Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Siebentes Kapitel

Jörn hatte am anderen Morgen die Stalljacke angezogen, die Fiete Krey in seinem Zorn an die Wand geworfen hatte.

Für die Schule, deren Lehrplan ihm nichts Neues mehr bot, hatte er von Stund an keine Neigung mehr. Der Konfirmandenunterricht, in dem von einem fleißigen und freundlichen Mann die alte Kirchenlehre vorgetragen wurde, war ihm unverständlich und darum quälig. Der praktische, nüchterne Junge, der alles auf die Uhl und ihre Bewohner bezog und auf die Verhältnisse des Dorfes, konnte weder die Sünde noch die Gnade verstehen, die da gelehrt wurde. Die Sünde kam ihm viel zu spät, und die Gnade kam ihm viel zu früh. Die Sünde fing ja erst mit Diebstahl, Raub und Totschlag an, und die Gnade war allzubald da, nämlich: wenn einer seine Sünde ›auf den Herrn warf‹. Jörn Uhl konnte diesen lieben Gott nicht verstehen. Gott schien ihm ein ganz unpraktischer Rechenmensch zu sein, der in seiner Stube seine Bücher stolz in Ordnung hielt und draußen von seinen Leuten unheimlich betrogen wurde.

128 Die Leute auf dem Hofe mochten ihn wohl leiden: sie hielten ihn für ihresgleichen. Eine Schwierigkeit lag aber da, daß er doch mehr sein wollte, als sie: sie sollten ja gern ein wenig Respekt vor ihm haben, und jeder sollte um seinetwillen fleißig seine Arbeit thun. So war er ihnen lieb, weil er sich zu ihnen hielt und ihre Arbeit teilte, und war ihnen wieder leid, weil er immer gleich bemerkte, wenn fern im Felde ein Pflug stillstand, oder wenn die Mädchen, die unter den Kühen saßen, über dem Plaudern das Melken vergaßen. Dann kam er mit langen Schritten quer übers Feld gestapft, die Hände in den Taschen, als wäre es zufällig, daß er da ging; und that ganz harmlos und lachte. Da nannten sie ihn unter sich den Landvogt, und andere sagten wieder: Er ist ein Wietkieker. Er kümmerte sich aber um den Spott nicht; es war ihm alles gleichgültig, wenn nur das Land und der Viehstand auf der Uhl ihr Recht bekämen. Weiter sorgte er nicht; weiter dachte er nicht. So wurde seine Seele schon in früher Jugend auf ein Großes gerichtet, und das war Gewinn fürs ganze Leben.

Darum stand in den beiden Jahren nach der Konfirmation der alte Landmann Wilhelm Dreyer in seinen Augen am höchsten. Er hatte einst mit wenigem oder gar nichts angefangen, hatte vierzig Jahre lang sehr sparsam und sehr fleißig gelebt und bewohnte nun, über siebzig Jahre alt geworden, an der Dorfstraße unter den Linden ein stattliches Altenteil. Er war seit Jahren mit Klaus Uhl verfeindet und hatte für dessen älteste Kinder weder Blick noch Gruß. Er hatte immer mit klugen, beobachtenden Augen in die Welt geschaut und kannte dies Treiben, daß es aus Dummheit und Leichtsinn, Feigheit und schlechtem Gewissen zusammengesetzt ist, und daß es zuletzt in Lumperei, Schlechtigkeit und Verzweiflung endet. Wenn er aber mit seinen 129 scharfen Augen den langen Jörn im Felde arbeiten sah, stand der Alte nach etlichen Sprüngen über gute Gräben mit dem klugen, bartlosen Gesicht und dem leicht ergrauten Haar, das ihm schlicht bis auf den Rockkragen hing, neben dem Arbeitenden und fragte und überlieferte mit hoher, bedächtiger Stimme bewährte Landmannserfahrung; und Jörn hörte zu, wie selten ein Mensch in der Kirche zuhört. Das war für ihn in jenen Jahren Evangelium. Arbeiten und nüchtern sein und sparsam und klug wirtschaften: das war für ihn ›frohe Botschaft‹.

Wenn in viel späteren Jahren sein Weg ihn einmal an den Feldern der Uhl vorüberführte, und eins seiner Kinder neben ihm herging, hob er wohl den Handstock und zeigte auf ein Stück Ackerland: »Sieh, Junge, da auf der dritten Breite: da hat der alte Dreyer mir gezeigt, wie man abfurchen muß.« Und ein andermal: »Sieh, Junge! Da, wo jetzt die Bohnen stehen, habe ich das erste Stück Korn selbst gehauen; und nicht weit davon, am Graben, habe ich vom alten Dreyer das Dengeln gelernt. Da war ich noch nicht siebzehn. Der Weizen wuchs aus, und Arbeiter waren nicht zu haben. Da sagte der Alte: ›Du mußt selbst dran gehen, Jörn.‹ Und als ich anfing, kam er selbst mit seinem Schläger, der war rostig, und schlug neben mir, bis die Sonne unterging. Da war sein Schläger blank. Nachher lachte er und sagte: ›Ich wollte nicht vor dir zurückstehen.‹ Und ich lachte wieder und sagte: ›Ich wollte nicht vor Ihnen zurückstehen.‹ Niemals habe ich wieder so tief geschlafen als in jener Nacht.«

Dem Vater und den großen Brüdern wurde er mehr und mehr verhaßt. Er war ihnen das alltägliche, böse Gewissen. Die Unsicherheit des Urteils, die man bei sechzehn Jahren gegen die erwachsenen Familienglieder hat, behütete 130 ihn, daß er deutliche Verachtung zeigte. Im Gegenteil: er hielt sich scheu vor ihnen zurück, redete kein Wort, wenn sie ihn verspotteten, und wurde rot, wenn sie zusahen, wie er eine Arbeit that, die sie hätten thun sollen. Er wurde rot in seinem und in ihrem Namen. Aber gerade dies scheue, gedrückte Wesen, als wenn sie die verborgene Anklage darin entdeckten, reizte sie.

Wenn er in seinem graublauen Arbeitszeug, das dem hoch aufgeschossenen Jungen um die hageren Glieder schlotterte, vom Haus zur Scheune hin und her ging, dann hob wohl sein Vater, der auf dem Wagen saß, bereit, in die Stadt zu fahren, die Peitsche und machte seine anderen Söhne auf den Jüngsten aufmerksam und rief mit seiner weichen, vollen, lachenden Stimme: »Das ist ein Kerl! Der wär' ein Landvogt geworden! Für zehn Thaler ließe ich den Bengel nicht neben mir auf dem Wagen sitzen und führe mit ihm zur Stadt! Ist das ein Bauernsohn von der Uhl?«

Wenn der Vater weggefahren war, sagte Hans: »Du, ich denke das Meine zu thun, daß ich auf der Uhl Bauer werde. Du magst die Mädchen doch nicht leiden und bleibst zeitlebens Einspänner, ein Duckmäuser und ein Arbeitspferd. Bleibe hier bei mir auf dem Hof! Ich will dich so gut halten, wie du es dir wünschest, und will dich pflegen, wenn du dich steif gearbeitet hast.«

Aber Hinrich sagte kurz: »Wir wollen im nächsten Jahre einen Knecht sparen und den Lohn versaufen.«

Am Abend saßen Jörn und Elsbe mit Wieten in der Stube am Mittelgang. Wieten war in den letzten Jahren stiller und bedrückter geworden, besonders seit dem Tage, da Fiete Krey seine Vorwürfe über die Hofstelle schrie. Sie hatte eine so eigentümlich starke Erinnerung und eine solche Einbildungskraft, daß alle Ereignisse, die sie in der 131 Vergangenheit ihres Lebens je gesehen oder gehört hatte, ihr gegenwärtig waren und als Bilder um sie herum standen, immer gleich deutlich, nie verblaßt. Früher, als sie noch jung war, hatte der Lebensmut der Jugend ihr geholfen, daß sie der Bilder, die um sie standen, Herr wurde, daß sie die helleren und freundlicheren hervorholen und die dunkleren und traurigeren zurückstellen konnte. Aber allmählich, mit kommendem Alter, drängten sich die dunkleren vor. Sie konnte stundenlang, während sie die fleißigen Hände rührte, stumm vor sich hinsehen, mit einem traurigen, stillen Gesicht. In solchen Stunden ging sie durch vergangene Tage von Bild zu Bild, sah bald eine schwere That, die an einem einzigen Tage das Glück einer Familie vernichtete, bald eine schwere Sorge, die jahrelang durch ein Haus schlich, sah bald liebliche, reine Augen, von Thränen überströmt, und bald ein hartes Gesicht, von wildem Zorn überflammt. So wurde sie von Bild zu Bild gezogen, widerwillig. Später, als das höhere Alter kam und sie in ruhigem Frieden auf dem stillen Heeshof wohnte, erblaßten die Bilder, und diese Not nahm ab.

Jörn saß stumpf und dumpf da, war todmüde von der schweren Arbeit, sagte nicht viel und ging früh zu Bett.

Das waren schlechte Genossen für die kleine, lebendige Elsbe, in welcher der Gedanke immer stärker, immer heißer, immer klarer wurde, den schon das Kind ausgesprochen hatte: Ich muß etwas lieb haben.

Die großen Brüder hatten in den Stuben des Vorderhauses Gesellschaft von Freunden geladen. Einige willige Mädchen hatten sich dazu eingefunden. Wenn dann von der Diele her ein lauter Ruf oder ein unterdrücktes Mädchenlachen zu den schweigsamen Dreien kam, dann hob das Kind den schönen, dunklen Kopf mit dem starken Haar und mit 132 den weichen Linien frischester, junger Morgenblüte und sah unruhig nach der Thür. Dann veränderte Jörn geräuschvoll seine Haltung oder sprach irgend einen Gedanken aus, um ihren Sinn von der Thür abzuwenden. Aber sie stand unruhig auf und ging bald ans Fenster und bald an die Thür. Und zuweilen öffnete sie die Thür und sah hinaus. Dann kamen gleich die beiden ängstlichen Stimmen vom Tische her: »Elsbe, bleib' hier! Elsbe, mach' die Thür zu!« Dann kam sie mit gesenktem Kopf wieder an den Tisch und dachte: »Wär'st du erst groß, wär'st du erst groß!«

Während des ganzen Sonntagvormittags arbeitete Jörn in den Ställen und ging nach der Stube und sah nach, wo seine Schwester wäre. Erst am Abend, wenn sie zu gleichaltrigen Freundinnen gegangen war, kamen drei oder vier Stunden, wo er von Arbeit frei wurde. Dann saß er entweder still in seiner Kammer oder saß drüben, überm Weg, unter der niedrigen Hauswand von Jasper Krey.

Jörn Uhl! Wer ist in der Zeit dein Bildner gewesen, da der Menschengeist weich wie Wachs ist, das auf Eindruck wartet? Wer war dein Führer in der Zeit, wo die Eltern uns nicht mehr halten können und andere Leute nicht nach den Zügeln greifen, die hinter uns dreinschleifen, wo wir die Straße hinunterrasen, die auf den Marktplatz des Lebens führt, auf jenen Platz, wo das Schicksal so ernst fragt: ›Was bist du wert?‹ Denn so steht es ja: Zu allen Lebenszeiten haben wir bestellte Ratgeber und Führer, Eltern, Schule und Gesetze, Erfahrungen, Frauen, Sorge und Not; aber in den Jahren, wo ein Frühlingssturm nach dem anderen den jungen, überschlanken Bäumen über die Köpfe fährt, da sind wir ungestützt und unberaten. Hei, wie knackte es! Wie stoben die Blätter! Wir haben Narben davon an der Seele und kahle Stellen im Gezweig.

133 Der alte Dreyer ist Jörn Uhls Lehrer in allen Dingen des praktischen Berufs gewesen; Jasper Krey aber hat ihn auf die weiten, weglosen Felder der allgemeinen Lebensweisheit geführt. Klaus Uhl saß im Wirtshaus und redete kluge Worte und wußte und kannte alles. Sein Sohn mußte zu dem kleinen, krausen Jasper Krey hinübergehen, und wurde dort unter dem Strohdach zu eigenem Nachdenken geführt, und holte sich dort unter der Hauswand die erste Lebenskunde. Die Bedeutung dieser Stunden war aber um so größer, als hier Mannesalter und Knabenalter zusammenkamen, so, daß beide sich gleich hoch einschätzten und es also zu geraden, ehrlichen Debatten kam. Wo lernten wir am meisten? In den Schulen? In den Hörsälen? Von den Professoren? Wir lernten das Meiste, als wir auf freies Feld gingen und aufzufliegen versuchten, so gut es ging.

Wie alle Kreien, so hatte auch Jasper eine Vergangenheit. Er war in jungen Jahren oben in Deutschland gewesen, in jenen Jahren, als das Volk ungestüm forderte, daß es mitregieren dürfte. Es war Jasper Krey von Wentorf nicht gelungen, ein unparteiischer Zuschauer zu sein. Es ist einem Krey nicht gegeben, neutral zu sein. Ein wenig erhitzt, ein wenig außer Atem, ein wenig verlegen, kurz wie einer, der aus einem Tanzsaal herausgeworfen ist, sich umsieht und weitergeht, als wäre nichts geschehen: so war er wieder nach Wentorf gekommen.

Wenn er ledig geblieben wäre, oder mit der Heirat gewartet hätte, so wäre er wohl noch einmal wieder in die Fremde gegangen und hätte sicher mit Geschick dies und das unternommen und hätte es vielleicht zu Vermögen gebracht; aber noch unter dem Druck seiner kümmerlichen Heimkehr, heiratete er und verfiel, in dem unklaren Wunsch, sich selbst Zaum und Zügel anzulegen, auf ein Mädchen 134 von einfachstem Geist, das noch dazu so sehr an Sankt Marien klebte, daß es Heimweh bekam, wenn es den Schornstein des Elternhauses nicht mehr sah. Es kamen Kinder; es kam Krankheit; es kam die tägliche Sorge. Er war ein Tagelöhner auf der Uhl und wußte nun schon lange, daß er nichts anderes werden würde. In winterlicher, arbeitsloser Zeit machte er Heidebesen, Bürsten und Pferdestriegel; äußerlich war er wie die anderen geworden.

Aber zuweilen brach alte Unruhe hervor. An jedem Kinderfest, so gegen Morgen, wenn er seinem Nachbarn Klaus Uhl die ganze Wahrheit gesagt und Not und Tod geweissagt hatte, hub er an, das alte Lied zu singen, das er einst auf der Zeil in Frankfurt gesungen hatte; und in späteren Jahren, wenn die Zeit der Reichstagswahlen kam, ging er hin und her in sechs oder acht Häuser, wo politisch Unwissende oder Gleichgültige wohnten, und belehrte und schärfte die Geister.

Äußerlich war er wie die anderen; aber inwendig hegte er noch alte, bunte Gedanken. Da diese Gedanken mit der so bescheidenen, sorgenvollen Wirklichkeit sehr in Widerspruch standen, hatte er die Wahl, entweder als ein Verbitterter in die Welt zu sehen und sich und den Seinen das Leben zu versauern, oder mit gutem, lächelndem Humor die eigenen Fehler zu verspotten und über die Felder der anderen zu reiten und zu jedem Besitzer zu sagen, wie verkehrt er wirtschaftete.

Unter der niedrigen Hauswand haben sie an manchem Sonntagabend über den Lauf der Welt geredet. Die Frau saß drinnen hinterm offenen Fenster in der Stube; die Kinder kamen von ihren Spielen von Ringelshörn her und gingen still zu Bett. Der Älteste, August, der eine schwere Sprache hatte und in der Schule gar nicht vorwärts kam, 135 saß an der Hausthür auf einem Stuhl, umgeben von vielen feinen, weißen Spänen und schnitzte Zeugkneifer und Wurstprickel, die er für eigene Rechnung fleißig vertrieb. Er hatte die Beschränktheit der Mutter und interessierte sich gar nicht für das, was sein Vater mit Jörn Uhl besprach. Er war nach seiner Konfirmation nicht wieder in die Kirche gegangen, hatte auch niemals wieder in ein Buch oder in eine Zeitung gesehen. Er lebte geistig allein von dem, was er von den Vorfahren ererbt hatte, und von dem, was er auf seinen Handelswegen hörte und sah. Indem er aber so seine geringen Geisteskräfte sparsam verwandte, indem er sie auf das allein richtete, was um ihn lag und was auf zwei Meilen in der Runde vorging, und sich all das, was darüber hinaus lag: Religion, Politik, Tagesneuigkeiten, vom Leibe hielt, gewann er allmählich einen scharfen Blick für das, was ihm in seinen kleinen Verhältnissen Vorteil brachte, und nährte später sich und seine Familie wacker, und überflügelte, ohne schlecht oder gottlos zu werden, viele von seinen Schulkameraden, die viel gelernt hatten, aber sich zerstreuten, indem sie sich um jede Neuigkeit kümmerten, die in der Zeitung stand oder über die Dorfstraße lief.

»Jörn,« sagte Jasper Krey, »was steht im Alten Testament? Du weißt es natürlich nicht! Ihr Uhlen wißt es nicht. Da steht, daß alle fünfzig Jahre alles Eigentum von neuem aufgeteilt werden soll! Ihr Uhlen sitzt schon viel zu lange auf eurem Lande; nun müssen wir Kreien 'mal auf euren breiten, fetten Höfen sitzen. Ich sage dir: wir würden unsere Sache auf den Höfen besser machen, als ihr die unserige auf unserem Sande. Ihr müßtet 'mal Sandbauern werden, Jörn! Stell' dir 'mal bloß deinen Vater vor, wie er mit dem Hundefuhrwerk unterwegs wäre. Ich bitte dich, Jörn! Dann kommt er zu mir 136 auf den Hof. ›Herr Krey hier! Herr Krey da!‹ Dann sehe ich ihn von oben bis unten an und sage: ›Ich habe keine Zeit, Uhl, für solche Dinge! Gehen Sie zu meiner Frau.‹«

Die Frau rief aus der Stube: »Du tühnst, Jasper.«

»Still, Triena! . . . Sieh 'mal, Jörn, wenn du das Maul gegen den Westwind aufsperrst und happst soviel hinein, als du brauchst, um zu leben, dann sagt kein Mensch zu dir: ›Hallo, weg da! Das ist mein Wind!‹ Aber wenn du dich irgendwo hinstellst und fängst im Schweiße deines Angesichts an, mit dem Spaten soviel Land umzuwühlen, wie du brauchst, um dich und deine Kinder satt zu machen, dann sagen die Menschen: ›Weg da! Das ist mein Land.‹ Lunge und Magen, Jörn, die haben das Recht von Gott, satt zu werden. Wenn du Nahrung und Kleidung hast, so laß dir genügen. Will einer es durch Klugheit und Fleiß weiter bringen, über Nahrung und Kleidung hinaus, so soll ihm das frei stehen.«

»Ja,« sagte Jörn, »das kann ich nicht durchdenken.«

»Nicht? Und hast doch eine so nachdenkliche, lange Nase! Ist nicht genug Land da, und ist nicht die Regierung ein starker Mann? Wieviel Land wird in Schleswig-Holstein schlecht gepflügt? Es würde zweimal soviel einbringen, wenn es in Arbeiters Händen wäre.«

»Das mußt du nicht glauben,« sagte Jörn, »daß alle Arbeiter fleißig sein würden und sparsam und nüchtern. Hast du vergessen, wie es dir mit den 1200 Mark ergangen ist?«

»Junge, wer redet von alten Zeiten!«

»Ich!« sagte Jörn und schlug mit seiner langen Hand auf sein Knie. »Wenn ich heute, obgleich ich erst siebzehn Jahre alt bin, 10 000 Mark bekäme, glaubst du, daß ich eine einzige Mark unnütz verbrächte?«

137 »Sei still,« sagte Jasper Krey, »rede von 'was anderem.«

Da kam aus der Stube vom Bett her ein starker, grollender Ton, wie von einem gegen Abend aufsteigenden Gewitter. Gleich darauf lehnte Triena Krey in der Nachtjacke am Fenster. »Ich will es dir 'mal ganz genau erzählen, Jörn.«

»Nun paß auf!« sagte Jasper Krey und nickte Jörn Uhl zu.

»Wir erbten also richtig die 1200 Mark von der Tante Stine, die gestorben war. Ihre Schwester, die alte Trine, lebt noch. Wir holten das Geld selbst vom Amtsgericht, ich weiß es noch, als wenn's gestern gewesen wäre: er hatte die schönen Goldstücke und die Thaler in ein Taschentuch gebunden. Bei Gudendorf setzten wir uns in die Heide und zählten nach; denn als uns das Geld im Amtsgericht vorgezählt worden war, flimmerte es uns vor den Augen.

»Na, zuerst blieb er ganz vernünftig. Aber nach einigen Tagen merkte ich, daß er keinen Appetit mehr hatte, auch kam er mitten aus der Arbeit nach Haus, riß die Lade auf und zählte das Geld. Nachts konnte er nicht schlafen.

»So ging es acht Tage und wurde immer schlimmer. Er saß stundenlang aufrecht im Bett; zuletzt stand er auf und setzte sich auf die Lade. Ich schlief wieder ein. Als es gegen Morgen hell wurde und ich die Augen aufschlug, saß er da, halb angezogen, sag' ich dir, auf der Lade und hatte die große Baumaxt zwischen den Knieen.

»Na, du kannst dir denken, nun wurde ich ängstlich. Ich fürchtete, er würde dösig, und redete ihm ein, daß er das Geld zur Sparkasse trüge. Dann brauche er doch keine Angst mehr zu haben; die hätten da eine eiserne Geldkiste mit siebzehn Schlössern, und was ich sonst sagte. Erst wollte 138 er lange nicht; aber zuletzt brachte er es hin und bekam denn ja so 'n kleines gelbes Buch dafür.

»Aber da wurde es ganz schlimm. Was habe ich mit dem Menschen ausgestanden, Jörn! Er las immer wieder in dem Buche und sagte, ein Satz spucke dem anderen ins Gesicht. Es wäre offenbar auf Betrug angelegt, und überhaupt, wenn es eine anständige Sache wäre, müßte das Buch doch mindestens so dick wie ein Gesangbuch sein, nicht so 'n Wisch. Endlich, in einer Nacht, als er aufgestanden war, um das Buch zu suchen und es nicht gleich finden konnte, fuhr er auf mich los und sagte: Ich hätt's gestohlen. Da habe ich ihm geraten: Hol' das Geld wieder. Das hat er gethan.

»Und nun, Jörn, was meinst du nun? Getrunken, Jörn! Gespielt, geschrieen, im Streit mit mir, mit Uhl, wegen der Kinder mit Lehrer Peters, Geschrei im Hause. Weißt du noch, wie du bei Uhl auf dem Mistberg standest und mit der Forke um dich schlugst und immer schriest: ›Ich bin Jasper Krey von Wentorf!‹ Kein Mensch hatte dir ein Leid gethan. Und weißt du noch, wie du aus der Stadt heimkamst und hattest die Kiste mit Wein auf dem Rücken und wolltest politische Versammlungen abhalten? Wir und Wein! und Politik! Und weißt du noch, wie du da drüben, da, gegen den Heckpfahl mit dem Beutel schlugst und schriest: ›Jasper Krey hat Geld!‹ Das war ein Jahr, Jörn! In Angst und Not habe ich gesessen. Nachher, als das Geld verthan war und er keine Sorge mehr darum hatte und wußte, daß er wieder arbeiten mußte, da war wieder ganz gut mit ihm auszukommen: er sorgte wieder wie ein Christenmensch für Frau und Kinder. Damals war Fiete fünf Jahre alt, Jörn. Ach, Jörn, wo mag Fiete sein!«

Sie schlug das Fenster zu.

139 »Ich will wetten,« sagte Jasper Krey, »wenn einer zu ihr sagt: Hier sind die 1200 Mark und hier ist die Geschichte von den 1200 Mark, dann wählt sie die Geschichte. Ich bin zuweilen etwas hochmütig, Jörn, und besonders über die geistigen Fähigkeiten von Triena Krey denke ich nicht hoch. Aber wenn ich an diese Geschichte denke und besonders, wenn sie selbst mir die Geschichte einmal wieder erzählt, dann bin ich ein bescheidener Mensch. Es kam zu plötzlich, das Geld. Es war auch zu viel: 1200 Mark. Ich war nicht vorbereitet. Wenn die andere Tante stirbt, die an die achtzig ist, dann sollst du sehen, wie fein ich mit Geld hausen kann.«

»Paß auf,« sagte Jörn, »dann sitzst du wieder in Angst, und um aus der Angst heraus zu kommen, vertrinkst du es.«

»Was?« sagte Jasper Krey und sah seinen Bankgenossen groß und strafend an. »Man wird doch wohl endlich 'mal vernünftig!«

»Viele, ja,« sagte Jörn, »aber lange nicht alle.« Er sah in schweren Gedanken nach der Uhl hinüber, die im Schatten der Eschen und Pappeln jenseits des Weges lag.

So redeten sie manchen Abend. Wie ein ungleich Paar Hunde, die zusammen übers Feld gehen. Jasper Krey immer voraus, die Nase überall, laut bellend; Jörn Uhl hinterher, knurrend und zuweilen blaffend und immer zur Wachsamkeit, zur Umsicht und Vorsicht gemahnt, darum, weil der andere so ein Draufgänger war. Ein Vorsichtiger und Nachdenklicher ist Jörn Uhl immer geblieben.

Dann, wenn die Dämmerung da war, kam der Großknecht mit den beiden Mädchen vom Wege herüber. Und der Großknecht – jener Harke Siem, der nachher Bahnwärter wurde und das Unglück bei Hamburg verhütete, indem er mit brennendem Rock dem Zuge entgegenlief, daß er kurz vor der zerbrochenen Schiene zu stehen kam –, 140 Harke Siem hatte seine Harmonika unterm Arm und fand noch Platz auf der Bank, wenn auch die Armbewegung beschränkt war. Die Mädchen lagerten sich am Wege ins grüne Gras. Und Harke Siem spielte und bewegte den Kopf so schwerfällig nach dem Takt, und hatte die Augen halb geschlossen und sah so dumm aus, daß man ihm eine rasche That nicht zutrauen konnte.

Danach sprachen sie noch von Nachbars Korn und Nachbars Tochter. Danach vom Lehrer und vom Pastor, danach von Hamburg, danach vom König, und zuletzt vom Tod.

Der Mond stand in den Pappelzweigen, und das Wiesel lief über den Weg.

* * *

Zu derselben Abendstunde saß in einer hohen Straße in Hamburg, dicht an der Petrikirche, ein junger Mensch in einem Buchladen und hielt nach verlaufenen Geschäften die Abendwache, um als ältester Lehrling zu bedienen, wenn etwa noch ein später Kunde käme. Er war eines Pastors Sohn am Rande der Lüneburger Heide, in Freiheit aufgewachsen, und war früh in Feindschaft mit dem Latein geraten. Aber deutsche Bücher mochte er gerne leiden und desto mehr, je bunter sie waren. Da hatte ihn sein Vater in den Laden unter der Petrikirche gebracht, der bis obenhin voll Bücher war. Er war gern hineingegangen; aber bald zeigte es sich, daß auch dies noch nicht sein Lebensideal war. Es gab Bücher die Fülle, und er durfte viel darin kramen, und er durfte sich abends zuweilen ein Buch, das ihm gefiel, aussuchen und darin lesen; aber das andere fehlte, gewissermaßen der Bücher rechter Einband: die weite Heide und die dunklen Heuböden und der Spielplatz an der Sandkuhle. Da faßte den jungen Gesellen grimmiges Heimweh.

141 Also saß er an diesem Abende am hinteren Ende des Ladens in dem Verschlage, den die Treppe abschrägt, und las in einem Buche, das war betitelt: »Die Chronik der Sperlingsgasse‹ und war von einem Wilhelm Raabe geschrieben, und las und las, und war nicht mehr in Hamburg, war weit weg von der Petrikirche und spielte am strohgedeckten Pastorat und kletterte auf die Birke, die am Wall stand, und sah übers weite Land nach dem nächsten Kirchturm. Da ging die Ladenthür, und ein junger Arbeiter von seinem Alter, ein kräftiger, untersetzter Junge, in grauer Arbeitsjacke, mit rundem, frischem Gesicht und unternehmenden Augen und rötlichem Haar stand am Tisch und sah auf ihn. Und als der Lüneburger langsam aufstand, legte der Kunde einen ziemlich hohen Stapel Silber auf den Tisch und sagte: »Dafür will ich mir Bücher kaufen.«

»Bücher?«

»Ja, Bücher! Bücher! Haben Sie davon gehört, ob ein gewisser Theodor Storm ein Buch geschrieben hat?«

»Storm? Ja, das hat er. Der hat Novellen geschrieben.«

»Novellen? Ich weiß nicht, was das ist; aber ich fürchte, es ist nicht das Rechte. Ich will es Ihnen offen sagen. Ich bin hier Austräger bei einem Geschäft, hier in der Hermannstraße, und ich habe gewartet, bis ich Sie 'mal allein träfe. Die Sache ist die: Wir hatten da in der Heimat ein altes Mädchen, eigentlich hieß sie ›Penn‹; aber sie war so unvernünftig gescheit, daß man sie nicht anders als Wieten Klook nannte. Diese Wieten Klook also behauptete immer, daß ein gewisser Storm und ein Müllenhoff zusammen ein Buch schreiben wollten. Sie selbst hatte zwar nicht viel Meinung von den Leuten; wenn sie aber vielleicht doch dazu gekommen sind: dies Buch wollte ich kaufen. Und da ist das Geld. Es sind sechs Preußische.«

142 Der Lehrling unter der Petrikirche setzte sich auf den Kontorbock und sah mit großen Augen auf den seltenen Kunden. »Storm und Müllenhoff? Was soll denn eigentlich in dem Buche drin stehen?«

»Nun . . . Um es kurz zu sagen . . . Wie man klug wird und reich. Das ist die Sache.«

Da stand der Geselle aus der Lüneburger Heide auf und sagte laut: »Das giebt's überhaupt nicht. Ne! Alles andere! Aus einem Buche klug werden? Dumm können Sie werden, das sage ich Ihnen, aus manchem Buche. Und verrückt aus anderen. Und traurig aus anderen, und einige machen lachen. Und einige können über dies und das belehren, das ist wahr. Aber klug und reich? Nein, solche Bücher giebt es nicht . . . Was der Storm geschrieben hat? Warten Sie 'mal . . . Sehen Sie, hier ist eins. Dies Buch hat er geschrieben. Es sind so Geschichten von guten und tiefen und träumerischen Menschen. Er ist einer von unseren größten Dichtern.«

Der Käufer schüttelte den Kopf und biß die Zähne zusammen und sah auf den Ladentisch. »Denn hat Wieten doch wohl recht behalten, daß nichts Rechtes aus ihm geworden ist.«

Der aus der Lüneburger Heide stieß die Bücher, die vor ihm lagen, zurück. »Meine Meinung,« sagte er, »ist die: Sehen Sie! Diese Bücher, von unten bis oben hin. Reih' an Reih', die können Sie alle durchlesen und können so dumm, ja noch dümmer sein, als vorher. Von Büchern wird man nicht klug, sondern von dem, was man erlebt. Sind Sie von der Lüneburger Heide?«

»Nein, von Dithmarschen.«

»Einerlei. Wenn ich Ihnen einen Rat geben soll: Sie wollen klug und reich werden? Dann gehen Sie dahin, wo 143 keine Bücher sind . . . Bücher? Wissen Sie: Wenn ich meinen Vater nicht hätte, und Mutter weinte sich nicht die Augen aus, so ginge ich nach Amerika, wahrhaftig, das thäte ich. Und wehe dem, der mir ein Buch unter die Nase hielte.«

»So!« sagte Fiete Krey. »So! Das ist Ihre Meinung. Na so!« Er nickte eifrig mit dem Kopf und langte nach dem Geld und steckte es wieder in die Tasche. »Vater und Mutter sehen nicht nach mir aus. Reich will ich werden, einerlei wie. Von Amerika habe ich Gutes und Schlechtes gehört. Niemals das Mittlere. Ich glaube, ich thu's.«

»Thun Sie's, Menschenkind! Und wenn Sie Zeit und Lust haben, und wenn es Ihnen gut geht, schreiben Sie 'mal an den ersten Lehrling in der Heroldschen Buchhandlung. Wie ist Ihr Name?«

»Ich bin Fiete Krey von Wentorf.« 144

 


 


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