Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Achtzehntes Kapitel

Es ist auf keinem Hofe in der Marsch so gearbeitet worden, wie in diesem Sommer und Herbst auf der Uhl. Wenn der Nachtwächter morgens um vier seine letzte Runde machte und am sogenannten Westereck stehen blieb und pflichtgemäß nach der Uhl hin dreimal ins Kuhhorn blies, dann sah er die langen Ställe schon erleuchtet und sah auf dem Herde die Flammen lodern.

Es war ein scharfes Regiment. Der junge Bauer hatte nur in jener Nacht gebetet; jetzt war er beim Arbeiten. Seine Nase trat bedeutend hervor, und seine Augen flogen mit scharfen Blicken aus ihren Tiefen. Er wurde etwas länger und hagerer und sein Wesen herrisch. Der Name ›Landvogt‹, der sieben Jahre lang vergessen gewesen, kam wieder auf.

Das ging nicht ab ohne Anstoß und bittere Worte.

Jochen Ebel, in der Gegend als »Hm«-Ebel bekannt, der dreißig Jahre lang in den Wassergräben der Uhl gestanden hatte, kam abends mißmutig in die Leutestube, wo Jörn Uhl einen Knecht ablohnte, der nicht gehorchen wollte, und sagte: »Das ist nicht mehr menschlich, nicht mehr 321 menschlich, was der Bauer verlangt. Ich habe allerlei erlebt; ich bin Anno fünfzig in Rendsburg mit dem Arsenal in die Luft geflogen und bin glücklich wieder heruntergekommen, hm ja, das bin ich.«

»Was ist denn?« fragte Jörn Uhl und that, als wenn er staunte. Er fürchtete aber schon lange, daß es so kommen würde.

»Wenn der Bauer . . . wenn der Bauer in drei Tagen reich werden will, kann er ja! kann er ja! Ich aber lasse mir die Haut darum nicht abziehen.«

Er wischte an der Schneide seines Spatens, ging fort und kam am anderen Tage nicht wieder. Statt dessen kam seine zehnjährige Tochter. Sie meinte, sie müßte in der großen, stattlichen Vordiele, in der ein feierliches Halbdunkel lag und jeder Ton sich großprahlerisch dehnte, hochdeutsch reden und bestellte: »Ich soll von meinem Vater grüßen; er ist flöten gegangen und kommt nicht wieder. Er ist mit Krischan Lühr seine Ochsen zusammen nach Husum.« Damit drückte sie sich aus der Thür. Es war ein großer Augenblick im Leben des Tagelöhnerkindes, daß es auf dieser großen Diele mit den weißen und schwarzen Marmorfliesen und den hohen, geschnitzten Schränken so große Worte sagen durfte. Sie hörte noch jahrelang den Ton ihrer Stimme, den die Wände so großartig zurückgaben. Jetzt ist sie die glückliche Frau eines gutmütigen Mannes und könnte gern ein lautes Wort wagen. Aber sie ist fast leise mit ihrer Stimme, als fürchtete sie noch immer den Widerhall, den sie auf der Diele der Uhl hörte, und der sie so erschreckte. Als ihr Mann sie aber einmal fragte, woher ihr stilles Wesen käme und ihr leises Reden, ob das noch von der Diele der Uhl herkäme, besann sie sich eine Weile und sagte: »Nein. Das kommt davon, daß ich später, als Vater zwei Jahre lang krank war, zwei Winter hindurch habe betteln 322 gehen müssen. Da habe ich auf den Bauerndielen ganz leise meine Bitte hergesagt!« Als sie das gesagt hatte, warf sie sich in ihres Mannes Arme und lachte.

Die beiden Knechte konnten es nicht lassen, dem starken Antreiben des Bauern ein ebenso starkes Beharrungsvermögen entgegen zu setzen, und es gab bittere Worte.

»Wenn ihr bis Mittag glücklich einmal herumgepflügt habt, dann meint ihr, ihr habt euer Mittagessen verdient.«

Da antwortete der Großknecht: »Und wenn es nach Ihnen ginge, hätten wir uns kurz vor Mittag totgearbeitet und brauchten überhaupt kein Essen.«

Da konnte der Junge, der auf dem Handpferd saß, das Lachen nicht lassen. Aber der lange Bauer that zwei große, ruhige Schritte und langte nach ihm hinauf, daß sein Ohr den ganzen Tag rot war. Aber als der Landvogt weg war, lachte er doch wieder, die Schelmenaugen voll Thränen.

In der Küche wollte es auch nicht gehen. Wieten mußte fast den ganzen Tag neben dem Bette des Kranken sein, der sonst unruhig wurde und wie ein Kind schrie. Da wollten die in der Küche Lena Tarn nicht gehorchen. Da besprach er die Sache mit Wieten und wurde mit ihr einig, daß sie ganz und gar, Tag und Nacht, für den Vater da sein, dabei nähen, stricken und flicken sollte; Lena Tarn aber sollte in Küche und Kuhwirtschaft Herrin sein, doch so, daß sie in wichtigen Fällen zu Wieten in die Stube käme und Rat holte.

»Mach' das so, Jörn!« sagte Wieten. »Mir ist es lieb, wenn ich die Last los bin; ich bin nun sechzig.«

Also ging Jörn Uhl mit strengem, hochmütigem Gesicht in die Küche, mit vorgeschobener Unterlippe, und setzte den versammelten Schürzen in kurzer Rede die Lage der Dinge auseinander. Lena Tarn, die mit aufgekrempelten, weißen 323 Armen am Aufwasch stand, nickte kurz zustimmend mit dem rotblonden Kopf, ohne von der Arbeit aufzuhalten oder sich gar nach dem bedächtigen Redner umzusehen. Das zweite Mädchen aber flog wie ein Pfeil aus der Küche, ballerte die Thür hinter sich zu und verließ am selben Nachmittag den Hof.

So kam der Winter. Jörn Uhl ging langbeinig und schwerfüßig über seine Felder und durchdachte einen Plan, einen Teil des Hofes zu trainieren und diese Arbeit selbst auszuführen und damit jährlich viel Tagelohn zu sparen. Er maß wie ein vereidigter Feldmesser Längen und Neigungswinkel und saß in seiner Kammer und zeichnete eine Karte des ganzen Hofes, der jetzt ihm gehörte.

Es kam das Frühjahr. Der Maitag brachte neue Leute auf den Hof, die weder die Standeserhöhung des Bauern, noch das Emporsteigen Lena Tarns erlebt hatten. Von da an ging es besser: des Bauern Stimme schalte sicherer und voller über die Hofstelle. Und er konnte zu Wieten Penn gehen, die am Fenster saß und über die Brille weg auf den Hof sah, und konnte zu ihr sagen: »Es geht gut mit der Lena. Es ist Zug in der Sache. Du kannst ganz ruhig sein.«

Dann kam der Morgen des zehnten Mai. Die Sonne stand weißstrahlend am blauen, tiefen Himmel. Ihr Schein vermischte sich mit der aufsteigenden Feuchtigkeit der Erde zu leichtem, lichtdurchglänztem Nebel. In der Ferne an den Meerdeichen stand der Nebel als bläulich weißer Dunst. Der alte Dreier, den Handstock bei jedem Schritt fest und vorsichtig auf die Erde stoßend, schlich am Hof vorüber. »Jörn,« sagte er, »einundzwanzigmal habe ich am zehnten Mai das Vieh auf die Weide gebracht.«

Da wartete Jörn, bis der Alte in der Ferne 324 verschwunden war, dann rief er in die Diele, daß es schallte: »Wir wollen ausjagen! Und die Frauensleute sollen helfen.«

Darauf wurden zuerst vierzig Ochsen, zwei- und dreijährige, starke Tiere, einer nach dem anderen, an die Thür geführt und losgelassen. Sie nahmen die Hofstelle im Sturm und füllten sie, wie Kinder den Schulplatz, mit Laufen und lautem Rufen. Aber mit fünf Mann wurden sie ihrer Herr. Allzugewaltig schallte Jörn Uhls Stimme und allzulang und sicher reichte der Hieb seiner großen Peitsche. Er stand oben auf der Höhe, vor dem großen Scheunenthor, und zeigte die Richtung. Als sie endlich aus der Hofstelle heraus und auf den Deichweg gebracht waren, zogen die beiden Tagelöhner mit ihnen ab. Man atmete auf.

Mit zehn Pferden, die danach ausgelassen wurden, zog der Großknecht und der kleinste der Jungen davon; zwei Fohlen trabten zierlich hinterdrein. Aber die Allerletzte des ganzen Zuges war die alte Stute, die vor zwanzig Jahren als nachträgliches Erbstück der Mutter vom Heeshof herübergekommen war; denn eine Stute war der Heesetochter zugesprochen worden, dazu ihre Nachkommen bis ins vierte Glied. Sie bekam auf dem Hofe das Gnadenbrot.

Darauf kamen die Kühe, acht an der Zahl, große, rotbunte Marschkühe. Gleich hinter dem Hause auf der Urweide, auf der niemals ein Pflugeisen geblinkt hatte, hatten sie ihre Nahrung, damit sie den melkenden Frauen näher zur Hand wären. Die Frauen führten sie. Als der Junge eine davon anfassen wollte und seine Sache geschickt genug machte, fand er doch keine Gnade; der Strick wurde ihm aus der Hand gerissen, und er bekam das Zeugnis, daß er ein Taps wäre. So zogen die Frauen, Lena Tarn in stattlicher Größe voran, die Wurt hinunter. Wenn die Sonne 325 einen Weg durch die Pappelzweige fand, war ihr Haar so voll Feuer wie das glänzende Haar der Rotbunten.

Aber da gab es eine Unterbrechung. Der große, dreijährige Stier hatte sich losgemacht, da es ihm in dem leerwerdenden Stall zu langweilig wurde. Er stand plötzlich in der Stallthür und kam gemächlich auf die Frauen und die Kühe zu. Da war es gut, daß Lena Tarn, die immer an alles dachte, den dreibeinigen Milchbock von festem Holz in der Hand hatte, um ihn am Heck der Weide niederzulegen. Sie stellte sich ihm mit funkelnden Augen entgegen und sagte: »Steh, du Lump;« denn sie war nicht seine Freundin. Und sie schwang das hölzerne Dreibein. Aber der Rote kam ruhig näher, nichts als Sicherheit, Kraft und Trotz. Da warf sie einen raschen, zornsprühenden Blick auf die Mannschaften, die mit ihren Peitschen oben am Scheunenthor standen: »Was steht ihr da, ihr Tapse?« hob den Schemel und schmetterte ihn dem Roten vor den Schädel. Das erschreckte ihn so, daß er sich abseits begab, wo er in die Hände der Männer fiel. Lena Tarn aber hatte den ganzen Nachmittag eine auf- und absteigende Röte in den Wangen, weil der Bauer sie mit Augen wie ein junger, übermütiger Mann angesehen hatte. Das machte ihr heimlich Freude und Sorge.

Zuletzt kamen die Kälber, mehr als zwanzig. Sie benahmen sich schlimmer als Schulkinder; und das will 'was sagen. Sechs, die im Stall geboren waren und nicht wußten, was Wasser, Luft oder Erde war, versuchten zuerst zu fliegen, indem sie sehr hohe Sprünge machten, mit allen Vieren hoch, und standen starr und steifbeinig vor Erstaunen, daß sie wieder auf die Erde kamen. Sie konnten sich von ihrem Erstaunen nicht erholen und waren nicht von der Stelle zu bringen. Danach entdeckten zwei von 326 ihnen den Burggraben und sprangen mit mächtigem Satz hinein. Der Junge, der sie am Strick hatte, bekam nicht genug Zeit, zu überlegen, ob er gemeinschaftlich alles mit ihnen erleben oder ob er seine Sache von der ihren trennen sollte: er machte den letzten Sprung mit. Nun standen die drei bis an den Hals im dunklen Wasser, alle drei starr vor Erstaunen, und rührten sich nicht.

Da wurde der Bauer böse. Er schalt ›den Lümmel von Jungen‹, der von ›Tuten und Blasen nichts wüßte‹, stellte die Peitsche an die Wand und kam in langen Schritten von seiner Höhe herunter und mischte sich unter die Menschen und Tiere. Es war auch Zeit, daß dem Hallo ein Ende gemacht wurde; denn die Mädchen an der Stallthür schrieen und lachten, und Lena Tarn stand mit spöttischem Gesicht und zusammengekniffenen Augen am Heckthor. Also faßte er auf halber Höhe den größten Übelthäter, der gerade seinen Verwunderungsaugenblick hatte und dumm um sich glotzte, am Strick, und wollte mit ihm abgehen. Der aber bekam gerade in diesem Augenblick einen Gedanken, einen Einfall oder so etwas und sauste mit dem langbeinigen Jörn Uhl die schräge Hauswurt hinunter. Die Mütze flog, die Erde bebte, die Küche kreischte: ein kühner Sprung, Wasser spritzte hoch auf. Nun standen da fünf im Wasser und hatten alle fünf ihren Verwunderungsaugenblick.

Endlich kam doch alles in Ordnung. »Weil wir zuletzt Hand anlegten,« sagten die Mädchen. Es wurde still auf dem Hofe.

Lena Tarn ging wieder in die Küche und sah immer das Gesicht, das Jörn Uhl gemacht hatte, als sie gegen den Stier anging. Sie war sonst immer in der besten Laune; aber wenn sie, wie in den letzten Tagen, körperlich nicht ganz wohl war, hatte sie Neigung zum Zorn. Also machte 327 sie ein finsteres Gesicht, so gut und so lange sie es konnte. Bald aber, wie sie noch so da stand und arbeitend hin und her ging und fühlte, daß neue, frische Gesundheit ihr durch die Glieder strömte, änderte sich ihr Gesicht. Sie ging eilig in ihre Kammer, schloß sie ab und kam dann wieder. Und nun waren ihre Augen schon strahlend, sie plierte ein wenig gegen die Sonne, warf die Lippen auf, lächelte gedankenvoll bei sich selbst, und dann, der Wasserfahrt des Bauern gedenkend, lachte sie hell auf, und hub an zu singen.

Jörn Uhl kam an diesem Tage auch nicht zur Ruhe. Die scharfe Fahrt ins Wasser hinein hatte sein Blut in Wallung gebracht; die Frühlingssonne that das Ihre. Es wehte einen wie junge Lebenskraft an und zwang, hoch auf zu atmen, und in die bunte Welt zu sehen, und den Kopf in den Nacken zu legen und die Lerche zu suchen, die oben am Himmel stand und sich vor Freude nicht lassen konnte.

Es kam etwas Feiertägiges über ihn, und er kam auf den Gedanken, ins Dorf zu gehen und heute die Steuern zu zahlen, die fällig waren. Er zog also den Sonntagsrock an und ging langsam den Feldweg entlang, besah den jungen Weizen, der schon einen kräftigen Schuß gethan hatte, und dachte indes auch an Lena Tarn. »Ihr Haar ist ihr auf den Kopf gestülpt wie ein Helm von rotem Messing, der in den Nacken gerutscht ist. Ganz wie der Helm dem französischen Kürassier im Nacken saß, der am Abend von Gravelotte mit der Strohbinde um den Schenkel auf dem Baumstumpf saß . . . Wenn sie ›schafft‹, wie sie sagt, sind ihre Augen streng und eifrig auf die Arbeit gerichtet. Wenn sie aber angeredet wird und mit jemandem spricht, lacht sie gleich. Die Arbeit scheint ihr das einzige Gebiet, wo ruhiger Ernst am Platze ist. ›Das 328 muß sein‹, sagte sie. Aber gegenüber allen anderen Dingen ist sie zorniger oder guter Laune, meist guter. Bloß gegen mich ist sie immer kurz und manchmal grollig. Daß ich das Pech hatte und mit dem unklugen Biest zu Wasser mußte, das hat ihr mächtig Spaß gemacht. Wenn sie bloß dürfte, so würde sie mir das dreimal täglich aufs Butterbrot schmieren und sagen: ›Da hast du's.‹«

Als er noch so ging, begegnete er dem alten Dreier, der nie auf der breiten Dorfstraße ging, sondern, da er mit ganzer Seele an der Landwirtschaft hing, bis an seine letzten Lebenstage die stillen, grünen Graswege beging, an deren beiden Seiten das Ackerland ihm nahe und seine Frucht seinen alten Augen sichtbar war. Die frische Jugend mäßigte ihren Schritt und ging neben dem bedächtigen Alter und hörte, wie schon so oft, gute Ratschläge, die mit Geschichten aus der Väterzeit und mit eigenen Erfahrungen erhärtet wurden.

»Vor allem, Jörn! Wie alt bist du? Vierundzwanzig? Ja nicht heiraten, Jörn! Auf keinen Fall! Das wäre jetzt das Dümmste, was du thun könntest! Jedes Lebensalter hat seine separate Dummheit, Jörn; die deine wäre heiraten. Ich habe bis in die Dreißig gewartet und dann vorsichtig gewählt. Sie brachte sechstausend Mark mit, Jörn; das war für die damalige Zeit viel. Unter fünfzigtausend darfst du es nicht thun! Laß dir Zeit, sage ich dir.«

»Das ist selbstverständlich,« sagte Jörn, »daß ich wenigstens noch zehn Jahre warte. Wieten ist noch gesund und munter und kann noch lange nach dem Rechten sehen.«

An der Wegbiegung nahm er von dem Alten Abschied und ging rasch weiter und dachte: »Der Alte ist doch stumpf geworden; das ist mir heute besonders aufgefallen . . . Schöne, weiche Luft heute. Es ist doch schöner, so allein zu gehen und seine Gedanken laufen zu lassen, hin und her, 329 wie heute morgen die Kälber liefen, statt neben dem Alten zu gehen und Lebensweisheit zu hören. Ich weiß nun auch schon selbst, was klug ist. Ich habe nicht gedankenlos in den Tag hineingelebt wie meine Brüder. Heiraten? Jetzt heiraten? Ich werde mich hüten. Nach dreißig!«

Er zog seinen Rock aus und hing ihn über den Arm. Seine weißen Hemdsärmel glänzten wie die des gerechten Sohnes, als er vom Felde kam und hörte das Gesänge und den Reigen.

»Sie sah gut aus, als sie dem Roten den Schemel gab. Wie wenn ein dreijähriges Pferd sich aufbäumt. Gestern sah sie nicht so gut aus, hatte nicht so blanke Augen, fuhr Wieten an und sagte nachher zu ihr: ›Nimm's nicht übel, Wieten: ich habe schlecht geschlafen,‹ und lachte. Merkwürdige Krabben: schlecht geschlafen? Wenn man sich den ganzen Tag so tummelt, wie sie es thun muß, soll man doch liegen wie ein Pfahl; aber das liegt ja wohl an den Maitagen. Es ist nur gut, daß die Männer verständig bleiben, sonst ginge in jedem Frühjahr die Welt aus dem Leim.

»Merkwürdige Luft! Als wenn man sie trinkt. Und sie schmeckt gut. Es ist doch gut so, daß ich heil aus dem Kriege gekommen bin, und daß ich noch jung bin und kann an dem großen Hofe zeigen, was an mir ist. Nachher, wenn die Jahre vergehen – und die vergehen rasch – und ich fest im Sattel sitze, nehme ich mir eine schmucke Frau mit Geld und gelbem Haar. Es giebt auch reiche Mädchen, die so lustig sind und frisch, und so zugreifen, und einen so stattlichen Leib haben. Es schießen immer neue Mädchen auf, in jedem Jahre, dicht wie neues Gras. Gott mag wissen, wo sie alle herkommen. Es muß nicht gerade diese sein.«

Er zog den Rock wieder an und kam unter die Dorflinden; und der schwerhörige Kirchspielschreiber stand vor 330 seiner Thür, in schlechter Stimmung. Denn im Laufe des Tages waren nicht weniger als sechs Geburten angemeldet worden, und jeder Anmeldende hatte eine Stunde lang in der Amtsstube auf dem bequemen Armstuhl gesessen und hatte vom Laufe des Dorfes und der Welt, vom Nachbar und vom Lehrer, und zuletzt noch ein ziemliches Stück von sich selbst geredet. Und der Kirchspielschreiber hatte dabei gesessen und hatte gedacht: »Du könntest auch 'was Besseres thun, mein Freund, als immer neue Kinder in die Welt setzen und mir jedes Jahr mit der Schreiberei zur Last fallen. Du solltest man hingehen und pflügen.«

»Uhl,« sagte er, »man sollte denken, daß der Krieg darin einen Eindruck gemacht hätte. Aber mit nichten. Das Gegenteil. Vier aus unserem Kirchspiel sind in Frankreich gefallen. Was sagt das? Heute sechs Taufen angemeldet! Und bei Jens Tappe, dem bei Le Mans der Arm kaput geschossen ist, ist schon wieder 'was unterwegs. Wir werden in diesem Jahre nicht mehr als fünfzig Todesfälle haben, Jörn, aber über hundert Geburten. Wo soll endlich die Nahrung herkommen? Weißt du das? Das Land wird nicht größer, und jede Kuh braucht sechs Scheffel. Viel zu viel Publikum! . . . Komm herein, Jörn.« So redete er und zählte mit zwinkernden Augen die Goldstücke, die Jörn Uhl auf den Tisch legte, drehte jedes Stück zweimal um und trug den Posten sorgfältig ein.

Jörn Uhl, als verständiger Mann, als Besitzer eines großen Hofes und Steuerzahler, gab dem Kirchspielschreiber vollständig recht und beredete dies alles mit ihm. »Wohin soll das laufen, wenn das Volk so zunimmt?« Und er sagte zuletzt laut: »Das Heiraten vor fünfundzwanzig muß einfach verboten werden.« Mit diesen Worten ging er davon, voll von dem stolzen Bewußtsein, daß er mit einem 331 so verständigen, erfahrenen alten Mann, wie dem Kirchspielschreiber, gleicher Meinung in so hohen Dingen war. Und wieder, wie er den Feldweg entlang ging, den Rock überm Arm, leuchteten die weißen Hemdärmel.

Als er auf die Hofstelle einbog, sah er auf der weißen Holzbank zwischen den Linden, seitwärts der Hausthür, einen Mann sitzen, wie einen Tagelöhner im Sonntagsrock. Er war wohl sechzig Jahre alt und hatte um das breite Gesicht einen grauen Vollbart, dazu dichtes, graues Haar, das dick um die ganze Stirn lag, und war bei all seiner breiten Gutmütigkeit ein Löwe in grauer Mähne. Er hatte beide Hände auf den Eichenstock gelegt und war wegemüde. Lena Tarn stand neben ihm mit einem auffallend ernsten Gesicht, zeigte auf Jörn Uhl und sagte: »Da kommt der Bauer.«

Der Alte stand vor dem Bauern auf und gab ihm die Hand, und setzte sich wieder und fing nach der Gewohnheit der Gegend vom Wetter und vom Felde an. Lena Tarn brachte stillschweigend den Kaffee, setzte sich ihnen gegenüber und fuhr fort, den französischen Soldatenmantel zu flicken, den Jörn Uhl mitgebracht hatte.

»Ich komme wegen einer Sache . . .,« sagte der Alte. »Meine Frau läßt mir keine Ruhe. Du hast doch bei der dritten Reitenden gestanden, Hauptmann Gleiser? Na, da stand doch auch Geert Dose, der nach seiner Soldatenzeit bei dir diente? Ist es nicht so? Na, siehst du, das ist mein Sohn . . . Was nun seine Mutter ist . . .«

»Er war einer der Ersten, der verwundet wurde.«

»Nun läßt Mutter mir keine Ruhe: sie fragt jeden Abend, wo er wohl den Schuß bekommen hat, und wie es dann ist . . . ich meine, ob so einer sich lange quälen muß. Sie meint neun Tage. Es ist ja jung, gesundes Blut 332 und das Sterben wohl sauer genug. Und ob er wohl noch 'was gesagt hat.«

»Ja . . .«

Der Alte war ein wenig kleiner geworden und sah mit großen, stillen Augen über seine Hände weg in den Sand. »Wenn du mir das erzählen willst, wie es in Wahrheit gewesen ist. Man erzählt sich, daß du zuletzt bei ihm gewesen bist. Dann kann ich ihr nachher sagen, was sie vertragen kann.«

Da erzählte Jörn Uhl bedächtig von Geert Doses Wunde, Heimweh und Tod, und verschwieg nichts.

Lena Tarn hatte in ihrem Leben noch nichts weiter gesehen und gehört, als was innerhalb des Dorfes geschah, hatte sich auch um andere Dinge nicht gekümmert. Bei dem Wort »Krieg« hatte sie ein großes, sehr buntes und feuriges Bild vor sich gesehen: oben helle, runde Wolken, unten brennende Häuser, dazwischen laufende und reitende Menschenhaufen, der Feldherr voll Orden, Hurrarufen, Helmschwingen, Wachtfeuer, »Nun danket Alle Gott«. So hatte es im Lesebuch der Schule gestanden. Von dem grausamen Jammer und der himmelschreienden Qual des einzelnen Soldaten hatte sie nichts gewußt. Sie hörte zu, das Gesicht in Schmerz zusammengezogen. In der Tiefe ihrer Seele aber zuckte und lachte heimlich die Freude: daß du heil zurückgekommen bist, Jörn Uhl.

Der Alte sagte nicht viel mehr. Er stand bald auf und ging still davon. Bis zum Ende der Allee gab der Bauer ihm das Geleit. Er hat diese Ehre sonst niemandem angethan, weder vorher, noch nachher. Lange stand er und sah ihm nach, wie er so steif und schwer dahin ging, einen rechten Tagelöhnergang. Vier Stunden hatte er zu gehen. Ein schwerer Gang und ein schweres Ankommen.

Durch den Baumgang zurückgehend, kam ihm das 333 Behagen des Tages wieder. Durch die schwankenden, frühlingsgrünen Blätter sah er den sonnenhellen Platz, dahinter das lange, breit ruhende Haus: Lang und hoch das dunkle, graue Strohdach, im roten Mauerwerk im grünen Rahmen die blinkenden Fenster, an der Hausthür breit gewachsen echter Wein, vor dem Weinlaub die weiße Bank mit dem Tisch davor, und auf der weißen Bank Lena Tarn mit der stolzen, kriegsbereiten Haltung und all ihrer frischen, vollen Jugendblüte.

Da flog ihm ein Wort in den Sinn, das er während des Feldzugs einmal in einer Zeitung gelesen hatte, die sich zur Batterie verirrt hatte. Da war in einem Weihnachtsartikel von dem kommenden Frieden die Rede gewesen und in hochtönender Rede von den »Werken des Friedens«. Das großartige Wort hatte ihm damals gefallen. Jetzt machte das ruhevolle, wunderschöne Bild, daß er sich seiner erinnerte. Und in seiner schwerfälligen Weise machte er nach Art des Katechismus Frage und Antwort daraus: »Werke des Friedens? Was ist das? Als da sind: Pflügen, Säen, Ernten, Häuser bauen, Heiraten, Kinder erziehen.«

Lena saß da mit so tiefgebeugtem Kopf, als könnte sie gar nicht singen, noch das Dreibein überm Kopf schwingen, noch Augen haben voll von Mutwillen. Die Maisonne lachte und zeigte mit Strahlenhänden auf den gebeugten Kopf: »Sieh doch, Jörn Uhl, wie das funkelt; fass' es nicht an, das ist lauter Feuer!« Die Luft lag in den Armen der Maisonne, weich, wohlig und willenlos, als hätte sie sich müde gefreut.

Als er vorbeigehen wollte, deutete sie, ohne aufzusehen, auf ein blaues Heftlein, das neben ihr auf dem Tisch lag, und sagte mit ziemlich patziger Stimme: »Ich will über Butter abrechnen.«

Solch eine Butterabrechnung war ihr sehr zuwider, weil 334 es eine Sache von Mißtrauen war; mußte ja aber sein. Sie gab dem Heftlein noch einen verächtlichen Stoß und richtete sich ein wenig auf. Er setzte sich zu ihr und besprach genau die einzelnen Zahlen, die sie absichtlich, aus Trotz, um ihre Abneigung gegen jegliche Abrechnung zu zeigen, unordentlich geschrieben hatte, so daß er einige davon nicht genau lesen konnte. Es war nötig, daß sie ihren brennenden Kopf über das Buch beugte, das er in der Hand hielt. Da kam ein solches Flimmern in seine Augen, daß er die Stirn runzelte und seine Abneigung gegen solch unsolides Gefunkel nicht verbarg. Nun fing er an, umständlich und genau zusammen zu zählen, um zu sehen, ob die Summe, die sie darunter geschrieben hatte, auch stimmte. Halblaut nannte er die einzelnen Zahlen, indem er jede mit steifem Zeigefinger wie auf die Heugabel nahm. Sie paßte indes einen Flicken ein, bog sich links und rechts, die ästhetische Wirkung des Flickwerkes zu beachten, und summte dazu wie eine Hummel, die halb gutmütig, halb zornig eine andere im Blumenkelch sitzen sieht. Es dauerte nicht lange, so hörte er aufmerksam zu. Die Zahlen gingen ihm durcheinander. Er wurde ärgerlich und stand auf: »Ich will in der Kammer weiter rechnen.« »Das finde ich ganz richtig,« sagte sie.

Abends, als es dämmerte, schlenderte er noch durch den Querweg, um zu sehen, ob die ausgelassenen Tiere wohlauf wären. Aber während er sonst eine halbe Stunde lang hinter seinen Tieren stehen konnte, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft überdenkend, sah er heute über sie weg in die Luft und kehrte wieder um. Als er auf der Hofstelle ankam, drehte er sich rund um. Und als kein Mensch zu sehen war, da lachte er leise auf.

Spät am Abend fing es an zu regnen. Er saß in seiner Kammer am offenen Fenster und rauchte die 335 halblange Pfeife und fühlte sich, wie meist in dieser Stunde, auf diesem Platz neben der Lade, in diesem kleinen, eigensten Reiche, unendlich behaglich. Es kam in diesen Stunden der Sinn für Gemütlichkeit zur Geltung, der von der Thiessenseite her in ihm war. Aber während er hier sonst in ruhigem Bewußtsein wohlgethaner Arbeit saß oder nach eigenen Plänen ein wenig an der Zukunft baute und sein Leben einteilte, wie ein Kind den übergroßen Weihnachtskuchen, der nach seiner Meinung nie alle werden wird, so groß ist er: kam er heute abend 'mal wieder ins Philosophieren und Grübeln hinein: daß er doch bis jetzt wenig sonnige Tage gehabt hätte und wie es wohl zu machen wäre, daß er ein wenig aus dem Schatten und aus dem kalten Wind heraus käme. Bisher ginge es so: von Sorgen in Schulden, von dem harten Stand bei Gravelotte auf den frischgepflügten Acker, auf dem sich so schwer ging, und so immer weiter. Zuletzt war er der Meinung, daß er wohl ein wenig Anspruch hätte, ins Weiche, Sanfte und Gemütliche zu kommen.

Im Hause war es totenstill. Draußen rieselte und plauderte der Regen. Aus den Apfelbäumen kamen weiche Vogelstimmen. Es lag ein weiches Schwellen und Dehnen zwischen den Büschen, und die Zweige tropften schwer, als wenn mit jeder klaren, fallenden Kugel ein winzig feines, schönes Wesen von Zweig zu Zweig zur Erde glitt. Er sah hinaus und wartete und glaubte zu hören, wie es leise lachte und wie die Blätter sich aufthaten. Ums Fenster war ein buntes Regen und Leben: Mücken fuhren auf und nieder, Spinnen machten sich auf, suchten und fanden Genossen und gingen jeder an seine Verrichtung.

Die Gestalt der Sanddeern ging an ihm vorüber, und jene stolzen Erscheinungen auf dem Bilde, das in der Lade 336 lag, stiegen vor ihm auf. Er sann und sah vor sich hin und kam in Gedanken wieder zu Lena Tarn. Sie saß neben ihm auf der weißen Bank und beugte sich über das Buch, und er sah den schönen, weißen Hals unter dem rotblonden Ringelhaar. Er riß sich aus seinem Sinnen, richtete sich ein wenig im Stuhl auf und sagte langsam und getragen: »Werke des Friedens.«

Da ging die Thür, und Lena Tarn kam herein und blieb unschlüssig an der Thür stehen.

»Komm her!« sagte er. »Was willst du?« Er war so erregt, daß er mit Mühe sprach.

»Ich will mir das Buch wieder holen. Ich meinte, Sie wären noch unterwegs im Querweg.« Sie suchte das Buch auf der Lade.

Da redete er sie an und sagte: »Du bist in den letzten Tagen nicht gut gelaunt. Fehlt dir was?«

Sie warf den Kopf in den Nacken und sagte kurz: »Es fehlt einem wohl 'mal 'was; aber es geht bald wieder vorüber.«

»Du freust dich wohl, daß Wieten jetzt bei dem Kranken schlafen muß und du deine Kammer allein hast?«

»Warum? Es ist mir ganz gleichgültig. Wer ein gutes Gewissen hat, kann immer gut schlafen, allein oder zu zweien.«

»Dann mußt du ein schlechtes Gewissen haben; denn gestern abend, als ich durch den Gang kam, hörte ich dich im Schlaf rufen.«

»Na ja . . . Ich bin nicht wohl gewesen.«

»Ach was . . . du nicht wohl? Der Mond hat das gethan; der hat in deine Kammer geschienen.«

»Ich sage aber: das kann auch eine andere Ursache haben.«

»Ich sage, das kommt vom Mond.«

Sie sah ihn zornig an: »Als wenn Sie alles wissen! 337 Ich habe überhaupt nicht im Schlaf gerufen, sondern in hellem Wachen. Es waren drei Kälber ausgebrochen und sprangen im Grase umher. Ich sah sie deutlich im Mondschein. Die rief ich.«

Er lachte spöttisch: »Das sind gewiß Mondkälber gewesen.«

»So? Ich glaube nicht. Denn ich habe sie heute morgen selbst wieder hineingebracht; und da habe ich denn gesehen, daß die Stallthür offen stand. Ich denke mir, der Knecht ist heute nacht auf Freite gewesen. Du hast immer so fliegende und losschießende Augen und kümmerst dich um jeden Quark: mich wundert, daß du das nicht gesehen hast.«

»Sagst du ›du‹ zu mir?«

»Du ja auch zu mir! Ich bin fast ebenso groß wie du, und ein Graf bist du ja nicht, und ebenso verständig wie du bin ich auch.« Sie trug den Kopf ziemlich hoch, und während sie das Buch von der Fensterbank riß, als wenn es da im Feuer läge, sah er den prächtigen Zorn in ihren Augen.

»Nimm dich in acht vorm Mond!« sagte er. »Sonst mußt du heute nacht wieder Kälber hüten.«

Er war aufgestanden, wagte aber nicht, sie anzurühren. Sie sahen sich aber an, und jeder erkannte, wie es um des anderen Willen stand. Er hatte wieder den Blick, den er heute morgen schon einmal gehabt hatte, so einen siegesgewissen, übermütigen Blick, so einen Blick, als wenn er sagen wollte: »Ich weiß ganz genau, wie solch ein Mädchenzorn zu deuten ist.« Ihre Augen aber sagten: »Ich bin zu stolz, dich lieb zu haben. Ach, ich habe dich so lieb.« Sie ging zögernd in die dunkle Tiefe der Kammer, als wollte sie ihm Zeit lassen, noch etwas zu sagen oder nach ihr zu langen. Er war aber zu schwerfällig dazu und lachte verlegen.

338 Die Nacht brach herein.

Es war eine wundervolle, ruhige Nacht. Es rieselte noch ein wenig in den Bäumen, als wenn ein Kind abends im Bett leise weint, weil es verlassen ist und sich fürchtet. Es blitzte ein wenig am Horizont, als wenn eine Mutter mit einem Licht in die Kammer kommt, zu sehen, ob die Kinder schon schlafen. Es wehte ein wenig, als wenn eine Mutter leise ein Wiegenlied summt. Dazu schien der Mond fast voll, nur noch ein wenig schmal im Gesicht, und Sterne am ganzen Himmel warfen tausend goldene Lanzen auf die Erde, daß alles auf ihr sich duckte und still war. Selbst die Menschen, die unterwegs waren, redeten leise miteinander.

Jörn Uhl hatte sich hingesetzt und stand wieder auf: »Ich will doch 'mal nach dem Mond sehen. Es ist merkwürdig klar.«

Er nahm das mannshohe Gestell, das er selbst gezimmert hatte, und aus der Lade das Fernrohr. Es war aber statt jenes alten, buckeligen Rohres ein stattliches Nachtrohr mit einem dreieinhalbzölligen Objektiv. Der Professor vom Gymnasium, der von den astronomischen Neigungen des jungen Bauern gehört hatte, hatte ihn eines Tages besucht und ihm das Rohr besorgt. Es war der erste und einzige Luxus, den er sich erlaubt hatte.

Als er aber möglichst geräuschlos über die Mitteldiele ging, stand ihre Kammerthür noch offen, und sie trat auf die Schwelle und lehnte sich an den Pfosten.

»Bist du noch wach?« sagte er beklommen.

Sie sagte: »Es ist noch nicht spät.«

»Der Himmel ist so klar: ich will noch 'mal nach den Sternen sehen. Hast du Lust, so kannst du mitkommen.«

Sie blieb erst stehen; aber dann hörte er, wie sie ihm nachkam.

339 Er stellte das Dreibein mitten auf den Rasen und sagte: »Du hättest Sonntagmittag dabei sein müssen, da hatte ich den Mond und schöne Sterne im Rohr.«

»Ach, was du sagst! Am Mittag? Sind denn die Sterne auch am Tage am Himmel?«

»Natürlich, Deern! Wo sonst?«

»Ach . . . das habe ich nicht gedacht! Ich dachte, die machten es wie der Nachtwächter, des Nachts unterwegs und am Tage im Bett.«

Jörn Uhl schüttelte stark den Kopf: »Was du doch für Grabben hast! Hast du das wirklich gemeint?«

»Ja,« sagte sie. »Du brauchst mich gar nicht so anzusehen; ich habe es wirklich so gemeint.«

Aber er traute ihr doch nicht. Sie hatte immer so 'was Plieriges in den Augenwinkeln, auch wenn sie ernst war.

Er suchte am Himmel und richtete das Rohr und sah hinein, und richtete es genau und sagte mit verhaltener Stimme: »Nun sieh hinein.«

Sie stellte sich ungeschickt, daß er seine Hand auf ihre Schulter legte, und fragte: »Was siehst du?«

»O,« sagte sie. »Ich seh' . . . ich sehe . . . ein großes Bauernhaus, das brennt. Es hat Strohdach. O! . . . Alles brennt; das Dach ist ganz in Flammen. Funken fliegen darüber hin. Es ist ein richtiges altes, dithmarscher Bauernhaus . . . O, nein, doch! Ich habe nie geglaubt, daß auch auf den Sternen Bauern wohnen. Auf welchem Stern ist das denn?«

»Na,« sagte er. »Das ist gut! Nein, Deern! . . . du bist entweder nicht recht klug oder ein großer Schelm.«

»Was denn nun wieder?« sagte sie und sah ihn erstaunt an.

»Du hast zuviel Phantasie,« sagte er ernst, »die ist bei der Wissenschaft von Schaden . . . Was siehst du sonst?«

340 »Ich sehe . . . ich sehe . . . seitwärts von dem Bauernhause eine Planke, die ist dunkel; denn das brennende Haus ist dahinter. Aber in die brennende Diele kann ich tief hineinsehen. Drei, vier Garben sind schon vom Boden heruntergefallen und liegen brennend auf der Lohdiele. O, wie ist das schrecklich! Zeige mir ein anderes Haus, das nicht brennt . . . Zeige mir ein Haus, weißt du, zeige mir einen Bauernhof, wo sie gerade dabei sind, die Kälber auszujagen.«

Er lachte fröhlich auf. »Du Schelm,« sagte er, »du möchtest wohl auch dein Dreibein am Himmel sehen, was? So: Hoch überm Kopf!«

»Du hättest das Dreibein haben sollen! Den Tag vergesse ich dir nicht, du . . . und wie du mich ansahst! Das kannst du glauben!«

Er hatte noch niemals jemand an seinen Beobachtungen teilnehmen lassen. Nun wunderte und freute er sich über ihr Erstaunen und ihre Freude. »Das hast du nicht erwartet, was? Ja, siehst du! Was du da gesehen hast, das war ein Nebelstern, Orion heißt er. Weißt du: so ein Stern, der noch lose ist.«

Sie sagte aufatmend: »Ich kann es wohl verstehen, daß es dir Freude macht.«

Er nickte und sagte: »Weil du so verständig redest, sollst du auch den Mond 'mal sehen. Warte ein wenig.«

»Du thust, als wenn du das alles da oben zu verschenken hast. Her mit dem Mond!«

Er stellte und faßte sie wieder am Arm, als wenn sie ein unbeholfenes Kind wäre.

Nun wunderte sie sich über die Maßen: »Was sind das? Beulen? Wie in unserem kupfernen Kessel! Ganz genau 341 so: wenn er blank gescheuert überm Herd hängt und morgens das Feuer nach ihm hinauf scheint.«

»Die Beulen sind Berge und Thäler. Kannst du links am Rande die Gebirgsspitzen sehen? Sie werden von links her von der aufgehenden Sonne hell erleuchtet, und nach rechts hin fällt ihr dunkler Schatten aufs Land.«

Sie schüttelte verblüfft über das, was sie sah und was er sagte, den Kopf, verlor das Bild aus dem Rohr und richtete sich wieder auf, sah mit bloßen Augen hinauf und sagte: »Ich habe das ja in der Schule gehört, von den vielen tausend Meilen Entfernung und Umfang und so 'was. Aber ich habe Lehrer Karstensen das nie geglaubt. Er log es zwar nicht. Aber ich dachte immer, er hätte es sich aufbinden lassen. Aber nun scheint es mir fast, daß doch 'was Wahres daran gewesen ist.«

»So! . . . Und nun hast du genug gesehen und weise genug geredet. Geh hinein! Du erkältest dich, und dann träumst du wieder und siehst im Traum, ich weiß nicht was. Wirst du schlafen können?«

»Ich will's versuchen.«

Wieder wollte er die Hand nach ihr ausstrecken; aber die Hochachtung vor ihr hielt ihn zurück. Er meinte, er dürfte sie nicht so, gewissermaßen unterwegs, ergreifen. »Mach' rasch,« sagte er, »daß du fortkommst.«

Sie ging, und er blieb. Er stellte das Rohr noch auf den Mittelstern an der Deichsel des großen Bären, und stellte es noch einmal auf den Mond, und beobachtete die Umrisse der Meere, um eine Karte vom Mond zu vervollständigen, die er angefangen hatte. Es verging die Zeit. Er war eifrig geworden, stand da mitten auf dem Rasen und hantierte geräuschlos an seinem Rohr. Und verwarf noch einmal wieder das junge Leben, das vor einer Stunde 342 so schwer neben ihm geatmet hatte, und kam wieder in das alte Geleise, daß der alte Dreier doch recht hätte. »Mach' nicht die Dummheit, Jörn!« . . . und doch: »Fein ist sie und gut. Glücklich der Mann, um dessen Hals die ihre Arme legt . . . Was muß die für köstliche Augen haben, wenn die einen Mann so recht mit Zutrauen ansehen wird.«

Hauseulen flogen von Baum zu Baum und sahen den Nachtsteher mit aufgerissenen, wimperlosen Augen an. Wenigstens fünf Igel saßen beim Steinbrockenhaufen unterm Holunder und zankten und vertrugen sich mit leisem Grunzen. Vom Felde her kamen die bekannten Nachttöne: bald ein Möwenschrei, bald das ferne Brüllen eines Rindes. An einem Pferdehuf klirrte eine Kette, und Wildgänse flogen über den Hof.

Er hörte das alles; aber es war ihm alles so gewöhnlich, daß er es nicht zu Herzen nahm. Aber plötzlich, während noch die Gänse über ihm schrieen, war ihm, als hörte er dicht überm Hausdach und dann zur Seite an der Hauswand leichten Schrei einer Gans und schwaches Flügelschlagen. Er sah sich um und dachte: Fliegen die Wildgänse heute abend durch den Garten?

Aber als er hinsah, stand da unter dem Hausdach im hellen Mondschein eine weiße, menschliche Gestalt, hatte die Hand über die Augen und tastete mit der anderen gegen die Mauer, als wollte sie da ins Haus hinein, wo doch gar keine Thür war, und redete dazu in erregten, eilfertigen Worten: »Die Kälber sind im Garten: Du mußt besser aufpassen! Steh doch auf, Jörn, und hilf mir!«

Jörn Uhl kam in drei langen Schritten über den Rasen und rief leise ihren Namen: »Ich bin schon hier . . . Hier stehe ich . . . Ich bin es . . . So! So! . . . Nun sei man still . . . Ich bin es . . . Sonst ist niemand hier.«

343 Sie war verstummt und fing an, sich mit der oberen Handfläche die Augen zu reiben, wie ein Kind sich den Schlaf aus den Augen reibt, und klagte auch nach Kinderweise. Da umfaßte er sie und sagte ihr wieder, wo sie wäre, und führte sie nach der Stallthür und suchte sie zu trösten. »Siehst du, hier ist schon die Stallthür. Hier bist du hindurchgegangen, du Träumerin; durch den ganzen Stall bist du im Schlaf gegangen. Hast du die Mondkälber gesucht? Ach, du Hansnarr! . . . So, hier brauchst du nicht bange zu sein. Nun bist du bald in deiner Kammer.«

Als sie nun endlich ihre Lage klar erkannte, erschrak sie, warf ihre Hände gegen ihr Gesicht und stieß wehe Laute aus: »O, o, wie ist das schrecklich.« Aber er liebkoste sie und nahm ihr die Hände vom Gesicht und sagte herzlich: »Nun laß das Klagen. Laß es nun so sein, wie es ist.« So kamen sie bis zur offenen Thür, die zur Kammer führte.

Es muß eine merkwürdige Nacht gewesen sein; denn nicht allein, daß die Hälfte der Kälber aus der Weide ausgebrochen war und am Morgen wirklich in Hof und Garten standen: der Knecht war in dieser Nacht überhaupt nicht nach Haus gekommen. Er kam im Morgendämmern, so vor sich hinsummend, übers Feld. Als er den jungen Bauern sah, der mit langen Schritten am Hause entlang ging, die Augen an der Erde, als suchte er eine verlorene Spur, sagte er: »Ich habe das einspännige Leben satt. Wenn ich bis zum Herbst eine Ordentliche finden kann, will ich heiraten.«

Nach dem Morgenkaffee zog Jörn Uhl, ganz wie gestern, den Sonntagsrock an und ging ins Dorf. Der Kirchspielschreiber war besserer Laune als gestern. Er wunderte sich weiter nicht. Er hatte als Kirchspielschreiber, Standesbeamter, Kirchenrendant und Brandkommissar viel Buntes 344 erlebt und wußte, daß es nichts Wunderlicheres, Abgrundtieferes giebt, als einen Marschbauern. »Ist recht, Uhl!« sagte er. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; man muß ihm eine Gehilfin geben. Maria Magdalena Tarn, eheliche Tochter des Kätners Jasper Kornelius Tarn in Todum. Hier sagt kein Mensch ›Kätner‹, Jörn. Aber in den preußischen Formularen steht es so. Und weil der Preuße uns aus dem Schlaf gebracht hat, darf er uns auch an die Arbeit schicken. Und damit gut. Neunzehn Jahre alt! Noch jung, Jörn! Aber alt werden sie von selbst.«

Als er zurückkam und durch den Apfelgarten ging, lag da unweit der Gartenpforte auf der Steinbrücke eine Wildgans, die noch lebte. Er tötete sie und nahm sie mit in die Küche, wo das Mädchen mit heißen Wangen vor der Herdglut stand. Er zeigte ihr den Vogel und sagte: »Sie hatte einen Flügel gebrochen und lag auf den Steinen.«

Sie warf einen scheuen Blick auf das Tier und sagte nichts.

»Na,« sagte er verlegen. »Nun möchte ich bloß wissen, was du von mir denkst. Was?« Als sie nichts sagte, trat er ein wenig näher: »Du bist doch sonst immer ein großer Held gewesen, besonders mir gegenüber. Wirf den Kopf in den Nacken und schilt mich ordentlich aus, ich hab's verdient.«

Sie schwieg aber still, legte nur beide Hände an die Schläfen und starrte in die Glut.

Da zog er ihr die eine Hand sanft vom Haar herunter und faßte sie an und ging mit ihr über die Diele durch die Verbindungsthür ins Vorderhaus. Sie folgte ihm willenlos, die Augen an der Erde, die eine Hand noch immer im Haar. In der Wohnstube führte er sie zu dem großen Stuhl, der am Fenster stand, und drückte sie hinein. »So,« 345 sagte er weich, »hier sind wir ganz allein, Lena. Bist traurig, kleine Deern, und bist sehr böse? Ist dir all dein schönes Lachen vergangen?« Er setzte sich auf die Lehne und fing an, ihr Haar und Wange zu streicheln und ihre Hände, die im Schoß lagen. Aber sie sah ihn nicht an. »Hier in diesem Stuhl, sagt Wieten, hat Mutter manchen Sonntagnachmittag gesessen. Da gehörst du nun hinein.«

Sie sagte noch immer nichts.

»Ich bin beim Kirchspielsschreiber gewesen, Lena, und habe alles in Ordnung gebracht, und im Juni ist Hochzeit . . . . Sagst du noch nichts?«

Da umfaßte sie seine Hände und sagte leise: »Du meinst, damit ist alles gut.« Und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte.

Da fing er an, sie sehr zu streicheln und zu küssen: »Kind, laß doch bloß dein Weinen! Bist ja meine kleine, feine Braut! Sei doch nur wieder fröhlich!« Und in seiner Not sagte er: »Ich will's auch nicht einmal wieder thun. Lach' bloß wieder.« Zuletzt, da er sonst keinen Schmeichelnamen mehr wußte, nannte er sie »Rotkopf«. Da mußte sie lachen; denn das war der Name der besten Kuh, welche vorne als erste im Stalle stand. Nun hob sie auch den Kopf und sah ihn lange an, unbeweglich. Und dann kam Jörn Uhl richtig in das Weiche und Wohlige, wie er meinte, es verdient zu haben. 346

 


 


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