Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Klaus Uhl hatte immer davon herumgeredet, daß sein Jüngster ein Gelehrter werden sollte. »Jörn soll studieren,« sagte er, »das ist selbstverständlich.« Und wenn er so in halber Trunkenheit in bester Laune war und zu prahlen anfing, dann kam wieder der alte großartige Gedanke. »Landvogt soll er werden,« sagte er. Dann lachten die Bauern und die Händler, die mit ihm am Tische saßen, und sagten: »Er soll ein Kerl werden, wie Landvogt Lornsen von Sylt. Solch ein Kerl soll er werden! Prosit, wir trinken auf Jörn Uhl, den Landvogt.«

So war das Wort wieder und wieder gefallen; und es war eine Ehrensache für Klaus Uhl geworden. Aber obgleich er am Biertisch in der Stadt zuweilen Lehrer von der Lateinschule traf, fragte er sie doch nicht um Rat und Wegweisung. Denn er war in seinem Gewissen unsicher. Er fürchtete, zu hören, daß ein sehr kluger Kopf dazu nötig wäre, daß der Junge schon Ostern auf die Schule müsse, oder daß es sonstige unangenehme Fragen zu entscheiden gäbe. Er mochte sich in seinem gemächlichen Leben und Treiben nicht stören lassen. Er sprach nur einmal so 80 zufällig und gelegentlich mit Lehrer Peters, so mit echter bäuerlicher Gleichgültigkeit. Und als der sagte, daß er den Jungen gern ein wenig extra unterrichten und auf das Gymnasium vorbereiten wollte, nahm er das an und war froh, daß er vorläufig keine unangenehmen Gänge zu thun brauchte.

Also saß Jürgen neben dem alten Lehrer Peters im Sofa, und sein Haar war hell, kurz geschoren und stand steil auf; und seine tiefliegenden Augen sahen wieder wie Füchse aus ihren Höhlen in das englische Buch hinein und rissen die Weisheit an sich, die darin stand. Lehrer Peters hatte nämlich die Meinung, daß die Kenntnis des Englischen die erste Stufe zu allem Wissen und zu aller großen Bedeutung in der Welt wäre. Zuweilen, wenn Zeit übrig war, trieben sie auch ein wenig Latein; aber das gaben sie bald wieder auf.

Es war ein schöner Sommertag; die weiße Dorfstraße lag still und leuchtend zwischen den grünen Bäumen. Die Linden am nahen Straßenrand überschatteten die Fenster. Die Stube war voll dunkelrotem, heimlichen Licht.

»Jürgen!« sagte der Alte. »Ich muß rasch 'mal sehen, was die Bienen machen. Übersetze still weiter; ich komme gleich wieder.«

Jürgen übersetzte weiter. Eine Biene kam durchs offene Fenster herein, summte durchs Zimmer, merkte, daß sie sich ganz und gar verirrt hatte, summte zorniger und flog wieder hinaus und nahm des Jungen Gedanken mit, daß er eine Weile in Träumen aus dem Fenster sah.

Er sah mit neugierigen Augen in die Welt und hatte eine wachsende Liebe zu den Büchern, besonders zu solchen, welche eine feste, klare Erkenntnis überliefern, später auch wohl zu solchen, die nüchterne, bedächtige Grübeleien enthielten. Er sagte damals zu Fiete: »Ich will die ganze Welt verstehen.« Und er hat in seinem Leben wirklich ein 81 gut Teil davon verstanden. Fiete Krey sagte: »Hunderttausend Thaler will ich haben, dann will ich mir die Uhl kaufen und darin wohnen, bis ich tot bin.« Nun waren sie beide dabei, ihre Wünsche ins Wirkliche zu bringen. Fiete Krey, der konfirmiert war und sich auf der Uhl als Dienstjunge vermietet hatte, riß den Pferden im Stall Haare aus den Schwänzen und verkaufte sie für gutes Geld und trieb nebenbei einen kleinen, selbständigen Handel mit Striegeln und Peitschenschmicken. Jürgen Uhl aber saß über dem englischen Buch und wunderte sich, daß es Menschen gab, die eine so sonderbare Sprache hatten.

Die Fenster standen offen, und die Vögel sangen in den Linden, und die Bienen summten in der goldigen, dämmerigen Luft, die sichtbar zwischen den Linden und dem Fenster stand.

Da kamen lange, leise Schritte unter der Hauswand entlang, und der helle, schmale Kopf von Lisbeth Junker erschien im Fenster: »Da sitzst du!« sagte sie, »komm heraus.«

»Was thust du? Angelst du?«

»Ich habe schon zehn große, dicke Kerle. Eben haben sie den Wurm abgebissen. Komm heraus! Großvater hat dich schon lange vergessen.«

»Wie sieht dein Haar aus!« sagt er.

»Was denn? Rauh, nicht?« Sie wunderte sich, daß er etwas an ihr zu tadeln hatte. Aber mit einem Male verstand sie ihn: »Ach, du meinst: so blank von der Sonne?« Sie drehte den Kopf rasch um: »Siehst du? Da geht ein kleiner Strahl durch die Linde, gerade auf meinen Kopf los, als wenn er mich schießen will. Siehst du? Aber rauh ist es sicher auch; ich bin nun schon dreimal durch den Zaun gekrochen und habe hier ins Fenster gesehen.«

»Ich dachte, du wärst durch die Sonne gekrochen.«

82 »Komm man ruhig heraus!« sagte sie. »Das Bißchen lernst du noch leicht; so schwer kann es nicht sein, Landvogt zu werden.«

Da ließ er das Buch und kam zu ihr heraus.

Er war ihr immer gern zu Diensten und konnte ihr keine Bitte abschlagen; denn sie erschien ihm so fein und vornehm und die Klugheit selber. Er verkehrte freundlich und vorsichtig mit ihr, wie ein kluger und guter Mensch immer thut, wenn ein noch Besserer sein Kamerad wird. Er war so ängstlich besorgt, ihr zu mißfallen, daß er noch nicht wieder gewagt hatte, Heintüüt zu ihr zu sagen, obgleich es ihm immer wieder als etwas besonders Liebliches ausfiel, daß sie eine so volle, helle Stimme hatte, wie von reinem Silber. Es herrschte damals unter den Kindern im Dorfe ein ziemlich lauter und gewöhnlicher Ton, und im Hause des Vaters hörte er viel Rohes. Es war sein besonderes Glück, daß er in gefährlichen Jahren mit diesem Kinde zusammengeführt wurde, das alles Gute und Feine in ihm wachhielt und stärkte.

Durch den Zaun krochen sie an den Teich. Er war bei seinen dreizehn Jahren eigentlich schon über das Stichlingfangen hinaus: aber sie sagte immer alles so selbstverständlich, daß er nicht nein sagen konnte. Auch war er immer glücklich, wenn er that, was ihr gefiel. Und alles, was ihr gefiel, und um was sie ihn bat, konnte er thun. Wenn das Begehrte auch zuweilen ein wenig unter seiner Knabenwürde war, so war es doch nie unverständlich. Elsbe verlangte zuweilen Unverständliches.

Sie saßen bei einander im Grase unterm Busch und sprachen leise. Sie erkundigte sich nach Elsbe und Fiete. »Du, was will Fiete werden? Will er auch Handelsmann werden, wie sein Vater und die anderen Kreien?«

83 »Nein, das will er nicht.«

»Was denn?«

»Ja, manchmal will er nach Kalifornien und Gold graben, und manchmal will er Kutscher werden . . . beim Landvogt, glaube ich.«

»Ach so, bei dir! Das soll er man lieber thun als das Gold graben . . . Es ist furchtbar warm heute.«

Sie schwieg eine lange Zeit. Die Sonne schien; die Vögel sangen, und allmählich, langsam, sank ihr Angelstock tiefer, ihr Kopf neigte sich im kommenden Schlaf auf seine Schulter.

Es war alles wie verhext und verwunschen. Als wenn das nicht wirkliche Häuser wären, deren Mauern und Thüren hier und da zwischen den Linden durchsahen, und nicht wirkliche Linden mit satten, vollgrünen, stillen Blättern, sondern als wenn Häuser und Bäume und der Spiegel des Teiches und die Kinder am Teiche und ihre Angelstöcke, als wenn das alles fein sauber und klar hingemalt wäre, und man müßte mäuschenstill darin sitzen, weil es doch nicht Brauch ist, daß im Bilde sich etwas bewegt. Und das ganze Bild war sauber gemalt, mit großer Liebe, ein wenig simpel ehrbar und ein wenig derb fruchtbar, und hing in Gottes bester Stube.

Der Angelstock lag ganz im Wasser, und das Mädchen lag an seiner Schulter, und der Knabe sah mit seinen tiefen Augen in das Bild, zu dem er selbst gehörte, und fühlte das Haar an seiner Wange und das leichte, schöne Atmen und rührte sich nicht.

Von fern her kam immer näher ein leichter Wagen die Dorfstraße entlang und hielt auf der Straße vor dem Schulhause. Dadurch wurde das verschlafene Mädchen wieder munter. Lehrer Peters kam eilig aus der Tiefe des Gartens 84 und trat verwundert an einen gebeugten, grauköpfigen Mann heran, der schon an der Gartenpforte stand, und sagte: »Wollen Sie ins Haus kommen, Herr Landvogt?«

»Wir wollen im Garten bleiben,« sagte der Landrat, »und wollen hier ein wenig hin und her gehen. Meine Frau schickt mich, sie möchte wieder Winteräpfel von Ihnen haben.«

Sie sprachen noch eine Weile über diese Sache; dann fiel der Landrat plötzlich aus dem Plauderton und sagte leise und langsam: »Ich komme noch zu einem anderen Zweck. Ich kenne Sie schon viele Jahre und weiß, daß Sie ein gutes Urteil über Menschen und Dinge haben. Sie haben die Bedächtigkeit im Urteil, die derjenige zu haben pflegt, der von Haus aus eine nüchterne, ruhige Natur ist und mitten im Volke seinem Beruf nachging und im Laufe der Jahre sich manche Erfahrung und etwas Vermögen erwarb.« Er lächelte ein wenig: »Das letztere halte ich nicht für unwichtig,« sagte er. »Ich möchte über volkswirtschaftliche Dinge nicht den Rat eines Mannes hören, der nicht etwas selbstkondensierten Fleiß, d. h. Geld, auf Zinsen hat. Ich möchte Sie über die hiesigen Marschbauern befragen: über die Uhlen.«

Der Alte, erregt durch die Ehre, die ihm widerfuhr, und erfreut, daß er vielleicht ein gutes Werk thun könnte, gab mit verhaltener Stimme Auskunft: »Klaus Uhl ist der schlimmste, der Tonangeber und der Verderber vieler anderer. Bei wohlwollender und friedlicher Natur ist er ein Narr vor Hochmut. Die Kinder auf dem Spielplatz machen ihm den Blick nach, wie er die kleinen Leute von unten bis oben ansieht. ›Thu' man nicht wie Klaus Uhl,‹ sagen sie, wenn einer stolz ist. Und es wird erzählt, daß er kleinen Leuten den Lohn nie anders als aus der Westentasche bezahlt, selbst wenn es Hunderte von Marken sind.«

85 Die beiden gingen den Steig am Hause hinunter, sprachen weiter und kamen wieder herauf.

»Was kann auf den Höfen geschafft werden, wenn die Besitzer so leben? Alles wird lässig betrieben. Die Leute verschlafen die Zeit, die Tiere werden vernachlässigt, der Acker verarmt. Das Schlimmste aber ist, daß die heranwachsenden Kinder das wüste Leben der Eltern sehen, und die ganze lottrige Wirtschaft für in Ordnung halten und so ins Elend laufen wie die nüchternen Kälber gegen die Wand.«

»Und die Frauen? Das möcht' ich wissen.«

»Was die sagen? Wir haben einige, die treiben ihre Männer an, wenn sie ein wenig schläfrig werden, daß sie wieder ins wilde Treiben hineinkommen, und machen alles mit. Da ist eine Frau, Mutter von acht Kindern, welche mir ins Gesicht hinein gesagt hat, daß sie in der letzten Woche siebenmal, Abend für Abend, bis an den Morgen, in Gesellschaften gewesen ist, und ich kenne eine andere, welche über ihre Hofstelle fuhr und ihr sechsjähriges Kind zu sich auf den Wagen heben ließ und, indem sie ihre grobe Prahlerei unter Bedauern verbarg, in Gegenwart des Hofarbeiters sagte: ›Ich habe das kleine Wurm in acht Tagen nicht gesehen; morgens, wenn ich aufstehe, ist es schon in die Schule gegangen, und abends, wenn es wiederkommt, ist die Mutter schon wieder ausgeflogen. Aber, was soll man thun? Eine Einladung folgt der anderen.‹ Das wissen Sie ja auch, Herr Landvogt: wenn die Frauen unklug werden, dann werden sie es gleich ganz. Andere Frauen freilich sitzen still und vergrämt im Hause, thun ihre Arbeit, sorgen für den Hof und machen sich um die Zukunft bittere Sorge.«

»Nun sagen Sie noch eins! Ich kann es ja leider nicht hindern, daß ein Mensch sich und die Seinen von Haus 86 und Hof ins Elend bringt. Aber ich habe unter der Hand erfahren, daß, gleichsam von dem Geruch dieses Kirchspiels angelockt, sich zweifelhafte Geldleute oder Agenten hier sehen lassen und zu Ultimospielen verleiten wollen.«

Der Alte sah bedächtig auf den Steig. »Ich erinnere mich jetzt, daß Klaus Uhl in unserer letzten Sparkassensitzung mit Karsten Rievert über allerlei Papiere sprach und das Wort ›Ultimo‹ dabei genannt wurde. Was ist denn das, Herr Landvogt? Ultimo?«

»Ja . . . wenn ein Bauer anfängt, mit Geld zu spekulieren, dann verliert er sein Geld, nicht?«

»Ja . . . immer! Jochen Mill verlor in drei Wochen seine ganzen 150 000 Mark.«

»Na, sehen Sie! Und wenn nun einer ›Ultimo‹ spielt, dann kann er nachher ganz genau sagen, wann er sein Geld verloren hat. Das ist der ganze Unterschied . . . Was war mit Jochen Mill? In drei Wochen, sagen Sie?«

»Ja. Er verkaufte seinen Hof und ging nach Hamburg, um dort in drei Jahren zehnmal reicher zu werden, sagte er, als er schon wäre. Es soll die reine Treibjagd gewesen sein. Alle die Marder, die um die Börse schleichen, auf den einen dummen Bauern! Sie haben schon draußen in Haufen gestanden und auf ihn gewartet, und haben ihm vom Pferde geholfen; denn er war zu großartig, um zu Fuß zu gehen. Es soll jedesmal ein großes Hallo gewesen sein. Einige haben es übertrieben, haben ihre Röcke ausgezogen und auf die Stufen legen wollen, damit er, ohne die Erde zu berühren, in die Halle käme. Aber er hat von all dem Spott nichts gemerkt. Er hat immer gedacht: ›Welche Ehre, Ehre!‹ Nach acht Wochen war alles Geld weg; seine Verwandten kauften ihm eine kleine Wirtschaft bei Hamburg, wo er jetzt ›Lütt und Lütt‹ verschenkt, wie sie da sagen.«

87 »Kommen Sie,« sagte der Landrat. »Nun wollen wir in den Garten gehen und eine reine Freude haben.«

»Giebt es nicht, Herr Landvogt. Die Raupen vom Blattwickler thun der Apfelernte viel Schaden.«

»Nun . . . doch beruhigt es,« sagte der Landrat, »von dem Irren der Menschen weg zur Natur zu gehen und zu sehen, wie sie leidet und kämpft, tapfer und ohne Lärmen, wie ein frisches, ehrliches Menschenkind sich durchkämpft bis ans Grab.«

Sie gingen in den Garten hinab.

»So!« sagte der Junge und legte den Angelstock hin. »Nun will ich wieder in die Stube gehen und lernen. Es ist da eine furchtbar schwere Stelle in dem englischen Stück.«

Er drängte sich wieder durch den Busch und ging ins Zimmer und sah wieder ins Buch. Bald darauf fuhr der Wagen davon, und der Alte kam wieder herein.

»Du bist noch hier?« sagte er. »Bist du immer hier gewesen? Bei dem offenen Fenster?«

»Nein; ich habe bei Lisbeth gesessen.«

»Wo denn?«

»Unten am Teich. Wir haben Stichlinge gefangen.«

»So! So!« . . . Er ging hin und her und sah aus dem Fenster und kam wieder zurück: »Na, denn man zu! Weißt du was? Ein Junge muß schweigen können, sonst wird er niemals ein ordentlicher Kerl.«

»Ich kann auch schweigen,« sagte Jörn Uhl, und sah hart und lang vor sich hin.

»Na! . . . Weil es mir gerade einfällt, so will ich dir 'mal was erzählen; es kann dir nicht schaden . . . Sieh 'mal: Alte Leute, die nun schon lange schlafen, haben mir in meinen jungen Tagen erzählt, daß dein Urgroßvater mit einem mächtigen Klüverstaken über die Gräben sprang und 88 querfeldein ins Dorf zur Kirche gekommen sei; er ist ein langer, hagerer, gebückter Mann gewesen und hat nach der damaligen Sitte einen hohen, schwarzen Hut getragen. Bei diesem Jörn Uhl, deinem Urgroßvater, ist der damalige König zwei Tage zu Gast gewesen. Weißt du das?«

»Ja, das hat Wieten mir erzählt.«

»So! Dein Vater nicht? Nun: der König und Jörn Uhl sind bis in die Nacht allein miteinander in der Stube gewesen und haben über die Zustände der Landschaft gesprochen, und Jörn Uhl soll sehr harte Worte gesagt haben. ›Uhl!‹[ hat der König gesagt: ›Er vergißt, daß Er mit dem Landesvater redet!‹ Jörn Uhl aber hat laut geantwortet: ›Wenn Sie Landesvater wären, würden Sie solche Betrügereien entdecken und so schlechte Beamte nicht dulden.‹ Der König hat sich gewehrt: ›Das Königreich ist zu groß, Uhl! Ich kann nicht alles übersehen.‹ Aber der Alte hat gesagt: ›Die Sommerdeiche sind auch groß, und doch kenne ich jeden Wasserzug und jeden Ochsen, der da grast.‹

»Kurz und gut: Am anderen Tage ist im landschaftlichen Haus Revision und Gericht gewesen, und drei Kirchspielvögte der Landschaft, die ihr Amt gebraucht hatten, um reich zu werden, sind mit Schimpf aus dem Amte gejagt worden. Dein Urgroßvater aber hat Obervollmacht bekommen und hat bei Gelegenheit dieses Besuches den König zu neuen Deichbauten überredet, und hat dem König, der dazu kein Geld hatte, dreißigtausend Thaler vorgestreckt. Das ist alles so geschehen, wie ich gesagt habe.

»Nach einigen Jahren, als dieser fleißige und tüchtige König gestorben war, ist ein anderer ans Ruder gekommen, der sich um seine Pflicht nicht viel gekümmert hat. Da ist der Staat zurückgekommen; es ist noch dazu ein langer Krieg entstanden. So ist es gekommen, daß dein Urgroßvater keine 89 Zinsen bekam und bald gemerkt hat – denn er war ein aufmerksamer, schlauer Mann –, daß das ganze Kapital in Gefahr war. Da ist er, kurz entschlossen, nach der Hauptstadt gereist.

»Nun weiß ich nicht, wie die Geschichte wirklich und genau verlaufen ist; ich kann es nur wiedergeben, wie hiesige alte Leute es zu erzählen pflegten. Dein Urgroßvater, damals schon weißhaarig, geht also in des Königs Schloß und bittet höflich um eine Unterredung. Als der Diener ihn so von oben ansieht und sagt, der König wäre nicht zu sprechen, da sagt er: ›Jörn Uhl von Wentorf wäre da. Das solle er melden.‹ Als der Diener dennoch nicht springen will, thut der Alte ein paar rasche Züge aus seiner Meerschaumpfeife und hebt den Kälberstaken, den er als Handstock oft bei sich hatte, und kommt richtig bis vor das Zimmer des Königs, wird angemeldet, stellt Stock und Pfeife in die Ecke und will hineingehen. Da kommt der König in einem kunterbunten Schlafrock auf ihn zu und hat einen großen, blanken Ordenstern in der erhobenen Hand und lächelt freundlich. Aber im selben Augenblick hat Jörn Uhl sich umgedreht und hat seine Sachen von der Erde aufgerissen. Und als der König ihm doch nachkommt, hält er abwehrend die Pfeife und den Kälberstaken hoch und ruft: ›Orden und kein Geld? Orden und kein Geld?‹ und macht, daß er die Treppe hinunterkommt. Und geht zu den Ministern. Er hat zwar ziemlich viel verloren; denn der ganze Staat machte Bankerott; aber er hat lange nicht so viel eingebüßt als die anderen.

»Sein Sohn dann, dein Großvater . . . Ja! . . . Der war ein gutmütiger, freundlicher Mann! Aber das, Jürgen, das war auch rein alles, was man von ihm sagen kann! Und das ist wenig, Jürgen. Es ist schlimm, mein Junge, wenn man von einem Manne nicht mehr sagen kann, als 90 daß er gutmütig gewesen sei. So weich und leicht, wie er redete, so weich und leicht pflügte er auch. Ich habe ihn noch gut gekannt.

»Na . . . und dann bekam dein Vater den Hof. Dein Vater . . .«

Der Knabe sah auf und sah dem Alten trotzig in die Augen, als wollte er sagen: »Ich weiß wohl, was du sagen wirst. Ich will dir aber nicht zeigen, daß ich glaube, was du sagst.«

Da verstummte der Alte, als er den Blick sah, und fuhr mit allen fünf Fingern durch den Bart, als wollte er das alte Grauwerk auf die Brust herabreißen, und sagte in wieder angenommenem steifen und lauten Lehrerton: »Was sagt der große Dichter Goethe, der Herold dieses Jahrhunderts, in dem wir leben? ›Was du ererbt von deinen Vätern hast: erwirb es, um es zu besitzen!‹ . . . Nun geh, Jürgen! Ich muß in die Sparkassensitzung.«

* * *

Früh am anderen Morgen, als die Sterne eben vom blaugrauen Himmel verschwunden waren, stand der Junge auf und ging pfeifend und singend und mit den Thüren schlagend durch das ganze Vorderhaus und kam in den Stall. Wieten stand mit den Milcheimern im Gang. »Jung',« sagte sie. »Was ist dir eingefallen, die Uhr ist noch nicht vier?«

Er lachte und that ganz harmlos und sagte, er hätte nicht mehr liegen mögen, es wäre ihm so heiß gewesen. »Wo ist Fiete?« sagte er.

»Den habe ich glücklich herausgebracht,« sagte sie. »Über den habe ich noch Gewalt.«

Er ging laut pfeifend die Diele auf und ab und kam wieder zu Wieten Penn in den Stall und fragte nach den Mädchen.

91 »Ich bin bange, mein Jung', die liegen noch beide im Bett. Willst sie doch nicht besuchen, Jörn?«

»Du bist doch die Haushälterin? Du kannst ja man befehlen.«

»Das ist nicht so einfach,« sagte sie. »Sie stehen sich mit August und Hinrich zu gut: Da dürfen sie etwas länger schlafen.«

Da ging er nach dem Verbindungsgang und warf im Vorbeigehen einige Holzstücke, die da an der Küchenthüre lagen, gegen die Thür der Mädchenkammer und sang und pfiff, daß seine frische Jungenstimme hell durch das morgenstille Haus klang. Wie der erste Vogel im Garten am frühen Morgen stolz auf sein Lied und zugleich schüchtern ist, so sang er.

Er ging auch hinaus, um unter den Fenstern entlang zu gehen. Da sah er seinen Bruder Hans, der vor drei Jahren konfirmiert war, vom Dorfe her über die Weide kommen. Er ging ihm entgegen und lachte übers ganze Gesicht und sagte fröhlich: »Junge, Hans! Ich meinte, du lägst noch im Bett! Bist du schon nach der Mühle gewesen, oder warst du beim Schmied?«

Da kam der Bruder näher und schlug ihn. »Du Lapp!« sagte er mit schwerbetrunkener Zunge und stieß ihn vor die Brust, in den Pferdestall hinein. Er wollte noch einmal zuschlagen, traf aber nicht und mußte sich an ein Pferd anlehnen; das wurde unruhig und fing an zu trampeln. Da kam Fiete Krey zwischen den Pferden hervor, den Striegel in der Hand. »Was ist hier los? Hast du den Jörn geschlagen? Rühr' ihn nicht an, du! Das sage ich dir, wir beide, Jörn und ich, wir verhauen dich, daß du nicht gehen und stehen kannst.«

Am Nachmittage, als der Vater nach seiner Gewohnheit 92 in die Stadt fahren wollte, bot Jörn sich an, die Pferde anzuschirren und vor der Hausthür vorzufahren. Als er alles flink und richtig besorgt hatte und ganz flott mit den beiden schmucken, braunen Pferden um die Hausecke getrabt war, stieg er wieder ab und stand vor den Pferden und hielt das Handpferd am Zügel und tippte ihm auf die Nase und summte jedesmal dazu: »Ultimo ist Unsinn.«

Klaus Uhl hörte es auf der Diele und sagte: »Hörst du den Duckmäuser, Wieten? Was fällt dem ein?« und er lachte.

»Er hat schon den ganzen Morgen gesungen,« sagte sie.

Er sang unterdessen unverdrossen fort: »Ultimo ist Unsinn.«

»Was singst du da?« sagte Klaus Uhl.

»O,« sagte er gleichmütig. »Der Landrat war gestern bei Lehrer Peters, und ich hörte zufällig: ›Alle, die Ultimo spielen, die machen Bankerott.‹«

»Na nu?« . . . Er stieg in den Wagen und lachte herzlich: »Junge, Jörn!« sagte er. »Denn spiel' doch man ja nicht Ultimo.«

Der Junge lachte hell auf, und der Vater fuhr davon. Man hörte noch sein herzliches und frohes Lachen, das so recht voll und leicht aus der Brust herauskam.

Obgleich er in dieser Zeit hoch aufschoß und ihm das Aufstehen so schwer wurde, ließ er sich doch jeden Morgen von Fiete Krey wecken, ging, wie von ungefähr, durch Küche, Stall und Felder und wurde den anderen zum unruhigen, wandernden Gewissen.

Als einmal zwei Pferdehändler im Stalle standen und in Abwesenheit des Vaters mit August, dem ältesten Bruder, handelten, stand er dabei und wich nicht. Da sagte der eine von den Händlern: »Du, Junge, gehe doch 'mal nach der Hofstelle und sieh zu, ob unser Gespann ruhig steht.« Da 93 ging er. Nachher sagte dieser zum anderen: »Merkwürdig, die Augen des Jungen störten mich. Als wenn ich ein Pferdedieb wäre: so sah er mich an.« Der andere lachte: »Mir kam es auch kurios vor. Er hielt uns mit den Augen fest. Ich mußte immer nach ihm hinsehen. Pass' auf, das ist der einzige von Klaus Uhls Kindern, aus dem etwas wird. Der ist ein Wietkieker.«

Als die Brüder eines Tages einem Aufkäufer einige Fuder Heu hinwogen, stand er wieder dabei und mäkelte zuletzt an dem Gewicht. »Er bekommt zu viel!« sagte er. Die Brüder, die betrunken waren, und der Aufkäufer, der ein kluger Spaßmacher war, lachten. Als der Aufkäufer aber merkte, daß es dem Jungen mit seinem Mäkeln ernst war, beklagte er sich mit würdigen Worten, er könne sich solche Bemerkungen nicht gefallen lassen, am wenigsten von einem grünen Jungen; es sei ihm so etwas noch nicht widerfahren. Da flammten die Brüder auf und jagten ihn mit den Forken aus der Scheune. Er ging aufs Feld und ging stundenlang neben Fiete Krey her, der pflügte.

Als es Herbst wurde, hatte Elsbe zusammen mit Lisbeth Junker bei der alten Großmutter Peters Nähschule und ein wenig Französisch. Sie war eine alte, freundliche Frau, die über vierzig Jahre mit ihrem Mann Glück und Leid gemeinsam getragen hat. Aber auf dem Gebiete der fremden Sprachen konnten die beiden nicht zusammenkommen. Die Frau hatte in ihrer Jugend Französisch gelernt und lobte und lehrte diese Sprache. Er aber hatte es im Englischen so weit gebracht, daß er ein nicht zu schweres Buch in dieser Sprache lesen konnte; dazu hatte er dann und wann Gelegenheit, mit englischen Schiffern zu sprechen. Beide hatten einmal versucht, des anderen Sprache noch dazu zu lernen, hatten es aber wieder aufgegeben. Also sah man die beiden alten 94 freundlichen Leute oft, jeder an seinem Fensterplatz, seine Sprache treiben, wobei sie sich auf plattdeutsch unterbrachen und neckten, indem jeder die Sprache des anderen verketzerte und sich über das Volk ausließ, das sie sprach.

Elsbe Uhl, die ihrer Mutter das Leben gekostet hatte, war voll überstarker Lebenslust, wie man oft bei solchen Menschen findet, die, von großen und starken Eltern geboren, kurz von Statur geblieben sind. Sie war für ihre elf Jahre klein; aber sie hatte Saft und Kraft und war dabei rank wie eine junge Esche. Die älteren Brüder übersahen sie vollständig; sie war aber mit Jürgen und mit Fiete Krey ein Herz und eine Seele. Oft, wenn sie nachmittags vom Dorfe her über die Wiesen kam, standen die beiden an der Stallthür und sahen nach ihr aus. Dann hob sie die Büchertasche hoch über den Kopf und winkte damit, und wenn es ihr einfiel, machte sie aus Schelmerei ein hochmütiges Gesicht, indem sie den Kopf zur Seite bog. Sie nannte das: ›Profil zeigen‹. Fiete hatte nämlich behauptet, daß sie von der Seite, besonders von der linken, besser aussehe als von vorne. Die ganze kleine Person war in Bewegung, die Füße glitten und schritten; an Knie und Hüften schlug das Kleid, die Arme bewegten sich, als müßten sie sich durch hohes Reth hindurcharbeiten, statt durch schweren Wind. Wenn sie dann am Grabensteg angekommen war, rief sie durch das sausende Wehen und Baumrauschen: »Soll ich gehen oder soll ich springen?«

»Springen!« schrieen die Jungen.

Das Küchenfenster wurde aufgerissen, und Wieten rief: »Lass' dir von den dummen Jungen nichts vorschnacken.«

»Ärgerst du dich, Wieten, wenn ich springe?«

»Nein, durchaus nicht! Bewahre! Thu', was du willst.« Sie schlug das Fenster zu.

95 Die Bücher flogen zuerst hinüber, dann sie, mit kurzem, starkem Anlauf. Sie kam hinüber und sank ein wenig ins Knie und rief: »Das war ein feiner Sprung, was?«

Fiete nickte und plierte mit den Augen und schickte Jörn nach der Küche, das Vesperbrot zu holen. Als er fort war, pfiff er leise vor sich hin und sah in die Luft. »Weißt du,« sagte er, »ich habe dich hier manchmal den Gang entlang auf dem Arm getragen, als du noch so klein warst.«

»Das lügst du.«

»Wenn ich sage, daß du dir einen tüchtigen Aal geholt hast und beide Füße naß hast, dann lüge ich nicht.«

Da lachte sie: »Du sagst es nicht zu Wieten! Warte, ich komme gleich wieder.«

Nach einer Weile kam sie wieder: »Ich habe die Strümpfe richtig gekriegt, ohne daß sie es gemerkt haben. Ich will sie hier rasch anziehen.«

Sie ging in einen leeren Pferdestand und zog sich rasch um und kam wieder heraus. »Nun pass' auf!« sagte sie. Sie nahm einen wilden Anlauf, wie vorhin am Graben, und sprang ihm in die geöffneten Arme an die Brust und zappelte mit den Händen und Füßen und lachte, und er hielt sie fest.

»Deern, lüttje Witte!« sagte er. »Was bist du für eine wilde Hummel.«

»Still, lass' mich los! Jörn kommt.«

Da ließ er sie rasch los, und als Jürgen mit dem Brot den Gang entlang kam, thaten sie, als wenn nichts geschehen wäre.

Es war gut für das starke, lebensvolle Mädchen, daß in ihrem Freunde, dem Fiete Krey, im nächsten Jahre der erste Stolz angehender Männlichkeit entstand, und er das Kind, ›die lüttje Witte‹, wie er sagte, ein wenig zurückdrängte 96 und sein Herz an das Kleinmädchen hing, das unter Wietens Leitung in der Küche arbeitete, ein zierliches, frisches Mädchen, die mit ihm im gleichen Alter war und seine Liebe erwiderte. Er war aber ein Schelm, als ein Krey, und brach nicht ganz mit der kleinen Elsbe.

Um Allerheiligen kam sie eines Tages aus der Nähstunde in den Stall und sagte zu den beiden: »Lehrer Peters, der sich um jeden Quark kümmert, sagte heute, es wäre jetzt eine schwere Zeit für viele Leute, weil sie Zins bezahlen müßten, den sie schuldig sind. Mich soll 'mal wundern, ob denn nun auch zu uns Leute kommen und Vater Zinsen bringen.«

Jürgens Augen eilten scheu umher; Fiete Krey pfiff dazu.

Nicht lange danach, als sie ihr Vesperbrot verzehrt hatten, kam ein kleiner, alter Mann, ganz gerade und steil, mit eisgrauem, kurzem Haar und einem schmucken, klugen Gesicht über die Hofstelle auf die drei zu und fragte, ob der Bauer zu Hause wäre. Elsbe sagte, daß er nach dem Dorfe gegangen wäre und bald wiederkommen würde.

»Ich möchte ihn gern sprechen,« sagte der Alte.

Die drei sahen ihn an, und da er wegemüde schien, sagte Fiete gutmütig: »Gehen Sie ein wenig in die Stube, bis der Herr kommt.«

Da gingen die beiden Kinder mit ihm über die Diele und wollten gerade mit ihm ins Vorderhaus treten, als Hinrich und Hans aus der Küche kamen. Hinrich sagte: »Nanu? Wen habt ihr denn da?« Und sie sahen den kleinen, steilen Mann von oben an. Er hatte einen langen, blauen Rock von eigengemachtem Zeug an, wie sie es auf der Geest heute noch tragen; seine Stiefel waren grau von Sand, und er hatte sein Vesperbrot in ein rotgewürfeltes Taschentuch geknotet.

97 Die Kinder sagten, daß der Mann den Vater sprechen wolle.

»Na,« sagten die beiden Großen, »warum denn gleich in die gute Stube? Lass' ihn in Fiete Kreys Kammer gehen.«

Der Alte ging mit den beiden in die Knechtskammer, setzte sich dort nieder und sagte freundlich: »Seid ihr die beiden Jüngsten von Klaus Uhl?«

»Ja,« sagte Elsbe, »ich bin schon zwölf, und Jörn ist vierzehn.«

»Ihr seid freundliche Kinder,« sagte er. »Die anderen sahen gleich nach dem Rock und sahen, daß ich ein Geestmann bin. Ich nehme mein Vesperbrot immer von Hause mit, dann brauche ich nicht ins Wirtshaus zu gehen und Geld zu verzehren.«

Jörn sagte mit ernster Betonung: »Wir beide, ich und Elsbe, wir sind immer ganz einfach und werden auch nie ins Wirtshaus gehen.«

»Wenn Ball ist, doch!« sagte Elsbe.

»Ich niemals,« sagte er, »im ganzen Leben nicht.«

»Das ist recht,« sagte der Alte und lächelte. »Dann brauchst du nicht Not zu leiden, wenn du alt bist, und kannst in Ruhe von deinen Zinsen leben.« Da schlug Jürgen in sich, er kehrte sich um und ging aus der Kammer. Er lief, wie gejagt, über die Diele und rannte draußen gegen seinen Vater, der mit fröhlichem, rotem Gesicht heimkam.

»Es ist ein kleiner Geestmann da, der will dich sprechen. Er ist in der Knechtskammer.«

»Was? In der Knechtskammer?« Er ging eilig über die Diele nach der Kammer zu. Als Hans ihm in die Quere kam, gab er dem eine Ohrfeige, daß er gegen die Holzwand flog, dann trat er in die Kammer; es waren Jahre her, daß er darin gewesen war. Was gingen ihn seine Knechte an, was ging ihn Fiete Krey an? Da saß 98 der Alte, und Elsbe stand dicht vor ihm, und sie erzählten sich gerade von Thieß Thiessen, den sie beide gut kannten.

»Geh' hinaus!« sagte Klaus Uhl. »Es thut wir leid, Martens, daß die dummen Jungen Sie hierher geführt haben.«

Der Alte winkte abwehrend mit der Hand: »Ich bin nicht hierhergekommen, um gefeiert zu werden, sondern um meine 80 000 Mark zu kündigen. Meine Tochter will heiraten.«

Jürgen war wieder über die Diele zurückgelaufen und in die Küche gekommen und stand neben Wieten, die am Aufwasch stand, und hatte ihre Schürze angefaßt, wie kleine Kinder zu thun pflegen, bis sie sagte: »Jung', was fällt dir ein? Mach', daß du wegkommst!« Aber er sah sie so an, daß sie schwieg und ihm übers helle Haar strich und sagte: »Ja, es ist man gut, daß deine Mutter nicht mehr lebt.«

Sie sagte dies oder ein ähnliches Wort bei jedem besonderen Ereignis, das im Hause vorfiel. Er verstand es nicht ganz; aber er empfand, daß die Mutter mit dem Geist, der im Hause war, im Widerspruch stand, und obgleich es von der Mutter ein Bild nicht gab, und er sonst auch mit Phantasie sparsam begabt war, hatte er eine bestimmte Vorstellung, als wenn die Mutter mit totem, tiefbekümmertem Gesicht durch das Haus ging. Er dachte sie sich aber groß und lang, während sie doch klein und rund gewesen war, eine Erscheinung, wie später Elsbe wurde.

An diesem Abend, als der Vater früher, aber auch betrunkener nach der Uhl zurückkam, trat Jürgen ihm auf der Diele entgegen, in Hemdsärmeln und eine Forke in der Hand, als käme er von ungefähr aus den Ställen, und sagte mit stockender Stimme: »Vater, wenn wir so viele Schulden haben, müssen wir den Hof wohl bald verkaufen,« 99 und er weinte laut auf. Der Vater aber schlug ihn und jagte ihn von sich. Er lief in die Knechtskammer und schlief dort bei Fiete Krey.

Von diesem Tage an ging er beiseite, wenn er das sorglose Lachen seines Vaters hörte; ja er ging, wenn er sonst nicht wußte wohin, in die Scheunen und in die Gärten, die an dem großen Gewese lagen; und sie fanden ihn zuweilen in das englische oder in das Schullesebuch versunken, in irgend einer Ecke gelehnt oder auf einem Baume oder Balken sitzend. Er setzte es bei Wieten durch, daß er weiterhin bei Fiete Krey in der Knechtskammer schlief, welche von der Diele aus rechts, im Mittelgang, gegenüber der Küche lag, nach dem Apfelgarten hinaus. Dort wohnte er von nun an elf Jahre, nämlich bis zu seiner Verheiratung, die zwei Jahre der Soldatenzeit abgerechnet, und das Jahr da er gegen Frankreich im Felde lag. 100

 


 


 << zurück weiter >>