Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Achtes Kapitel

Eines Tages im Sommer, als die Ernte vor der Thür stand und die Linden voll gelber Blüten hingen, kam Jörn Uhl, ein Pflugeisen auf der Schulter, das er zur Schmiede bringen wollte, an der Schule vorbei. Da flog ihm aus dem Garten eine Stachelbeere an die Mütze, und als er sich umsah, schaute Lisbeths heller Kopf durch das Gebüsch, und gleich darauf, da er ziemlich verlegen still stand und sie anstarrte, arbeitete sie sich durch das Gezweig und trat an die Planke und rief mit verhaltener Stimme: »Du, Jürgen, komm 'mal her.«

Er sah sich um, ob auch jemand da wäre, der es sähe. Aber es war Mittagszeit, und die Dorfstraße und alle Häuser waren wie verschlafen. Da nahm er die Mütze vor ihr ab und kam näher. Er hatte sie in den letzten Jahren selten gesehen und war mit kurzem Gruß an ihr vorübergegangen. Er hatte hart gearbeitet; sie aber hatte eine städtische Schule besucht. Er war auf dem einsamen Felde gewesen, hinterm Pfluge her im losen Land; sie war auf den schmalen, zierlichen und glatten Fußsteigen der Stadt gewesen. Er war gesunken, war hölzern und rauh 145 geworden; sie aber war in Kleidung und Bildung feiner geworden. Das hatte er dunkel gefühlt und hatte sich darum fern von ihr gehalten.

Dazu kam, daß die Natur ihr ewig altes Spiel mit ihnen gemacht hatte. Sie hatte den beiden Kindern, die im Schulgarten und auf Ringelshörn rechte Kameraden gewesen, die Hände gelöst, an denen sie sich festhielten, und hatte jeden in ein besonderes Land geführt, weit auseinander, jeden zu besonderen, bunten Träumen, und hatte weise und freundlich dazu gelächelt. So macht sie es immer. Danach, nach Jahren, wenn sie in jedem, in stiller Einsamkeit, sein Geschlecht zur Blute gebracht hat, führt sie ihre Kinder wieder zusammen; aber nun nicht mehr als Gespielen, sondern als Vertreter ihres Geschlechts . . . Jörn Uhl kommt heute mit Lisbeth wieder zusammen. Aber es wird ein äußerlich und unglücklich Zusammenkommen sein; denn sie sind beide noch unfertig, sind weder Kinder noch Erwachsene, wohnen jeder in seinem eigenen Land.

Sie erzählte ihm, gegen die Planke gelehnt, mit weiser Miene, daß sie diesmal lange Ferien hätte; die Schule der Stadt würde aufgelöst, und bis eine neue gegründet wäre, habe es gute Weile. Ob er schon wüßte, daß sie Lehrerin werden wolle?

Nein. Das wußte er nicht. Er hatte noch nie davon gehört, daß es Lehrerinnen gab. Er fragte schüchtern, ob sie Elsbe bald besuchen wolle.

»Ach,« sagte sie und warf den Kopf in den Nacken. »Elsbe ist ein Jahr älter als ich. Die sind immer so ganz anders. Ich habe gar keinen Umgang, der für mich paßt. Es ist furchtbar langweilig.«

Er meinte: sie solle doch kommen, Elsbe würde sich gewiß freuen. »Meinst du?« sagte sie zweifelnd. »Ich 146 glaubte, daß Elsbe mich gar nicht mehr leiden mag. Sie war neulich abends an meinem Fenster, denke dir, als es schon dunkel war, und sagte, ich verstünde noch gar nichts, ich wäre noch wie ein Kind . . . Wirst du bei uns sein, wenn ich zu euch komme?«

»Nein,« sagte er, »ich muß immer arbeiten. Und abends mußt du nicht kommen, dann will Elsbe dich wieder wegbringen, und das ist nicht gut.« Sie ließ den Kopf sinken und dachte nach. »Dann kannst du ja 'mal zu uns kommen?«

Er erschrak, daß er so etwas thun sollte. »Nein,« sagte er, »das kann ich nicht.«

»Ja, du brauchst ja nicht ins Haus zu kommen. Du kommst in den Garten. Du gehst hinten herum. Großvater und Großmutter sitzen dann beide in der Stube und lesen.«

Er sah sie mit raschem Blick an. Sie erschien ihm unendlich großartig und vornehm; es war erstaunlich, daß es ein so zierliches, sauberes Ding auf der Welt gab. Aber er konnte sich nicht denken, daß es in irgend einer Weise gemütlich werden könnte, wenn er mit ihr sprechen sollte. Er hatte einerseits große Neigung dazu; er wußte aber andererseits, daß es eine Sache großer Verlegenheit sein würde. Aber sie bestand darauf, daß er käme. Sie stellte es so selbstverständlich hin und nickte so eifrig mit dem Kopf, daß er es ihr zusagen mußte.

Den ganzen Nachmittag sann er nun darüber nach, wie es heute abend wohl ablaufen würde. Er hielt es für möglich, daß sie ihn gleich wieder wegschicken könnte, weil er so langweilig wäre. Und fast erschien ihm das von allen Möglichkeiten das Kurzweiligste zu sein. Aber dann hielt er es auch wieder für denkbar, daß es ihm glücken könnte, sie zu unterhalten und einiges Ansehen bei ihr zu gewinnen. Er 147 kam auf den Gedanken, sich auszugrübeln, über welche Gegenstände er mit ihr sprechen wollte, und verfiel auf bestimmte Dinge. Er meinte, die Sache würde bei einem so feinen Mädchen auf Gelehrsamkeit hinauslaufen. Er erinnerte sich einiger Gespräche, die Lehrer Peters mit dem Pastor gehabt hatte, während er mit seinen Büchern dabei gesessen hatte. Das Gebiet seines Wissens war klein, er brachte aber doch einige Gegenstände zusammen, die ihm brauchbar schienen. Er wollte zuerst über eine neue Dampferlinie nach Dänemark reden, danach über landwirtschaftliche Schulen, die derzeit gerade aufkamen, dann über eine Brutmaschine für Hühnereier und zu allerletzt, wenn es noch nötig wäre, wollte er noch etwas über indische Witwenverbrennungen sagen, worüber er neulich in einem Blatte gelesen hatte, darin der Kaufmann in der Stadt die Waren gewickelt hatte. Er dachte es sich so, daß er wie von ungefähr über einen von diesen Gegenständen anfangen wollte zu reden . . . ob sie schon gelesen hätte . . . oder was sie darüber dächte . . . oder ob sie etwas davon wisse; und dann wollte er seine Weisheit auskramen.

Er machte sich eine Stunde vorher auf den Weg, ging an vielen Gräben entlang und sah hinein, als wenn er ein verlaufenes Schaf suchte, und kam in die Nähe des Baumgartens. Es war da ein Graben mit klarem, fließendem Wasser; über dem lag schief ein kurzer Weidenstamm, dessen dicker Kopf von kurzen, geraden Zweigen wie von Haaren starrte, die zu Berge stehen. Von diesen Zweigen fast verborgen, saß sie auf dem Stamm und ließ die Füße dicht überm Wasser baumeln. Sie sah sehr ernst aus und nickte ihm traurig zu, als er höflich grüßte. Das Herz klopfte ihm so, daß er, statt mit einem forschen Satz über den Graben zu springen, wie er sich ausgedacht hatte, 148 mit einem langen und sehr ungeschickten Staps hinüberschritt, wobei er fast in der moorigen Erde stecken blieb.

Er sah sie rasch an und glaubte fast, daß ein Lächeln in ihren Augen lag; aber gleich machte sie wieder das traurige, ernste Gesicht, so daß er wie von selbst auf die indischen Witwen verfiel; und er hatte Glück damit. Sie sagte, daß sie gerade über sehr ernste Dinge gelesen hätte. Er fragte unsicher, ob das denn nötig wäre; sie sollte doch lieber etwas Lustiges lesen.

»Ach nein,« sagte sie, »man muß auch doch die traurigen Seiten des Lebens kennen lernen.«

Dann erkundigte sie sich genau nach der Form des Holzstoßes, und ob die Frauen, wenn sie zum Tode gingen, ihre Schmucksachen mitnähmen. Sie fand das Ganze sehr gut und sagte, sie würde auch gleich dazu bereit sein, sich verbrennen zu lassen, wenn ihr Mann stürbe, denn sie würde nur aus Liebe heiraten. Darauf kam sie wieder auf Schmucksachen zu sprechen, und es fand sich, daß sie Brosche und Uhrkette zufällig in der Tasche bei sich trug. Eine Uhr wäre ihr zu Weihnachten versprochen.

Bisher war alles über Erwarten gut gegangen; nun aber wollte das Gespräch nicht recht vorwärts. Sie sahen ins fließende Wasser und sagten nichts. Sie dachte trotzig und unfreundlich: er ist ein rechter Bauernlümmel; er aber wünschte, hundert Meilen fort zu sein. Er quälte sich, einen Gedanken zu finden, den er aussprechen könnte; aber es schien ihm nichts geeignet. Sie war ihm so fremd, als wenn sie anderer Sprache und anderen Wesens war. Zuletzt begann er mit bedrückter Stimme von den beiden Fohlen zu sprechen, die in diesen Tagen auf der Uhl geboren waren.

Aber davon wollte sie nichts wissen. »Was geht mich das an?« sagte sie lachend. Und nun hatte sie mit einem 149 Male ein ganz lustiges, natürliches Kindergesicht. Sie zeigte alle ihre Zähne, und ihr Haar hing am Ohr herunter, und er erkannte mit einem Male Heintüüt.

»Ja,« sagte er, »was sollen wir denn sprechen.«

Da erzählte sie ihm, wovon ihre Schulkameraden sprächen. »Erstmal sprechen wir von den Lehrern, dann von den Kindern, die gerade nicht anwesend sind; dann sprechen wir auch manchmal von den Jungen; ich aber nicht. Ich finde das ganz und gar unschicklich . . . Sieh 'mal,« sagte sie, »dein Fuß hängt ganz im Wasser.«

Er riß den Fuß hoch, als wenn er ihn aus Feuer zog. Aber sie sah gleich, daß er nun so unglücklich dasaß. »Komm,« sagte sie, »wir wollen aufstehen und ein wenig spazieren gehen. Das thun sie da in der Stadt auch. Einige gehen mit den Sekundanern.« Er stand gehorsam auf und sah zu, wie sie so viele Umstände machte. Erst gab sie ihm die Goldsachen, dann das Buch, dann legte sie die Kleider zurecht, obgleich das gar nicht nötig war; dann sagte sie: »Soll ich nun gegen dich anspringen?«

Er sagte: »Das thatest du damals auch, als wir den Fuchs fangen wollten,« und er stellte sich mit gespreizten Armen und Beinen hin, als sollte er ein Pferd aufhalten.

Sie lachte ihn lustig an: »Ich will's lieber nicht,« sagte sie, »du könntest mich tot drücken.« Dann ging sie ehrbar hinunter, indem sie sorgfältig für den Saum des Kleides sorgte.

Nun gingen sie in den schmalen Steigen unter den niedrigen Apfelbäumen hin und her, und sie sagte: »Du wolltest damals nicht mit mir zum Kinderfest, weißt du noch?«

»Wenn dein Großvater zu mir gesagt hätte: ›Du sollst mit Lisbeth gehen,‹ dann wäre ich gern mit dir gegangen. Ich wagte aber nicht, es dir selbst zu sagen.« 150 Er atmete hoch auf, als er dies gesagt hatte, und sah sie nun erwartungsvoll an.

»Sag' 'mal, wenn jetzt Tanz wäre; würdest du dann mit mir tanzen?«

»Gleich. Von Anfang an, und bis es aus und vorbei ist.« Er sah sie an. In seinem Blick lag seine ganze, treuherzige Bewunderung.

»Na!« sagte sie. »Und soll ich dir nun 'mal 'was sagen? . . . Jetzt will ich nicht mit dir tanzen.«

Da ließ er den Kopf sinken und war still. Er fand es ganz natürlich, daß sie nicht mit ihm tanzen wollte.

Da wurde sie wieder anders wie Aprilwetter, lachte und sagte zutraulich: »Ich mein's nicht so ernst, Junge. Ich glaube, ich würde doch mit dir tanzen. Aber du müßtest mich so anfassen, wie sie in der Stadt thun, weißt du, so ganz höflich und lose . . . Aber nun mußt du wieder fort gehen. Ich will dich bis zum Weidenbaum bringen; da wollen wir Abschied nehmen. Und komm Sonntag wieder; ich will hier wieder auf dem Baum sitzen und auf dich warten.«

Als er drüben auf der Weide war, grüßten sie sich und gingen auseinander.

So kam ihm die kleine Gespielin wieder in den Weg. Mit ihrer freundlichen Hilfe schien sich für Jörn Uhl der Übergang vom Knaben zum Jüngling aufs natürlichste und lieblichste zu vollziehen. Es schien, daß sein Leben, was die Liebe angeht, in einer geraden Linie verlaufen sollte.

Wenn acht Tage später das Sandfahren nicht gekommen wäre!

Wenn das Sandfahren nicht gekommen wäre, hätte Jörn Uhl am Ende seines Lebens sagen können: »Jugendsünde? Was ist das? Ich habe in meiner Jugend Arbeit und Not kennen gelernt, Sünde nicht.« Er hätte nie nötig 151 gehabt, in Erinnerung an begangene Jugendthorheit die Stirn kraus zu ziehen, wie Jasper Krey und alle anderen Menschen. Aber, als wenn es durchaus so sein muß, als wenn alle Menschen, selbst die besten, Staub auf die Stiefel kriegen und Flecken am Rock: es kam dies Sandfahren, und die ganze tadellose Gerechtigkeit hatte einen großen Riß.

Er fuhr nichtsahnend mit seinem Sandwagen so gegen Abend unterhalb Ringelshörn entlang; ein frischer Seewind wehte, der Himmel war voll treibender Wolken, grau und weiß und blau, bunt durcheinander. Es war ein Wetter, um hoch und stark Luft zu holen und sich zu freuen, daß man das noch kann. Das that Jörn Uhl denn auch. Er saß auf dem Wagenbrett, ließ die Beine baumeln und summte und brummte so gegen den Wind an, und sah in Grübelei über das ebene, stille Feld, und war so recht das Bild eines friedevollen, tiefdenkerischen Bauernjungen. Kein Mensch hätte für möglich gehalten, daß dieses langgliedrige, langgesichtige Menschenkind heute abend noch, an allen Gliedern zitternd, der Natur selbst in die schönen und furchtbaren, bodenlos tiefen, dunklen Augen schauen sollte.

Als er um Ringelshörn herumgefahren war, sah er Telse Dierk, die man in der Gegend die Sanddeern nannte, unweit ihres Hauses am Rande ihrer Sandkuhle stehen. Sie sah einem vollbeladenen Wagen nach, der eben auf den Weg abbog, und stützte sich leicht auf die Schaufel, mit der sie hatte aufladen helfen. Als sie das Klappern und Klirren seines Wagens hörte, kehrte sie sich um und rief ihm entgegen: »Kommst du noch, Jörn Uhl? Denn man hierher! Du kommst mir gerade zupaß: ich habe noch keine Lust, Feierabend zu machen.« Sie stand vor der gelblich weißen Sandbank, welche höher war als sie, und blitzte ihn mit klugen Augen an. Sie war barfuß und sah frisch aus, 152 als wäre sie eben aus erquickendem Schlaf gekommen. So war sie schon seit zehn Jahren, schlank von Leib und hoch von Brust und blank von Augen, und hatte immer diese frische, unermüdliche Kraft in der Haltung und in ihrem Gange.

Vor zehn Jahren, als sie ein ganz junges Ding war, hatte sie eine beste Freundin, die einzige Tochter des Nachbarn, der oben seinen kleinen Hof hatte, wenn man das Thal hinaufging, in dem der Goldsoot lag, und oben auf der kahlen Hochfläche auf einem Fußsteig über ein Stück Heide ging. Eines Tages verlobte sich diese Freundin mit einem jungen Geestbauern. Die beiden jungen Leute waren, wie es besonders auf der Geest nicht selten geschieht, zusammengeschnackt worden, das heißt: die beiderseitigen Eltern und irgend eine Tante, die zum Heiratsstiften neigte, hatten den beiden vorgeredet, sie müßten ein Paar werden: die beiderseitigen Verhältnisse paßten eben so schön zusammen wie die beiden Persönlichkeiten.

Der junge Mann ging darauf ein; er war noch jung, sein Herz war bisher ganz stumm und gleichgültig gewesen; das Mädchen, mit dem er auf einem Markttage flüchtig zusammengeführt worden war, war ihm nicht unangenehm. Das Entscheidende für ihn war, daß sein Bruder, den er sehr liebte, jetzt den Hof des Vaters allein übernehmen konnte, während sie ihn hätten teilen müssen, wenn er ohne Vermögen geheiratet hätte. Das aber ging nicht gut; denn der Hof war klein und unfruchtbar.

Es war der rätselhafte, dunkle Wille des Schicksals, daß Telse Dierk, die unten an der Marsch an ihrer Sandgrube wohnte, den Erwählten der Freundin vor der Hochzeit nicht zu Gesicht bekam. Die Braut aber kam häufig durch das Thal des Goldsoots zu ihr herunter und erzählte viel von der Erscheinung und dem Wesen des Geliebten: wie seine 153 Augen wären und sein Haar und sein Gang, und daß er diese und jene Meinung hätte, von der sie die eine billigte und die andere verwarf. Telse Dierk hörte fleißig zu und sagte im Scherz: »Schade, daß ich ihn nicht früher gekannt habe; ich glaube, der hätte gerade für mich gepaßt.« »O,« sagte die Freundin, »ist es nicht merkwürdig? Gerade das habe ich auch schon gedacht. Er hat sonderbar viel Ähnlichkeit mit deinem ganzen Wesen; und er hat manchmal ebenso merkwürdige Ansichten wie du. Weißt du: er will alles ganz genau verstehen, wie du auch; er redet so ernst und so lange über ein Hühnerei, wie über die heilige Taufe.«

Das Schicksal wollte auch, daß das frische, kraftvolle Mädchen, das sonst nie krank war, in den Tagen der Hochzeit infolge einer Erkältung in ein hartes Unwohlsein verfiel und im Hause bleiben mußte; aber am neunten Tage der Hochzeit ging sie ahnungslos hinauf, die Freundin in ihrem jungen Glück zu sehen. Da sahen sie sich zum erstenmal. Sie waren beide große Gestalten, wie sie in der Landschaft nicht selten sind: er dunkelbraun mit dunklem, krausem Haar, sie ganz hell mit gelblichem Haar. Sie sahen sich an, und sie erschraken voreinander, als sähen sie ein Gespenst. Die Freundin führte das große Wort, indem sie in einem fort von der Hochzeit erzählte; die beiden anderen waren still.

Als die Dämmerung kam und es anfing, wolkig und regnerisch zu werden, verlangte die Freundin, welche stolz war, einen solchen Hausgenossen und Diener zu haben, daß er Telse hinunter geleite. Er griff stumm nach seiner Mütze, und ging hinter ihr her. Als sie dann in der Mulde hinunter gingen, während der Regen strömte und sie vor ihm auf dem schmalen Steig von gelblichem Lehm ging, geschah es in der Nähe des Goldsoots, daß sie ausglitt und rücklings zu stürzen drohte: da faßte er sie an und hielt sie. 154 Und da jeder glaubte, die Dunkelheit verhüllte es, sah er voll und frei in des andern geliebtes Angesicht. Aber da waren Lücken in den treibenden Wolkenzügen, darin standen plötzlich Mond und Sterne: die warfen den Glanz von Auge zu Auge, daß jeder die unverhüllte Seele des anderen sah. Da wußten sie, daß sie sich lieb haben müßten und keinen anderen sonst auf der Welt lieb gewinnen könnten bis an ihr Ende. Da flohen sie voneinander, weil sie sich fürchteten.

Jahre vergingen. Es war eine große Qual.

Sie arbeitete den ganzen Tag im Hausstand und half freiwillig manches Fuder Sand laden, um sich müde zu machen und Ruhe zu haben, und saß abends am Fenster hinter ihren Geranienstöcken und Nelken, und sah in die Marsch hinein, wo man Ringelshörn nicht sehen kann. Sie hatte einen Antrag abgelehnt und behandelte die jungen Leute, die ein Wort mit ihr reden wollten, so unfreundlich und kalt, daß sie von ihr abstanden.

Er aber darbte wie sie. Seine Frau war von unverständigen Eltern als einziges Kind erzogen worden; jedes Wort des Kindes war bestaunt und bewundert worden. So hatte sie bei kleinem Geiste einen vorlauten Mund bekommen. Er war ein kluger, nachdenklicher Mann, kurz und wohlüberlegt mit seiner Rede. Da war es ihm unerträglich. daß sie über alle Menschen und Dinge mit so vollem Munde redete. Sie hatte nach den ersten Jahren der Ehe mit großer Mühe und Not einem Kinde das Leben gegeben; seitdem war ihre körperliche Blüte ganz gebrochen; sie kränkelte; das Kind starb, und die Ehe blieb kinderlos.

Die Jahre vergingen. Sie beschlossen, jeder für sich, das Haus des anderen zu meiden, und wenn er den anderen sah, wollte er sich stracks umdrehen. Aber wenn der Augenblick da war, dann meinten sie, es könnte ihnen niemand 155 die armselige Freude wehren, den anderen mit raschem, scheuem Blick anzusehen. Es lebte aber in beiden die versteckte Hoffnung, daß sie sich einmal angehören könnten. Es wußte das aber keiner vom anderen, kaum jeder von sich selbst. Diese Hoffnung bändigte ihre Leidenschaft.

Der Vater von Telse Dierk war im Feldzuge gefallen. Nun starb ihr auch die Mutter. Sie war eine starke, tüchtige Frau, hatte aber, seit sie so plötzlich Witwe geworden war, von Zeit zu Zeit ein unruhiges Wesen. Dies wurde schlimmer, als sie hoch in die Vierziger kam. Sie wanderte dann unruhig ums Haus, liebte es, wenn starker Wind wehte, und ging, wenn die Kopfschmerzen ganz schlimm wurden, nach Ringelshörn hinauf und stand da oben und fand Erleichterung im harten, kalten Winde.

Einige Wochen nach dem Tode der Mutter kam er am lichten Vormittag zu ihr, nachdem er sich von obenher überzeugt hatte, daß keine Sandfahrer da wären. Sie kam ihm in der Thür ihres Hauses entgegen und fragte ihn hart, was er wollte. Es war ein Herbsttag mit frischem Winde. Da fragte er sie, was aus ihnen beiden werden sollte. Sie blieb leidlich ruhig und sagte: es müßte bleiben, wie es wäre, daran wäre nichts zu ändern; sie könne nicht über Gottes Gebote weggehen, als wären sie nicht da, und sie hoffe, daß er das auch nicht könne.

Sie nahm einen Korb mit Wäsche auf und trat vor mit finsterem Gesicht, so daß er aus der Thür zurück ins Freie treten mußte. Da sagte er: Nach seiner Meinung könne Gott nicht den Willen haben, mit seinen Geboten alles Gute in ihm und dazu seine ganze Lebenslust tot zu schlagen. Er hätte seine Frau gebeten, den Besitz zu verkaufen und anderswo hinzuziehen, aber sie hätte wohl den Grund geahnt und hätte gelacht und ihn verhöhnt.

156 Sie sah ihn finster an, als wäre ihr ganz zuwider, was er da vor sich hinmurmelte. Ohne weiter ein Wort aus ihr herausgebracht zu haben, mußte er gehen.

Nach einiger Zeit sprach er wieder mit ihr, als sie im Garten die Bohnenstangen auszog und in Bündeln zusammenband, und bat sie wieder: er könnte es nicht länger so ertragen, sagte er; wenn er denn nicht fortziehen könnte, dann möchte sie gehen. Da fing sie an, bitterlich zu weinen. Und leichter setzte er durch, daß sie sich an jedem Tage in später Abendstunde am Goldsoot trafen. Dann hatten sie beide Eimer in den Händen, sahen sich groß und ernst an, sprachen einige Worte miteinander, zuweilen gewöhnliche, zuweilen ein schüchternes, heißes Liebeswort, rührten sich nicht an und gingen wieder auseinander. Er täuschte sich, indem er meinte, er würde durch diese abendlichen Zusammenkünfte befriedigt und hätte im übrigen einen eisernen Reifen um seinen Willen geschlagen; ihr aber wurde täglich deutlicher, daß er sie immer näher an sich heranzog, mit jeder Bewegung seiner Gestalt, mit jedem Ansehen. Es war ihr, als würde sie zu ihm hingerissen; sie fühlte, wie ihr Widerstand müde wurde. Tausend Stimmen ihrer Natur redeten ihr zu. Sie war in großer Angst, wie ein Mensch, der mit wollüstigem Irrsinn zu einem Abgrunde hingezogen wird; sie fürchtete sich so sehr, daß sie oft wie im Fieber zitterte. Die einzige Hilfe, die schwere Arbeit, die ihr Müdigkeit und Schlaf brachte, versagte auch. Da verfiel sie in ihrer großen Not auf einen Gedanken, der ebenso wunderlich als gefährlich war: sie wollte den Versuch machen, ob sie ihr Herz und ihre Sinne nicht mit einem anderen Manne täuschen und betrügen könnte, dem sie ohne Sünde angehören könnte.

Sie nahm seit Jahren an keiner Geselligkeit teil. Die 157 heiratsfähige Jugend mied sie trotz ihrer gesunden Schönheit. Denn in den Bauernstuben hieß es schon lange, daß sie in einem trauten Verhältnis zu dem Manne ihrer Freundin stände. Während sie tapfer wie keine im Lande gegen ihre Leidenschaft stritt, für die es so viel Entschuldigung gab, hatten die Menschen sie schon längst schuldig gefunden und kurzes und hartes Gericht geübt.

Um diese Zeit kam Jörn Uhl vier- oder fünfmal nach Feierabend, um Sand zu holen, und es gefiel ihr, daß er so ernst und still war und sie ansah, als wenn er sagen wollte: du bist auch so einsam und immer in Sorgen wie ich; und sie dachte sich, wenn er kam und wenn er ging, und Tag und Nacht, tiefer da hinein und redete sich zuletzt ein: daß sie dieses junge, frische Blut lieb hatte. Und sie freute sich, daß es ihr gelang, Freude an ihm zu haben, und sie lachte abends laut und fröhlich und sagte bei sich selbst: »Nun bist du den anderen los und hast einen Schatz, einen ganz jungen und sonderlichen.« Und da er in schüchterner und unsicherer Weise ein wenig lebendiger wurde und sie freundlich ansah und ein Scherzwort wagte, lachte sie bei sich selbst und dachte: »Es ist ein sittsamer Brautstand, ohne Gefahren, aber doch schön.«

Als er am vierten Abende wiederkam, und sie beide den Wagen gefüllt hatten, lud sie ihn in ihrer Freude ein, auf eine kurze Weile in die Stube zu kommen und noch ein wenig zu plaudern. Sie setzte sich ihm am Tisch gegenüber in ihrem Kleide, das am Halse lose war, und mit aufgekrempelten Ärmeln, und lehnte sich über den Tisch und lachte ihn freundlich an, fragte nach diesem und jenem und war neugierig froh, ob er wohl mehr aus sich heraustreten würde. Und als er nicht antwortete, machte sie es noch schlimmer und sagte mit einem fröhlichen Blitzen 158 ihrer grauen Augen: »Du bist ein hübscher Junge, Jörn: du hast so kluge Augen, als wärst du immer dabei, etwas zu suchen, was ganz versteckt ist, und hast so'n eigenwillig Gesicht, als wolltest du nur deinen eigenen Willen thun. Das mögen wir Mädchen gern leiden. Wenn du 'mal drei Jahre weiter bist, kannst du dir aussuchen, welche du haben willst: sie wird nicht nein sagen.«

Er konnte nichts sagen; er sah sie nur an.

Sie fing noch einmal an und fragte: »Wie muß die denn aussehen, die du leiden magst?«

Da stand er auf, und auch sie erhob sich. Und da sie meinte, daß er beleidigt wäre – auch war sie nun doch in ihrer Eitelkeit verletzt –, trat sie an ihn heran und sagte ruhig und lächelnd: »An mir findest du wohl gar nichts, nicht einmal das Reden bin ich wert? Willst du so weggehen? Willst du nicht einmal einen einzigen Kuß von mir mitnehmen?«

Da erschrak er so, daß ihm Fuß und Atem stillstanden. Gleich darauf aber riß er sie mit so überschwellender, so sinnloser Leidenschaft an sich, daß sie sich mühsam und erschreckt von ihm losriß. Sie hatte eine sanfte, freundliche Flamme wecken wollen und hatte ein wildes Feuer aufgerührt. Sie drängte ihn hart von sich und hieß ihn fortgehen.

Am folgenden Abend, gegen Mitternacht, stand er am Fenster und klopfte und bat sie, ihn einzulassen. Sie that aber, als hörte sie es nicht. Sie lag still, die Hände unterm Kopf geschlungen, und reichliche Thränen liefen ihr über die Wangen, und sie hielt sich für die unseligste der Frauen. So kam er in drei oder vier Nächten. 159

 


 


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