Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Drittes Kapitel

Wenn Lehrer Peters über die hundert Kinder von Sankt Mariendonn hinsah, die seiner Pflege anvertraut waren, und in zwei Bankreihen, die Knaben zur Rechten, die Mädchen zur Linken, zu seinen Füßen saßen, wenn es dann im Winter so um drei Uhr ein wenig schummerig wurde: dann konnte Lehrer Peters deutlich sehen, daß auf dem Donn zwei Sorten Menschen wohnhaft waren. Das Strohdach hing als müde, schwere Augenwimper über die Fenster herab; das Tageslicht fiel sehr schräge und sehr gering herein: in diesem stillschrägen Dämmerschein sah man unter den Kindern verstreut viele runde, rote Köpfe, so brandrot das Haar, mit so starken roten Sommersprossen, daß sie Licht ausstrahlten. Und heller noch wirkt das Leuchten, und bunter noch wird der Schein, wenn sie die klugen und flinken Augen, unstet oft und verschlagen, hin und her spielen lassen, wie junge Katzen in der Sonne springen. Das sind die Kreien und ihre Anverwandten.

Man sah aber zweitens zwischen den Rot- und Rundköpfen verstreut, nicht so zahlreich wie sie, unter Knaben und Mädchen schmale, hellblonde Gesichter, das Haar so 39 blond wie Roggen kurz vor der Ernte, Gesichter von starken, oft edlen Formen mit ruhigen, stolzen, klaren Augen. Wenn einer von diesen Hellen aus der Bank tritt, zeigt sich eine schmale, sehnige Kindergestalt. Das sind die Uhlen und ihre Sippe.

Der Pastor Petrus Momme Lobedanz, der vor etwa einhundertundfünfzig Jahren in Sankt Mariendonn im Amte stand, hat sich schon über diese Sache gewundert. Er hat auf die letzten Blätter des Taufbuchs, das er mit Namen gefüllt hat, folgende Gedanken und Ansichten niedergeschrieben:

»Die kleinen Dörfer, welche an den Abhängen der Geest gebaut sind, werden meist Donn genannt. Um sie zu unterscheiden, werden einige von diesen Dörfern nach den großen, reichen Marschdörfern genannt, welche vor ihnen liegen, andere, die schon länger vorhanden sind und eine eigene Kirche haben, nach katholischen Heiligen. Also heißt dieses Dorf Sankt Mariendonn.

»Während rechts und links vom Dorfe die Düne steil und unversehrt, mit Heide und Eichenkratt bewachsen, aufragt, ist die Düne da, wo das Dorf steht, heruntergewühlt. Wie spielende Kinder einen Sandberg auseinanderwühlen, bis es kein Berg mehr ist, sondern nur noch eine breite Wölbung: so haben die Kreien im Laufe der Jahrhunderte diesen ungeheuren Sandberg heruntergewühlt und heruntergewohnt: denn sie sind ein unruhig Geschlecht.

»Da nämlich das Land, auf dem sie wohnen, also leicht und sandig ist, daß ihnen in trockener Zeit zuweilen der ganze Garten gleich wehendem Schnee gegen die Hausmauer fliegt, und sie also davon keine Nahrung gewinnen können, und weil sie zu ständigem Tagelöhnern nicht viel Gelegenheit und noch weniger Stetigkeit haben, so wandern sie als Handelsleute in die Umgegend.

»An jedem Montagmorgen, wenn die Sonne aufgeht, 40 stehe ich auf Ringelshörn und sehe nach Sankt Mariendonn, und sehe den Ausflug der Kreien. Die einen wandern mit Packen und Körben auf den Schultern nach den Geestdörfern hinauf; den Rücken gebeugt, stecken sie den großen Stock, auf den sie sich stützen, vor sich in den Sand. Die anderen ziehen mit Hundefuhrwerk in die Marschdörfer hinunter. Die Reichsten unter ihnen spannen ein rauhhaarig, steifes Pferdlein vor einen klapperigen Wagen. Gegen Ende der Woche fliegen sie wieder zu Neste und haben immer ausverkauft, und haben meist etwas dazu erhandelt. Der eine, der mit Kurzwaren auszog, brachte ein hinkendes Pferd mit; der andere, dessen Wagen von Bürstenhaaren starrte, kam mit einer Ladung langer Korbweiden wieder; der dritte, der zum Krabbenfang nach dem Watt hinunterfuhr, hatte in dem Marschdorf, durch das er kam, eine alte Truhe erstanden.

»Es sind wackere Leute: ich lasse nichts auf sie kommen. Ich war mit manchem von ihnen befreundet und bin es mit einigen noch. Ich lasse nichts auf sie kommen; denn ich habe selbst von meiner Großmutter her, welche eine Nuttelmann war, Kreysches Blut.

»Man sagt allerdings von ihnen, daß sie draußen auf ihren Handelswegen nicht so ehrbare und gottesfürchtige Leute sind, wie Sonntags im Hause. Hier nämlich, in ihrem Dorfe, sind sie ehrliche, nüchterne Menschen, ja sie pochen auf ihre Gottesfurcht und ihren fleißigen Kirchgang, und rühmen mir gegenüber ihren regen Sinn für Gottes Wort. Ich aber bin ein schwacher Mann und mag dem Prahler nicht in die blanken, klugen Augen hineinsagen: Weißt du wohl, daß die ganze Gegend sagt: ›Ehrlich wie ein Krey am Sonntag?‹

»Die Leute in der Umgegend sagen, daß noch nie ein Donner Krey für sein Pferd Heu und Hafer gekauft hätte: 41 sie grasen ihre Tiere an einsamen Stellen an den Wegen und auf den Weiden, während sie unterm Dach des Wagens Mittagsschlaf halten. Und wenn ein Krey vor Gericht muß, so ist es immer auswärtig Gericht, und er ist immer der Angeklagte, nie der Kläger. Wenn aber der Angeklagte zu mir kommt, um den Taufschein zu holen, den er vor Gericht als Legitimation vorzeigen muß, und ich ihn frage, was das für eine Sache ist, weswegen er verklagt ist, so ist es immer Bosheit oder Mißverständnis des Klägers. Und wenn der Verklagte vom Gericht nicht wieder heimkommt, sondern einige Wochen verschwunden bleibt, als hätte ihn die Erde verschluckt, und ich die Frau an der Kirchthür frage: ›Antj' Katrien, wo ist dein Mann?‹ Dann schlägt sie hell die Augen auf und sagt: ›Der ist nach Hamburg, Herr Pastor! Er macht Einkäufe.‹ Dann bin ich wieder schwach und wage nichts zu sagen. In der Marsch aber sagt man spottend, wenn ein Mensch im Gefängnis sitzt: ›Er ist nach Hamburg und macht Einkäufe.‹

»Das alles liegt mir sehr auf dem Herzen, et animi semper aeger sum. Es ist mir aber um so unangenehmer, weil in der Marsch das Gerede geht, ich hätte mich verpflichtet, den Kreien nie zu sagen, daß sie unehrliche Leute seien. Dafür bekäme ich von allem, was sie von ihren Handelswegen mitbrächten, den zehnten Teil. Und geht also das Wort: ›Das überschlagen wir, sagte der Pastor von Sankt Marien, als der Junge in der Schule das siebente Gebot aufsagen wollte.‹

»Woher kommt nun solche animi rectio und Sinnesart? Hier in der Umgegend sagen sie, es komme daher, daß die Kreien Zigeunerblut in sich haben. Der Vorfahr soll ein starker, verwegener Mensch gewesen sein und ein großer Prahler, und soll sich mit einem Zigeunermädchen eingelassen 42 haben, deren Truppe in einer Sandkuhle bei den Heesetannen am Rande der Wodansheide ihre Feuer angezündet hatte. Er soll in der nachfolgenden Ehe – oder ob es keine Ehe gewesen ist – der zigeunerlichen Gemahlin nicht gewachsen gewesen sein und ein bedrücktes und gejagtes Dasein gehabt haben. Er hat mit ihr in einer Höhle wohnen müssen, da ihr das Wohnen in einem ordentlichen Hause zuwider gewesen ist. Während sie Karten legend, handelnd und bettelnd durch die Marschdörfer gegangen ist, hat er Essen kochen, die Ziegen füttern und zur Winterfeuerung Heide mähen müssen. Sie hat ihn nicht anders als ›mein Handlamm‹ genannt; also kirre ist er geworden. Von diesem sonderlichen Paare, sagt man, stammen die Kreien.

»Ich behaupte aber: diese Darstellung ist die Thorheit der Marschleute und der Uhlen Geschrei; denn die Uhlen verachten die Kreien, so lange man denken kann.

»Ich halte viel mehr für wahrscheinlich, daß die Kreien von dem Volke der Wenden abstammen, welche früher große Heerzüge bis in unsere Gegend gemacht haben sollen. Folgendes hat mich zu dieser Conklusio gebracht: erstens die runden, roten Köpfe und die schiefen Augen, welche sie fast alle haben, zweitens daß am westlichen Ende des Dorfes, nach der Wodansheide zu, unterhalb Ringelshörn, drei Häuser abgesondert liegen, nämlich die Schule, der Stammhof der Uhlen und die Kate von Simon Krey, welche zusammen den besonderen Namen Wentorf führen, welches man leichtlich auf Wendendorf zurückführen kann. Endlich und drittens, daß bei Wentorf, neben Ringelshörn, alte Erdwälle liegen, Reste von Befestigungen – mea opinione – in denen noch heute die Kinder der Uhlen und Kreien gegeneinander ihre Kämpfe führen.

»Von den Uhlen ist nicht viel zu sagen, als daß sie in 43 der Marsch auf breiten Höfen sitzen, Haare haben so falb wie Roggenstroh, was bei den Weibern oft schön aussieht, und lange, starke und hochmütige Leute sind. Noch neulich hat einer von ihnen auf dem Markt in Meldorf in einer Wirtschaft Streit bekommen und, als man zu ihm gesagt hatte: ›Ja, du bist ein Uhl! Du bist ein Uhl! Du kannst ja thun, was du willst.‹ Da hat er sich mitten in der Stube hingestellt und hat sich vor die Brust geschlagen und hat gesagt: ›Ja, ich bin ein Uhl! Und dafür danke ich Gott!‹

»Die Uhlen verachten die Kreien und grüßen sie das ganze Jahr hindurch weder mit der Hand noch mit dem Hut. Nur einmal in jedem Jahre, zur Fastnachtszeit, in der das ganze Land betrübsamer Narretei und schwerem Bechersturz verfällt, spannen die Uhlen an, packen Speckseiten und Buttertöpfe ins Wagenstroh und kommen so mit oder ohne ihre Eheweiber nach Sankt Marien und schwelgen und hausen mit und unter den Kreien, gehen Arm in Arm von Haus zu Haus und nennen es: ›jorten‹. Acht Tage lang hallt Sankt Marien von Geschrei und Singen. Dabei sind sie alle so freundlich miteinander und so gemütlich, daß es mir schwer wird, mich fernzuhalten, und ich einigemal um die Ecke gebogen und mich ein wenig mit verlustiert habe, in finibus pastoralibus. Aber am siebenten oder achten Tage hebt eine furchtbare Prügelei an. Auf Ringelshörn ist der letzte Kampf; von da fliegen die letzten Uhlen in die Marsch hinunter. Dann gehört den Kreien wieder der Sankt Mariendonn.

»Ich mag die Uhlen nicht leiden. Ich fürchte mich jedesmal, wenn einer von ihnen in das Pastorat kommt, und ich freue mich, daß nicht allzuviele davon zu meiner Gemeinde gehören. Alle pastores, die in der Marsch hausen, klagen über sie. Ich aber, quamquam saepe ab his collegis vexatus, freue 44 mich, wenn ich am Sonntag von der Kanzel herab auf die roten Rundköpfe sehe, auf das Volk des Handels, vorwiegend mit Lumpen, Bürsten und Heidebesen, auf das Volk der Kreien.«

So weit das Taufbuch. Von dem Charakter und der Urteilskraft des Pastors Petrus Momme Lobedanz ist heute nichts mehr bekannt.

* * *

Fritz Krey kam selten in die Schule. Sein Vater, Jasper Krey, hatte immer eine Entschuldigung und Ausrede zur Hand. Bald hieß es, er müsse den Jungen notwendig brauchen, bald hatte der Junge keine Stiefel. So kam er fast nur im Winter in die Schule, wenn Wieten morgens, während es noch dunkel war, in das Kreysche Haus hinüberlief und sagte: »Es liegt so viel Schnee, daß ich die Kinder nicht allein gehen lassen kann: Fiete muß heute mit ihnen gehen.« Dann sprang Fiete gleich auf, zog seine geflickte Jacke an und fing an, am Ofen mit viel Stoßen und Trampeln die großen Stiefel anzuziehen. Aber der Alte knurrte: »Ich kann den Jungen heute durchaus nicht entbehren.«

»Nicht?« sagte Wieten bissig. »Ist es gerade heute so hilde? Dann muß ich ihn wohl wieder loseisen.« Sie legte die drei Groschen auf den Tisch, die sie schon bereit gehalten hatte, wovon nach einem alten Kontrakt der Sohn einen bekam, der Vater zwei behielt, und ging mit dem Jungen nach der Uhl.

Dann gingen die Drei durch den Schnee; Fritz Krey voran als Wegebahner. Fast bei jedem Schritt kehrte er sich um. Er kehrte sich so oft um, daß er auf dem ganzen Wege mehr rückwärts ging als vorwärts. Soviel hatte er zu reden.

45 Nun waren sie alle da: hundert Kinder, und der alte Lehrer Peters stand hinterm Pult. Es war gesungen und gebetet worden. Und es sollte losgehen. Da entstand am Ende der Knabenseite, wo viele Kreien einen dichten, rötlichen Schein gaben, eine Unruhe.

»Was ist da?« fragte Lehrer Peters.

»Er hat sich verdreht.«

»Was hat er?«

»Tönjes Krey von Süderdonn hat aus dem Fenster geguckt und kann den Kopf nicht wieder geradeaus kriegen.«

»Na nu?«

Der Junge saß da, den Kopf ganz zur Seite gebogen und machte ein unglücklich Gesicht, sperrte den Mund auf, schloß ihn wieder und sperrte ihn wieder auf.

Es muß allerdings bemerkt werden, daß seine Mutter gestern abend von einem Jungen erzählt hatte, den sie in ihrer Jugend gekannt hatte: dem wäre zuweilen die Zunge aus dem Halse gefallen, wie einem trabenden Hunde im trockenen Ostwind, und er hätte sie nur so wieder an Ort und Stelle bringen können, daß er an seine Gurgel faßte und kräftig nach unten zog. Dieser sonderbare Junge war natürlich ein Krey gewesen.

Lehrer Peters ist ein Mann, der nicht mit sich spaßen läßt; er hat den Jungen gleich auf dem Kieker:

»Junge,« sagt er drohend, »dreh den Kopf um!«

Der springt steil auf, starrt schräge nach dem Fenster und brüllt: »Ich kann nicht! Ich kann nicht!«

Peters schüttelt den Kopf vor diesem neuen Kreienrätsel und sieht sich ratlos um.

Da sieht er, daß Fiete Krey, den er noch gar nicht gesehen hat, aufrecht in der Bank steht. »Ich kann es!« sagt er.

»Du, Fiete? Ja, mein Jung', denn geh' doch 'mal hin.«

46 Fiete Krey kam aus der Bank. Alle Augen sahen auf ihn. Graubraun und geflickt, von englischem Leder, ist sein Anzug, und seine Hosenbeine stecken in den Schäften der schweren Thranstiefel. Er stellte sich vor seinen Vetter hin, als wollte er ihn feierlich anreden. Aber plötzlich hob er die Hand und gab ihm eine harte Ohrfeige, daß der Kopf – er mochte wollen oder nicht – entsetzt umsprang und so beweglich wurde, daß der Inhaber desselben ihn in beide Hände nehmen konnte und laut heulte. Mit ruhigen, schweren Schritten ging Fiete Krey an seinen Platz.

Fiete Krey war in den Wissenschaften der Schule kein Licht. Was er auf seinen Handelswegen in Marsch und Geest an Lebenserfahrung sammelte, war grobdrähtige, realistische Ware und im Schulunterricht, welcher das Ideale pflegt, nicht zu gebrauchen. Was er abends bei Wieten Klook hörte, war alte, bunte Volksweisheit, für welche Lehrer Peters, der ein praktischer Mann war und einiges Geld auf Zins hatte, kein Verständnis besaß. Dazu kam noch, daß die Volksweisheit, die Fiete Krey überliefert wurde, in seiner Seele einen wildromantischen, indianerhaften Anstrich bekam, einen richtigen Kreien-Charakter. Weil er aber alle seine praktischen Erfahrungen mit einem väterlichen Wohlwollen zu Gunsten der unterdrückten Gerechtigkeit und der gefährdeten Ordnung verwandte, so hatte er trotz löcherigen Wissens und schlechten Schulbesuchs bei allen Ansehen, bei Lehrer und Schülern.

Die Großen lagen schräg auf ihren Schiefertafeln, klapperten leise, flüsterten, rechneten und schrieben.

»Dritte Abteilung! Wir wollen Sätze machen. Wer macht den ersten Satz?«

Ein kleiner Krey steht steil auf: »In unserem Hause ist eine Kuh.«

47 »Alle nachsprechen!«

Sie sagen es alle, mit hoher, getragener Stimme, die Silben getrennt. Wer keine Kuh hat, sagt: »Keine Kuh.«

So ging es weiter. Die Armut sagt: »Kein.« Der Wohlstand sagt: »Ein.«

Dabei merkte Jörn Uhl bald, daß er immer ›ein‹ sagt, niemals ›kein‹. Ja, als der Sohn von Peter Wiek, einer von den Uhlen, den Satz machte: »Wir haben keinen Hengst,« und alle ihn wiederholten, da konnte er, Jörn Uhl, ganz allein in der Schule – und die Schule war so groß – sagen, und er sagte es laut und kräftig: »Wir haben einen Hengst . . . und einen Bullen.« Mit dem Nachsatz klappte er allerdings nach; es gab aber doch ein großes Aufsehen, zumal das kleine Mädchen von Lorenz Krey, der die vielen Kinder hat, gleich darauf den Satz machte: »Wir haben kein Mehl im Kad.«

Darauf schlug Peters vor, daß andere Sätze gemacht würden. »Wir haben in der biblischen Geschichte von König David gehört. Wie heißt unser König?«

Da stand die dusselige kleine Krey, die von Lorenz Krey-Süderdonn, wieder steil auf. Sie schoß förmlich aus der Bank und sagte: »Unser König heißt Klaus Uhl.«

Der Hengst hatte den Durchschlag gemacht. Die Großen lachten, die Kleinen waren verdutzt. Keiner hatte etwas dagegen. Der Satz wurde in üblicher Weise von allen wiederholt.

Aber als Lehrer Peters sich abgewandt hatte und den Gang hinaufging, riefen die Kinder: »Der Landvogt ist aufgestanden.« Da stand Jörn Uhl da, aufrecht, mit einem zornigen Gesicht.

»Was willst du, Jürgen?«

»Mein Vater ist kein König.«

48 »Du mußt das wissen,« sagte der Alte.

Als dann die Kinder hinausgingen, sah er, daß das dunkelköpfige, kleine Ding, die Elsbe Uhl, in der Bank sitzen blieb und den Kopf auf den Tisch gelegt hatte, und bitterlich schluchzte. Er ging auf sie zu und fragte: »Warum weinst du, Elsbe?« Sie sagte mit großer Mühe: »Mein Vater ist doch ein König.« Als er sich lächelnd von ihr abwandte, stand Jörn Uhl da mit einem bitterbösen Gesicht. Er griff den Jungen in das starre, helle Haar und sagte: »Warum sagst du denn, daß dein Vater kein König ist?«

»Er kann manchmal nicht stehen.«

»Was sagst du? Er kann nicht stehen?«

»Nein, weil er manchmal betrunken ist.«

Der Alte biß sich auf die Lippen und sah ihn mitleidig an. »So! Darum ist er kein König? Du, das darfst du den anderen Kindern nicht sagen. Aber weißt du was? Sieh du zu, daß du immer fleißig und nüchtern bist.«

* * *

Das jährliche Kinderfest war ein großer Tag, viel größer als Weihnachten. Die Uhlen, die zum Kirchspiel gehörten, mochten gar zu gern Feste feiern, und die Kreien waren auch nicht abgeneigt.

Wer hat jene Kinderfeste in Sankt Mariendonn mitgefeiert? Er sei Uhl oder Krey: Er stehe auf und bekenne, daß er an keinem anderen Ort im Vaterland etwas so Schönes und Großes erlebt oder gesehen hat.

Fiete Krey hatte zuerst Anna Seemann gebeten, neben ihm durchs Dorf zum Königstanz zu gehen, nachher aber erfuhr Trina Biesterfeld von Süderdonn, daß Fiete Krey zum Kinderfest einen recht guten Anzug tragen werde, den sein Vater auf einem Bauernhof billig für alt gekauft 49 hatte. Da bot sie Fiete Krey drei Groschen, wenn er Anna Seemann fahren ließe und mit ihr ginge. Er that es, nachdem sie noch ein gutes Taschenmesser, das sie besaß, dazu gelegt hatte. Außerdem mußte sie ihm versprechen, ihm zum Feste eine blaue Schärpe zu machen.

Als Fiete Krey aber, nachdem er seine eigene Angelegenheit also gut geordnet hatte, nach seiner Gewohnheit seine Nase auch in die Sachen anderer steckte und besonders seinem Freunde und Nachbarn Jörn Uhl eine Braut verschaffen wollte, hatte er Unglück. Er stieß bei beiden an. Er sprach in der Spielstunde mit der kleinen, dicken Dora Diek, versprach ihr den ›schmucken Jürgen Uhl‹ und deutete an, daß er einige Groschen Gottesgeld als Verdienst erwarte, wenn die Sache zu stande käme. Aber sie sagte, daß sie ihr Geld lieber in Limonade anlege, als in einem Bräutigam. Dabei blieb sie, trotzdem Fiete Krey eine nicht geringe Beredsamkeit entfaltete.

Später, als sie zwanzig Jahre alt war, war eine Umwertung aller Werte bei ihr eingetreten. Sie besuchte alle Märkte der Gegend und jeden Tanzboden, suchte einen Bräutigam und fand ihn nicht.

Aber auch Jürgen Uhl versagte vollständig. Er verweigerte seinem Patron zum erstenmal die Gefolgschaft und sagte merkwürdig bestimmt: er lasse sich eine Braut nicht anschnacken, er werde selber eine fragen.

Er stand drei Abende nacheinander im schönsten Regen unter der Dachtraufe des Schulhauses und wartete, daß die kleine Lisbeth Junker herauskommen sollte, die Enkelin von Lehrer Peters. Dann wollte er die fragen.

Am dritten Abend kam sie wirklich und lief durch den Regen im Trabe zum Höker hinüber, daß ihr strohblondes Haar und ihre kurzen Kleider flogen und ihre blauen 50 Strumpfbänder zu sehen waren. Als sie wieder zurückkam, sah sie ihn und rief schon von weitem: »Was stehst du da im Regen, Jürgen? Hast du Nachstunde gehabt?«

»Nein,« sagte er. »Ich habe hier bloß auf dich gewartet, ich wollte dich 'mal was fragen.«

Sie sprang heran und schmiegte sich dicht an seine Seite, damit sie nicht naß würde. Und drängte sich so sehr an ihn, daß sie sich an seinem Arm festhalten mußte und sah zu ihm auf.

Ein fremder Mann fuhr die Straße entlang, sah die beiden Kinder, und hatte seine Freude daran und ließ die Pferde langsamer gehen und fuhr vorüber.

»Was wolltest du mich fragen?«

»Ja, wegen des Vogelschießens, weißt du? Wir haben ja bald Vogelschießen? Nicht?«

»Na, und?«

»Ja . . . Und da muß ich doch ein Mädchen haben, und nun weiß ich nicht. Ich weiß nicht, welche ich nehme. Es ist ja ganz einerlei, welche ich nehme. Was meinst du?«

»Und danach wolltest du mich fragen? Ja, das weiß ich nicht. Du bist so groß . . . Weißt du? Nimm Trina Siem, oder nein, nimm Jule Uhl! Oder nimm . . . Nein, die ist doch zu klein für dich.«

»Wen meinst du?«

»Ach, ich hatte man bloß so einen Gedanken, aber die ist wirklich zu klein für dich.«

»Es ist ja einerlei, sage es man! Klein oder groß. Und wenn sie so klein ist wie du. Wen meinst du?«

»Ich weiß nicht mehr,« sagte sie.

Als sie das gesagt hatte, löste sie sich von ihm und sprang in den Regen, sah sich noch einmal um und wandte sich dann von ihm ab, als würde sie umgerissen, und lief davon.

51 Er war auf Lisbeth Junker versessen und war in Angst, daß ihm einer zuvor käme. Und er hatte nicht den Mut, sie zu fragen; denn er meinte, sie würde lachen und würde sagen: »Nein, Jürgen, meinst du, daß ich das thue? Ich gehe ja doch nie mit zum Königstanz.« So verpaßte er die Zeit. Als einige Tage vor dem Feste er und der kleine schüchterne Dierk Dierksen im Privatunterricht im Schulhause waren, sagte Lehrer Peters: »Du, Dierk, ich möchte gern, daß Lisbeth übermorgen an dem Umzuge teilnimmt. Ich habe gedacht, sie könnte neben dir gehen.« Dierk Dierksen bekam draußen von Jörn Uhl einige Knüffe, die aber an der Sache nichts änderten.

Er war also ohne Braut und mußte am Festtag neben einer kleinen, sommersprossigen Krey hergehen, die gerade übrig geblieben war. Sein Vater, der neben dem Zuge her ging, sah ihn spöttisch an, und seine großen Brüder ärgerten sich an ihm. Er ging mit zusammengekniffenen Lippen und stolzem Gesicht und schweigsam.

Die Sonne schien, und es wehte ein kleiner geringer Wind. Runde, helle und gelbe Lichter drangen durch die dichten Linden und spielten und jagten sich auf der Straße und auf dem losen Haar der Mädchen. Und die Lindenblüten fielen langsam auf den Zug.

Wer hat diese Kinderfeste in Sankt Mariendonn mitgefeiert? Er sei Uhl oder Krey: er stehe auf und rede! Welches Haar leuchtete am meisten? Es war dunkel und wieder hell, je wie die Lichter fielen, und die Gestalt im weißen Kleid war schön und schlank, und das Gesicht weiß und rot, als wenn ein Tropfen Blut in weißen Schnee fällt. Das war Lisbeth Junker. Und sie ging im Zuge vor Jürgen Uhl und sah sich zuweilen nach ihm um und 52 lachte ihn an. Und er sagte: »Es sind ganz viel Lindenblüten in dein Haar gefallen.«

Wer ist die kleine Dunkle, die ganz Unruh und ausgelassenes Glück ist, ein wenig zu klein, ein wenig zu breit, ein wenig zu wild, ein wenig zu laut. Das ist Elsbe Uhl und ging vor Fiete Krey her, und sie sieht sich zuweilen nach ihm um und lacht ihn an und nickt. Sie spricht aber heute nicht mit ihm; denn heute ist sie Bauerntochter. Und neben ihr geht als ihr Partner der große, stramme Harro Heinsen, einer von den Uhlen. Er ist schon vierzehn Jahre alt und verachtet das Kinderfest schon ein wenig und fängt jeden Satz mit den Worten an: »Wenn ich erst konfirmiert bin!« Und unterhält seine kleine Partnerin mit altkluger Rede.

Wer hat jene Kinderfeste in Sankt Mariendonn mitgemacht? Er sei Uhl oder Krey: Er stehe auf und rede! Wo ging der Zug entlang? Die untere Dorfstraße ging er entlang. Da ist guter Marschboden, und zu beiden Seiten stehen starke, junge Linden, welche sich fast mit den Kronen berühren. Wer ging dem Zuge voran? Ein Trommler und ein Pfeifer. Die ganze Landschaft kennt die beiden. Sie handeln für gewöhnlich mit Bücklingen.

Wer ging neben dem Zuge? Das war Lehrer Peters mit weißem Haar. Lang und hager und ernst. Wer ging am Wegrand unter den Linden? Das waren die großen Uhlen mit weinroten und festfrohen Gesichtern. Haben sie sonst an ihren Frauen und Kindern und an ihrem eigenen Leben schwer gesündigt: da liegt kein geringes Verdienst: wenn sie sich selbst einen Festtag gönnten, so gönnten sie den Kindern auch einen. Wer ging an der anderen Seite am Wegrand? Das waren die Kreien, Männer und Frauen, und alle stolz auf ihre Kinder.

Wer stand, wenn der Zug herankam, vor dem 53 Wirtshaus, vor dem alten Strohdach? Da stand Ernst Rapp, der Besitzer vom Kirchspielskrug, und rief laut und eifrig, halb sächsisch, halb plattdeutsch, denn er war ein Eingewanderter, in die Hausthür hinein nach seinem Sohne: »Fritze, kumm mal runter! Die Buren, die kommen! Du saßt 'mal blasen.« Und heraus sprang der dicke, vierkantige Fritz Rapp und blies ein lustig Stück auf der Trompete. So hielten sie den Einzug in das Festhaus. Voran die Kinder, dann die Uhlen, dann die Kreien.

Oben auf dem Kornboden, über den Ställen, tanzten die Kinder durcheinander, und die Mädchen waren wieder ängstlich; denn seit zwanzig Jahren geht das Gerede, daß der Kornboden nur schwach ist und eines Tages einbrechen kann.

Die beiden Bücklingsverkäufer wirbeln und pfeifen.

»Mit den Füßen geht es . . . tripp trapp trapp . . .«

Die Jungen trampen mit den schweren Stiefeln dreimal auf den Boden. Die Mädchen schreien auf: »Jungens! Hört ihr nicht? Es kracht! Ihr sollt nicht so schwer stoßen.«

»Mit den Händen geht es . . . Klipp klapp klapp . . .«

»Das thun die Kreien! Die haben Hufeisen und Nägel unter den Thranstiefeln. Sie sind beschlagen wie Pferde!«

Die Mädchen heben die Finger und wissen in ihrer Unschuld nicht, was sie singen:

»Junge, wenn du wullt!«
»Junge, wenn du wullt! . . .«

»Mit den Füßen geht es . . . tripp trapp trapp . . .«

»Nein!« sagen die Mädchen. »Die Jungen sollen nicht so mit den Füßen trampen, sonst laufen wir weg. Der Boden bricht ein, und wir fallen auf die Pferde.«

»Die Kreien thun es.«

»Wir thun, was wir wollen,« sagt Fiete Krey. »Um die Uhlen kümmern wir uns nicht.«

54 »Mit den Füßen geht es . . . Ramms! Ramms! . . .« Es kracht an allen Ecken; Kalk fällt von der Wand.

Lisbeth Junker kommt mit ängstlichem Gesicht durch den ganzen Saal auf Jörn Uhl zugelaufen: »Meinst du, Jürgen, daß wir einbrechen?«

»Ach was!« sagt er großartig. »Komm, laß uns 'mal tanzen.«

Nun tanzen sie ganz lange zusammen und hören und sehen nichts anderes. Zuletzt wird ihnen so heiß, daß sie aufhalten.

»Nein,« sagt sie, »wie ich heiß bin!« Und sie fächelt sich mit dem weißen Taschentuch und schüttelt sich im kurzen weißen Kleid und lacht.

»Nun will ich dir was zu trinken kaufen,« sagt er.

Sie gehen Hand in Hand durch das Gedränge, wo Fritz Rapp hinter allerlei Gläsern steht, und er kauft eine Limonade, die sie zusammen austrinken. Sie drückt ihm dafür einige Pfefferminzbonbons in die Hand und ißt auch selbst davon. Dabei wischen sie immer mit den Taschentüchern über ihre heißen Gesichter. Aber nun waren die Hände so klebrig. »Nein,« sagt sie, »das geht nicht, fass' bloß 'mal an! Die Hände bleiben beinah aneinander sitzen, und wenn du mich anfaßt, wird das Kleid auch schmutzig.« Sie nahm ihr Taschentuch, spuckte mit spitzem Mund ein wenig hinein und scheuerte erst ihm und dann sich selbst die Hände rein. Dann zeigte sie ihm noch, wie er das Taschentuch unter der Hand halten sollte, mit der er sie umfaßte. »Nun wollen wir wieder tanzen.«

Sie tanzten wieder miteinander, bis sie ganz müde war und hochatmend still stand und sich ein wenig an ihn lehnte. Das war immer der Höhepunkt der Freundschaft.

55 Er sah sie lieb und glücklich mit seinen stillen, klugen Augen an und sagte: »Magst du gern mit mir tanzen?«

»Ja,« sagte sie, »die anderen kenne ich ja nicht so. Aber dich kenne ich, weil du immer bei Großvater zur Nachstunde kommst. Du bist der feinste und klügste von allen.«

Er wurde ganz rot und sagte: »Du bist die feinste, das ist wahr.«

»Sieh!« sagte sie. »Siehst du Elsbe? Elsbe ist so wild, das mag ich nicht leiden.«

»Ja,« sagte er, »mit Harro Heinsen. Es paßt mir gar nicht; darum mag ich dich so gern leiden, weil du immer so still und ordentlich bist.«

So tanzen die Kinder miteinander, bis die erwachsene Jugend herauskommt und sie allmählich verdrängt. Gegen zehn Uhr, als es schon dunkel ist, räumen die Kinder das Feld. Lisbeth ist schon mit ihrem Großvater fortgegangen. Jörn wendet sich an Fiete Krey. »Ich will nach Hause, wo ist Elsbe?«

»Wo wird sie sein?« sagt Fiete zornig. »Sie hat sich mit Harro Heinsen fortgeschlichen.«

Sie gingen durch die Kegelbahn bis an den Eingang des nachtdunklen Gartens und rufen ihren Namen; aber es bleibt alles still.

Da sagt Fiete Krey leise, aber deutlich: »Wenn du nicht gleich kommst, dann sage ich laut, daß du mit Harro Heinsen im Garten bist.«

Da hört man schleichende Schritte, und gleich darauf erscheint Elsbe und sagt nachlässig: »Seid ihr da? Ich hörte etwas rufen.«

»Ja, wir sind hier, und du sollst jetzt sofort mit uns nach Hause kommen.«

Da kam Harro Heinsen zwischen den Bäumen hervor: 56 »Wir kommen Sonntagnachmittag nach Ringelshörn!« sagt er drohend. »Dann sollt ihr Kreien wieder 'mal die Haue haben, die ihr euch heute verdient habt.«

Er drohte noch einmal zurück und sagte: »Verwahre den Ring gut!« Dann verschwand er im Hause, und die Drei machten sich auf den Weg nach Hause.

»Er hat dir einen Ring gegeben?« fragte Fiete Krey. Und dann so recht mitleidig: »Laß 'mal sehen, lüttje Witte! Ist er aus Silber?«

»Was geht's dich an,« sagt sie stolz.

»Mußt mir 'mal zeigen, Elsbe.«

»Er ist aus Gold. Siehst du?«

»Ach, Deern! So'n Ring? Meinst du, daß das Gold echt ist? Was meinst wohl, was der wert ist. Nicht viel. Fünf Groschen höchstens!«

»So!« sagte Elsbe. »Der ist viel mehr wert. Der ist zehn Mark wert.«

»So'n dummer Junge! Schenkt dir einen Ring! Was willst du mit einem Ring? Wenn er dir noch ein paar Karnickel geschenkt hätte! Du, lüttje Witte, hast du meine beiden jungen Karnickel gesehen? Weißt du, die blaugrauen?«

Da läuft sie in ihrer Angst an Jörns Seite: »Du, Fiete will schon wieder einen Handel machen.«

* * *

Den ganzen Nachmittag hindurch, während die Kinder tanzten, hatte die Uhlen- und die Kreiensippe nach alter Gewohnheit, jede für sich, in den beiden Zimmern gesessen, welche durch eine breite Thür verbunden waren. Aber als die Kinder nach Hause gegangen waren und der Punsch, den die Uhlen selbst tranken und den sie ins andere Zimmer hinüber schickten, seine Wirkung that: da nahm der 57 Waghalsigste der Kreien sein Glas und ging in das andere Zimmer hinüber und setzte sich unter die Uhlen.

In diesem Jahre war Jochen Krey der erste. Er kam mit hochrotem Gesicht, sah sich herrisch im Kreise der Uhlen um und setzte sich stumm und steif dicht neben seinen Nachbar, den großen Klaus Uhl, und stellte sein Glas mit hartem Stoß auf den Tisch: »Will hier ein bißchen sitzen!« sagte er.

Die Uhlen lachten, und einige riefen: »Der erste Krey kam geflogen.« Da kamen die anderen allmählich nach; und nun saßen sie untereinander und durcheinander.

Einmal in jedem Jahre nämlich, in dieser Nacht, sitzen die Uhlen und Kreien bei einander, nennen sich gegenseitig »Du« und »mien lewe Nahwer« und haben sich lieb wie Brüder, singen gemeinschaftlich die alten Lieder, und einige umarmen sich. Das dauert so drei bis vier Stunden.

Aber dann macht ein Krey Lärm. Irgend ein Krey fängt an, seinem lieben Nachbarn »die Wahrheit zu sagen«, und bald sind alle Kreien dabei, mit raschem Mundwerk, mit scharfen Zungen, die Verhältnisse der Uhlen zu durchwühlen, wie der Ochse im Stall mit hin und her fahrendem Maul im vorgeworfenen Haferstroh wühlt. Alles, was sich im Laufe des Jahres an Groll und Galle gegen die Uhlen bei ihnen angesammelt hat – und das ist nicht wenig –, das packen sie aus. Sie sind bald grob, bald fein, bald allgemein, bald speziell. Sie halten jedem Uhl vor, was er im Laufe des Jahres verbrochen hat. Dem einen sagen sie, daß sein Weib ein Geizhals ist, die um einen Heidebesen und um eine Binsenmatte zwei Stunden handeln kann; dem anderen beweisen sie, daß er im ganzen Jahre keinen einzigen klugen Handel gemacht hat, weder auf seinem Hofe, noch auf dem Markte; den Dritten erinnern sie an alte, lächerliche Geschichten, daß ihm das Blut in die Wange 58 steigt. Zuletzt verkünden sie der ganzen Uhlensippe Tod und Untergang. »Keiner von euch kommt auf seinem Hofe zu Weges Ende. Ihr sauft und kauft euch von euren Hofstellen, so wahr wir Kreien sind.«

Da springen die Uhlen auf; auch die Kreien fliegen in die Höhe. Fritz Rapp hat die Gläser und Punschbowlen schon vorher in Sicherheit gebracht und schaut vom Hintergrunde her gemütvoll in das Getümmel.

Aber was hilft's? Am anderen Nachmittag heißt es für die Kreien: wo verkaufe ich Heidebesen, Leuwagen und Pferdestriegel? Und, der in der Festnacht so laut war, steht nun wieder mit besonders ernstem Gesicht auf den großen Dielen der Uhlenhäuser und bietet bescheiden seine Ware an. Und ob er auch wohl zuerst angebrummt wird, er kommt wieder. Und allmählich wird der Hader vergessen. Nur der eine und der andere meidet ein Jahr lang einen bestimmten Hof, weil der Besitzer gar zu hart auf den Tisch geschlagen und den Schwur gethan hat: »Kommt der Kerl mir auf die Hofstelle, so soll er mitsamt seinen Hunden in den Burggraben hinein.« 59

 


 


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