Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Sie freute sich sehr, als sie neben ihm auf dem Wagen saß und die Braunen anzogen. Jörn Uhl hatte in den letzten Jahren gebückt auf dem Wagen gesessen und immer vor sich auf die Pferde und den Weg gesehen; jetzt aber saß er gerade da und sah mit Munterkeit in den frühen, wogenden Herbstmorgen, dem der Nachtnebel noch in den Augen lag, und wandte oft rasch den Kopf zur Seite und fragte: »Magst du das wohl?« Wenn sie ihm dann strahlend zunickte, dann nickte er wieder und sah eine Weile geradeaus auf den Weg oder über die Felder. Dann sah sie von der Seite auf ihn. Wenn sie aber merkte, daß er sich ihr zuwenden wollte, dann sah sie rasch irgendwo in die Luft, als läse sie wunderliche Dinge in dem losen Nebel. Und so war's, wie's immer ist: der Mann griff in der Front an, das Weib in der Flanke. Und so war alles in bester Ordnung.

Sie waren einander ähnlich; beide mit zusammengerafften, geraden, friesischen Gesichtern, als wenn Natur, die Bildnerin, einen besonders ernsten Beschluß gefaßt hätte, mit einfachsten Mitteln Schönes und Starkes zu schaffen. 449 Das Haar hell, bei ihm ganz schlicht, bei ihr leuchtender und an den Rändern sich kräuselnd. Das Gesicht bei ihm lang und stark, mit schmalen, festen Lippen, gerader, langer Nase und sehr klaren, grauen Augen, die immer auf Wache standen: ein friesisch-sächsischer Bauer, der sich sein Leben aus Not und Sorgen holen muß, der nicht lange und laut und herzlich lacht, sondern kurz auflacht, und im übrigen seine Schelmerei in den Augenwinkeln versteckt, als hockten da kleine Kinder in den Ecken und würfen sich glänzende Bälle zu und kicherten leise. Sie vornehm, zurückhaltend, daß er zeitlebens zu ihr aufsieht als ein Bauer, der eine Grafentochter freit, und ihre Zärtlichkeit, die scheu und plötzlich hervorbricht, mit immer neuem Verwundern entgegennimmt.

Dreimal hielten sie unterwegs, und jedesmal war Lisbeth Junker schuld daran.

Das eine Mal, als sie durch junge Buchen fuhren, sah sie es übers trockene Laub hin und her huschen und legte die Hand auf seinen Arm, daß er hielt. Da waren es schmucke, schlanke Vögel mit schwarzem Kleide und gelbem Schnabel, die in eiligem Hin- und Hergehen ein wenig Morgenkost suchten.

»Amseln!« sagte er. »Turdus merula, ein kluger und gewandter Geselle.«

»Nein, Jürgen! Du kennst wohl rein alles.«

»Wie es anderswo aussieht und was anderswo lebt und webt, davon weiß ich nichts. Es geht mich auch nichts an,« sagte er stolz. »Aber was hier in dieser Gegend in der Erde liegt und darauf wächst und darüber hinläuft: das habe ich untersucht und davon verstehe ich etwas.«

Das zweite Mal hielt er still, damit sie den Blick über das weite Thal genösse, das zur Linken lag. Er zeigte und nannte ihr mit der umständlichen Wichtigkeit des Eingesessenen, der jeden Ort in der Heimat lieb hat, und des 450 Landmannes, der in der ganzen Landschaft den Wert von Grund und Boden kennt, jedes Dorf, und im Grunde des Thales, im tiefen Moor, jede Feldmark, und jenseits des Moores die Namen der Dörfer, »die da . . . ungefähr da, Lisbeth, wo die Peitsche jetzt hinweist,« liegen mußten. Sie dachte zwar im stillen: »Ach, was geht mich das an!« Aber sie unterbrach ihn nicht; sie hörte mit halbem Ohr zu und dachte: »Wie fein sitzest du hier! Ob er wohl heute noch ein offenes Wort redet? Und wie er es wohl anstellt! Ach, der liebe Junge.« Und da er von ihr weg, mit ausgestreckter Peitsche in das Nebelland zeigte, nach Schenefeld zu, drängte sie ihr Gesicht verstohlen gegen die Falten seines Mantels. Es war der Mantel, den Leutnant Hax ihm im Feldzuge geschenkt hatte. Lena Tarn hatte die goldenen Knöpfe sorgfältig mit schwarzem Tuch umnäht.

Das dritte Mal hielten sie auf Lisbeths Vorschlag im »Roten Hahn« und fütterten vor den Fenstern der Gaststube die Pferde. Die Sonne hatte den Nebel aufgesogen; es war hell und warm geworden, daß sie draußen blieben und auf der großen, weißen Bank in der Sonne saßen. Die Wirtsfrau setzte zwei Gläser frischer Morgenmilch vor sie hin und ging ab und zu und redete mit den beiden, die sie nicht kannte, über Ernte und Wetter. Jörn Uhl fragte und antwortete. Das Mädchen, das neben ihm saß, sah mit stillen Augen über den Weg nach dem Gesträuch auf dem Wall, in dem flinke Vögel ihr Wesen hatten, malte in Träumen kleine, verschwommene Bilder naher und ferner Zukunft, und wischte sie wieder aus und malte neue, und kam erschreckt zur Gegenwart gelaufen, welche aller Zukunft Mutter ist. Und hörte die Stimme des Mannes neben sich, und lächelte vor sich hin und malte weiter.

Jörn Uhl redete und fühlte sich großartig gemütlich. 451 Er hätte sich gern ein wenig bequemer hingesetzt, die Füße weit ausgestreckt; aber sie saß da so sipp und sauber wie ein seiden Tuch, das man eben aus der Lade geholt hat.

Als die Wirtin ins Haus ging, fragte er sie wieder, ob sie Freude an der Fahrt hätte, und sie versicherte ihm wieder, daß sie niemals in ihrem ganzen Leben einen so schönen Tag gehabt hätte. »Das mußt du mir auch ansehen können, Jörn.« Und sie sah ihn an, daß ihm ganz wunderlich ums Herz wurde, und er sagte: »Ich wage mich gar nicht nahe an deine Augen heran. Mir wird dann schwindlig, als könnte ich hineinfallen: so tief sind sie.« Und er schlug mit seiner großen, flachen Hand auf den Tisch und sagte: »Sag' noch 'mal 'was, Heintüüt.«

Da warf sie den Kopf in den Nacken, legte sich zurück und lachte, und schlug den Handschuh auf seine Hand, und legte ihre Hand neben die seine und sagte: »Solche Hände!«

Da fragte die gutgelaunte Wirtin aus dem offenen Fenster heraus: sie wären wohl noch nicht lange verheiratet?

»Nein,« sagte Jörn Uhl. »Ich habe sieben Jahre um sie gefreit. Ich hatte nie den Mut: vorgestern habe ich sie endlich bekommen.«

Sie schüttelte heftig den Kopf, verbarg ihr Gesicht in den Händen und lachte: »Nein, Jörn, Jörn, was machst du!«

»Man braucht wirklich nicht studiert zu haben,« sagte die Wirtin, »um zu sehen, daß sie eben erst Frau geworden ist. Sie hat Ihnen eben einen Blick zugeworfen: So sieht man den Mann nicht an, wenn man schon jahrelang bei ihm wohnt.«

Da schlug Jörn Uhl zum zweitenmal auf den Tisch und sagte: »So! Sah sie mich so an?« Er nahm ihr die Hand vom Gesicht und sagte: »Thu's noch 'mal.«

Aber sie schlug ihn auf die Hand, und riß sich los und sah geradeaus über den Weg, und sah einem fliegenden 452 Vogel nach und dachte: »Könntest du eine Weile davon fliegen, das wäre gut.«

Da kam gerade zur rechten Zeit der Junge der Wirtin aus der Schule gelaufen, ein hellhaariger Junge von zehn Jahren, und suchte mit seinem Buch einen Platz zum Sitzen und setzte sich auf den Rand der Krippe vor die Pferdemäuler. Da schob Lisbeth Junker die Milchgläser nach Jörn Uhl hinüber, mit einer Bewegung: »Da hast du alles.« Und ohne aufzusehen, lud sie den Jungen ein: »Komm, du sollst hier bei mir sitzen. Was für ein Buch hast du da?«

»Aus der Bibliothek,« sagte er. »Märchen. Ich lese sie alle der Reihe nach. So weit bin ich schon.«

Sie sah in das Buch, das der Junge ihr hinhielt, sah die Überschrift und sagte: »Lies mir das 'mal vor.«

»Dies?« sagte der Junge.

»Nein . . . dies da . . . ›vom gescheiten Hans‹. Dieser Mann hier mag gern Märchen hören, wenn sie gut und wahr sind.«

Da las der Junge die Geschichte vom gescheiten Hans.

Hansens Mutter sagte: »Wohin, Hans?« Hans antwortet: »Zu Gret.« »Mach's gut, Hans.« »Schon gut machen, adjüs, Mutter.«

Hans kommt zur Gret. »Guten Tag, Gret.« »Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?« »Bring' nichts, will 'was haben!« Gret schenkt ihm ein Messer. »Adjüs, Gret.« »Adjüs, Hans.«

Hans nimmt das Messer, steckt's an den Hut und geht nach Haus. »Guten Abend, Mutter.« »Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?« »Bei Gret gewesen.« »Was hast ihr gebracht?« »Gebracht? Nichts gebracht! Gegeben hat. Messer gegeben!« »Wo ist das Messer?« »An Hut 453 gesteckt.« »Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest das Messer in die Tasche stecken.« »Thut nichts, Mutter, besser machen.«

»Wohin, Hans?« »Zu Gret, Mutter.« »Mach's gut, Hans.« »Schon gut machen, Mutter. Adjüs, Mutter.« »Adjüs, Hans.«

Hans kommt zu Gret. »Guten Tag, Gret!« »Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes, Hans?« »Bringe nichts, will 'was haben!« Gret schenkt Hans eine junge Ziege. »Adjüs, Gret.« »Adjüs, Hans«

Hans nimmt die Ziege, bindet ihr die Beine zusammen und steckt sie in die Tasche. Als er nach Hause kommt: »Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?« »Bei Gret gewesen.« »Was hast du ihr gebracht?« »Gebracht? Nichts gebracht. Gegeben hat. Ziege!« »Wo hast die Ziege, Hans?« »In die Tasche gesteckt.« »Das hast dumm gemacht, Hans; mußtest die Ziege ans Seil binden und an die Raufe stellen.« »Thut nichts, besser machen.«

»Wohin, Hans?« »Zur Gret, Mutter.« »Mach's gut, Hans.« »Schon gut machen. Adjüs, Mutter.« »Adjüs, Hans.« Hans kommt zu Gret. »Guten Tag, Gret.« »Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?« »Bring' nichts, will 'was haben.« Da sagte Gret: »Ich will mit dir gehen.«

Hans bindet Gret ans Seil, und stellt sie an die Raufe und macht sie fest und geht zu seiner Mutter. »Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?« »Bei Gret gewesen.«

»Was hast du ihr gebracht?« »Nichts gebracht.« »Was hat sie dir denn gegeben.« »Gegeben? Nichts gegeben. Mit gekommen.« »Wo hast sie denn?« »Am Strick, an der Raufe.« »Das hast dumm gemacht, Hans, mußtest sie streicheln.« »Thut nichts, besser machen.«

Da geht Hans in den Stall, nimmt einen 454 Pferdestriegel und streicht sie. Da wird Gret böse, reißt sich los und läuft fort.

Und ist Hansens Braut geworden.

»Na!« sagte der Junge, »das ist aber ein Dummer gewesen!«

»Großartig!« sagte Lisbeth. »Steht da nicht, woher er stammt? War er aus Wentorf?«

Da schlug Jörn Uhl zum drittenmal auf den Tisch. »Wenn das nicht gut und grob ist, dann will ich nicht Jörn Uhl heißen.«

»So!« sagte sie. »Nun wollen wir weiter fahren.«

Die Sonne stand schon ziemlich hoch: da fuhren sie links auf die Höhe. und bald sahen sie unter Linden und alten, hohen Äpfelbäumen das stille, kleine Dorf, und als sie vor dem ersten breiten Hof anhielten, in der Hoffnung, es sollte irgend ein Bewohner herauskommen und ihnen sagen, wo der Kriegskamerad wohnte, da erschien er selbst in der Thür, größer und bedeutend breiter als damals, da er in Rendsburg den weißen Lederriemen um die Hüfte schnallte. »Hier wohnt der Mann!« rief er. »Junge, Jörn, wen hast du neben dir sitzen? Ist das nicht? . . . Mensch, das ist ja Lisbeth Junker? Die habe ich lange nicht gesehen.«

»Nanu?« sagte Jörn, »ihr kennt euch?«

»Ja, wir haben uns mehrmals gesehen; sind aber nun sieben oder acht Jahre her.«

Lisbeth Junker nickte etwas stolz, daß Jörn Uhl dachte, es wäre nicht gerade eine angenehme Erinnerung für sie, und nicht weiter nachfragen wollte. »Lisbeth und ich sind Nachbars Kinder,« sagte er. »Nun kam sie bei Thieß Thiessen zum Besuch . . . du weißt doch, daß ich die Uhl aufgegeben habe?«

»Das weiß ich alles, mein Jung'; auch daß du bei 455 Thieß Thiessen bist. Gut, daß du den hast, Jörn! Mich freut, Junge, daß du so munter bist. Ist das Ihr Werk, Fräulein Junker?«

Lisbeth sah von der Höhe des Wagens auf den Kriegskameraden und sagte: »Du hast damals ›du‹ zu mir gesagt: Stell' dich nicht so an und thu's heute auch! Und nun hilf mir vom Wagen.«

Er lachte fröhlich wie ein Mensch, der aus einer Unsicherheit und Verlegenheit wieder auf festen Grund kommt. »Du bist noch immer dieselbe,« sagte er. »Komm her, Deern!« Er machte das Wagenleder los und hob sie herunter. »Eine Tonne schweren, guten Moorhafer,« sagte er, »so um hundertdreißig Pfund.«

Jörn stand an der anderen Seite des Wagens und machte eifrig die Stränge los und sagte laut: »Wir wollten 'mal sehen, ob wir uns vertragen könnten; darum sind wir zusammen ausgefahren.«

»So!« sagte der Kamerad. Dann sagte er ungeduldig: »Nun sagt ein Wort: Seid ihr Brautleute, oder wollt ihr's werden?«

»Muß man gleich Brautpaar sein,« sagte Jörn mit flammenden Augen, »wenn man mit seinem Schulkameraden eine gemütliche Wagenfahrt macht? Brautleute? Sie hat mir vorhin im ›Roten Hahn‹ noch eine Rede gehalten, die hart war. Ich bin froh, wenn ich mit ihr wieder im Hause bin.«

So sagte er mit zornigen Augen. Als sie aber an den Pferdeköpfen vorbei an ihm vorüber wollte, um ins Haus zu treten, kehrte er sich flink zu ihr um und ließ sie so an sich vorüber gehen. Und sie sah ihn rasch an, und ihre Augen strahlten. Dann ging sie eilig ins Haus.

456 Da merkte er, daß es wirklich gut um ihn stand. Er arbeitete weiter an den Pferden und pfiff dazu.

»Mich freut mächtig,« sagte der Kamerad, »daß du so munter bist und auch 'mal ein Wort sagst, das nicht gerade nötig ist. Weißt du noch? Sie erzählten nachher: Bei Gravelotte, am achtzehnten, hättest du, solange wir im Feuer standen, nichts gesagt als: ›Schad' um das gute Pferd.‹«

Jörn kehrte sich lebhaft um: »Es thut mir heute noch leid,« sagte er; »es war ein wackeres, arbeitsames Pferd, und es war eine Stute.«

Dann fing er da, an Ort und Stelle, an, von den vergangenen Jahren zu sprechen. Er sprach, durch das Wiedersehen des Kameraden erregt, im Suchen nach der alten Vertrautheit, die er doch nicht gleich wiederfand, aus fröhlicher Seele heraus. Aber da sein Körper und seine Seele von den langen, stillen Jahren und der schweren Arbeit steif und unbeholfen war, so kam alles, was er sagte, ein wenig gemacht übertrieben zu Tage, wie die ersten Sprünge, welche die Märzlämmer auf der Weide machen. Er erzählte mit viel Handbewegung und mit großer Offenheit, daß er jetzt ganz land- und heimatlos, aber auch ganz sorgenlos wäre, und daß es ihm schiene, als wenn die Deern, die Lisbeth Junker, wahrhaftig etwas von ihm hielte; das hätte er nie für möglich gehalten. Aber er wisse ja noch nicht, was er anfassen sollte.

Der Dienstjunge kam und übernahm die Pferde und sah neugierig auf den großen, etwas gebückten Mann, der so wichtige Dinge in seiner Gegenwart erzählte. Der Kamerad legte die Hand auf Jörn Uhls Schulter und sagte: »Nun komm herein,« und ging lächelnd hinter ihm her.

Die Mutter, eine breite Frau mit gutem Gesicht und dunklem, leicht ergrautem Haar, betrachtete ihre beiden Gäste mit gemütlicher Behäbigkeit, sprach mit Bedauern 457 von der langen Krankheit des alten Uhl und wie nett es wäre, daß er den Thieß Thiessen hätte. »Und so einsam bist du ja auch nicht; denn als du ein wenig über Land fahren wolltest, fandest du eine so schmucke Begleiterin.« Unter diesen Reden nötigte sie die beiden Gäste in die Stube und sah ihren Sohn an, als wenn sie sagen wollte: »Was soll ich von den beiden denken? Wie steht es mit ihnen?« Denn hier zu Lande muß alles klar und deutlich sein, rein oder schmutzig, weiß oder schwarz, verlobt oder nicht. Das hatte Jörn Uhl nicht recht bedacht.

»Ja, Mutter,« sagte der Schelm laut, der ihre Augensprache erriet, »ich weiß nicht, was mit den beiden ist: verlobt sind sie noch nicht. Ich weiß auch nicht, an wem es liegt, daß sie es nicht sind; ich denke aber, es kommt noch alles in Ordnung. Sie sind jedenfalls hierher gekommen, weil sie denken, du kannst ihnen helfen; denn es ist doch im ganzen Lande bekannt, was du alles thust, um deinem Sohne zu einer Frau zu verhelfen.«

Da drohte sie ihm mit der Hand und schalt ihn aus, daß er alles gleich so herausrede, und sagte, er solle sofort seinen losen Mund halten. Er aber lachte und sagte: »Weißt du was? Du nimmst diese Lisbeth Junker mit dir nach der Küche und beredest alles mit ihr, und ich nehme Jörn Uhl und zeige ihm unsern Stall.«

Er nahm Jörn Uhl am Arm und ging mit ihm hinaus. Und draußen, als sie durch Haus und Scheune gegangen waren, sagte er zu ihm: »Du, Jörn, wie kommst du dazu, mit dem Mädchen allein durchs Land zu fahren? Sag' 'mal, wie stehst du zu ihr?« Und er zeigte mit rückwärts gerichtetem Daumen über die linke Schulter weg nach der Gegend der Küche und zwinkerte mit den Augen.

»Ja,« sagte Jörn und wurde lebhaft: »Wie steh' ich mit 458 ihr? Weißt du das? Ich weiß es nicht. Ich habe sie von Kind an mächtig gern gehabt; aber ich hatte immer, bis auf diesen Tag, zu viel Respekt vor ihr: das ist es. Wir sahen alle miteinander zu ihr auf, bis auf Fiete Krey – weißt du? – den Sechsundachtziger, den wir bei Gravelotte trafen. Aber der steht ja mit dem Kaiser auf du und du . . . Ich habe niemals gedacht, daß es dazu kommen könnte.«

»Wozu, Dösiger?«

»Ja, Mensch, was soll ich sagen? . . . Daß sie mich vielleicht zum Manne nehmen würde! . . . All meine Tage werde ich mich mächtig in acht nehmen müssen; ich muß immer im Sonntagsrock gehen.« Er atmete hoch auf. »Mensch,« sagte er, »was ist sie schmuck! Aber vornehm, du! Ich riskiere nicht, sie anzufassen. Und ein bißchen kalt, glaube ich.«

Da lachte der Kamerad: »Kalt? Die kalt? Die hat ebenso rotes Blut wie andere. Sie hat sich nur versteckt und verschanzt hinter so stolzem, stillem Wesen. Das hat man nicht selten. Pass' auf: wenn du die Schanze stürmst, verwandeln sich die kalten Brustwehren in lauter Feuer. Das ist meine Meinung.«

»Wie kannst du das so sicher sagen?«

»Ach,« sagte der Schelm und zog die Schultern hoch.

»Ja,« sagte Jörn und machte wieder ein getrostes Gesicht. »Das ist wahr. Sie ist großartig gut mit mir. Es ist ganz erstaunlich, wie freundlich sie ist. Köstlich ist das.«

Aber gleich wurde er wieder wankend. »Ich kann mir's nicht denken,« sagte er. »Siehst du: sie war mir immer das Feinste, was ich mir auf der ganzen Welt denken konnte. Turmhoch, sage ich dir, über mir. Ihre Kleider, ihre Hände und ihr Haar. Ist das gewöhnliches Mädchenhaar? Und vor allem ihr Wesen! Weißt du: es war mir von Kindheit 459 an, als ginge ich immer um ein feines, hohes Schloß herum; und ich machte mir immer viele Gedanken und war neugierig, wie das inwendig wohl aussähe. Und nun, Mensch, seit vorgestern führt sie mich an der Hand von Saal zu Saal, und du glaubst nicht, du kannst dir gar nicht denken, wie wunderbar schön das alles ist, alles so hoch und rein und schön, daß dir vor Freude der Atem still steht. Und ich? Ich dagegen? Hab' nichts, kann nichts, bin nichts. Du weißt, alle Leute halten sich über mich auf und sagen, ich bin ein wunderlicher Mensch. Neulich hörte ich in der Dorfstraße, daß ein Kind zum anderen sagte: ›Guck, der kann aus den Sternen sehen, wann einer tot bleibt und wann wir Krieg bekommen.‹ Ich bin immer ein Vierkant gewesen, das weißt du. Und solche Hände habe ich. Sieh 'mal, solche Hände! So groß und so leer. Was will die Prinzessin mit dem Bauernjungen?«

»Du bist 'n Tapps. Streck' die Hand aus: sie fliegt hinein.«

»Meinst das wirklich?«

»Ich kenne das Zeug,« sagte der Kamerad großartig.

»Das Zeug?!« sagte Jörn. »Sie ist eben kein Zeug!«

»Na . . . ich sage: Sie ist nicht anders als die anderen. Vielleicht ist sie noch ein bißchen lebendiger, weil sie ein bißchen klüger ist.«

So sprachen sie miteinander. Dann gingen sie weiter und kamen auf das Thema »Pferde«, und der Kamerad ließ zwei Vierjährige vorführen und regte sich auf, als Jörn Uhl sie nicht unbedingt loben wollte.

»Bring' sie wieder hinein,« schrie er den Jungen an. »Nun mag ich sie nicht mehr sehen.«

»Sag' 'mal,« sagte Jörn, »wo hast du sie kennen gelernt?«

460 Da zog der Kriegskamerad die Brauen hoch und sagte, noch zornig wegen des mangelnden Pferdelobes: »Frag' sie selbst: vielleicht erzählt sie es, vielleicht auch nicht.«

»Sag' es doch. Es ist ja Unsinn, daß du es nicht sagen willst.«

Da lachte der Haussohn und sprang zur Küchenthür und riß sie auf: »Du,« rief er hinein, »der Jörn Uhl will wissen, wo und wie ich dich kennen gelernt habe. Soll ich es erzählen oder nicht?«

Lisbeth Junker stand am Herd neben seiner Mutter, warf den Kopf in den Nacken und sagte: »Erzähl', was du nicht lassen kannst.« Seine Mutter sagte: »Hinaus!« und griff nach der Feuerzange.

Da kam der Kriegskamerad zurück: »Na,« sagte er . . . »wenn du es wissen willst, es war so: . . . Vor sechs oder sieben Jahren, bald nach dem Feldzuge, war ich mit Fuhrwerk in die Stadt gekommen. Es muß mitten im Sommer gewesen sein . . . Als ich abends in der Dämmerung wieder hinausfahre, geht da bei den letzten Häusern die Lisbeth Junker, die ich zuweilen gesehen hatte, als ich das Gymnasium besuchte und sie in die Klippschule ging. Ich halte still und frage, wie es ihr geht. Du weißt: daß wir den Feldzug hinter uns hatten, das hatte uns kühn und stolz gemacht, auch gegenüber den Mädchen. Ich spreche ein wenig mit ihr und freue mich, wie sie mit ihrem kleinen, schmucken, weißen Gesicht so zutraulich zu mir hinauf sieht. Sie sagte, sie warte auf den Wagen von Vollmacht Dieck, der hätte ihr versprochen, sie mit nach Wentorf zu nehmen. Ich sage: ›Na, da kannst du vielleicht noch lange warten. Weißt du 'was? Fahr' mit mir! Ich lasse meine Pferde über Sankt Mariendonn laufen; was liegt mir an dem Umweg, wenn du neben mir sitzest.‹ Ich dachte nämlich: du hast 461 so manche einsame Fahrt gemacht; diese muß gemütlich werden. Sie besann sich erst ziemlich lange und wollte erst nicht und sah ein wenig bedenklich zu mir auf. Ich rede auf sie ein, so gut ich kann, werde hochmütig, werde demütig, scherze und spotte und werde zornig. Ich glaube, sie hörte nur halb auf meine Worte, sah mich nur immer beobachtend an, und plötzlich, als ich gerade nach einem neuen Halfter suche, sie zu fangen, sagte sie: ›Mach' Platz.‹ Ich reiße das Schutzleder auf, und sie sitzt da richtig neben mir, und ich hole ordentlich Luft und denke: ›Soweit wären wir.‹ Ich grübelte aber nach, wie ich es wohl ein wenig weiter brächte, und dachte, daß es ein feines und zartes Stück Arbeit werden müßte, sollt's gelingen; denn sie war bei uns allen bekannt als eine, die sich nicht an den Gurt kommen ließ.

Ich unterhalte mich also, so gut ich kann, rede mit ihr, was ihr wohl gefallen konnte. Du, damals hat Gravelotte mir den ersten Dienst gethan. Wenn sie aber irgend etwas sagte, gab ich ihr recht und bekräftigte ihre Meinung mit starken Gründen. Und sie war guter Dinge, und ich merkte wohl, daß ich ihr in dieser Stunde nicht unangenehm war. Ich war aber meiner Sache sehr ungewiß, fand auch ganz und gar keine glatte Überleitung, so sehr ich auch nachdachte. Ich fürchtete, daß sie einen furchtbaren Schreck bekommen würde, und würde schlecht von mir denken und mir lebenslang gram sein. Und das wäre mir leid gewesen; denn sie war eine schmucke, feine Deern, vor der man ohne weiteres Respekt hatte, man brauchte ihr bloß in das reine, schöne Gesicht zu sehen. Aber so ist es ja, du: gerade so eine zu gewinnen, das scheint uns der größten Mühe wert. Na, nun kam es so:

Wir waren beinahe schon nach Wentorf. Weißt du, da, wo der Weg nach Gudendorf abbiegt, und es war inzwischen 462 so recht weiche, dunkle Nacht geworden, da denke ich: Du mußt die Sache jetzt angreifen, sonst kommt nichts danach. Ich fange also vorsichtig und mit Herzklopfen an. Wahrhaftig, Mensch, das kannst du glauben. ›Du, Lisbeth Junker,‹ sagte ich, ›du fährst ja nun mit mir, nicht?‹ ›Ja,‹ sagt sie und lacht. ›Ja, siehst du, wenn sonst jemand so mitfährt, dann sagt er: ›Komm, wir wollen hier oder da einkehren, und du sollst einen Freischluck thun, weil ich mit dir gefahren bin.‹ Das können wir beide nicht thun, was? Nein, du würdest ins Gerede kommen, auch ist es zweifelhaft, ob in der Wirtschaft noch Licht ist. Nun überleg' dir 'mal recht verständig, was du mir nun Gutes thun willst; denn sonst würde es dir nachher immer ein peinlicher Gedanke sein, daß du mit mir gefahren wärst und hättest mir nichts Gutes dafür gethan. Sieh, du fährst nun doch 'mal mit mir, und daran ist nichts zu ändern.‹ ›Ja,‹ sagte sie und lachte, ›sag' man lieber gerade heraus, was willst du haben?‹ Da riskiere' ich ein Wort und sage: ›Ja, wenn du es mir nicht übel nehmen willst, kleine Deern, ich möchte gerne einen Kuß haben, und wenn's angehen kann, noch einige mehr. Sei um Himmels willen nicht bange. Bleib' still sitzen. Du brauchst nicht vom Wagen zu springen. Wenn du es nicht willst, so lasse ich dich so ungeschoren wie meine Großmutter, wenn ich mit ihr zur Kirche fahre. Nimm's bloß nicht übel.‹

Na, so ungefähr sage ich. Sie sitzt eine Weile still, als besänne sie sich, und ich höre ihr leises Atmen, und es thut mir schon leid, daß ich es gesagt habe, und ich will zum Rückzug blasen, da sagt sie langsam und leise: ›Ich weiß wohl, daß ihr nachher manchmal damit prahlt, wenn ein Mädchen euch zu willen gewesen ist. Ich will mich wohl von dir küssen lassen, weil du ein freundlicher und ordentlicher Junge bist; du sollst mir aber in die Hand versprechen, 463 daß du niemandem in der Welt jemals ein Wort davon sagen willst.‹ Ich, ich sage dir, Jörn . . . ich wurde ganz still und ernst. Ich mußte ihr wahrhaftig die Hand geben und mußte ihr die Worte nachsprechen, die sie vorsagte, und ich glaube, ich hätte nachher noch eine Weile steif und tapsig neben ihr gesessen, wenn sie nicht ihre Hände vors Gesicht gelegt hätte, um zu weinen oder zu lachen, ich weiß nicht. Da nahm ich mit einem guten Wort ihr kleines, frisches Gesicht hoch, und Jörn . . . sie ist zutraulich zu mir gewesen. Wir haben geküßt und geplaudert. Die Pferde grasten am Straßenrand, der Wagen stand schräg überm Weg: wir haben uns nicht darum gekümmert. Bei Ringelshörn stieg sie vom Wagen: ›Du,‹ sagte ich, als sie neben dem Wagen in der Heide stand, ›es hat mir mächtig gut gefallen. Sei eine kleine, gute Deern und sag' mir, an welchem Abend in der nächsten Woche ich nach Wentorf kommen und an den Weiden im Schulgarten auf dich warten soll.‹ Aber sie schüttelte den Kopf und sagte: ›Du sollst Dank haben, bist ein lieber, guter Junge gewesen; aber vom Schulgarten bleib' weg. Zum bloßen Liebeln bin ich viel zu gut, und heiraten thu' ich dich doch nicht; ich habe einen anderen lieb, den ich nie bekomme.‹ Ich warf ihr einige ›Hexen‹ an den Kopf und mußte sie so gehen lassen. Sie ging den Abhang hinunter nach dem Goldsoot zu. Seitdem habe ich sie nur einmal am Bahnhof gesehen; sie kam auf mich zu und grüßte mich, als wäre ich ihr guter Bruder. Ich kann dir sagen: Ich freue mich bis auf den heutigen Tag des Abenteuers. Nach dem Schulgarten bin ich nicht gegangen; ich dachte damals noch nicht an Heiraten.«

So sagte der Kriegskamerad und warf einen spähenden, schelmischen Blick erst auf Jörn Uhl, dann nach der Küche.

Unterdes saß Lisbeth Junker auf der Torfkiste neben dem Herd, und die Frau mit dem blanken, dunkelgrauen 464 Scheitel fragte: »Nun sag' mir 'mal gerade heraus: was ist das mit euch? Von Jörn Uhl weiß ich ja allerlei. Ein bißchen sonderbar ist er, guckt nach den Sternen und tüftelt allerlei aus, was zum Bauern nicht nötig ist. Steif und ungewandt ist er auch. Nicht so schlimm wie Pastor Wedt: dem gab seine Haushälterin den Schirm in die Hand und sagte: ›So müssen Sie ihn tragen, Herr Pastor; von Westen kommt der Wind.‹ Auf der Rückkehr sagte der Kutscher: ›Nun anders rum, Herr Pastor!‹ Aber er wollte nicht; er hielt ihn so fest, wie seine alte Kathrin ihm gesagt hatte. Nein, so schlimm ist es mit ihm nicht; aber unpraktisch ist er und vierkantig, kurz: ein lateinischer Bauer. Aber das sage ich: doch einer, wie eine Mutter sich einen Sohn wünschen kann. O ja: das ist wahr; du brauchst gar nicht so blanke Augen zu machen. Mein dummer Junge hat oft zu mir gesagt: ›Wenn der dein Sohn wär', Mutter, an dem hättest du deine helle Freude.‹ Na, kurz und gut, bist du mit ihm versprochen?«

Lisbeth sah von ihrer Torfkiste auf und fand, daß sie keinen Grund hätte, zu verbergen, was sie bewegte. Ihr war das Herz seit acht Jahren voll von Jörn Uhl; aber seit vorgestern war es übervoll. Also, wie ein kleines Kind dem fremden Besuch erst schüchtern, mit bangen Augen und zögernd, die Hand reicht, dann aber bald zutraulicher wird, so begann Lisbeth Junker von ihrer Mutter, der unglücklichen Lehrerstochter, von ihrer Jugend bei den alten, freundlichen Großeltern, und von ihrem Spielkameraden, dem wunderlichen Jörn Uhl, zu erzählen. Und nun blieb sie bei Jörn Uhl. Jörn Uhl, Jörn Uhl. Nichts als Jörn Uhl. »Immer habe ich ihn lieb gehabt. Aber zuerst war er mir noch zu dünn und zu dumm. Danach hätte ich ihn schrecklich gern gehabt; aber da heiratete er eine andere. Ach, wie 465 bin ich in der Zeit in Not gewesen. Dann starb die. Da hätte ich ihn erst recht gern gehabt. Aber da kam der Jammer mit seinem Vater und den Brüdern, sieben Jahre lang; da hatte er keinen einzigen Gedanken für mich übrig. Und nun . . . nun sieht es fast so aus, als wenn . . . Ach Gott, gestern hat er mit mir geläufert. Er ist jetzt einunddreißig, und ich bin sechsundzwanzig.«

Die Frau am Herde schlug die Hände vor der Brust zusammen: »Nein,« sagte sie, »was ist das für eine Geschichte! Ich habe in meinem Leben einen einzigen Roman gelesen: ›Die Ohrringe der Henkerstochter‹. Aber dies ist auch ein Roman. Was für eine Geschichte! Aber wer weiß, wozu es gut ist. Ich habe mit achtzehn geheiratet, und er war fünfundzwanzig, und ich war vernünftig, und er war's nicht. Er war gerade so 'n Wildfang wie jetzt sein Junge ist. Da mußte ich ernst sein. Da bin ich denn so geworden, wie ich bin, so ein bißchen strenge und laut. Von Haus aus war ich ein weichmütiges Ding.«

»Wenn ich bloß wüßte,« sagte Lisbeth, »ob er mich nimmt. Er hat keinen Hof und kein Geld. Ich nehme ihn so gern, so gern, so wie er ist. Und wenn ich auch mit ihm auf dem Heeshof sitzen soll, werde ich glücklich sein, ja wenn ich mit ihm Torf graben soll. Aber das thut er nicht. Er wird irgendwo hingehen und irgend etwas anfangen. Und wer weiß, was dann alles zwischen uns tritt.« So klagte sie und sah mit überströmenden Augen in die Herdflamme.

»Ach,« sagte die Frau und wehrte mit den Händen: »Mach' dir keine Sorge. Sieh zu, daß er dir heute noch reinen Wein einschenkt: dann bist du seine Braut.«

Lisbeth legte die Hände vors Gesicht, weil ihr die helle Röte darüberfuhr: so erfreute und erschreckte sie das kleine Wort, das die Frau gesagt hatte. »Er wird es jetzt nicht 466 thun,« sagte sie zweifelnd, »weil er noch nicht weiß, was er beginnen soll. Aber so viel ist sicher: eine andere heiratet er wenigstens nicht.«

So redeten die Frauen miteinander, bis sich alle Hausgenossen samt den Gästen um den schwerbesetzten Mittagstisch setzten: das Großmädchen an der Seite der Frau, ihr Sohn ihr gegenüber, neben diesem der ständige Tagelöhner, dann die anderen Dienstboten.

»Du hast viel Gutes an meinem Jungen gethan,« sagte die Frau, »solange ihr miteinander Soldat gewesen seid, erst im Frieden, dann im Kriege. Er war wohl ein Taugenichts?«

»Das war er,« sagte Jörn; »aber einer von der Sorte, die man gern leiden mag.«

»Das ist gerade das Schlimme,« sagte sie, »daß man ihm nicht recht böse werden kann, wenigstens nicht auf die Dauer. Wenn man seinen Zorn an ihm auslassen will, muß man es gleich thun: sonst kommt man nicht dazu. Du kannst mir glauben, ich bin satt, mich an ihm zu ärgern; ich wollte, daß er sich endlich eine tüchtige Frau suchte.«

»Mutter,« sagte der Kamerad, »du hast gestern noch gesagt, daß ich im letzten Jahre verständiger und ernster geworden bin.«

»Ja, das ist wahr, Uhl. Das ist er. Im letzten Jahre wird's besser; aber es wird nichts Rechtes aus ihm werden, bis er heiratet.«

»Heiraten will ich noch nicht,« sagte der Schelm. »Weißt du was? Heirat' du! Du bist noch jung genug. Dann hast du Hilfe im Hause.«

Da langte sie mit dem Holzlöffel, den sie in der Hand hatte, über den Tisch und gab ihm, obgleich er sich behende zurückbog, einen starken Hieb auf den krausen Kopf, daß die 467 Mulde des Löffels davonsprang. »Wenn du dich über deine Mutter lustig machen willst! Gret, hol' einen neuen Löffel.«

Die Leute lachten ein wenig, schienen aber solche Begebenheiten gut zu kennen.

»Auf drei Schulen ist er gewesen,« schalt sie, »und bei zwei Pastoren; aber so, wie er gegangen ist, ist er wieder heimgekommen: so ohne Ernst und ohne Interessen. Danach dachte ich, daß der Feldzug ihn verständiger machen würde; aber gleich auf dem Bahnhof, wie er ankommt, ist das erste, daß er mich auf den Arm nimmt und trägt mich durch alle die Menschen nach dem Wagen. Seit dem Tage habe ich schon wieder manchen Schleef auf ihm abgeschlagen. Ich weiß nicht, was daraus werden soll. Er trinkt nicht, er spielt nicht, er fault nicht und schläft nicht; aber er ist nicht ernst, nicht strebsam.«

»Sie nimmt alles krumm,« sagte der Kamerad, »alles, was ich thu' und sage. Alles, was ich sage und thue, ist nach meiner Meinung das einzig Richtige und Vernünftige; aber nach ihrer Meinung ist es gerade das Verkehrte! Entweder ist sie nicht meine Mutter, oder ich bin nicht ihr Sohn. Am ehesten könnte sie noch meine Frau sein.«

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. »Sein Vater,« sagte sie, »war auch so. Was habe ich mit dem getragen? Ich konnte keinen Schritt im Hause thun, ohne geneckt, geküßt, gezerrt zu werden, überall stand er mir bei der Arbeit mit seinen Albernheiten im Wege. Eine ernste Sache war nicht mit ihm zu besprechen; er wandte alles ins Lächerliche. In diesen Jahren unserer jungen Ehe habe ich oft gedacht: wenn das so dreißig Jahre dauert, dann wirst du nie alt, kommst aber auch nie zur Ruhe. Aber nachher, als wir so etwa zehn Jahre verheiratet waren, da änderte er sich. Gerade als wenn er ein neues Blatt in seinem Leben 468 aufschlug. Wenn man das erzählt, glaubt es kein Mensch und ist doch wahr. Er bekam Interesse an Handel und Wandel, ließ Moor im Großen graben und legte eine Ziegelei an, die er nachher wieder verkaufte. Nun ging er häufiger unterwegs, als mir recht war, und war mehr auf Arbeit und Erwerb versessen, als mir lieb war; nun stellte ich mich ihm in den Weg, und nun hatte er keine Zeit und sagte: ›Geh, Kind, ich bin in Gedanken.‹ Er kümmerte sich wenig um mich, höchstens, daß er mir einmal mit der Hand übern Kopf fuhr, wenn er heimkam und sagte: ›Was hast du für glattes und blankes Haar, Mutter, und glatt und blank hältst du den ganzen Hof.‹ Fremde Leute sagten mir zuweilen: ›Was hast du für einen lustigen Mann!‹ Ich wußte nichts davon. Ich hatte einen lustigen Mann gehabt; nun hatte ich fast gar keinen. Es liegt in der Familie. Die Sorte kommt erst um die dreißig zu Verstand. Ich glaube, so wird es dem auch gehen.«

Lisbeth Junker bog sich über den Tisch und sah den Kriegskameraden mitleidig schadenfroh an: »Spürst du denn schon, daß der Verstand bei dir kommt?«

»Sorg' für deinen eigenen,« sagte er, »mit dem stand es vor sieben Jahren ebenso schlecht wie mit meinem.«

Da wurde sie rot und warf den Kopf in den Nacken, und dann lachte sie kurz auf. Aber sie sah Jörn Uhl nicht an.

Nach Tisch nahm er die beiden mit sich und führte sie auf weiten Feldwegen und zeigte ihnen alles Land, das zum Hofe gehörte, hier ein Stück, da ein Stück, dazwischen erzählte er von lustigen Soldatenstreichen, von einer fröhlichen Reise nach Hamburg und Berlin, und neckte Lisbeth. Wenn Jörn Uhl über die Bewirtschaftung dieses oder jenes Ackers ein Wort hören wollte, so lachte er und warf es 469 in den Wind und sagte: »Ach was! So und so! Das besorgt Mutter.«

Zuletzt, als sie schon weit vom Dorf entfernt waren und Lisbeth gerne umkehren wollte, verlangte er eifrig, daß sie noch eine Anhöhe bestiegen, die seitwärts vom Feldwege lag. Als sie zwischen hohen Wällen, die mit jungem Schlehdorn besetzt waren, hinaufgestiegen waren, zeigte er ihnen, daß diese hohe Koppel ihm gehöre, bis an die Au herab, deren blankes Wasser breit und still dalag.

»Nicht viel wert,« sagte Jörn Uhl.

»Nicht viel wert?« sagte der Kriegskamerad. »Nicht viel wert? Willst du mir dies auch entzwei reden, wie du die Vierjährigen zerredet hast? Du meinst: zu grasen und zu pflügen?« Er stampfte mit dem Fuß in die leichte Erde: »Aber was ist darunter? Grab' mal fünf Fuß tief? Was ist da dann? Was?«

»Na, was denn?« sagte Jörn Uhl und machte große Augen.

»Thon, mein Junge! Eine mächtige Schicht vom feinsten Thon!«

»Thon?«

»Thon, Mensch!« rief der Kamerad. »Aus Thon macht man Töpfe und Cement.«

»Na nu!«

»Na, siehst du? Siehst du, Lisbeth Junker? Laßt uns 'mal zwei Jahre weiter sein, dann wird hier eine große Graberei losgehen. Auf Lowries hinunter. Drahtseil . . . du! Dann in Schuten auf der Au weiter. Wenn sie mir aber in Lägerdorf nicht genug dafür geben wollen, dann baue ich selbst eine Cementfabrik.«

»Na, denn man zu!« sagte Jörn Uhl und sah bald auf die grausandige Erde und bald nach der Au hinunter.

470 »Ja, siehst du, nun ist die Sache die: Ich versteh' nichts davon. Ich muß mir einen Techniker annehmen, oder ich muß selbst nach Hannover gehen oder wohin sonst, und muß das lernen.«

Lisbeth lachte und spottete: »Sieh,« sagte sie, »da kommt ein Stücklein Verstand zum Vorschein!« Jörn Uhl aber schien ganz in sich hineingesunken zu sein. Er hielt die Augen am Boden und sagte nichts mehr.

Zu Hause wieder angekommen, ging Lisbeth noch mit der Frau durch den Garten; Jörn aber war mit dem Freunde in die Stube gegangen. Dort kramte der Kamerad zwei Bücher hervor, die er sich neulich angeschafft hatte, eins über Mineralogie, das andere eine besondere Lehre über Thongewinnung. Er schlug auf den Tisch und sagte zornig: »Es ist ein Jammer, daß man auf der Schule so gleichgültig gewesen ist: nun steht man da wie der Ochs vorm Scheunenthor.« Er warf Jörn Uhl das Buch hin und sagte: »Du kannst es natürlich alles verstehen. Du, um dessen Ausbildung sich kein Mensch gekümmert hat, hast dir selbst weiter geholfen, daß du zehnmal mehr verstehst als ich, der zehntausend Mark verstudierte. Schlag' 'mal auf: Seite 350. Kannst du das verstehen?«

Jörn Uhl konnte es alles verstehen und setzte es dem Kameraden auseinander. Er nahm auch das andere Buch und konnte ihn auch da belehren. Der Kamerad vergaß seinen Zorn und wurde ganz froh und sagte: »Mensch, komm doch nächste Woche 'mal wieder, daß wir weiter darüber reden.«

Jörn Uhl nickte und fragte nach der Einrichtung so einer technischen Schule und wie lange man wohl da sein müsse, um so etwas wie eine Empfehlung oder ein Zeugnis zu bekommen. Zuletzt saß er wieder still da, mit 471 zusammengedrängtem Gesicht; und sonderbar sah es aus, wie er auf das neue, feine Buch seine große, braune, hart verarbeitete Faust gelegt hatte. Das Buch sah unter dieser Hand klein aus, wie ein zierlich Spielzeug.

Um noch bei Tageslicht unterwegs zu sein, brachen sie auf. Die Frau nahm Jörn Uhl beiseite und sagte ihm, wie sehr das Mädchen ihr gefallen hätte, und mahnte ihn mütterlich, er solle nur Vertrauen haben und sie zu seiner Braut machen, er werde wohl irgendwo sein Brot bekommen. Und er solle doch bald 'mal wiederkommen: der Junge wäre heute rein vernünftig gewesen. In der Küche hätte er mit der Feuerzange in der Hand von ihr verlangt, daß sie Jörn Uhl mit etwas Geld beistände. Also möge er kommen, wenn er wolle, einige tausend Mark stünden für ihn zur Verfügung, was immer er auch kaufen oder anfassen wolle.

Jörn Uhl wollte danken; aber es gelang ihm nicht. Er nickte mit blanken Augen und schüttelte der wackeren Frau lange die Hand, und sie merkte am Druck, was er ihr sagen wollte.

Die Sonne stand doch schon tief am Himmel, als sie auf der hohen, freien Straße heimfuhren.

»So,« sagte sie, »nun bin ich wieder ganz allein mit dir. Das war ein schöner Tag und nun noch die schöne Heimfahrt . . . Was sagst du von der Frau?«

»Was sagst du von dem Kriegskameraden?«

»Ach, der! . . . Was hat die Frau dir noch zuletzt gesagt?«

»Weiberrede!«

»Soll ich es nicht wissen?«

»Nein, heute noch nicht. Morgen vielleicht.«

Er fing an zu grübeln und sagte nichts.

Als er so eine gute Weile gesessen hatte, merkte er, daß 472 sie eine eigentümliche Haltung annahm, wie ein Mensch, der sich verteidigt oder abwendet. Er sah auf und sah, daß ihr Gesicht voll Stolz war. »Nun,« sagte er, »was hast du? Heraus mit der Sprache, Heintüüt. Rede frei heraus, kleine Deern!«

»Meinst du, daß ich nicht aus dem Küchenfenster gesehen habe, als dein sauberer Kamerad dir erzählte, was er mit mir erlebt hat. Mit solchen Armbewegungen! Und nun bist du böse. Und das, das hätte ich nicht von dir gedacht.«

Er lachte: »Bist du auf dem Holzwege! Froh bin ich dazu! Ist man dem böse, dem man unterwegs begegnet und fragt ihn: ›Wie weit ist es noch? Ich höre, es sind noch sieben Meilen?‹ Und der sagt: ›Nein, es ist nur noch eine kleine Strecke!‹ Froh bin ich: ich weiß ja nun, daß du nicht sipp bist.«

»Ach du mit deinem Sippsein . . . Er kam vorübergefahren, und war lieb und freundlich, und sah so sauber und treuherzig darein. Und da hat er mich geküßt.«

»Er ist ein Ekel,« sagte Jörn Uhl. »Ein Ekel ist er: ein Mädchen zu küssen, das sich nicht wehren kann.«

»Wehren? Ich habe mich nicht gewehrt. Ich wollte mich nicht wehren. Ich wollte es gerade so haben, Jörn.«

»Ein Husarenstück war es, das muß man sagen. Stundenlang mit dem Menschen allein auf der Landstraße! Du! Das stolzeste Mädchen im Lande.«

»Es war ungefähr die Zeit, Jörn, als du mit Lena Tarn Hochzeit machtest.«

Er schwieg still. Nach einer Weile ergriff er ihre Hand und hielt sie fest und sagte: »Liebe, feine Heintüüt. Ich habe das ja alles nicht gewußt.«

Sie sagte mühsam, mit Thränen in der Stimme: »Der gescheite Hans bist du gewesen.«

473 »Paß auf! Wenn du wirklich und wahrhaftig den Mut dazu hast: dann machst du auch noch Hochzeit. Paß auf!«

»Mit einem langweiligen Menschen mach' ich sie nicht.«

Da lachte Jörn Uhl und kehrte sich ganz zu ihr und sagte: »Soll ich die Pferde grasen lassen, wie weiland der andere auf der Meldorfer Straße gethan hat?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn an, und ihre Augen blitzten von Thränen: »Es geht nicht, Jörn, die Sonne ist noch da.«

»Ist's das allein?«

Sie schüttelte wieder den Kopf: »Nicht hier, Jürgen! Es paßt nicht für uns beide. Ich denke an Lena Tarn und an ihr Kind.« Sie legte ihre Hand fest in die seine.

Er nickte und sagte: »Es ist ein Wunder. Es ist rund und klar, nichts als ein Wunder. Das schmuckste Mädchen im Land und Jörn Uhl! Kein Mensch hat in drei Tagen mit solchen Riesenschritten in die Sonne hineingestürmt wie ich. Siehst du: wir fahren geradewegs in die Sonne. Wenn ich nur wüßte, was ich anfasse!«

Nun wurde er wieder schweigsam, und sie ließ ihn gewähren. Als sie aber in den weichen Sandweg einbogen und es dunkel wurde, rückte sie ein wenig hin und her, als wenn sie nicht bequem säße. Da stellte er die Peitsche in den Halter und umfaßte sie, und zog sie mit starkem Arm dicht an seine Seite, und sah ihr verlegen ins Gesicht: »Willst du so sitzen?«

»Ja,« sagte sie und wühlte sich fester an seine Schulter. »Nun will ich schlafen.« Sie dachte aber: »Das thu' ich lange nicht. Ich will mich hüten, diese Stunde zu verschlafen.«

Jörn Uhl saß still und steif wie ein Pfahl, und sah auf die trabenden Pferde und dachte an seine und ihre Zukunft, 474 und dachte in seinem ehrlichen Sinn, sie schliefe. Sie aber sah, an ihn gelehnt, mit großen, klaren, unbeweglichen Augen immer auf einen Punkt.

Als sie an der großen Thür des Heeshofes hielten, sagte er: »Nun geh' schlafen! Du bist müde. Morgen wollen wir weiter reden.«

Sie blieb noch bei ihm stehen, als wollte sie etwas sagen. Da streichelte er ihr die Wange und sagte: »Sei guten Muts! Ich glaube, es kommt alles in Ordnung.« Da ging sie, ohne ein Wort zu sagen.

Nachdem er die Pferde besorgt hatte, ging er in die Wohnstube und fuhr fort zu grübeln. »Ich weiß jetzt: da hat die ganze Not gelegen: es ist da ein Irrtum in mir gewesen durch all die Jahre . . . Ich habe immer alles Gethue und allen falschen Schein gehaßt: ich habe bei Vater und Brüdern und bei vielen anderen gesehen, welches Unheil es anrichtet, sich selbst zu belügen, anders zu denken und zu handeln, als die reine Wahrheit. Ich habe wohl gemerkt, wie weit das Übel verbreitet ist, und ich habe immer mit Stolz gemeint, von meinem achtzehnten Jahre an: ›Du, Jörn Uhl, bist frei davon.‹ Und nun ist es mir klar geworden, in diesen drei Tagen: ich selbst habe in Selbsttäuschung und Lüge gelebt und bin in der Irre gewesen. Ich, Jörn Uhl, habe mich und meine Sache nicht genau angesehen und habe mich nicht gekannt. Ich habe die Uhl festgehalten, die mir nicht gehörte, und habe damit die Lüge fortgesetzt, die Vater und Brüder getrieben haben und damit ihren Jammer. Ich habe in schrecklich großer Arbeit gestanden, wie ein Pferd am Zieglergöpel, und habe in greulich harten Sorgen gesessen. Ich meinte, meine Lebensaufgabe wäre, die Uhl festzuhalten. Die Uhl . . . was ist die Uhl? Was ist die Uhl gegen meine Seele? Und gegen Lena Tarns 475 Seele? Und wenn einer die ganze Welt gewönne! Und nimmt Schaden an seiner Seele? Wer heilt ihm wieder seine Seele? Mir ist die Seele hart geworden, und Lena Tarn ist tot, und Wieten hat schlohweißes Haar. Ich bin von oben angefangen, von der hohen Uhl her, hoch von oben, und bin gesunken . . . gesunken.

Hätte ich hier auf dem Heeshof gesessen oder auf einem anderen kleinen Geesthof oder hätte sonst irgend etwas angefangen, etwas Kleines, mit meinen Kräften, so hätte Lena gute Pflege gehabt, und Wieten wäre nicht so alt und so weiß, und ich könnte noch singen, wie einst, als ich ein Junge war, und hätte nicht den Jähzorn. Und so hätten wir auf dem wirklichen Grund und Boden gesessen, und hätten uns hinausgearbeitet. Von unten anfangen, das ist alles! Ich will wahrhaftig von unten anfangen. So wahr mir Gott hilft. Ich will anfangen mit Läuferspiel, und will ein Kind sein wie der Bootsmann und der Kriegskamerad.«

Er machte Licht und ging nach der Lade, die in der Ecke stand, und fing an, dies und das hervorzusuchen, bis der Fußboden um ihn her mit Büchern, Karten, Gläsern und Fernrohren bedeckt war. Er zog einen Stuhl heran, schlug ein Buch auf und noch eins und setzte sich zurecht, wie Schüler sich zum eifrigen Lernen hinsetzen, und hielt das Buch vor sich, wie ein zehnjähriger Junge thut, der auswendig lernt, und lachte leise auf und ließ das Buch sinken: »Ein merkwürdiger Student wird das. Er wird den Zeichenstift führen wie einen Spaten, und den Zirkel herumwerfen wie einen Schwungpflug; er wird die Wissenschaft schlucken wie ein verdursteter Soldat das frische Wasser, und wird Augen machen wie ein Jäger, der in der Dämmerung am Fuchsbau lauert. Sollte es wirklich möglich sein? Dies 476 alles, das von Kind an meine verstohlene Freude war, meine gestohlene Freude: das soll ich nun lieb haben dürfen, als wäre ich ehrlich und öffentlich mit ihm getraut? Sollte es möglich sein? Am hellen Tage soll ich in Bücher sehen, ohne daß die Leute sagen: sieh da, der verrückte lateinische Bauer?«

Er sah mit zusammengezogenen Augen scharf in das Dunkel der Stube: »Wenn mein Vater ein ernster Mann gewesen wäre und hätte mich lieb gehabt und hätte abends bei uns gesessen: dann hatte er erkannt, wonach damals schon mein Sinn stand. Dann wäre mir ein mühsamer Weg und viel Not erspart geblieben, ich wäre dann auch ein freundlicher Mensch geworden, mit Sonnenschein in Herz und Augen. Nun wird der Mut immer schwer bleiben und der Charakter brüchig. Aber . . . ich fürchte mich nicht. Das Graueln habe ich verlernt, damals schon, bei Wietens Geschichten, danach an Lenas Sterbebette, danach in langen, furchtbaren Einsamkeiten. Ich bin bis dicht an das Nichts herangekommen und bis dicht an Gott. Was kann mir noch mehr geschehen? Man muß nur von unten anfangen und an das Gute glauben, bei Gott und bei sich selbst: das ist alles. Also will ich es wagen. Kann ich's hier nicht mehr brauchen, weil ich zu alt bin oder vorher sterbe, so baut wohl Gott da oben Wege, und gräbt in unfertigen Welten Schächte, Dünen und Kanäle, und stellt mich als Schachtmeister an oder als Schleusenwärter. Ich will meine Leinen bis an die Sterne werfen und will für eine Accordarbeit auf der Milchstraße meinen Spaten schärfen. Ich will es wagen, als wenn ich sechzehn Jahre wäre.

Wahrhaftig, ich thu's. Und wenn ich es thue, so wird mir sein, als wenn ich das schönste und stolzeste Weib . . . ach, was gehen mich alle Weiber an . . . mein Mädchen, mein feines, stolzes Mädchen, wird hinter meinem Stuhl 477 stehen, und wird mit heißen Augen auf mich sehen und auf mein Buch, und wird warten, bis ich fertig bin mit dem Buch. Und bin ich dann fertig, dann wird sie hell auflachen und wird von Hochzeit reden. Und hier am Heeswald, hier wollen wir Hochzeit machen. Wahrhaftig, ich thu's; es ist der Mühe wert. Und gleich will ich hingehen und sie fragen, ob es ihr recht ist.«

Und so wie er ging und stand . . . den Rock hatte er schon abgelegt . . . ganz ohne Bedenken, in seinen weißen Hemdsärmeln, ganz eingenommen von seinem großen Plane, ging er aus der Stube quer über die Diele und trat in die Kammer, wo Lisbeth Junker schlief, und sah im Licht der hellen Herbstnacht ihr Bett, unfern dem Fenster, und wurde nun doch ein wenig unruhig, und trat auf leisen Füßen heran. Sie rührte sich nicht, sah ihn nur groß an. »Bist du es, Jürgen? Komm her!« Sie langte nach seiner Hand, machte ein wenig Platz und zog ihn zu sich auf den Bettrand. »Was wolltest du noch?«

Er setzte sich ein wenig steif hin und setzte ihr bedächtig seinen Plan auseinander, und war bald verlegen und bald wurde er lebendig und machte eine große Handbewegung. »Und nun ist das die Frage, ob du mich nun wirklich haben und ob du noch zwei Jahre warten willst.«

Sie sagte: »Komm näher her zu mir; dann will ich dir antworten.«

Als er sich gehorsam zu ihr beugte, umschlang sie ihn, und herzte und küßte ihn, und stieß die Worte heraus, daß sie sich überstürzten: »Du alter, wunderlicher Jörn Uhl, du lateinischer Bauer . . . es ist mir ja einerlei! Ach, du gescheiter Hans . . . wenn ich nur weiß, daß du mich lieb hast. Komm näher her, Jörn! Küsse mich! Ich bitte dich, daß 478 du mich küß'st. Ei, ich bin eine Stolze und Kalte! Siehst du, wie stolz ich bin?«

Jörn Uhl war starr vor Staunen. Der dumme Jörn Uhl. Er saß auf der Bettkante und streichelte ihr Wangen und Haar, und sah ihr in das heiße, schöne Gesicht und sagte mühsam: »Daß du . . . mich . . . so lieb hast . . . Ich . . . ich will mir siebenmal täglich meine Hände waschen. Und du . . . du mußt mir alles sagen, wie ich mich halten und haben muß. Ich mache es alles verkehrt.« 479

 


 


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