Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Zwölftes Kapitel

In den letzten Wochen des Soldatendienstes hatte er sich besonders stark nach Hause gesehnt, nach den Ställen und Feldern, nach jedem Stück Vieh, ob er es noch anträfe, und nach jedem Wirtschaftsgerät, das er in den Händen gehabt hatte. Er log und trog sich in die Hoffnung hinein, daß eine gute Zeit kommen würde, daß der Vater älter geworden wäre und die Brüder vernünftiger, und daß er selbst auf den Wirtschaftsbetrieb einen größeren Einfluß haben würde. Er hatte sich ausgemalt, daß er abends gemütlich mit Elsbe und Wieten zusammensitzen wollte. Ein feines, grünes Kleeblatt wollten sie sein.

Als er dann ungesehen und unerwartet in seine altgewohnte Kammer gekommen war und die Truhe geöffnet hatte, und seinen blauleinenen Stallanzug hervorgekramt und einen neugierigen Blick in Littrows Himmelswunder geworfen hatte, sah er sich um und staunte seine Schwester an, die dicht hinter ihm stand. »Sieh,« sagte er, »klein bist du geblieben; aber rund und voll bist du. Du bist ein schmuckes Mädchen geworden, so wie es sich gehört.«

Aber sie machte eine gelangweilte, fast bittere Miene. 212 Er fragte nach ihrem Leben und nach ihrem Umgang. Aber sie antwortete wenig und mißmutig. Ihr Aussehen war wie das eines jungen, vollen und fruchtbaren Maimorgens; aber ihr Wesen war bedrückt wie eines Menschen, dem schon lange hartes Unrecht geschieht.

Jörn Uhl, viel zu klug, um an eigenem Urteil zu zweifeln, und um vorsichtig und bescheiden nachzusehen, was in dem Schwesterherzen vor sich ging, dachte in seiner Selbstherrlichkeit, er würde sie wohl zurechtkriegen. Er meinte, sie wäre vereinsamt, und seine Gegenwart würde sie wieder munter machen. So sagte er auch zu Wieten, und die nickte ihm zu. Als er aber aus der Küche ging, warf sie ihm einen langen Blick nach, der nicht gerade von Hochachtung herkam.

Da kam ein Abend, als er etwa vierzehn Tage lang im Hause war: Da hatten Hinnerk und Hans junge Leute zu sich geladen, und plötzlich erschien Harro Heinsen in der Hinterstube, wo die drei in langweiliger Unterhaltung um den Tisch saßen. Er hatte bei den Ulanen in Moabit gedient und eine Unsumme Geld gebraucht. Er kam, um Jürgen zu begrüßen, wie er sagte. »Ich wollte dir doch guten Tag sagen. Wir sind ja nun mit dem Soldatenspielen fertig. Kommst du ein wenig mit nach vorne?«

Jörn schüttelte den Kopf und blieb sitzen und hüllte sich in den Rauch seiner Pfeife.

Da setzte Harro Heinsen sich hin und fing an, von seiner Soldatenzeit zu erzählen und zu prahlen, und Jörn, der über alles, was der Moabiter sagte, eine andere Meinung hatte, sagte kein Wort. Da bat er Elsbe, die er immerfort mit seinen schönen Augen ansah, ob sie nicht ein wenig mit nach vorne kommen wollte: sie sollte es doch thun; denn wenn sie käme, würden noch einige andere Mädchen dazukommen, die auf dem Nachbarhofe versammelt wären. Elsbe 213 saß da, als wäre sie von Stein. Dann sah sie auf ihren Bruder; aber der biß sich auf die Lippen und zeigte zu deutlich, daß er dieser Lage nicht gewachsen war. Da packte das Mädchen ihre Handarbeit zusammen, atmete schwer auf und ging mit ihm, und als sie heraustraten, kamen ihnen schon lärmende Mädchenstimmen entgegen. Es war spät am Abend und eine finstere Novembernacht.

Nun ging Jörn in der Stube hin und her und sah dann und wann auf Wieten. Aber die sah mit verschlossenem Gesicht auf ihre Arbeit und sagte nichts. Da lernte er in diesen beiden Stunden etwas Großes und Neues: bittere Sorge um einen Menschen haben.

Zuletzt ging er nach seiner Kammer hinüber und wanderte dort hin und her und stand am Fenster und sah in das Dunkel hinaus. Er klagte Gott und alle Welt an, daß alles, was zu diesem Hause gehörte, in den Schmutz hinein müßte, rettungslos. Es quälte ihn, daß er kein Selbstbewußtsein hatte, und daß er nicht den Mut hatte, mitten unter die Gesellschaft zu treten und zu sagen: »Gebt mir meine Schwester.« Er meinte, er würde niemals ein Mann werden. »Ich werde es alles ansehen,« sagte er, »ich werde meine Arbeit in Feld und Stall thun und werde zeitlebens als ein Knecht verwendet werden müssen, ganz wie mein Vater von mir gesagt hat.«

Als er noch so traurig grübelte, wurde eilig die Thür nach dem Hinterhaus aufgerissen, trunkene Stimmen erschallten, die Thür schlug wieder zu, und flüchtige Füße kamen über die finstere Diele. Er öffnete die Kammerthür, da fiel sie ihm fast in die Arme, ihr Atem ging rasch und hörbar: »Ich bin ihm davongelaufen,« sagte sie.

»Wenn du es so machst,« sagte er. »Das geht nicht gut. So wild, wie du bist.«

214 »Ich habe auch gerade genug davon,« sagte sie und ging nach der Lade am Fenster und setzte sich darauf, wie sie als Kind so oft darauf gesessen hatte.

»Ich will dir man sagen, Elsbe: es dauert keine zehn Jahre, dann sind die Heinsens alle miteinander von ihren Höfen herunter und handeln in Hamburg mit Heu und Kaff. Das kannst du glauben.«

Sie lief seitwärts der Lade und lugte aus dem Fenster: »Mich soll verlangen, ob er mich sucht . . . Warum bist du noch nicht zu Bett? Ich sagte zu ihm, ich wollte zu dir laufen; aber ich dachte, du wärst im Bett und hättest deine Thür zu. Dann wäre ich nach der Scheune gelaufen. Ich hatte solche Angst.«

Er stand mitten im Zimmer: »Ich konnte nicht zu Bett gehen; ich mußte immer denken, was du wohl triebest.«

»Was soll ich treiben?«

»Du hast sonst immer zu mir gehalten.«

Sie sah flüchtig nach ihm hin. »Mein allerbester Junge, was hilft mir das?« Sie lachte. Dann sah sie wieder aus dem Fenster. »Merkwürdig, daß er nicht hinterdrein kommt. Ich will 'mal vorsichtig aus der Küchenthür sehen. Ich glaube, er hat gedacht, ich würde nach der Gartenseite hinauslaufen. Geh' man zu Bett! Schlaf' man gut!«

Sie lief hinaus, ehe er ein Wort sagen konnte.

Der Regen klatschte wieder an die nachtdunklen Fenster; aus der Tiefe der Nacht kam wieder das mächtige, dunkle Rauschen der Pappeln. Und er hörte auf die Stimmen der Nacht, und hörte gern auf sie und gab sich ihnen eine Weile willenlos hin.

Aber als er noch so in schwächlichem, unthätigem Sinnen hin und her ging, kam ein Ton von draußen durch den Regen, als wenn im März ein Vogel verlegen das erste 215 Lied probiert. Deutlich erkannte er die Stimme seiner Schwester. Im selben Augenblick war er, wie mit einem gewaltigen Sprunge, aus dem Träumen heraus; er ballte beide Hände. Er rang kurz mit der Unentschlossenheit der Jugend, mit der Schüchternheit, welche die langjährige Unterdrückung im Vaterhaus ihm aufgezwungen hatte. In einem Augenblick, in auffahrendem Zorn, hatte der Mann in ihm die Stunde seiner Geburt. So wird ein gutes, junges Pferd, das in Träumen, mit hängendem Kopf am Waldrand steht, vom plötzlichen Axtschlag, der im Walde widerhallt, aufgeschreckt, und ist lauter Leben und lauter Auge.

Er riß die Thür auf und kam in die Küche und sah hinaus. Da sah er seine kleine Schwester im Dunkel neben den Weiden stehen, in enger Umarmung mit Harro Heinsen. Er legte seine Hand auf sie und sagte mit harter, selbstbewußter Stimme: »Du gehst hinein! Für dich bin ich verantwortlich.«

Sie wollte erst auffahren, ging dann aber mit ihm. Harro Heinsen lachte verlegen auf und ging nach vorne ins Haus.

Jörn Uhl hatte seine Schwester an die Hand genommen, wie er es oft gethan hatte, als er noch ein Knabe war, und ließ sie mitten in der Kammer stehen. Er ging wieder hin und her und sah ihre Schönheit und die Feinheit ihrer Glieder, die sich trotz der Fülle und Kleinheit schlank und schön aufbauten, so daß sie größer erschien, als sie war, und an einem schönen Weibe in seiner ersten Blüte nichts fehlte. Er sah auch in ihrer Haltung und in ihren braunen Augen die nicht verdeckte Glut.

»Was soll das?« sagte er.

»Ich muß jemand lieb haben,« sagte sie trotzig.

»Das hat keine Eile. Es wird ein anderer kommen, der dir Brot geben kann.«

216 »Brot? Hast du danach gefragt, als du mit der Sanddeern ausrücken wolltest? Wolltest du wegen des Brotes mit ihr gehen? . . . Es ist langweilig, so jahraus, jahrein hier in dem großen, öden Hause zu sitzen und nichts zu sehen, als grüne Weiden und betrunkene Brüder. Meinst du, daß ich hier versauern will?«

»Gott bewahre!« sagte er. »Was ist das für ein Jammer! So gehst du auch ins Elend, und ich bleibe ganz allein.«

»Wenn ich selbst will? Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ich mache dich nicht verantwortlich.«

Da packte ihn der Zorn, daß er mit den Zähnen knirschte: »Ich will es nicht dulden; ich bring' dich morgen heraus aus diesem Hause. Ich bringe dich zu Thieß Thiessen; er ist der einzige Bruder deiner Mutter. Nachher will ich sehen, daß du eine ordentliche Stellung in einem guten, fremden Hause bekommst, weit weg, daß du Harro Heinsen vergißt . . . Hörst du es? Hör' deutlich zu! Ich will nicht, daß du irgend einen von diesen Säufern zum Mann nimmst; sondern du sollst einen von meiner Sorte haben, einen, der arbeiten kann und mag. Mögen Vater und die Brüder sagen, was sie wollen: hier lasse ich mir nicht hineinreden.«

»Ich will nicht! Ich will ihn haben! Lieber einen Tag bei ihm, als zehn Jahre lang bei einem Menschen wie du bist.«

Aber als sie das gesagt hatte, warf sie sich auf den Stuhl, verbarg den Kopf in die Hände und legte ihn auf den Tisch, und sagte mit lautem Aufweinen: »Das kommt davon, daß ich keine Mutter habe. Mutter! Mutter! Wo soll ich doch bloß hin? Ich hab' ihn so lieb, was kann ich dafür? Aber es geht niemals gut, das weiß ich; und ich muß zeitlebens dafür büßen.«

217 So weinte sie, und er stand dabei und starrte mit finsteren Augen in die Nacht und wußte nichts zu sagen. Er wartete, bis sie stiller weinte, nahm sie wieder an die Hand und führte sie in ihre Stube, in der Wieten Klook schon im Schlafe lag.

Am anderen Morgen, in der dämmernden Frühe, ging er nach der Wohnstube, die er sonst nie betrat, und schrieb dort am Schreibtisch seines Vaters den ersten Brief in seinem Leben mit schwerer Hand und schwerfälliger Form. Aber der Inhalt war richtig.

»Lieber Thieß!

Ich thu' Dir zu wissen, daß ich Elsbe heute nachmittag zu Dir schicke, denn ich will nicht, daß sie hier ins Unglück kommt; sie soll einen ordentlichen Kerl heiraten, einerlei was, auch einen Knecht. Ich wollte wohl selbst aufpassen wie ein Hühnerhund; aber die Nacht ist lang und schwarz, und ich schlafe fest. Und ihre Zeit ist gekommen. Du weißt ja, wie es auf dem Hofe hergeht, wenn es nahe am Maitag ist: der ganze Stall ist in Unruhe. Also bringe ich sie lieber auf eine andere Weide, und Du bekommst die Aufsicht. Paß gut auf! Laß sie in der Stube nebenan schlafen oder in Deiner Stube. Du kannst das Bett unter Afrika stellen.

Jürgen Uhl

Mit diesem Brief schickte er den Dienstjungen zu Pferde nach dem Heeshof. Als es aber Nachmittag wurde und die anderen den Hof verließen, um im Dorfe Fohlenschau zu halten, das heißt: um die Gelegenheit der Fohlenschau zu benutzen, um im Wirtshaus zu sitzen, da meinte er, Zeit zu haben, und hielt es auch für richtig, wenn er sie selber hinbrächte. Er spannte also die beiden schwerfälligen, braunen 218 Dänen vor den altmodischen Korbwagen, mit dem einst seine Mutter als junges Mädchen vom Heeshof zum Unterricht in die Stadt gefahren war, und fuhr mit Elsbe, die ihn gut und freundlich und ein wenig spöttisch anlachte, durchs Dorf.

Als sie am Wirtshaus vorbeikamen, saßen da die Uhlen und die Heinsens und viele andere, und der alte Lehrer Peters, der eine Sparkassensache besprechen wollte, stand draußen vor dem offenen Fenster. Von ihrem Kartenspiel aufsehend, erkannten die Spieler das Fuhrwerk, und gleich gab es ein Fragen und Lachen. »Wahrhaftig! Das ist der Jörn! Den sieht man sonst das ganze Jahr nicht. Der Junge ist altmodisch, Uhl.«

Da stand der alte Uhl auf, rot im Gesicht, und wußte sich keinen anderen Rat: Er trat ans offene Fenster und verspottete mit lauten Worten seine eigenen Kinder.

Der Sohn hörte die Worte und kannte den Ton und kannte auch das Gesicht, das dazu gehörte; aber er sah nicht hin. Er blieb still sitzen, ein wenig gebückt, die Nase vorgerückt und ließ auf dem breiten Rücken der Pferde gemächlich die Peitsche spielen. Er hörte noch, wie der Vater ein lustiges Wort in die Stube rief, und wie sie darauf alle lachten. Da waren sie aus Hörweite gekommen.

»Sieh, Elsbe!« sagte er, »so steht es mit unserem Vater! Er fürchtete, daß sie über ihn lachen würden. Darum wandte er sich rasch und zeigte auf uns mit dem Finger und forderte die Leute auf, über uns zu lachen, über seine beiden jüngsten Kinder. Du kannst deutlich sehen, was für einen Vater wir haben.« Und von Zorn übermannt, stieß er einen schweren Fluch aus. Wenn sein Vater nochmal unglücklich würde und seiner Hilfe bedürfe, so wollte er keinen Finger rühren.

Das ist nachher anders gekommen.

* * *

219 Als er seine Schwester nun also in Sicherheit gebracht hatte, wie er meinte, und er wieder der Großknecht auf der Uhl war, da merkte er wohl bald, daß es auf der Uhl und auf mehreren anderen Höfen schlimm stand und das Ende von dem wilden Liede nicht mehr fern war. Es kamen Erscheinungen, und es gingen Gerüchte, welche die Gemüter erregten. Es kam eine Unruhe, wie bei einem schweren Gewitter: man hat den Blitz einschlagen sehen, und man steht und wartet, daß der rote Hahn vom Dache auffliegt.

Ein Mann in Uniform besuchte einige Höfe und alles fragte, wer das wäre. Kein Mensch hatte diesen Mann und diese Uniform jemals gesehen. Als dann ein Kluger sagen konnte, es könnte kein anderer sein als ein Gerichtsvollzieher, und als es vom Wirtshaus aus bekannt wurde, daß Junge Siek betrunken gesagt hatte, er würde seinen schönen Hof verlassen müssen, es jammere ihn um seine Kinder: da standen an diesem dunklen, wolkenschweren Novembertage unter den kahlen Linden an allen Hausthüren die Handwerker und Arbeiter, und die Fenster im Dorfe waren bis in die Nacht erleuchtet.

Zu der Zeit kam August, der Älteste, mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Es war ein feines Gefährt, und die Frau, welche in ihrer Jugend die höhere Töchterschule besucht hatte und in Hamburg in Pension gewesen war, hatte einen großen Abendmantel an, der mit dunklem Pelz besetzt war. Sie grüßte Jörn von oben herab und ging ins Haus; August ging still hinterher. Jörn spannte die Pferde aus und ging wieder an seine Arbeit. Nach einer Stunde aber mußte er doch in die Wohnstube hinein, weil ein Händler vor dem Hofe hielt und mit dem Bauern sprechen wollte. Da fand er den Bruder in wilder Aufregung mitten in der Stube stehen, zur Abfahrt bereit, im großen 220 Wagenrock und die Peitsche in der Hand. Er schrie gegen seinen Vater an: »Was hast du uns gelehrt? Sag' es doch! Die Brust heraus, schmuck gehen, Geld ausgeben, den Mädchen nachlaufen. Alles ganz gute Dinge! Paßt nur dein Geldsack nicht dazu; ist viel zu klein! Alles, alles ist Schwindel: dein ewiges Lachen, und dein großer Geldbeutel, und das Silbergeschirr, und das große Erbbegräbnis und Mutters Sarg mit dem Sammetüberzug. Alles, alles. Geht über deinen Stand! Du und die ganze Bande, die mit dir säuft, ihr seid alle Halunken und Schwindler, und wir Kinder tragen die Last.«

Klaus Uhl, der Vater, saß in der Ecke des Sofas und sah vor sich hin. Und zum erstenmal sah der jüngste Sohn, der wie ein eingepflanzter Pfahl in der Thüröffnung stand, daß sein Vater ein ernstes, ja sogar ein banges Gesicht machen konnte, und daß er ein ältlicher Mann war von ungesundem Aussehen.

»Wenn die Mutter gelebt hätte, dann wäre doch wenigstens ein vernünftiger Mensch auf der Hofstelle gewesen. Aber wir dummen Jungen haben die Mutter verachtet. Die Mutter! Ach, die war der Engel des Hauses! Aber du? Du bringst alles in den Dreck. Ich seh' es kommen: Wir müssen von unseren Höfen, wie Hans Meyer von seines Vaters Hofstelle ging: der hatte einen Sack Weizen auf der Schiebkarre, und sein Kind ging mit einem halben Brot neben ihm her. Mit rechten Dingen geht das nicht zu: Der Satan hat seine Hand im Spiel.«

Er wandte sich nach der Thür, um zu gehen, da sah er seinen jüngsten Bruder hinter sich stehen. »Du?« sagte er, »du bist ein Fuchs« und schlug ihn hart auf die Schultern. »Du bist mit einundzwanzig klüger als der da mit sechzig und als wir alle. Wir haben jedes Ding in Seide gewickelt und mit Wein begossen, da wußten wir nicht mehr, was 221 wir in der Hand hatten. Aber du siehst die Dinge, wie sie sind. Mach' nicht so'n verlegen Gesicht: Denk' an mich, Landvogt, wenn du in dein Reich kommst. Du hast das Zeug dazu, dir eins zu suchen. Die Uhl wird es nicht sein: die hat der da versoffen.«

So ging der älteste Sohn von seines Vaters stolzem Hof. Es war ein Hof, wertvoller als manches sogenannte Rittergut. Als er ein ältlicher Mann geworden war, und er mit seinem kleinen, kümmerlichen Fuhrwerk zum Krautfang nach dem fernen Watt von Ringelshörn hinunterfuhr, saß er immer so auf dem Wagen, daß er die Uhl nicht sah, die so breit und sicher unter den großmächtigen Pappeln lag, deren Kronen der ewige Westwind nach Osten zu gebeugt hatte.

Auch mit anderen ging es zu Ende.

Die bittere Sorge donnerte mit schwerer Hand gegen die Thüren der alten, starken Bauernhäuser, und die Insassen gingen die langen, dunklen Dielen auf und nieder und wollten die Thür nicht öffnen, und drinnen in der Stube saßen die Frauen und weinten, und die Kinder waren voll schwerer, banger Ahnung.

Auf einem Hofe schirrte die Frau selbst die braunen Jucker vor den Wagen, und that ihnen das Silbergeschirr um und fuhr selbst zur Stadt, und kam zum Amtsgericht und verlangte die Unmündigkeitserklärung ihres Mannes, heute noch. Die starke Frau breitete die Papiere aus, die sie mitgenommen hatte, und wies nach, wieviel vom eingebrachten Frauengut verloren gegangen war. Sie stellte ihren kleinen Jungen, den sie mitgebracht hatte, auf den grünen Tisch, zog ihm die Hose herunter und zeigte die schwere Handfläche ihres trunkenen Mannes, und sie entblößte ihren vollen, weißen Hals und zeigte die Spur seiner Finger, und verlangte Kuratell, und sie Kurator. 222 Der Amtsrichter war noch jung, hatte schon neben manchem Weibe gestanden, aber noch niemals einem gegenüber. Er griff nach der Klingel und sagte: das wäre nach dem Gesetz nicht so einfach; und er fing an, ihr zu sagen, was dazu nötig wäre. Und das war viel.

Da hat sie über Recht im Vaterland ein starkes Wort behauptet: daß es so schwerfällig wäre wie 'ne alte Kuh und so weiberfeindlich wie ein alter verbissener Junggesell. Es schallten ihre Worte bis in den Korridor. Zuletzt sagte sie, es gäbe ja Gott sei Dank noch ein anderes Recht, das werde sie von nun an anwenden. Und sie hob die Hand zum Schlag. Sie werde ganz ohne Amtsgericht fertig werden, billiger sei es auch. Wenn aber in Zukunft ihr Mann hierher käme, um sich über sie zu beschweren, so solle der Amtsrichter ihn doch ja abweisen; sonst würde sie ihren Mann so zurichten, daß er vierzehn Tage lang weder stehen noch gehen könnte.

So sagte die durch das jahrelange Elend wild gewordene Frau und fuhr unbehelligt nach Hause; und ist noch oft durchs Dorf gefahren, immer mit zwei flinken Pferden. Das Geschirr von Silber hatte sie am anderen Tage verkauft; die Pferde gingen und gehen noch heute in hellen, hanfenen Siehlen; und sie sieht weder nach rechts, noch nach links. Sie ist eine harte Frau geworden. Die Knechte und die Händler haben Angst vor ihr; ihre Kinder sind tüchtige Menschen geworden, die Jungen ein wenig verschüchtert, die Mädchen Herrinnen ihrer Männer; der Mann schob sich eines Tages aus dem Leben, nachdem er sich jahrelang im Hause an den Wänden entlang gedrückt hatte. Er liegt im vernachlässigten Grabe links vom Hauptsteig neben dem Grabe seines Tagelöhners, des alten Peter Back, das immer so sauber im Stande ist. Als eine Sohnesfrau 223 das Grab des Bauern einst stillschweigend gereinigt hatte, sagt man, hat die Witwe, die zufällig vorüberkam und einen stolzen Blick hinwarf, Brennesselsamen vom Grabenrand geholt und darauf gesät. Dabei wußten dann ältere Leute zu berichten, daß sie weiland an ihrem Hochzeitstage vor Glück sich nicht hatte halten können und ihrem jungen Ehemann gleich nach dem Jawort, vor allen Leuten, weinend und lachend zugleich, um den Hals gefallen war. Aus so heißer Liebe war so heißer Haß geworden.

In diesem Winter machte auch Wilhelm Isermann seine letzte Fahrt durchs Dorf; sein Geschlecht wohnt am Querweg gegenüber dem neuen Kirchhof auf hoher, stolzer Wurth. Nach dem Grundbuch der Kirche haben dort Isermannen seit über 400 Jahren gewohnt. Das dreieckige Hinterpflugeisen, nach dem sie genannt sind, hängt noch heute über der Thür seines Hauses und steht noch in der Wange seines Kirchenstuhles. Eines Abends, kurz vor Weihnachten, kam sein Bruder, der als ein ernster und angesehener Arzt in Hamburg wohnt, in sein Haus. Sein Freund, der Landrat, hatte ihm geschrieben: Wenn er den Bruder zur Umkehr mahnen wolle, so würde es Zeit. Er erfuhr mit vieler Mühe die Wahrheit und sah, daß er zu spät kam. Er, der mit so großer Freude jährlich einmal aus der großen, engen Stadt in die Heimat gefahren war, um sich der schönen, freien Jugend zu erinnern und noch einmal durch alle Räume und über jedes Stück Land zu gehen: er ging diesen Abend zum letztenmal die Hofstelle auf und nieder, und sah in jeden Graben und sah an jede Esche hinauf, und legte zuletzt den Kopf an den Pfosten der Hausthür und weinte.

Und Stark Behrens, der immer klüger war als alle anderen, mußte auch vom Wagen steigen und zu Fuß weitergehen. Seine Kinder waren schon groß und sein Haar 224 schon grau. Er hatte fünfunddreißig Jahre lang auf dem schönen Hof gesessen, und hatte immer wie ein Kluger geredet und manchem Rat erteilt, und hatte über die Dummheit gescholten, die so weit im Lande verbreitet wäre. »Was? Wirtschaften? Das kann ein jeder,« sagte er; »aber vorwärts kommen beim Wirtschaften, das ist die Kunst.« Die ganze Gegend glaubte, was er prahlte. Es waren nicht drei in der Gegend, die es nicht glaubten. Es war die allgemeine Überzeugung, daß er ein schlauer Fuchs wäre.

Aber nun stellte es sich heraus, daß er in all den fünfunddreißig Jahren, von Anfang bis zu Ende, überhaupt niemals gewußt hatte, wieviel Vermögen oder Schulden er gehabt hatte, und keine Ahnung davon, ob sie abnahmen oder wuchsen. Er war nicht ein Fuchs gewesen, sondern ein Ochs. Seine Verhältnisse waren vertesselt wie Mädchenhaar, in das lose Buben Kletten geworfen. Er mußte vom Hof und ging bei seinen sieben Kindern, die er arm und lächerlich gemacht hatte, von Haus zu Haus, und sie wiesen ihn ab. Zuletzt fand er eine Ecke zum Sitzen und zum Sterben bei seiner alten Schwester, deren Mann in der Stadt ein kleines Amt hatte.

Und Jan Wiek, der lange Jahre Bauernvogt und Deichgraf gewesen, ging von seinem Hof nach Hamburg hinter seinen drei Söhnen her, die ihm voraufgegangen waren. Dort saß er tagsüber in einer kleinen, schmutzigen Stube, die nach dem Hof hinausging, und teilte das dürftige Brot seiner Kinder, das sie ihm mit Hohn und harten Worten salzten; abends ging er hin und setzte im Klubhaus der Kesselschmiede Kegel auf, um ein paar Groschen für einen Trunk zu gewinnen. Am Montage aber zog er den langen, gelben, zerschundenen Wasserrock an, den er einst in seinen großen und herrlichen Tagen getragen hatte, und ging 225 nach dem Viehmarkt und redete mit den Landleuten, die aus der Heimat zum Markte gekommen waren, und redete laut und klug und lachte fröhlich und sagte, er wäre gern in Hamburg, und redete von dem gemütlichen Leben, das er hier führte, und begleitete die Heimatgenossen nach dem Bahnhof und winkte noch und ging nach seiner sonnenlosen, verwahrlosten Stube zurück und schlug sich vor den Kopf und weinte: »Wenn ich noch einmal wieder unter den breiten Linden sitzen dürfte auf meinem schönen, schönen Hof! Noch ein einzig Mal! Wie wollte ich sorgen und arbeiten und sparen! Und nie wieder sollte ein einziger Trunk über meine Lippen kommen, nie wieder!«

Und Klaus Uhl kam durchs Dorf: der schien noch nicht in Not. Ja, er ist nie hochmütiger gegen kleine Leute gewesen, als in dieser letzten Zeit, da ihm von der Uhl kein Brett und kein Stein mehr gehörte. Er hatte noch immer den weichen, schelmischen Zug um den Mund; wenn er aber durchs Dorf fuhr, wo so viele Kinder und kleine Leute sein blitzendes Gefährt anstaunten, dann sah er tiefernst aus: dann wurde er von seiner eigenen Wichtigkeit erdrückt, wie der Hofnarr, wenn er durch die Volksmenge zum König fährt.

Und Hinnerk und Hans Uhl und andere junge Leute kamen durchs Dorf gefahren, gegen Morgen. Die kamen von den Jahrmärkten und Tanzgelagen. Von den unruhigen, abgejagten Pferden hin und her gerissen, schlugen die Wagen hart auf; die Fahrer schliefen oder gröhlten.

Am Abend in den Stuben hatten die Handwerker und die Arbeiter wieder Stoff zum Reden. Die Jungen sagten leichthin: »Die Erde dreht sich, also gleiten die Menschen aus. Diese rutschen von den Wurthen hinunter und andere rutschen hinauf. Warum haben sie gelebt wie die Wilden?« 226 Die Alten sprachen von den Vätern und Großvätern der Stürzenden, was das für arbeitsame, schlichte, ehrenfeste und harte Menschen gewesen wären. Sie suchten aber auch bei den Vorfahren nach schweren Vergehen, die, ungerächt geblieben, nun an den Kindern heimgesucht würden. Und man fand solche: Man wußte von grausamer Härte zu erzählen, von schlauem Erbbetrug und von rascher, wilder That. Viele, da sie die Verblendung sahen, mit der diese alten, stolzen Geschlechter sich selbst zu Grunde richteten, hatten das Gefühl, daß diese Menschen untergehen sollten und müßten, wider ihren Willen, nach einer mitleidslosen Vorherbestimmung. Es kam eine stumme Angst auf viele Gemüter, als ginge eine übermenschliche, furchtbare Erscheinung durch die Straßen und Wege, und rührte die Menschen an und zerrüttete ihre Gehirne.

Jörn Uhl hatte schon vor seiner Soldatenzeit einsam zur Seite gestanden und hatte auf all das unsinnige Treiben gesehen, wie ein Arbeiter im Kleigraben mitten im Felde die wilden Wagen auf der Straße vorüberfahren sieht und sich wieder über seinen Spaten bückt. Aber es hatte ihm damals noch an Erkenntnis und Übersicht gemangelt: zuweilen hatte er dies ganze wilde Treiben hart verdammt und ein böses Ende vorausgesehen; zuweilen aber hatte er gezweifelt, ob er auch richtig urteilte. Nun aber war er durch die Jahre im Erkennen reifer geworden. Er stand für sich und sah sie: »Da fahren sie! Da jagen sie! Nun fallen sie!« Und es dämmerte in ihm auf: »Dein Weg, Jörn Uhl, war durch Schicksalsfügung bisher ein anderer und soll nach deinem eigenen Willen immer ein anderer bleiben.«

Nichts bildet den Menschen mehr, als Menschenschicksal sehen. 227

 


 


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