Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Elftes Kapitel

Im folgenden Frühling überlegte er sich mit der Bedächtigkeit eines älteren Mannes, daß es das Klügste wäre, wenn er sich jetzt freiwillig zu den Soldaten meldete; dann hatte er nachher freie Bahn.

Der General sah den großen, breitschultrigen Jungen, der nackend vor ihm stand, mit Wohlgefallen an und sagte in guter Laune: »Kürassier oder Kanonier?« Er besann sich kurz und sagte: »Kanonier.« Darob verwunderten sich die Herren der Kommission sehr. »Warum?« fragte der General. »Ich passe besser dazu.« »Warum?« fragte der Alte noch einmal. Er machte ein kluges Gesicht und sagte: »Ich denke mir, daß die Kanoniere einfacher sind und auch für das Land nötiger.« Der General nickte bedeutungsvoll und ließ ihn abtreten.

Der Kirchspielvogt Eisohn, derselbe, der mit den Bauern trank und spielte und dessen einziges Kind nachher betteln gehen mußte und in Elend starb, beugte seinen kurzen Hals zur Seite und sagte: »Aus dem angesehenen Geschlechte der Uhlen, Herr General! Ist aber aus der Art geschlagen; sitzt kein Schneid darin!« »In dem nicht?« 194 sagte der General, »in dem nicht? Für den übernehme ich jede Garantie. Ich kann die Menschengesichter taxieren, Herr Kirchspielvogt, und weiß, wie die einzelnen Leute sich im Frieden und in zwei Feldzügen bewährt haben.«

Also ging er im Herbst, gleich nach der Ernte, nach Rendsburg. Geert Dose, der Sohn von dem Dose, der früher auf dem Dingerdonn gewohnt hat, wurde zur selben Batterie gezogen und ging mit ihm.

Rendsburg war damals noch eine stille Stadt. Und wäre sie lebhaft gewesen wie Hamburg und die schönste Stadt im ganzen Lande: was ging diesen Bauernjungen diese Stadt an? Was ging ihn überhaupt die Welt an? Er hatte hier drei Jahre lang zu lernen, was gelehrt wurde, und zu gehorchen, was befohlen wurde. Ruhte aber die Arbeit, dann konnte er thun, was er wollte. Dann waren seine Gedanken auf den Feldern und in den Ställen der Uhl.

Es ging ihm gut; es konnte keinen besseren Friedenssoldaten geben. Er war abgehärtet, klug und gehorsam. Ein Unteroffizier, frisch von der Schule gekommen, der gern von den »vierkantigen Holsteinern« sprach, hatte Neigung, Jörn Uhl zum Schemel seiner jungen Herrlichkeit zu machen. Aber am vierten oder fünften Tage merkte Leutnant Hax, von den Leuten »der lange Johann« genannt, die Absicht und unterhielt sich kurz mit dem Unteroffizier: da war es aus.

Am anderen Tage, als der lange Johann durch den Stall kam und Jörn Uhl ihm mit Wassereimern begegnete, sagte er: »Uhl, woher haben Sie diesen langen, schweren Schritt? Hab' es bei so jungen Leuten all mein Lebtag nicht gesehen! Als wenn Sie Eisenschienen tragen!«

Die Wassereimer klirrten, Jörn Uhl stand wie ein Scheuerpfahl. »Ich habe von Kind an schwer gearbeitet.«

195 »Zweijährig in den Pflug gekommen?«

»Ja. Und es ist da schweres Land.«

»Ich bin aus der Gegend von Itzehoe,« sagte der Leutnant. »Kenne die Gegend, bin auch in Wentorf gewesen. Ich denke, der Vater hat einen großen Hof?«

»Zu Befehl. Aber ich habe arbeiten müssen-«

»Aha, der Alte nicht?«

»Zu Befehl, nein.«

»Die Brüder auch nicht? Was?«

»Nein.«

»Sie machen ein Gesicht, so . . . was soll ich sagen? . . . so sorgenvoll. Ist nicht recht von einem jungen Menschen.«

»Sie werden in diesem Herbst schlecht pflügen, Herr Leutnant.«

Leutnant Hax zog die Augenbrauen, sagte nichts und behandelte Jörn Uhl von Stund an mit Hochachtung, was sich besonders darin zeigte, daß er von ihm das meiste verlangte und ihm die schwersten Aufträge gab.

Die Kameraden mochten ihn zuerst nicht leiden. Nachdem sie bald erfahren hatten, daß er eines großen Marschbauern Sohn war, lag es nahe, daß sie seine ruhige Zurückhaltung für Stolz hielten. Und er war auch nicht frei von Bauernstolz. Dazu kam, daß in der ersten Zeit auf der Stube, zu der er gehörte, ein roher Ton herrschte. Es lag das an einem oder zwei windigen Gesellen, denen es gelungen war, den Eindruck weltgewandter Leute zu machen, indem sie mit vielen Erlebnissen und Erfahrungen prahlten. Es war Jörn Uhl, als einem Dorfkind und Landmannssohn, zwar vieles von dem, was die beiden Helden erzählten, nicht unbekannt; vieles hatte er grübelnd geahnt; auch wohnte eine starke Sinnlichkeit in ihm: aber 196 alle diese Dinge lagen in der geheimsten Tiefe der Seele verborgen und wurden ängstlich behütet. Es war ihm unerträglich und fast körperlich schmerzhaft, wenn die Prahler diese heiligen Geheimnisse der Natur unter Lachen ausbreiteten. Es kam dazu, daß ihm beim Anhören dieser Reden klarer und klarer wurde, wie sehr die Brüder im Hause in Leidenschaften und Roheiten rettungslos verstrickt waren.

Also, wenn solche Reden fielen, saß er mit einem Gesicht da, als hörte er seine Brüder reden, und verbarg Mißmut und Verachtung nicht. Darüber wurde er eines Abends von den beiden Helden zur Rede gestellt. Er hatte sich aber mit der Schlauheit eines Menschen, der sein Leben im Verkehr mit der Natur zugebracht hat, eines Helfers versichert, seines Schulkameraden Geert Dose, und als die Helden hofften, mit einem zu thun zu haben, und ihn meuchlings überfielen, da hatten sie zwei Gegner und bekamen eine starke Tracht Prügel. Von da an, obgleich der Ton derbe blieb, wurde er nicht wieder roh.

Die Kameraden mochten ihn zuerst nicht leiden. Den eifrigen Fleiß, mit dem er Tag für Tag den Dienst that, hielten sie zuerst für Strebertum, als wollte er sich bei den Vorgesetzten beliebt machen. Als sie aber bald dahinter kamen, daß sein Eifer nichts weiter als schlichte Treue war, und daß man sich auf ihn verlassen konnte, und daß er für sich nichts erstrebte, und als sie von Geert Dose gehört hatten, daß er eine harte Jugend hinter sich hatte, da achteten sie ihn, wie junge Schiffer den Genossen, der die weiteste Fahrt gemacht hat. Er bekam so etwas wie ein Schiedsrichteramt, und manchem Muttersohn ist er mit kurzem, trockenem Wort ein guter Helfer gewesen.

»Du, Uhl! Hast du schon gehört: Der Rückert ist durchgebrannt und abgefaßt.«

197 »Was will er durchbrennen? Wenn das Pferd vorm Pflug geht, soll es nicht ausschlagen. Was will er durchbrennen, so lange er Soldat ist? Ordnung muß sein.«

»Uhl, du bist ein vernünftiger Kerl; aber du bist zu vernünftig.«

Jörn Uhl sog an seiner kurzen Pfeife und sagte: »Ich weiß nicht, was das ist, daß ich nicht ordentlich lachen kann. Es ist, als wenn mein Gesicht gefroren ist: Ich kann es nicht in Gang bringen. Aber wenn ihr lacht: das mag ich mächtig gern haben. Erzählt 'mal 'was! Geert, erzähle du eine Geschichte von dem großen Sott.«

»Du, der Plank . . . weißt du? . . . der im dritten Jahre: der hat die kleine, hellhaarige Deern, die bei dem Doktor dient, denn nun richtig ins Unglück gebracht. Sie ist gestern weggejagt worden und ist in der Kantine gewesen und hat mit Plank sprechen wollen; aber der hat gethan, als wenn er krank wäre . . . Hörst du, Uhl?«

»Er ist ein Lump,« sagte Jörn Uhl. »Wenn er das kleine Mädchen zu tief in die Schwemme geritten hat, muß er sie auch wieder herausholen. Wir müssen ihm keine ruhige Stunde lassen, bis er Verlobung mit ihr gefeiert hat. Wir wollen ihm sagen, daß wir zusammenschatten und ein Faß Bier auflegen wollen. Wenn er das hört, merkt er, daß wir alle so über die Sache denken.«

Geert Dose war auf der Stube oft der Gegenstand der Neckereien, weil er in der Schule fast nichts gelernt hatte und aussehen konnte, als wenn er dütterig wäre. Aber seine Mutter war eine von den echtesten Kreien, eine Tochter von dem bekannten krummen Stoffer Krey, der aber von Haus aus nicht krumm gewesen war. Dieser Krey hatte in seiner Jugend stark geschmuggelt und hatte die Zollwächter am Strande oft dadurch irre geführt, daß 198 er sich verkleidete, als wäre er verwachsen. Zuletzt kam einer von diesen Wächtern draußen im Watt um: man sagte, Stoffer Krey habe ihn irre geführt und ins Wasser gestoßen. Von der Zeit an gab er das Schmuggeln auf und wurde ein stiller, nähriger Mann. Er bekam aber allmählich, obwohl von Haus aus steil und gerade wie ein Eschenstamm, die Haltung und den Gang eines Verwachsenen. So hat er lange Jahre neben seinem Hundefuhrwerk durch die Dörfer getrabt. Von diesem seinen Großvater hatte Geert Dose Mutterwitz.

Er hatte in der Marsch bei einem großen Bauern gedient, der sehr dumm, gröhlig und schläfrig war. Bei dem hatte sich der Schelm durch freundliche Gefälligkeit beliebt gemacht. Er hatte sich diese Zuneigung gefallen lassen, hatte gute Tage gehabt und hatte dem beschränkten Manne manchen lustigen Streich gespielt. Von diesen Streichen erzählte er, wenn er sehr darum gebeten wurde.

Er saß auf dem Rande seines Strohsacks, ließ seine Augen in die Runde gehen und erzählte.

»Ja, da war 'mal eine Geschichte mit einem Geestkerl . . . Wißt ihr, was ein Geestkerl ist? Geestkerl ist ein Mann, der so gegen den Winter sein hungriges Heidedorf verläßt, und in die Marsch hinuntergeht und da bei einem Bauern drischt und wieder nach Haus geht, wenn es Frühjahr wird. Mit diesen Geestkerls hatte der große Sott immer seine Not.

»Also da kam einer, der war ein kleiner, grauer Kerl, dunkel, trocken und eckig wie Backtorf, und hatte so verlorene, verbiesterte Augen und fuhr mit dem Kopf hin und her. Ich dachte gleich: na, das giebt wieder 'was. ›Wirt,‹ sagte ich, ›passen Sie bloß auf: mit dem kriegen wir wieder unser Herzeleid.‹

199 »Na, der Kerl geht denn ja auch zu Bett und steht am Morgen wieder auf. Als er nun bei der Sauerbuttermilch sitzt und bei dem Brei – es gab damals jeden Morgen und Abend Sauerbuttermilch, manchmal auch mittags –, kommt der Sott so von ungefähr herein und will ihn so'n bißchen untersuchen, so wie der Hund den Swienegel, so ganz vorsichtig, und ich sah an seinem großen Gesicht und an seinen aufgerissenen Augen, daß er auf alles gefaßt war. ›Ich wollte bloß wissen,‹ sagte er, ›wie du heißt und woher du bist.‹ Da sieht der Kerl sich um, als wenn sein Name irgendwo dicht bei ihm in der Luft auf und nieder fährt wie ein Brummer und ihn beißen will. ›Mein Name?‹ sagt er. ›Mein Name?‹ Und er fuhrwerkt wieder durch die Luft. Der Sott hatte sich über den Tisch gebeugt und sah aus, als wenn er mit seinem großen Munde Fliegen fangen wollte. Ich saß ganz still; aber ich legte ein altes Doppelschillingsstück, das aus der Mode war, vor mich auf den Tisch und dachte: das will ich Sonntag extra in den Klingelbeutel legen für den Spaß.

»Na, was zu thun? Der Geestkerl hat also seinen Namen vergessen.

»Er hätte ihn gestern noch gehabt, sagte er. Aber in dieser Nacht hätte er ihn vergessen oder verloren; das wäre ihm schon mehrfach passiert. Ich sagte, ob ich 'mal im Bettstroh nachsehen sollte, vielleicht läge er da noch. Aber ich hatte ja wohl gegrient; denn mit einem Male haut der Sott über den Tisch und reicht mir einen hinüber, daß ich Hören und Sehen vergesse und aufspringe und mich davon mache.

»Na, soweit war ja alles gut und schön. Der Geestkerl hatte also seinen Namen verloren und konnte ihn nicht wieder finden, obgleich wir ihm alle suchen halfen. Er sagte, es wäre ihm, als wenn sein Name ziemlich lang 200 wäre und irgend etwas mit Essen zu thun hätte. Mehr, sagte er, erinnerte er nicht. Wir machten ihm allerlei Vorschläge, aber er lehnte sie alle ab. Er sagte, es wäre ein ganz merkwürdiger Name. Der Sott kam auf den schlauen Gedanken, ihn nach dem Pastor zu schicken, der solle ihm 'mal aus dem Taufbuche ganz viele Namen vorlesen, und wenn er einen Namen hörte, der seinem eigenen ähnlich wäre, dann solle er mit dem Kopf nicken. Er hat aber nicht genickt: es fiel ihm gar nicht ein; er arbeitete nur immer mit den Augen, wie ein Mädchen, das Vierball spielt. Zuletzt sagte er, er glaube, daß sein Name ziemlich lang sei. Wenn er nur erst einen Teil davon wiedergefunden hätte, dann würde er den Rest vielleicht auch wiederfinden. ›Ja,‹ sagte Sott, ›wie das zu machen wäre?‹ ›Ja,‹ sagte der Geestkerl, ›das beste Mittel wäre wohl . . . wenn der Bauer das dafür thun wollte‹ . . . ›Natürlich!‹ sagt Sott und macht Augen wie'n Ochs, so neugierig war er . . . ›Ja,‹ sagt der Geestkerl, ›sein Name hätte ja irgend etwas mit Essen zu thun. Das beste Mittel wäre daher, wenn er eine Zeit lang das zu essen kriegte, wovon er nachts träumte. Das würde ja wahrscheinlich mit seinem Namen zusammenhängen. Wenn er dann seinen ganzen Namen ordentlich durchgeträumt und auch tüchtig durchgegessen hätte, dann würde er ihm wohl endlich wieder einfallen.‹

»Na, das geht los: kein Mensch kann's halten. Sechs Nächte lang träumte der Kerl immer von Schwarzsauer und kriegt es denn ja auch und ißt mächtig. Wir hatten damals gerade so schönes, frisches Schwarzsauer im Keller. Na . . . Danach sagt er: ›Ihm hätte von großen Haufen Butter geträumt.‹ Die Frau ärgert sich; aber der Sott sagt: ›Das hilft alles nicht. Wir müssen 'raus haben, wie der Kerl heißt.‹ Und der Kerl frißt sechs Tage lang zu 201 seinem Essen Butter hinein, all was das Zeug halten will. Na, nach so und so viel Tagen fängt er an und träumt von Milch. ›Was für Milch?‹ fragt Sott, und die Frau legt sich über den halben Tisch und glotzt ihn voll Erwartung an. ›Abgerahmte?‹ fragt Sott. ›Ne,‹ sagte er, ›es war ganz dicker Rahm darauf.‹ Also das geht los: Wir haben immer einen Topf voll süßer, schöner Milch bei Tisch stehen und thun uns alle was zu gute. Und der Kerl frißt sich so durch den Winter und gedeiht mächtig. Da, eines Tages, als es so allmählich anfängt, draußen grün zu werden, so Mitte März, läßt er sich eines Abends das Geld geben, das er verdient hat, und als er es bekommen hat, geht er in seine Kammer und holt sein Zeug, und gleich nachher kommt er draußen ans Fenster und sagt, er habe seinen Namen jetzt durchgegessen und wisse ihn jetzt. ›Was?‹ sagt Sott und springt steil auf. ›Ja,‹ sagt der Kerl: ›Was mein Name ist, ist mir nun bewußt. Johann Stoffer Suerbottermelk heiße ich.‹ ›Suerbottermelk?‹ schreit Sott. ›Warum hast du das denn nicht gleich geträumt? Was? Das wäre billiger gewesen.‹ ›Ja,‹ sagt der Kerl und lacht so recht vergnügt und spielt wieder mit Kopf und Augen Vierball, ›das geht mir immer so, ich träume immer nur die Teile.‹ Der Sott macht ein freundliches Gesicht, wie der Fuchs dem Hasen: ›Na,‹ sagt er, ›denn komm man herein: Denn kannst du nun ja acht Tage lang Sauerbuttermilch haben.‹ Da schüttelt sich der Kerl, als wenn ihm zwanzig kalte Aale den Rücken hinunterlaufen: ›Das war's gerade, Meister!‹ sagte er. ›Die Meisterin hat mir zuerst immer Sauerbuttermilch vorgestellt, und die mag ich den ganzen Tag nicht.‹ Und damit geht der Kerl davon und läßt sich nicht wieder sehen . . . Ich hatte natürlich wieder die Last zu tragen, denn als ich nachher im Dunklen nach meiner Kammer 202 gehe, steht der große Sott da im Gange, wo es dunkel ist, und wartet auf mich und sagt, ich hätte die Geschichte zusammen mit dem Winterkerl ausgeheckt, und haut mich da in aller Stille durch.«

»Das hast du auch gethan,« sagte Jörg Uhl und lachte. Und die anderen sagten auch: »Die Prügel hast du redlich verdient, Geert . . . Diese Geschichte war übrigens nicht so windbeutelig, als gewöhnlich. Also erzähl' noch eine.«

»Ja,« . . . sagte Geert Dose . . . »Wenn ihr immer sagt, daß ich lüge . . .«

»Geert, erzähle! Wenn du nicht sofort anfängst, gehn wir dir an den Kragen. Hast du heute nicht gelogen, so hast du es sonst schon oft gethan. Los! Angefangen! Oder es giebt 'was.«

Geert Dose sieht Jörn Uhl mit Augen an, in denen steht: »Jörn, wir beide, wir sind die einzigen Verständigen unter diesen Kindern.« Aber da sie schon aufstehen und die Fäuste gegen ihn erheben, fängt er mit bedrückter Stimme wieder an.

»Ja . . . Ihr sprecht davon, daß der Gefreite Kiekbusch so mächtig essen kann, aber da hatten wir bei dem großen Sott wieder 'mal so'n Winterkerl, der hat vom November bis März bei uns gedroschen. Der aß erst mit uns anderen am selben Tisch. Aber wir sahen bald: Das hatte gar keinen Zweck. Er hatte alles gleich weg. Wenn wir ordentlich einhauen wollten, war die Speckschüssel schon leer. Da sagte Sott, sie sollten für ihn in dem großen Braukessel kochen, satt sollte der Kerl werden und wenn's ihm den ganzen Hof kosten sollte. Na . . . Nun wurde denn im Braukessel gekocht, und er wurde denn auch wirklich satt. Aber es dauerte lange Zeit; es dauerte zwei Stunden, ehe er den Kessel leer hatte. Also . . . was 203 zu thun? Der Sott geht nach der Scheune und sagt: ›Du, Geestkerl, sag' uns 'mal frei von der Leber: wie hast du das im Hause gemacht, daß du satt geworden bist und hast noch ein bißchen Zeit übrig gehabt, zu arbeiten. Wir wollen gern alles thun, was möglich ist.‹ Der Geestkerl sperrt's Maul auf und sagt: So hätten sie das gemacht. Seine Frau hätte einen Besenstiel quer über den Kälbertrog genagelt, und dann hätte er sich an die Küchenthür gestellt und dann hätte sie ihn gefüttert. ›Mensch!‹ sagt Sott, ›bist wohl nicht klug? So habt ihr das gemacht? Na, denn machen wir das auch so. Genau so machen wir das!‹

»Und wahrhaftig, das geht so los. Sott sagt zu mir: ›Geert, du mußt das thun, du hast den Kopf offen und kriegst den Schwung wohl raus.‹ ›Natürlich!‹ sagte ich. ›Ich bin nicht auf den Kopf gefallen; ich will es schon fertig bringen.‹ Na, so machen wir es denn; und wir kriegen den Kerl ja richtig durch den Winter.

»Als es gegen das Frühjahr geht, kommt seine Frau, um ihn abzuholen und sagt, ihr Mann wäre noch niemals bei so netten Leuten gewesen. Er hätte ja ordentlich Speck angesetzt. Sie befühlt ihn überall und nickt immer mit dem Kopf und lobt den Sott. Der hört das gern. Im Sommer, sagt sie, brauche er nicht viel.

»›Was?‹ schrie Sott. ›Was sagst du? Im Sommer braucht er nicht viel? Dann zehrt er wohl von den Rippen?‹

»›Nein,‹ sagt die Frau, ›so wär's nicht. Sondern . . . Menschenkinder! . . . Denkt euch bloß! . . . Er wäre so 'was wie'n Wiederkäuer, sagt sie.‹«

»Dose, du lügst!« schrieen die anderen. »Er macht es zu schlimm! Haut ihn!«

Aber Jörn Uhl lachte und wehrte mit der Hand. »Laßt 204 ihn in Ruh. Es ist alles wahr, was er erzählt, und wenn es nicht wahr ist: warum hört ihr denn zu?«

Geert Dose saß ganz still, als ginge es ihn nichts an, und als wäre er ganz unschuldig. Er sah sie alle vorwurfsvoll an und sagte: »Hört ihr? Was Jörn Uhl sagt: das ist immer wahr.«

»Na, denn erzähle man weiter! Wenn du es aber zu schlimm machst, kriegst du doch deine Haue. Du kannst dich doch zusammen nehmen, Mensch? Mußt du denn gerade lügen, daß man's auf zehn Schritt riechen kann? Nu man los!«

»Ja, man los! sagt ihr. Ihr meint, ich greife es bei den Beinen auf, nicht? Einmal, weiß ich noch . . . aber wenn ihr immer sagt, ich bin ein Windbeutel . . .«

»Na . . . nun man zu!«

»Ja . . . wenn so die Zeit kommt, wo der Winter zu Ende gehen will, dann ist es manchmal 'ne böse Sache mit den Bauern. Denn werden sie alle mehr oder weniger wunderlich, namentlich die Grasbauern. Einige bekommen Hitze, andere frieren. Einige bekommen ihren Anfall schon im März, andere so um die Zeit, wenn das Vieh heraus soll, so Anfang Mai. Es giebt sogar einige, die gehen um die Zeit, wo sie ihren Törrn bekommen, von selbst auf vier Wochen nach Schleswig. Die Doktoren da sind ordentlich darauf eingerichtet. Na, in der Zeit bekam der große Sott immer so 'was Verfrorenes, so 'was Glasiges. Es war so wenig Leben in ihm, wie in einem toten Maulwurf. Na, das ist ja denn gut.

»Einmal, so im März, war so'n naßkaltes, eisiges Wetter, daß der ganze Hof in Nebel und Wasser lag. und die Eiszapfen wie Forkenstiele vom Dach herunterhingen. Da hatte die Frau wieder 'mal ihre liebe Not mit ihm. 205 Er stand in der Küche und quäste ihr 'was vor. Dann wurde er immer langsamer mit seinen Worten, und zuletzt fiel er um und lag in der Torfkiste. Und weil er da im Wege war, schalten die Deerns und gaben ihm dann und wann einen mit dem Holzpantoffel. Endlich trieben sie ihn auf, und da ging er hinaus; und sie freuten sich, daß sie ihn los waren. Aber er kam gar nicht wieder herein, auch nicht, als es dunkel wurde. Wir suchten ihn überall; aber wir konnten ihn nicht finden. Da sagte die Frau: ›Nun bin ich bloß neugierig, was wir nun wohl mit ihm erleben werden.‹ Ich war aber ganz ruhig und dachte: ›Er hat sich gewiß irgendwo in den Scheunen ins Heu geworfen und schläft da weiter.‹

»Na, am anderen Morgen, als wir alle um die Breischüssel sitzen, da sagt das Kleinmädchen: ›Ich habe den Bauern gestern abend noch gesehen. Er stand unter der Wand unter den Eiszapfen und war ganz blank und glitschig.‹ Na, ich sehe hinaus und sehe durchs Fenster, daß die langen, dicken Eiszapfen vom Dach herunter hängen. Da denke ich mir ja gleich mein Teil. Ich sage: ›Frau‹ – damit meinte ich Sotts Frau – ›und Kinder‹ – damit meinte ich die anderen: ›Ich kann mir jetzt denken, wo der Bauer ist. Kommt 'mal mit.‹

»Wir gehen alle hinaus. Und richtig. Da hat er sich hinten am Scheunendach unter die Lecke gestellt und hat nach seinen Weiden ausgeguckt, ob sie schon grün würden, und ist im Stehen eingeschlafen und, kalt und glasig, wie er schon war, hat er nicht gemerkt, daß das Wasser so an ihm herunterläuft und so unterwegs zu Eis wird. So war er denn so allmählich ganz überglast. Es war alles unter Eis. Alles, sage ich euch: hinten und vorn, Gesicht und alles. Und auf dem Kopf hatte er bis 206 zum Dach hinauf so etwas wie eine gläserne Zipfelmütze, die steil aufstand.

»Na . . . wir brechen ihn ja nun oben und unten ab und tragen ihn mit vier Mann in die Küche. Es kostete uns Mühe, eine Klaue an ihm fest zu kriegen, so glatt war er. Die Frau schalt schon mit ihm. Er machte aber nichts weiter, als daß er durchs Eis hindurch mit dem linken Auge nach mir zwinkerte, was er immer that, wenn sie schalt und ich dabei war. Der Junge sagte: ›Wir sollen ihn so lassen und mit ihm zum Meldorfer Markt gehen und ihn für Geld sehen lassen,‹ kriegte aber einen an die Ohren.

»Na . . . was zu thun? Um es kurz zu erzählen: Wir stellen ihn erst in die Ecke und essen ganz gemütlich, wobei er mächtig hungrige Augen machte und mit der Zunge immer an dem Eise leckte, und die Frau ihn dann und wann anschrie. Dann stellen wir den ganzen Eiskerl, so wie er ist, in den Bohnengrapen, erst mit dem Oberteil – denn die Frau wollte durchaus an ihn 'ran –, dann so weiter, und wir kriegen ihn richtig mit einem guten halben Fuder schwarzen Torf wieder glitschrig und dann mit Soda und Natron wieder mürbe.«

Nun fuhren die anderen über Geert Dose her, und Jörn Uhl konnte ihn nicht retten. Er wehrte aber ab, daß es nicht allzu schlimm wurde.

Dann wurde es still; Dose war ins Schlafen gekommen, Jörn Uhl ins Grübeln. Die anderen redeten leise von der Tagesarbeit, die hinter ihnen lag.

Im letzten Jahre, als der Dienst wie von selbst ging, verbrachte Jörn Uhl seine freie Zeit viel in der Wohnung eines kleinen Stadtbeamten, der gut zehn Jahre älter war als er. Er stammte samt seiner Frau aus der Wentorfer Gegend, hatte als Knabe Thieß Thiessen auf dem 207 Heeshof besucht und hatte Fiete Krey gekannt. Er war ein adretter Mann, sein Haar war immer glatt und seine Hemdsärmel waren blendend weiß. Er war fleißig, tüchtig, nüchtern und sparsam und hatte vielleicht noch einige gute Eigenschaften mehr. Er tadelte Thieß Thiessens Wirtschaft und die des Magistrats der Stadt, der ihn angestellt hatte. Er tadelte, daß Fiete Krey, als er ihn zum letztenmal gesehen hatte, splettbeinig auf seinem Hundefuhrwerk gesessen hatte, er tadelte, was die Regierung unternahm und der König gesagt hatte. Er tadelte alles. Er lobte nur sich selbst und zuweilen seine Frau, die selten und schüchtern hinter ihm herredete. Wenn er diese aber lobte, setzte er immer hinzu: »Ich habe sie darauf aufmerksam gemacht. Nun macht sie es so.«

Wenn die Krankheit, an welcher der saubere Mann litt, ihrer Natur nach ansteckend wäre, so wäre es ein gefährlicher Umgang für Jörn Uhl gewesen, zumal er noch jung war. Aber diese Krankheit ist nicht ansteckend; sie entsteht in der Natur eines einzelnen Menschen, tobt sich in ihm aus und geht mit ihm zu Grunde. Danach steht sie an irgend einem anderen Ort in irgend einem anderen Menschen wieder auf. Die Umgebung des Kranken hört sein Prahlen geduldig an und verspottet ihn, wenn er den Rücken zeigt. Wenn einmal einer von seinen Bekannten am Wirtstisch, durch eine günstige Gelegenheit verführt, zu prahlen anhebt, fällt ihm mit einem Male seines Nachbarn Krankheit ein. Da schließt er schnell den Mund und entgeht der Narrheit.

Jörn Uhl war zwanzig Jahre alt. Er durchschaute nicht die furchtbare innere Leere und Narrheit seines Gastgebers. Obgleich er das ewige Selbstloben etwas aufdringlich und taktlos fand, ließ er es über sich ergehen, indem er dachte: »Es hat ein jeder seine Art.« Er sagte 208 also nicht viel dazu, kam überhaupt sehr selten zu Wort. Er saß still in dem weichen, warmen Sofa, rauchte ein wenig, hörte ein wenig zu, fühlte sich ein wenig geehrt, daß der gewichtige, schmucke Mann so viele Worte und Lebensweisheit an ihn verwandte; kurz: es war ihm in der geleckten, sauberen, kleinen Häuslichkeit und in dem friedlichen, kinderlosen Familienheim sehr behaglich.

An einem Sonntagnachmittag aber, als Jörn Uhl wiederkam, lag der schmucke Mann längelang auf dem Sofa und hatte Zahnschmerzen und konnte nicht reden und bat den jungen Hausfreund, ihn ein wenig zu unterhalten. So kam Jörn Uhl zum erstenmal in dieser Stube zu Wort. Er redete – wovon sollte er sonst reden? – von der Uhl und von seiner Mühe und Arbeit: wie er diesen Acker durch weise Kultur in die Höhe gebracht hatte, und wie er jenes Stück Vieh gut verkauft hatte. Er wurde warm und redete zwei Stunden lang über das Thema: Jörn Uhls Leben, Thaten und Meinungen. Der Hausherr hatte Zahnschmerzen, schwieg und hörte zu. Die Frau ging mit ängstlichem Gesicht hin und her und schien sehr besorgt um ihren Kranken.

Als Jörn Uhl am anderen Tage schon wiederkam, um zu hören, wie es mit dem Kranken stände – es hatte ihm auch ein wenig gefallen, von sich selbst zu sprechen –, zog ihn die Frau geheimnisvoll in die Küche und eröffnete ihm unter Thränen, daß ihr Mann gestern, nachdem Jörn Uhl fortgegangen wäre, schrecklich böse gewesen wäre und sie geschlagen hätte. Er könne es ganz und gar nicht ertragen, wenn ein Mensch von sich selber spräche. Er wolle von einem weiteren Verkehr mit Jörn Uhl von Wentorf nichts wissen.

Jörn Uhl hat öfter in seinem Leben ein erstauntes und dummes Gesicht gemacht, was er leicht dadurch erreichte, daß er sein langes Gesicht noch ein wenig länger machte. 209 Niemals jedoch ist es länger gewesen, als da er diese blankpolierte Thür hinter sich schloß und die frisch geölte Treppe hinunterging, um sie nie wieder hinauf zu gehen. Er hat dies Erlebnis zu den anderen gelegt und still verschwiegen. Erst viel später, zwanzig Jahre später, war er so geläutert, war er der Wahrheit so nahe gekommen, war seine Selbsterkenntnis so echt geworden, daß er seiner Frau die Geschichte lachend erzählte. Sie aber hat damals noch eine Waffe daraus machen können und hat sie gelegentlich gegen ihn gebraucht. »Wie war doch die Geschichte, Jörn? Ihr war't beide blank und poliert, nicht? Jörn, du wirst rot. Und das ist sehr am Platze, Jörn Uhl.«

Einmal nur ließ er sich von seinen Stubengenossen bereden, mit ihnen zu einer Tanzgelegenheit zu gehen. Er sah zu, wie sie sich tapfer drehten und freute sich an einigen Mädchen, die ihre Sache gut machten. Eine, die groß und geschmeidig und doch stark war, gefiel ihm besonders, und er verfolgte sie mit den Augen. Sie merkte das bald, nahm eine Freundin am Arm und ging an ihm vorüber und sah ihn an. Als er sich aber nicht anschickte, mit ihr zu tanzen, ließ sie den langen, steifen Menschen stehen, wo er stand, und ging zu anderen. Er verließ den Saal und ging auf die Stube zurück, stopfte sich die Pfeife und saß als ein Gerechter am Fenster, und dachte an den Tag der Heimkehr und wie es wohl auf der Uhl aussehen würde, und malte sich aus, wie er alles wieder in Ordnung bringen wollte, und wunderte sich über seine Kameraden, daß sie so gar keine bestimmte Sorge und kein gewisses Ziel hatten. Und wenn sie zu ihm sagten: »Es ist nicht recht von dir, daß du hier so mutterseelenallein sitzest, du bist doch ebenso jung wie wir: dann konnte er nicht unterlassen, ein wenig geheimnisvoll zu thun und anzudeuten, daß er viele Sorge hätte.

210 Es war ja alles ganz gut und ganz recht, daß der Gefreite Jürgen Uhl bei seinen jungen Jahren nicht in der Herde lief, sondern gedankenvoll wohlerwogene Wege selbständig ging. Aber daß er seine Jugend für tot hielt und zur Feier ihres Begräbnisses dies lange, gerechte Gesicht machte und Augen dazu, als wenn alle vorsichtige Überlegung aller vorsichtigen Menschen in ihm lag: Das war seine Lächerlichkeit. Die Jugend wird sich an dir rächen, Jörn Uhl! Auf, junges Blut! Daß Jörn Uhl kein Narr wird! Es ist besser, ein Sünder zu sein als so ein Gerechter. 211

 


 


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