halb Kind noch an Seele und Geist, von dem, was ihm wert und unwert sein würde, wenn es einst Herrin seiner ganzen Kräfte wäre, wenn es einst fünfundzwanzig wäre? Sie sagte, sie wäre überzeugt, das, was ihr widerfahren, das erlebten die meisten, die so jung geheiratet hätten wie sie; es käme für die meisten die Zeit, da sie wahrlich klar in die Welt sähen und das Leben erkennten, und dann würde es ihnen klar: der und der wäre das Glück und die Wonne deines Lebens gewesen und nicht der, an dessen Seite du geschmiedet wurdest, als du noch von nichts wußtest.

»Da fragte ich sie: ›Kann nun dies nicht anders werden? Wirst du ihn lieb behalten, so daß alle Gedanken und aller Wille auf ihn gerichtet sind?‹ Da sagte sie: ›Bis ich tot bin. Ich bin für ihn geschaffen, und er für mich. Darum sind wir hier von Gott zusammengeführt. Für dich ist wahrscheinlich auch eine da; die hast du nur noch nicht gefunden.‹ Da fragte ich sie: ›Wenn ich stürbe, das wäre dir recht?‹ Da sagte sie: ›Ja.‹ Da fragte ich: ›Hast du denn gar kein Gefühl für mich? Ich bin doch immer treu 498 und freundlich zu dir gewesen. Du bist mit mir aus der Heimat gelaufen in dies fremde Land, und nun wolltest du mich gern los sein?‹ Da fing sie bitterlich an zu weinen. Ich aber ging hinaus. Es graute mir. Ich dachte: Das ist keine Ehe mehr, und es war mir klar, daß ich ein Ende machen müsse. Es bäumte sich zwar mein Stolz auf. ›Das,‹ dachte ich, ›für deine Mühe, deine Treue, deine Liebe.‹ Aber ich mußte sie doch von aller Schuld freisprechen. Es war ein Schicksal über sie gekommen und damit über mich, das stärker war als wir beiden armen Menschen.

»Also, ich will es kurz sagen: ich biß die Zähne zusammen, ich strich ihr den Halfter ab und ließ sie zu einer deutschen Familie gehen, damit sie dort ihren Aufenthalt hätte, bis unsere Ehe geschieden wäre. Dort hat sie aber nur drei Monate gelebt. Dann ist sie ins Wasser gegangen. Eine alte Holsteinerin, aus der Gegend von Nortorf, ist dort ihre Vertraute gewesen. Täglich hat sie von uns beiden gesprochen, hat sich angeklagt und hat sich freigesprochen und ist wieder von vorne angefangen. Von dem anderen hat sie gesagt: ›Wir gehören zusammen. Mein Herz ist Tag und Nacht bei ihm.‹ Von mir hat sie gesagt: ›Er ist immer gut mit mir gewesen. Immer sehe ich ihn mit seinem stillen Gesicht allein durch sein ödes Haus gehen.‹ Dann hat sie geschrieen: ›Gott hilf mir aus der Not! Was soll ich thun?‹ Zuletzt hat sich ihr Verstand verwirrt, der also nach zwei Seiten hin und her gerissen wurde.

»Ich bekam die Nachricht, und wir beide ritten hinüber. Es war ein stiller Ritt, einen Tag und eine Nacht. Der Sarg war geschlossen; wir haben sie nicht gesehen. Es war ein Sarg aus vier guten, weißen Bohlen von einer Weißfichte, nicht ganz dicht; sie hatten auf der Hofstelle vier Tage lang daran gesägt. In der Ecke eines 499 Weizenfeldes haben wir sie begraben: einen Kirchhof hatten sie da noch nicht.

»Das ist die Geschichte von Trina Kühl. Sie war Jungdeern auf der Uhl. Du weißt doch noch, Wieten, wie sie aussah? Ihr habt sie alle gekannt. Du auch, Lisbeth?

»Und das ist das Merkwürdige,« sagte Fiete Krey und sah mit krauser Stirn vor sich auf den Tisch, »daß die beiden edelsten Dinge, die es auf der ganzen Welt giebt, diese beiden stolzen und edlen Königinnen, nämlich Treue und Liebe, sich zankten, und sich vor Wut ins Gesicht spuckten und aufeinander losschlugen, und zerrissen mir dabei meinen schönen Schmetterling, der gerade zwischen ihnen vorüber flog . . . Und was soll man über die christliche Ehe denken? Der Pastor sagte bei der Trauung: ›Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.‹ Und so meinten wir beide auch. Mit reinerem Willen sind nie zwei Menschen vor den Altar getreten. Wir waren wie die Kinder. Wie traurig steht es um die Menschen, wenn selbst das Gute in uns gegeneinander aufsteht und die Zähne fletscht.

»Ich habe später einmal einem deutschen Pastor, einem feinen und klugen Mann, die ganze Geschichte erzählt – ich wohnte da schon in Chicago – und habe ihn gefragt, was er dazu sagen könnte. Er gestand als ein ehrlicher Mann, daß wir dies nicht wissen könnten; wir thäten aber gut, zu trauen, daß Gott sich in einer bitteren Notwendigkeit befunden habe und gezwungen dies Unheil habe geschehen lassen müssen. Wir müßten trauen, daß freundlich und zweckvoll wäre, was jetzt als grausiges Rätsel erscheine. So sagte er. Und mir hat das ruhige Wort geholfen, daß ich mich darein ergab und nicht weiter grübelte. Er war ein verständiger, guter Mann. Er redete nicht, wie viele 500 andere Prediger thun, welche jeden Katzenweg kennen, den die Engel gehen, wenn sie mit Aufträgen Gottes über die Erde schleichen, und welche reden, als wären sie dabei gewesen, als ›dich die Morgensterne lobten‹.«

Johann Friedrich Krey von Wentorf schwieg und sah wieder sinnend vor sich hin. Thieß hatte sich vom Ofen abgewendet, saß mit vorgebeugter Brust, und sah ihn an, und sah jetzt in dem Gesicht seines alten Freundes die Schrift, welche das Leben da hinein gegraben hatte, seit er damals vor fünfzehn Jahren im Mondschein neben dem Wagen stand, bei den drei Eichen, um in die Welt zu gehen; und neben ihm stand das schmucke, hagere Mädchen. Um das zu erleben, mußten sie in die Welt hinaus. Wieten Klook saß gebückt hinterm Ofen im Halbdunkel, hatte das Strickzeug fallen lassen und sah mit sinnenden Augen vor sich auf die Erde. Sie sah die kleine, hellhaarige Deern mit dem zierlichen, reinen Kindergesicht neben sich in der Küche der Uhl stehen und dachte an ihr sonderbares Ende. Und zu vielen anderen Erinnerungen ihres Lebens legte sie mit feierlichem Gesicht diese, wie man einen weißgekleideten Toten in den Sarg legt.

Sie war noch stiller geworden in den letzten Jahren. Wenn Thieß zu ihr sagte: »Lies 'mal ein wenig, Wieten,« dann antwortete sie wohl: »Ich habe so viel erfahren, was soll ich wohl noch lesen oder hören?« Wenn Thieß sagte: »Erzähl' ein wenig, Wieten,« dann sagte sie: »Es kommt nichts dabei heraus; wir Menschen können es doch nicht ändern.« Sie saß und sann, hob den Kopf nach dem Fenster und ging hinaus. Die drinnen hörten das leise Tappen ihrer Füße im frischen, harten Schnee. Sie wußten: nun geht sie ums Haus und sieht, soweit der Sternenschein geht, ob das Kind kommt. Aber keiner sagte ein Wort und keiner 501 hob den Kopf, als sie wieder hereinkam und sich müde am Ofen niedersetzte.

Bald danach gingen sie alle zur Ruhe. Thieß und Jörn gingen in das Zimmer, in dem sie gemeinschaftlich schliefen.

»Mit der Schlafsucht ist es vorbei, Jörn,« sagte der Alte. »Als ich die Sechzig erreicht hatte, war sie verschwunden. Jetzt stellt sich sogar Schlaflosigkeit ein. Leg' dich hin, mein Junge; ich will noch ein wenig hin und her gehen.«

Thieß Thiessen hat mit zunehmendem Alter mehr und mehr an Schlaflosigkeit gelitten, so sehr, daß ihm schon das Stillliegen unmöglich war. Er hat als ein Siebzigjähriger manche halbe Nacht so zwischen Bett und Fenster hin und her gewandert, wobei er am Fenster immer eine Weile Halt machte und in die Nacht hinaussah. In diesen drei Wochen vor Weihnachten hat dies abendliche Wandern und Am-Fenster-stehen seinen Anfang genommen.

»Ob sie kommt, Jörn? Kommt sie zu Weihnacht nicht, dann kommt sie nie.«

»Und wenn sie kommt?!«

Nach einer Weile sagte Thieß: »Darüber will ich mir keine Sorge machen; wenn sie nur kommt . . . Hörst du? Es kommt Ostwind auf! Wenn sie nun unterwegs ist: das arme, arme Ding.«

Jörn Uhl stand am anderen Fenster und sagte: »Früher, als ich noch sehr jung war, da meinte ich, es könnten einem nur zwei Dinge gegenüber treten, nämlich solche, die sich biegen lassen und solche, die sich brechen lassen. Nachher, in den traurigen Jahren, habe ich gemerkt, daß es noch eine dritte Sorte von Dingen giebt. Die stehen einen Augenblick oder auch jahrelang vor einem als ein wildes, schwarzes, überstarkes Ungeheuer, das seine fürchterliche Tatze mit den toten, weißen Krallen gehoben hat. Was soll man 502 nun dagegen thun? Beiseite biegen, schmeicheln, lügen? Hat keinen Sinn. Da steht es, dicht vor dir! Und es ist irre, Thieß! Es hat keinen Verstand; es ist ein grausig, wüstes Wesen. Darauf los hauen? Hat keinen Sinn; es ist viel stärker als du. Also . . . was bleibt gegenüber solchem Ungeheuer, solchem übergroßen Schicksal, noch übrig? Nur eins. Man muß zu ihm sagen: Ob du mich sterben oder leben läßt, ob du mich und was ich lieb habe, frißt oder nicht, ob du durch dein ewiges Drohen und den Anblick deiner Tatze mir den Verstand verwirrst oder nicht, ganz wie es dir paßt; aber das sage ich dir: beides geschieht im Namen Gottes, von dem ich fest traue, daß seine Sache – das ist das Gute – in mir und überall siegen wird. Siehst du, Thieß: so stehe ich auch zu Elsbes Sache.«

Der Alte ging wieder hin und her, und trat ans Fenster, und sah lange hinaus. »Jörn,« sagte er leise, »glaubst du ganz gewiß, daß alles, was so geschieht, auch all das Traurige, was du und ich erlebt haben, all das, was Wieten Penn in ihrer Jugend erlebt hat, und was Fiete Krey mit Trina Kühl durchgemacht, und der Greuel, den sie da auf der Uhl angerichtet, und das Elend meiner Schwester: glaubst du, daß das alles einen guten Zweck hat, ich meine, daß da Sinn darin liegt?«

»Thieß,« sagte Jörn . . . »wenn man das nicht glaubt, woher soll dann ein ernster, nachdenklicher Mensch den Mut zum Leben nehmen? Sieh, man kann deutlich erkennen, daß alles, was geschaffen ist, unter Mühe und Not gestellt ist; es wühlt in der ganzen Schöpfung auf und nieder wie in brodelndem Wasser. Aber man kann wohl merken, daß ein Sinn in dem Mühen und Wühlen ist. Das Böse sinkt widerwillig, und das Gute ringt und strebt mühsam nach oben. Eine geheimnisvolle Kraft ist immerzu thätig, und 503 stößt und schiebt, und will Ordnung schaffen, wie die Hand des Schäfers und seine Hunde. Und wohl dem Menschen, der des Hirten leisen Ruf durch den Sturm hin hört und dem Herrgott hilft bei seiner mühseligen Arbeit.«

»Horch!« sagte Thieß. »Hörst du?«

»Es ist der Frost, der in der Esche sitzt.«

* * *

Sie warteten, und sie kam nicht. Und sie hatten alle das Gefühl, daß sie unterwegs war. Ihre heimathungrige Seele streckte die Arme aus und griff nach den Seelen derer, welche sie in der Heimat lieb hatte. Ihre Seele ging schon im Heeshof alle die alten Wege und machte sich denen bemerkbar, die im Hause wohnten. Thieß Thiessen ging heimlicherweise auf den Kornboden, und stand dort lange in der bitteren Kälte, und sah durch die Fenster weithin nach Südosten. Die alte Wieten fuhr auf in der Nacht: »Sie steht im Schnee und kann nicht weiter.« Jörn Uhl stand in Gedanken und fuhr zusammen, wenn Lisbeth ihn anredete. Fiete Krey war wieder unterwegs und fragte auf der Landstraße nach einer jungen Frau, klein und blaß, mit dickem, dunklem Haar und mit einem kleinen Mädchen an der Hand. Aber er kam vergeblich wieder.

Da mußten sie wohl Weihnachten feiern ohne Freude.

Lösche das Licht deiner Augen, Lisbeth Junker! Strecke die Hand nicht aus nach deiner schönen Braut, Jörn Uhl! Thieß Thiessen und Fiete Krey, ihr Freunde gemütlicher Rede: Hütet euch, daß ihr nicht lebhaft werdet!

Es kam ein kalter Nebel und zog mit einem trägen Winde dünne, graue Tücher über das ganze Land. Die Sonne stand wie ein weißlich-trüber Fleck, so groß wie ein 504 Haus, am Himmel. Und im Vorbeiziehen ließ der Nebel in jedem Baum und an jeder Hecke, an der er vorüber ging, von seinem losen Gewebe hangen: da lag das ganze Land im Rauhreif.

Da wurde es noch stiller. Die vielen tausend Stimmen, das Leben, Regen und Rufen, das sonst die Luft auch dieser Einsamkeit erfüllt, hielt an sich. Die Vögel hielten sich lautlos in der Nähe der Häuser; die Krähen flogen stumm zu ihrer Nachtherberge. So sehr bangte und verwunderte sich die Natur. Die Menschen, die sonst auf das beständige Rauschen, das durch die ganze Natur geht, nicht achten, verwunderten sich jetzt, da es verstummt war. Wenn zwei zusammen des Weges gingen, standen sie still, sahen sich an, blieben stehen, hoben die Finger und sagten leise: »Hör' doch!«

Die Tannen am Waldrande standen gerade und schlank, vom Scheitel bis zu den Füßen in Silberbrokat, Bräute, bereit zur Hochzeit, und hinter ihnen in fallenden, weißen Schleiern die dichte Schar der Jungfrauen. Halb schön erschien ihnen der Zauber, halb schaurig, und sie sahen jeder erstaunt auf seine Nachbarn, so lange das geringe Tageslicht da war. Als es aber Abend wurde, da wandelte sich die ganze seltsame Herrlichkeit. Da sahen sie einer den anderen im Totenhemd; das war mit vielen weißen Spitzen kalt und steif besetzt. Da nahm das Grauen überhand.

Das Dorf lag glänzend und neu, als wäre es zu diesem Weihnachtsfest als ein sauberes Spielzeug wie in eine neue Schachtel in dies weiche, weiße Thal gelegt. Als kämen bald Riesen aus dem Walde vom Meere her und setzten sich rund umher auf die Hügel und fingen an, mit den weißen Häusern und den schmucken, weißen Bäumen zu spielen, und setzten die Häuser durcheinander und stellten die Menschen hin und her, und stellten zwei zusammen, und stellten dann 505 Kinder daneben und ließen sie alt werden, und brächten sie nach dem Kirchhof und grüben ein kleines Loch im weißen Schnee. Und dieses Spiel der Riesen dauerte schon tausend Jahre, und die Menschen im Dorf merkten es nicht.

Man glaubt es ja jetzt nicht mehr, weil man es nicht mehr sieht. Man sieht es nicht mehr, weil man es nicht mehr glaubt. Wunderbare Dinge sind aber nicht aus der Welt geschafft, wenn die Menschen die Augen zukneifen und sagen: »Ich sehe nichts,« oder die Augen aufreißen und sagen: »Ich sehe alles.«

Es soll ja damals in Bethlehem ein Engel gewesen sein, der war flink und vorlaut. Er sprach einen Prolog, der nicht vorgesehen war, und verwirrte das ganze Programm, wie die Erzählung deutlich zeigt. Die anderen, die nachkamen, waren mehr aristokratisch, mehr rein himmlisch, mehr von der Sorte: da freien sie nicht und lassen sich nicht freien.

Die Geister, die unter und über uns wohnen, sind verschwiegene Leute.

Wer weiß etwas? . . . Das ist die gemeinsame Sünde der Jünger Darwins und der Jünger Luthers, daß sie zu viel wissen. Sie sind dabei gewesen, die einen, als die Urzelle Hochzeit machte, die anderen, als Gott in den Knieen lag und wehmütig lächelnd die Menschenseele schuf. Wir aber sind Anhänger jenes armen, staunenden Nichtswissers, welcher das Wort gesagt hat: »Daß wir nichts wissen können, das will uns schier das Herz verbrennen.« Wir staunen und verehren demütig neugierig. Wir erzählen, was wir gesehen haben und was uns erzählt ist, und machen nicht einmal den Versuch, das Gesehene und Gehörte zu deuten.

Wunderbare Dinge sind geschehen an diesem Weihnachtsabend, da Gefahr vorhanden war, daß die abgehärmte Frau des stolzen Harro Heinsen, der in dieser Stunde irgendwo in einer Straße Chicagos betrunken an einer 506 Hauswand lehnte, noch kurz vor der Heimat, am Rande des Heeswaldes, die Heimat verfehlte.

Sie war an der Heimat schon vorbeigefahren, wollte den Heeshof und die darin wohnten, nicht wiedersehen, und hatte oben in Schleswig ein Unterkommen gesucht und hatte dort die letzte Enttäuschung erlebt. Da war der Rest des Lebensmutes dahin. Sie wanderte mit ihrem Kinde nach Süden zu, kam bei Friedrichstadt über die Eider, wanderte endlose, kahle Chausseen entlang, ging mit dem Kinde an der Hand durch verschneite Dörfer, nicht in der Absicht, die Heimat zu erreichen, sondern getrieben, geschoben, in dumpfen Träumen. Das Bild des Heeshofes und der Menschen, die darin wohnten, stand immer vor ihren müden, halbgeschlossenen Augen: da mußte sie hinter dem Bilde herwandern.

Es kam die Dämmerung, und die Abendnebel zogen in schweren, losen Massen und bauten weiter an dem Wunder der weißen, toten Welt. Einzelne Sterne schossen auf wie im Zorn und durchdrangen den Nebel: da breitete sich kaltes, bläuliches Licht übers Feld.

»Wie weit ist es noch, Mutter?«

»Nicht weit mehr, Kind.«

»Wollen wir uns hierher setzen? Mir thun die Füße so weh.«

»Nein, das geht nicht. Siehst du das Licht? Dahin wollen wir.«

»Wohnen da gute Leute?«

»Ja . . . da wohnen gute Leute . . . Ich kann nicht. Ich kann nicht zu ihnen gehen. Wo soll ich hin mit dem Kinde?«

Da kam ein Mann vorüber und sagte im Gehen: »Wohin noch, kleine Frau?«

»Ich . . . ich will noch weit.«

507 Er trat näher heran. »O,« sagte er, »du bist die Tochter von Grete Thiessen und die Schwester von Jörn Uhl. Die werden sich freuen, daß du kommst: sie haben überall nach dir gesucht.«

Sie sagte nichts. Sie dachte: »Ich komme wohl noch von ihm ab,« und ging so mit ihm.

»Nun komm,« sagte der Mann, »hier geht ein Richtweg. Kennst du nicht den Weg über den Odelkrug? Den bist du gewiß oft genug gegangen, als du noch ein Kind warst.«

Sie gingen mühsam und langsam neben ihm her.

»Das Kind ist müde,« sagte er. »Komm her, Kleine. So! Sei nicht bange; ich will dich tragen. Ei, wird der Jörn Uhl sich freuen! Und Thieß verliert heute abend noch dreimal seine ledernen Pantoffeln. Und die anderen! Denen bringe ich Weihnachten ins Haus.«

Er trug das Kind, wobei er immer schwerer atmete. Am Querweg setzte er es hin und sagte: »Nun hast du keine Viertelstunde mehr. Siehst du? Sie haben Licht auf der Diele und in beiden Stuben.«

Er ging von ihr weg dem Dorfe zu. Sie hatte ihn nicht erkannt, hat ihn auch nachher nicht wieder gesehen, obgleich sie bis auf diesen Tag auf dem Heeshof wohnt. Aber vergessen hat sie ihn nicht. Wenn das kleine, müde Mädchen Kinder haben wird, wird sie diesen ihren Kindern von dem langen, schwächlichen Mann erzählen, der sie über den Odelkrug getragen hat. So arbeitet und wühlt Gutes und Böses unter, an und in den Menschen, und kommt wie ein bunter, lauter Volkshaufe vor Gottes Thron und schreit ihn an. Er wird Ordnung in dem Wirrwarr schaffen.

Der Abend war da. Kinder kamen nach alter Gewohnheit vom Dorfe her nach dem Heeshof, und rührten 508 mit Stöcken in aufgeblähten Schweinsblasen, und sangen zu dem eintönigen Geräusch und bekamen Nüsse, Äpfel und Kuchen; und dreimal stieg Thieß Thiessen nach dem Boden hinauf und schnitt von dem Speck ab, der unter dem schrägen Hausdach hing.

Und Lisbeth Junker schickte die anderen hinaus und zündete den Weihnachtsbaum an, den Fiete Krey aus der Heese geholt hatte, und dachte traurig bei sich: »Es ist nur wegen des Kleinen. Wir Großen werden an Elsbe denken und werden uns nicht freuen können.«

Als sie aber die neuen Schulbücher für den Kleinen unter den Baum legte, und das Bilderbuch und die ersten Schlittschuhe darunter versteckte, wurde sie ein wenig froh. Und kam in Eifer, und holte die Wäschestücke, die sie für den langen Jörn Uhl genäht hatte; dazu zwei wertvolle Bücher, von der Tante zu diesem Zweck gestiftet. Ein junger Hilfslehrer der Mathematik hatte ihr die Bücher empfohlen. Er war häufig in den Laden gekommen, und sie hatte ihn schon in Verdacht gehabt, daß er käme, um ein Abenteuer zu haben. Es stellte sich aber heraus, daß er eine stille, zutrauliche Natur war, die eine fühlende Seele suchte, mit der er von dem Liebesglück reden konnte, das er in einer blonden, holsteinischen Bauerntochter gefunden hatte. Da hatte auch Lisbeth Glück und Hoffnung nicht länger verborgen, und sie hatten manche halbe Stunde überm Ladentisch von ihrer Liebe geredet.

»Für Thieß die Pfeife! Dazu den Schulatlas zu zwei Mark. Was soll man Thieß Thiessen sonst schenken?«

»Nun habe ich einen einzigen großen und heißen Wunsch: daß Elsbe mit ihrem Kinde unter diesem Tannenbaum stände! Horch! . . . Nein, es ist nichts.«

»Nun will ich sie rufen.«

509 Und zuerst kam der Kleine an der Hand seines Vaters. Er war ein ernster, nachdenklicher Junge und blieb auch ruhig, als er den Baum sah. Er stand eine Weile davor, und man sah wohl, daß er sich innerlich freute. Er zeigte es aber nicht weiter, als daß er Lisbeth Junker schelmisch ansah und zu ihr trat und sich an ihre Seite stellte. Dann aber sah er die Bücher und fragte: »Du, wer soll die haben?« Und legte sich längelang daneben und kramte in seinen Sachen umher, und die Lichter spielten über sein helles Haar.

Thieß und Wieten hatten in ihrem Leben noch keinen Weihnachtsbaum gesehen und konnten sich nicht recht 'was dabei denken. Fiete Krey fing an, in der Stube hin und her zu gehen und leise vor sich hinzusummen, eine Gewohnheit, welche die Einsamkeit ihn gelehrt hatte. Jörn Uhl stand und starrte den Baum an, und die Lichter, die ihm das schöne Gesicht seiner Braut zeigen sollten, zeigten ihm das Dunkel, das diese Stunde hatte. So standen sie alle da und fühlten: »Wir können nicht Weihnacht feiern. Lösch' den Baum aus, Lisbeth Junker! Das Licht thut uns weh.«

In diesem stillen, peinlichen Augenblicke, da zwei schöne, stolze Augen sich mit Thränen füllten, hörten sie plötzlich alle ein Geräusch draußen, als wenn zwei oder drei Menschen unterm Fenster hin und her gingen. Sie erschraken und standen unbeweglich. Ihre Herzen zitterten hin und her, in großer Furcht, zwischen Hoffnung und Angst vor Unheimlichem.

Da riß sich Jörn Uhl auf, und ging aus der Thür und mit großen Schritten über die Diele, und öffnete mit raschem Griff die Thür.

Da stand da draußen im Schnee, was er gehofft hatte. Und er sagte mit schwerer Zunge: »Bist du es, Elsbe? Bist du es?«

510 »O, Jörn! . . . Bist du es, Jörn? So komme ich wieder!«

»Komm herein, Kind, komm herein. So . . . Ich nehme das Kind. So . . . So, nun komm.«

»Ich, Jörn . . . Jörn, ich . . . was soll ich hier? . . .«

»Komm doch. Ja . . . Nun komm! . . . Lisbeth, komm rasch her! Sie ist müde.«

Thieß stand in der Stubenthür und sagte immer: »Mien lüttje Witte,« und streckte die Hand nach ihr aus und konnte nicht von der Stelle.

»O, Thieß! Thieß! Wie oft habe ich gesagt: Du machst alles verkehrt . . . O, mein Gott . . . Mein Gott, Wieten! Dein Haar ist weiß.«

»Hier in den Stuhl, Lisbeth! Wieten, wo sind die Schuhe?«

Sie saß im warmen Stuhl am Ofen und weinte, und Wieten kniete vor ihr und zog ihr die nassen Schuhe aus, Lisbeth öffnete die reifbedeckte Jacke, und Jörn versuchte, dem Kinde den Mantel abzunehmen, und verstand es nicht, und Fiete Krey faßte Thieß Thiessen an und sagte: »Da steht ein Stuhl, Thieß. Setz' dich.«

Das Kind sah mit zwinkernden Augen in den Tannenbaum. »Wollen wir hier bleiben, Mutter?«

»Ach Gott,« sagte Thieß, »das arme Kind.« Er warf die Pantoffeln von den Füßen, und sprang auf und suchte und fand einen Teller mit Kuchen, und füllte des Kindes Hände.

Jörn trat an das Kind heran und sah von dem Kinde auf seine Schwester. Die hob den Kopf und sah ihn an. Da sah er in den ganzen Jammer ihrer und seiner Jugend. Er ballte die Hände und rief mit wilder Gebärde: »Verflucht mein Vater!«

Da sprang Lisbeth auf, warf sich gegen ihn und weinte laut: »Sieh mich an! Sieh mich an!«

511 »Geh weg von mir!« schrie er. »So eine gute Mutter! Soviel friedliche und reine Tage! Alles verdorben und lachend tot getreten durch den Einen.«

Da schmeichelte sie sehr, und drängte ihn zurück und herzte und küßte ihn und bat ihn, sich zu freuen, daß die Schwester wieder da wäre. Und sagte: »Sie meint, du bist ihr böse.«

»Ich?« rief er laut, »ihr böse?« Und er lief auf sie zu, der große, harte Mann, und kniete vor der gebrochenen Gestalt seiner kleinen Schwester, streichelte ihre Hände und legte seinen Kopf gegen den ihren und gab ihr alle Spottnamen, die er lange vergessen glaubte, und sagte: »Der Vater hat Schuld, und ich habe Schuld . . . Nicht, Wieten? . . . Thieß, sag' du es! Ich habe auch Schuld.« Dann redete er große Dinge von der Zukunft: »Wie eine Prinzeß sollst du auf dem Heeshof sitzen, und keiner soll dich anrühren, und die alte Wieten will immer bei dir sein, und Thieß will so lange reden, bis du lachen mußt.«

Sie ließ alles über sich ergehen, hatte ihre Hand auf ihres Bruders Haar gelegt und weinte sich aus. Und allmählich wurde ihr Atem schwer und tief und ihr Weinen stiller und müder. Sie sank zusammen wie ein Mensch, der die schwere Last neben sich auf die Erde stellt und sich ein wenig auf einen Stein am Wege setzt.

Da gingen Wieten und Lisbeth hinaus, die Betten zu bereiten.

Als dann alles besorgt war, die Heimgekehrte und ihr Kind unterm Dach des Heeshofes in schwerem, tiefem Schlafe lagen, da stand Jörn Uhl noch mit Lisbeth Junker am Fenster. »Du hast es gesehen,« sagte er, »verhärtet und vereist ist ein ganzes Stück von meiner Seele.«

Sie sagte wieder: »Sieh nicht über mich weg, Jörn! 512 Komm ganz nahe heran und sieh mich an. Du mußt sehen können, daß ich dir helfen kann und helfen will, soweit es noch möglich ist.«

Er sah stumm auf sie nieder. Und wie er sie ansah und sie ihr ganzes Gesicht mit klaren Augen ihm hinhielt, wurde ihm, als sähe er in ein lieblich weites Thal hinab, in dem zwischen Grün der Weiden und dem Dunkel schöner Bäume tiefe, stille Seen lagen. Da wurde ihm froher ums Herz. Er sagte: »Ich muß immer zu dir kommen, wenn ich traurig und verfinstert bin.« 513

 


 


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