Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Zwanzigstes Kapitel

Es giebt Bauernhöfe im Land, welche tot sind. Geiz oder Überschuldung, oder öffentliche Schande oder böses Gewissen, oder langwierige, unheilbare Krankheit, haben alles Leben, das im Hause war, getötet, und sperren aus, was von draußen hereinkommen will. Die Erde dreht sich, die Kultur geht weiter, Sitten und Gebräuche ändern sich, das Volk führt Kriege, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Volkes werden besser und wieder schlechter: der Hof da im einsamen Felde, unter den hohen, dunklen Bäumen, hinter den dichten Büschen, rührt sich nicht. Wie ein Nagel, der in der feuchten Wand rostet, so still steht er. Das Mädchen in der Kammer und der Dienstjunge im Stall vergessen sich, und lachen auf und schlagen sich auf den Mund und sind still.

Endlich, eines Tages, wird ein Sarg vom Hof getragen, oder ein verschlossener Wagen fährt vor und, gezwungen oder freiwillig, steigt ein Umdüsterter ein und verschwindet für den Rest des Lebens im Irrenhaus; oder ein paar alte Leute, Mann oder Frau, oder Bruder und Schwester, mit mißtrauischen, scharfen Augen, ziehen aus den unreinen, muffigen Stuben und von dem verfallenen Hofe ins 360 Altenteil und fürchten die Nacht, weil sie vor Unruhe und Angst nicht schlafen können, und fürchten den Tag, daß ihre Kinder kommen, die sie für Diebe halten, vor denen sie ihre Wertpapiere ängstlich verbergen. Der Hof aber kommt in andere Hände. Fenster und Thüren werden aufgerissen. Maler und Tischler singen in allen Stuben. Bald lacht eine junge Frau. Bald stolpern hellhaarige Kinder im Sonnenschein über die Hofstelle.

Es war ein trüber November. Nasser Westwind fuhr schon tagelang in die Pappeln, daß es rauschte und wühlte wie in schweren Wellen. Da kamen eines Abends die beiden Brüder von Hamburg ins Haus.

Sie thaten, als wenn sie nur 'mal nachsehen wollten, wie es um den kranken Vater stünde und um des Vaters Hof. Aber der Vater drehte den Kopf zur Wand. Als sie hinausgegangen waren, schalt er, daß alle die jetzigen Uhlen nichts taugten, er wäre der einzige tüchtige Uhl gewesen. Sie kümmerten sich auch weiter nicht um ihn, gingen breitbeinig durch Haus und Ställe, lobten einiges, tadelten mehr und erzählten von dem Heu- und Strohgeschäft, das sie hätten, und von einem großen Fuhrwesen. Am selben Abend gingen sie ins Wirtshaus, nachdem sie wegen »Mangel an Goldgeld« sich von Jörn zwanzig Mark hatten geben lassen. Spät in der Nacht kamen sie heim.

Jörn Uhl schlief in dieser Nacht nicht, er lag auf dem Rücken, starrte mit offenen Augen nach oben und grübelte. Er wußte, daß sie am Ende waren und daß sie Geld von ihm wollten. Er hatte gesehen, daß ihre Röcke fleckig waren und vorn an der Brust ausgefranst. Es stieg ihm heiß in die Wangen, daß Kinder der Uhl so im Wirtshaus saßen.

Am anderen Vormittag sagten sie wie beiläufig zu ihm: »Du, wir wollen uns von Fritz Napp etwas Geld geben 361 lassen. Er bot es uns an. Kapital ist da in Hamburg alles; ob eigenes oder fremdes: das ist egal. Also wollen wir es nehmen. Wegen Leben und Sterben kannst du den Schuldschein unterschreiben.«

»Ja . . . Ja,« sagte Jörn Uhl. »Das kann ich ja . . . ich sitze allerdings schwer genug davor und bin als Bürge nicht zu brauchen.«

»Es ist nur Formsache,« sagte Hinrich. Das war der Ton, auf den der Jüngste keine Antwort wußte.

Am Nachmittag wurde die Sache erledigt. An demselben Abend reiste Hans wieder ab, um mit dem erhaltenen Gelde einen falschen Wechsel zu bezahlen, um den er angeklagt werden sollte. Hinrich aber blieb. Er klagte über Rheumatismus in seinem kranken Beine und sagte, daß er von der feuchten und weichen Marschluft Erholung hoffte. Er trieb sich in den Wirtshäusern der Gegend umher und kaufte sich auf den Namen seines Bruders einen neuen Anzug.

Eines Abends, gegen Weihnachten, kam er in die Kammer, als Jörn in der Dämmerung allein saß: er wolle zehn Mark haben. Jörn sagte ruhig, daß er ihm nichts geben wolle. Da begannen Hinnerks Augen zu funkeln: Geld werde er doch los; er habe sich bei Rapp auf seines Bruders Namen schon dreihundert Mark geben lassen. Jörn Uhl blieb noch ruhig, obgleich ihm die Stimme bebte: er werde ihm nie wieder etwas geben; er brauche es ja nur dazu, um die Schande der Familie von Wirtshaus zu Wirtshaus zu schleppen. Da schrie der verrohte Mensch auf und hob die Hand gegen seinen Bruder. Da kochte dem das Blut über; Feuer schoß ihm aus den Augen: er warf sich gegen den Trunkenen, drückte ihn hart und stieß ihn aus der Thür.

Von da an verhielt sich der Hinkende ruhig im Hause. Er ließ sich von dem Mädchen oder von vorübergehenden 362 Kindern Kümmel holen und saß mit des Nachbarn Knecht, der liederlich war, in seiner Kammer und warf sich ins Bett und schlief seinen Rausch aus. Zu den Mahlzeiten erschien er selten. Er schien sich an Branntwein zu sättigen.

Jörn ertrug das schweigend, mit finsterem, verschlossenem Gesicht. Der alte Dreier hatte zu ihm gesagt: »Laß ihn nicht aus den Augen, Jörn! Fritz Rapp hat nichts Gutes mit dir im Sinne, weil du Hinnerks Schulden nicht bezahlen willst. Sie haben gesagt: sie wollen ihn vierzehn Tage lang satt Kümmel machen.«

Wenn der Trinker hinaus wollte, stellte sich Jörn ihm gegenüber und sagte kurz und hart: »Du bleibst hier.«

Eines Tages aber, im Frühling, war er doch davongegangen. Nun trieb er sich ein ganzes Jahr lang in der Gegend als Vagabund umher, arbeitete so viel, daß er genügend zu trinken hatte, und beschimpfte Vater und Bruder und kam zuweilen mit seinen Saufgenossen am Hofe vorbei und schrie und prahlte.

Der alte Uhl war eines Tages im Frühling aus dem Lehnstuhl aufgestanden und hatte wieder angefangen, auf einen Stock gestützt, mühselig zu gehen. Bald stand er, gegen die Wand gelehnt, und sah nach dem Wege hinüber. Nachher ging der alte, schwere Mann, die Hände tief in den Taschen, barhaupt, mit unordentlichem, grauem Haar, schwerfällig um das Haus und spähte aus, ob nicht einer des einsamen Weges käme, dem er vorschimpfen und klagen könnte, wie sehr »Klaus Uhl und seine Kinder« den Hof verlotterten und verlumpten. Er war ganz in den Glauben gekommen, daß er jener Hinrich Uhl wäre, der den Stammhof gegründet und die Familie zu Ansehen gebracht hatte. Einmal traf es sich, daß der Alte da stand, als der Hinkende des Weges kam: da gab es ein rohes Schelten hin und 363 zurück, daß Jörn Uhl die Scham seiner Seele vor dem Knechte, der ihm im Futtergang entgegenkam, nicht verbergen konnte: er schüttelte verzweifelt den Kopf; dann stieß er in blindem Zorn die Forke in die Mauer, daß der Stiel splitterte. Solche Zornanfälle kamen in diesem Jahre häufiger über ihn. Sein Charakter fing an, brüchig zu werden und nach dem Finstern und Harten zu neigen.

* * *

Das alte Mädchen, dessen Haar dünn und grau wird, besorgt mit alter Treue, doch mit geringerem Ehrgeiz und Erfolg, als in ihren jungen Jahren, den schweren Hausstand; sie sitzt und näht und flickt nun für drei: für den Alten, für Jörn und für das Kind. Wenn der Blödsinnige von draußen hereinkommt, setzt er sich schwer in den großen Lehnstuhl und stößt kurz und verdrießlich heraus: »Erzähl' 'was!« Dann erzählt sie ihm alte, bunte Geschichten, wie die Volksseele sie im Traume erzählt. Einige sind besonders närrisch, andere besonders wunderbar, andere besonders grausig. Abends greift sie nach Brille und Bibel. Sie wählt immer Stücke aus dem Alten Testament. Unheimliche Wunder, große, wilde Thaten, kräftiges Scheltwort: das wählt sie. Zum Neuen Testament hat sie nie rechte Stellung nehmen können. Es lag von Haus aus Sonniges genug in ihrer Natur; sie war ein weiches, anschmiegendes Kind gewesen, als sie mit Anna Stuhr und ihren Kindern in der Waldlichtung Zigeuner gespielt hatte. Aber die schrecklichen Erlebnisse, die dann folgten, und die einsamen Dienstjahre auf großen Marschhöfen, und daß sie dann mit dem Unglück der Uhl verkettet wurde: das alles hatte ihre widerwillige Seele aus der Sonne tiefer und tiefer in den Schatten geführt. Sie fand das Ewige nicht mehr in der 364 Sonne; sie suchte es im Dunkeln. Sie fand das Bild der Welt und des Lebens nicht mehr in der hellen, grünen Waldlichtung, sondern in der grauschwarzen Luft, die unter alten, hohen, dichten Tannen ist.

Der Herr des Hofes ist ein grüblerischer, finsterer Mann, dem die Lippen trotz seiner Jugend scharf aufeinanderliegen, wie zusammengewachsen. Er geht nicht ins Dorf, weiß auch nicht, was darin geschieht, hat auch kein Interesse daran. Er geht nicht in die Kirche. Seine Gedanken gehen nicht weiter als rund um den Hof, soweit die Felder der Uhl gehen. Und dann laufen sie noch an drei Stellen über die Uhl hinaus, nach dem Grabe Lena Tarns, und nach der Kirchspielschreiberei, wo die Abgaben bezahlt werden, und nach dem schönen, neuen Haus des Weißkopfs unweit der Kirche in Schenefeld.

Wenn man ihm heute sagen würde: das Vaterland ist in Gefahr, er müßte mithelfen, so würde er sagen: »Vaterland? Ihr wißt doch, daß ich alle Hände und alle Gedanken übervoll habe. Der Hof überschuldet, der Vater blöde, der Bruder ein Lump, Lena Tarn im Grabe? Vaterland?«

Um die Handwerker zu sparen, flickt er selbst an Krippen, Thüren und Lattenwerk. Er geht mit dem Kalkeimer ums Haus, setzt ausfallende Steine ein, und schämt sich vor den Dienstleuten. Aber der Hof darf nicht verfallen: der Weißkopf könnte kommen und könnte sagen: »Der Hof verfällt. Geh' weg vom Hof!« Von diesem Hofe, um den er schon als Kind sich gequält hat? Und wohin dann mit den beiden, die sich drinnen die Geschichte vom Knecht erzählen, der beim Pflügen den eisernen Topf fand, der war bis oben voll von Thalern?

Das Kind läuft einsam und sich selbst überlassen in den Ställen umher. Immer von schweigsamen Leuten umgeben; 365 da es doch neugierig ist, erfährt es nur nüchterne und traurige Dinge, und bekommt etwas Altkluges, redet vierjährig in langgezogenem Plattdeutsch von dem Preiswert der einzelnen Tiere und versucht im Stallwinkel mir dem alten Knecht Sechsundsechzig zu spielen.

In jedem Jahre kam Lisbeth Junker aus Hamburg, um einige Tage im Lehrerhause zu besuchen. Sie kam dann auch nach der Uhl, »um nach dem kleinen Jürgen zu sehen«. Ihr Haar und ihre Augen hatten noch immer das frische Sonntägliche, Unberührte; und ihre Gestalt war noch immer voll aufstrebender, stolzer Kraft. In den grauen Augen und um den festen, roten Mund lag ein Zug tiefen Ernstes. Den kleinen Jürgen an ihren Knieen, erzählte sie mit den scheuen Blicken und mit der hohen, weichen, verlegenen Stimme von ihrem Leben in der Stadt. Sie wäre noch immer bei der Tante und hätte es gut, sagte sie. »Unser kleiner Laden liegt neben dem Gymnasium und nicht weit von einer großen Volksschule. Die Kleinen und Großen kaufen ihre Kleinigkeiten bei uns, Schreibbücher und Tinte und was sie sonst brauchen, und für die Primaner und die Professoren übermitteln wir zuweilen größere Bestellungen.«

Er sah ehrerbietig ihre feine, stolze Schönheit und dachte: Wie fern ist sie dir! Sie eine Prinzessin, du ein armer, roher Knecht. Was will sie hier mitten in deinem Elend? Er sagte verlegen und höflich: »Du bist zu jung dazu, Lisbeth.«

Sie schüttelte den Kopf. »Was soll ich sonst, Jürgen? Ich hätte ja sonst keinen Lebenszweck. Dies ist doch viel besser als irgendwo ein Anhängsel sein?«

Damit war das Gespräch schon wieder am Ende. Sie versuchte, von alten Zeiten zu sprechen; aber die lagen ihm fern, wie hinter breitem, finsterem Wald. Er war zu dicht von schweren Gedanken umringt, um den schüchternen Druck 366 ihrer Hand zu verstehen, und den Schmerz in ihren Augen, wenn sie Abschied nahm. Dann kam sie vielleicht am zweiten Tage noch einmal wieder, um »noch einmal einzusehen«. Wieder gab es eine karge Unterhaltung. Sie erzählte und fragte und merkte mit ihrem feinen Gefühl, daß er mit seinen Gedanken nicht dabei war. Dann ging sie. Unterwegs flog brennende Scham über ihre Wangen. Am Abend in Hamburg wieder angekommen, weinte sie, bis sie sich satt geweint hatte.

Einmal, als das Kind drei oder vier Jahre alt war und am Wege gespielt hatte, kam es an der Hand eines jüngeren, blondbärtigen Mannes in die große Diele und rief: »Vater, das ist der Pastor.«

Jener andere, der einst so breit, im Bewußtsein seines Wertes, durchs Dorf gegangen war, und so sicher und laut über den rechten Glauben gepredigt hatte, hatte in einer größeren Stadt ein Pfarramt überkommen. Dieser Neue war noch jung an Jahren, war von Natur ein Kind und sagte seine Meinung über alles. Es war alles wahr, was er sagte; aber es war nicht alles angenehm. Er paßte nicht zu den Uhlen; er paßte nicht zu diesen harten, klugen und vorsichtigen Menschen, bei denen man die Wahrheit schräg hinter ihren Worten mühsam suchen muß. Er bekam im Laufe der Jahre immer mehr Gegner. Zuletzt schrie die ganze Gemeinde: sie begehrte einen anderen, sie begehrte einen Sicheren, einen Breitspurigen, einen, der voll öliger Salbung wäre und zugleich ein guter Kartenspieler. Die evangelischen Gemeinden können dreihundertfünfzig Jahre nach Luthers Tod noch keinen Pastor ertragen, der nichts weiter ist noch sein will, als ein schlichter, ehrlicher Mensch. Es giebt viel schweres und ganz zweckloses Herzeleid in den Landpastoraten.

367 Damals war er noch ein frischer Mann, war erst ein halbes Jahr in der Gemeinde und war voll sonniger Hoffnung: er wollte es wohl fertig bringen; er wollte durch seine ehrliche Liebe und Arbeit alle für sich gewinnen und damit für das stolze, schöne Evangelium.

Der Pastor redete ein weniges über Wind und Wetter und sagte dann: »Wir haben die Absicht, nächsten Sonntag in der Kirche eine Gedenktafel für die Gefallenen aufzustellen. Nun wollte ich Sie bitten, daß Sie doch auch kommen. Ich weiß wohl, daß Sie kein Kirchgänger sind; aber bei dieser Feier sollten Sie doch nicht fehlen.«

Jörn Uhl sagte, nicht unfreundlich, die Augen an der Erde: »Ich bin nicht in der Stimmung, Herr Pastor, so etwas mitzumachen. Sie werden wissen, daß es mit meinem Vater nicht richtig ist, und was ich hier sonst durchgemacht habe, und wie es mit meiner ganzen Lage steht. Es ist mir die Lust zu allem Feiern vergangen.«

»Das verstehe ich,« sagte der Pastor und sah ihn mitleidig an; »aber wir wollen ja nicht tanzen. Dazu hätte ich Sie nicht eingeladen. Es ist ein Totenfest.«

Da sah Jörn Uhl mit freundlichem Blick auf: »Ich kann wirklich nicht kommen,« sagte er, »es geht über meine Macht. Aber ich will daran denken, wenn Sie in der Kirche feiern. Es sind lauter brave Jungen, alle vier, die auf der Tafel stehen werden. Bei Geert Dose habe ich in seiner Todesstunde gestanden. Ich will nachher auch hinkommen und die Tafel sehen.«

Der Pastor sah ihn an, und hatte ihn gern, und sagte: »Ich muß wohl zufrieden sein.« Dann gaben sie sich die Hände und gingen auseinander.

Am Sonntagabend nahm er den Kleinen an die Hand und ging mit ihm übers Feld nach dem Kirchensteig, dem 368 Dorfe zu, und kam ungesehen auf den Kirchhof und in die Kirche. Da hing an der Wand im Dämmern die helle Marmortafel im Eichenrahmen, von Eichenlaub umkränzt. Er konnte die Namen noch lesen. Unter den Namen stand: »Sie starben für das Land.« Er nickte. Die schlichte Tafel und das kurze Wort erfreuten ihn.

Da kam noch jemand in die Kirche, und als er sich umsah, war's der Pastor, der fragte gleich: »Gefällt es Ihnen so?«

»Der Spruch ist gut,« sagte Jörn Uhl.

»Viele in der Gemeinde,« sagte der Pastor, »hätten gern ein schwungvolles, hohes Wort gelesen . . . Genau genommen,« sagte er ernst, »thut ja jeder ernste Mensch dasselbe, was diese vier gethan haben. Diese thaten es in drei Tagen oder in drei Wochen mit gehäuftem Jammer. So that es auch Ihre junge Frau, Uhl, in wenig Tagen; sie ließ ihr Leben für Sie und das Kind. Andere thun es in vielen Jahren, sei's für ihre Kinder, sei's für eine Idee, oder was sonst Edles eine Menschenseele treibt, freiwillig zu leiden. Wir haben gestern eine Arbeiterfrau begraben. Sie kam selten in die Kirche; aber ihr ganzes Leben ist ein heißes und treues Sorgen für Mann und Kinder gewesen. Das Dienen, das Sichopfern, oder das Helfen und Treusein oder wie man es nennen will: das ist das rechte, menschliche Königtum. Das ist auch das rechte Christentum.«

»Das kann ich wohl verstehen,« sagte Jörn Uhl. »Das ist eine Sache, die einen ehrlich und klar anschaut.« Er nickte und sah den Pastor an, als erwarte er noch ein weiteres Wort hierüber.

»Der Heiland,« sagte der Pastor, »hat durch sein köstlich schönes und reines Leben und seinen sonderbar erschütternden Tod, und durch seine guten, starken und stolzen Worte eine 369 mächtige Fülle von Gedanken und Leben in die Menschheit geworfen, als ein blinkendes Feuer, wie er sagte. Nun nimmt sich der eine dies, der andere das, und die eine Kirche dies und die andere das, und jeder setzt sich mit dem Feuerscheitlein, das er sich genommen hat, in eine Ecke und besieht es, und läßt es qualmen oder flammen, je nachdem er Rauch oder Feuer lieber hat, und sagt: ›Das ist des Heilandes Wahrheit.‹ Viele thun noch ihre eigene Weisheit hinzu, viele sogar ihre Unehrlichkeit, ja viele sogar ihren bösen Willen. So ist des Heilandes wirkliches Bild bei einigen versteinert, bei anderen verkleidet, bei anderen sogar so verzerrt, daß man von seinem edlen Angesicht nichts mehr sieht. Und dabei ist es doch gar nicht so schwer, auch nicht für den Ungelehrten, sich aus den ersten Evangelien ein Bild von ihm zu machen, so klar und deutlich, daß man die Grundzüge seines Wesens, Willens und Lebens erkennt. Soviel ich sehe, so ist es dies, was er uns zu sagen hat: Wir sollen Vertrauen haben, daß Gott im Himmel uns zu aller Zeit, auch im größten Dunkel, mit starkem, immer wachem Willen und mit immer guter Absicht zur Seite steht, und von diesem fröhlichen Glauben aus sollen wir wacker gegen alles Böse in uns und um uns streiten. Den Rücken durch das Gottvertrauen als durch eine hohe, starke Mauer gedeckt, sollen wir für das Gute kämpfen und am endlichen Sieg, erst auf dieser, dann auf der anderen Seite, nimmer zweifeln. Das, meine ich, ist das ganze Christentum. Wenn aber einer zu diesem Gottvertrauen nicht kommen kann – denn das ist nicht jedermanns Sache –, und kann ohne Gottvertrauen das Gute und Liebe thun: so soll man es genug sein lassen und sich freuen.«

»Dem, was Sie da sagen, muß jeder gute Mensch sofort zustimmen,« sagte Jörn Uhl. »Man braucht nicht lange 370 auf einem Bein zu stehen und nachzugrübeln, wozu wir keine Zeit haben. Man hat auch nicht nötig, den Verstand, den Gott einem gegeben hat, erst selbst unmündig zu machen und dann das anzunehmen, was sie einem vorhalten: Friß, Vogel, oder stirb.«

Der Pastor lachte hell auf: »Nichts ist sicherer,« sagte er, »als daß die Sache, die Jesus den Menschen hat bringen wollen, eine sehr einfache, eine ursprüngliche und klare war. So weiß ich nicht, welche es gewesen ist, wenn es nicht die war, die ich vorhin genannt habe.«

Sie gingen miteinander bis an die Grenze des Kirchhofs. Der Pastor fing an, nach dem Feldzuge zu fragen. Jörn Uhl war ein wenig aufgetaut und erzählte bedächtig von der Bedrängnis bei Gravelotte, und von dem nassen Lager vor Metz, und von den langen, bitterbösen Wochen um Orleans. Dann sagte er, er hätte keine Zeit mehr: »Wir haben eine Fohlenstute im Stalle stehen, und der Junge, der dabei sitzt, ist nicht ganz zuverlässig.«

So gingen die beiden auseinander, jeder mit guter Meinung über den anderen. Der Pastor ging ins Dorf hinein, seine Gedanken und Thaten an die harten Menschen zu bringen und zu erreichen, soviel ein Hund erreicht, der gegen einen vorbeifahrenden Lastwagen bellt. Jörn Uhl ging nach seinem Hof zurück in die dunkelste Stunde seines Lebens.

Denn während er nach der Kirche ging, war sein Bruder des Weges gekommen, nachdem er den ganzen Sonntag in irgend einem Wirtshause getrunken und gelärmt hatte, und hatte von dem Jungen, der an der Stallthür lehnte, erfahren, daß der Bauer nicht daheim wäre. Da brach er schimpfend und fluchend ins Haus und stolperte in die Stube, wo der Alte hauste, und schüttelte seinen Haß und Jammer vor ihm aus.

371 Der Alte war schon im Bett, richtete sich auf und sah ihn wirr an. »Was willst du?« sagte er unsicher. »Ich habe es mir sauer werden lassen, habe gearbeitet und bin all meine Tage im Hause geblieben, und wenn ich in der Stadt zu thun hatte, bin ich zu Fuß gegangen. Ich, ich alter Mann . . . ich verfluche euch und euren Vater. Geld und Gut, das ich sauer erworben habe, hat euch den Verstand verwirrt. Geh weg: ihr seid nicht wert, daß euch die Sonne bescheint.«

»Du bist verrückt,« sagte der Trunkene und stützte sich auf den Stuhl, der am Bett stand. »Vollständig verrückt. So verrückt, wie 'ne Sau, die ihre Jungen verzehrt. Aber es ist eine bequeme Verrücktheit. Du hast dir immer das Bequeme ausgesucht. Erst wirtschaftetest du wie ein Lump, und als du alles verludert hattest, machtest du dich in deiner Verrücktheit zum Edelmann.« Er nahm die Flasche, die er in seinem zerlumpten Rock trug, und trank und trank.

»Die ganze Welt ist aus Rand und Band: Wenn die Leute nicht mehr sein mögen, was sie sind, bestellen sie sich eine Verrücktheit, wie sie ihnen paßt. Ich will auch ein anderer werden, als ich bin. 'raus aus der Haut: Sie ist zu schäbig!« Er zog den Rock aus und warf ihn aufs Bett. »Adieu, Großvater, Urgroßvater, alter Adam! Ich will mich häuten. Dies Leben hat keinen Zweck.«

Er stolperte nach der großen Diele. Da war es dunkel.

Als Jörn Uhl nach Hause kam, fand er seinen Vater schlafend. Wieten war nicht da. Da ging er nach der großen Diele.

Da lag Hinnerk Uhl auf dem Lehmboden neben der Leiter, und Wieten Klook und der alte Knecht standen neben ihm.

Wieten erzählte, wie er ins Haus gekommen wäre: 372 »Ich ging ihm nach und konnte ihn erst nicht finden. Nachher fand ich ihn hier an der Leiter.«

Der Knecht ging nach dem Pferdestalle zu und sagte zu dem Jungen, der mit bleichem, bangem Gesicht in der Thür stand: »Mach', daß du nach der Stute kommst. Dies ist nichts für dich.«

Als die beiden verschwunden waren, kam Jörn Uhl aus seiner Starrheit. Er lehnte sich schwer gegen die Leiter und hob die Hand. Und Wieten sagte: »Ach, wein' man nicht so, Jörn. Wein' nicht so, mein Junge.«

Der Amtsrichter kam, und der Gemeindevorsteher kam auch, und Jörn Uhl war kalt wie Eis und gefährlich wie zertretenes Glas. Der Vorsteher fragte, wer den Sarg machen solle. Er antwortete: »Was geht's mich an?«

»Ja, wir können ihn doch nicht als Armenleiche begraben lassen?«

Jörn Uhl sah ihn stolz an: »Warum nicht? Wer konzessioniert in dieser Gemeinde die Wirtschaften, in denen die Menschen sich betrinken dürfen, bis sie Schweine sind? Thu' ich das oder die Gemeinde? . . . Dann mag die Gemeinde die Schweine begraben, die sie selber groß zieht.«

Da kam am selben Abend der Armensarg und wurde in die Kammer gestellt, die rechts am Kuhstall ist. Sie ist früher Häckselkammer gewesen.

Jörn Uhl und Tischler Finke legten den Toten hinein: »Die Armensärge werden im voraus gemacht,« sagte er. »Er ist zu lang . . . er hat bei der Garde du corps gestanden.«

»Es geht so.«

Wieten kam und hatte den alten Mann, den sie notdürftig angekleidet hatte, an der Hand wie ein Kind. In der anderen Hand hatte sie die leere Flasche und den Strick. »Wir wollen ihm alles mitgeben,« sagte sie; »es nützt doch 373 nichts, daß man Gott 'was vormacht. Nun kann er gleich sehen, was seine Not und sein Tod gewesen ist.« Und sie legte ihm beides unter die Kniee.

Jörn Uhl schüttelte den Kopf und ließ die beiden allein, und ging vors Haus, und ging da hin und her wie ein Wachtposten, daß nicht noch mehr Unglück und Schande in das Haus hineindringe. Als er wieder hineinging, um den Vater zu Bett zu bringen, wie er fast jeden Abend that, fand er ihn schon drin. Wieten saß vor seinem Bett und las aus dem Alten Testament die Geschichte von Eli, dem starken, dicken Mann, der seine Kinder nicht erzog.

»Jörn,« sagte sie, »ich glaube, er weiß heute abend, daß er Klaus Uhl ist. Er fragte mich vorhin, ob er es wäre, der in das Pflugeisen gefallen ist.«

Jörn Uhl trat an das Bett und sah seinen Vater an und sagte: »Liegt Er gut, Vater?« Der alte Mann sagte nichts. »Laß das Lesen, Wieten,« sagte er, »es nützt nichts. Das hätte früher geschehen müssen.«

»Na, denn nicht!« sagte sie und legte das Buch an seinen Platz. »Ich dachte sonst, es könnte ihn zu sich selbst bringen.«

»Und dann?« sagte Jörn.

* * *

Die Sonne schien. Der Wind wehte. Der kleine Junge lief in Sonne und Wind über die Hofstelle und hielt die Hände hoch überm Kopf, als wollte er auffliegen.

Aber die Uhl ist tot. 374

 


 


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