Gustav Frenssen
Peter Moors Fahrt nach Südwest
Gustav Frenssen

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Kapitel XV.

Am andern Morgen wagten wir es, den Feind zu verfolgen. Wir ließen alle unsere Unberittenen bei unseren Verwundeten und Kranken im Lager und machten uns ostwärts auf. Wir waren zweihundert Reiter. Aber unsere Pferde waren schlapp, ausgehungert oder krank; und die Gegend, in die wir vorstießen, war eine Durststrecke und wenig erforscht.

In einer Breite von ungefähr hundert Metern war die Erde zur Diele zertreten. In solch breiter und solch dichter Schar waren der Feind und seine Viehherden dahin gestürmt. Auf diesem Fluchtweg lagen Decken, Tierfelle, Straußenfedern, Geschirre, Weiberschmuck, sterbendes und totes Vieh, vor sich hinstierende, sterbende und tote Menschen. Ein entsetzlicher Geruch von altem Mist und verwesenden Kadavern erfüllte drückend die heiße, stille Luft.

Je weiter wir in der brennenden Sonne zogen, desto jammervoller wurde der Weg. Wie tief hatte sich das stolze, wilde, höhnende Volk in seiner Todesangst erniedrigt. Wohin ich von meinem müden Pferd herab die Augen wandte, da lag haufenweise all ihr Gut: Ochsen und Pferde, Ziegen und Hunde, Decken und Felle. Und da lagen Verwundete und Greise, Weiber und Kinder. Ein Haufe kleiner Kinder lag hilflos verschmachtend neben Weibern, deren Brüste lang und schlaff herabhingen; andere lagen allein, die Augen und Nasen voll von Fliegen, noch lebend. Irgend jemand schickte unsere schwarzen Treiber; ich denke, die haben ihnen zum Tode verholfen. So wie alles da lag, all dies Leben, so wunderlich verstreut, Tier und Mensch, wie ihm die Knie gebrochen waren, hilflos, schwer, sich noch quälend, oder schon unbeweglich, sah es aus, als wenn es aus der Luft herabgestürzt wäre.

Mittags machten wir an Wasserlöchern Halt, die bis an den Rand voll von Kadavern waren. Wir zogen sie mit den Gespannen der Geschütze heraus; aber es war nur ein wenig blutiges und stinkendes Wasser in der Tiefe. Wir versuchten, die Löcher tiefer zu graben; aber es kam kein Wasser. Weide war auch nicht. Die Sonne glühte so heiß auf den Sand, daß wir uns nicht einmal hinlegen konnten. Auf durstenden und hungernden Pferden ritten wir weiter, wir Durstenden und Hungernden. In einiger Entfernung hockten Haufen alter Weiber, die stumpfsinnig vor sich hinstarrten. Hier und da standen Ochsen und brüllten. Mensch und Tier wird nachher in den Busch gestürzt sein, irgendwohin, sinnlos, in letzter Verzweiflung, irgendwo Wasser zu finden. Im Busch werden sie verdurstet sein.

Wir zogen weiter bis an den Abend. Dann sollten wir ein trocknes Flußbett erreichen und dort Wasser finden. In große Staubwolken gehüllt kamen Rinderherden gegen uns an, mit stieren Augen und heiserm Brüllen. Das war ein schlechtes Zeichen von der Gegend, in die wir ritten. »Wollt Ihr klüger sein als die Tiere? Kehrt um! Kehrt um!« »Nein, wir wissen es besser: um sieben Uhr werden wir an dem Feind und an Wasser und Weide sein.« Wir ritten vorwärts, unsre Reihe lockerte sich. Wir ritten, so wie jeder vorwärts konnte. Vom Feinde war nichts zu sehn. Aber Wittboys, die voraus geritten waren, kamen zurück und meldeten, daß er nicht fern wäre.

Gegen Abend, da ich mit vier Mann befohlen wurde, zur Seitendeckung im Busch zu reiten – denn es wurde dann und wann aus dem Busch auf uns geschossen – sahen wir von ungefähr hinter hohen Büschen einen verlassenen Kapwagen stehen und hörten Menschenstimmen. Wir stiegen aus dem Sattel und schlichen heran und sahen sechs Feinde im lebhaften Gespräch um ein kleines Feuer sitzen. Ich machte mit Zeichen deutlich, auf wen jeder von uns schießen sollte. Vier blieben gleich liegen, der fünfte entfloh. Der sechste stand halb aufgerichtet, schwer verwundet. Ich sprang mit geschwungenem Kolben hinzu. Er sah mich gleichmütig an. Ich wischte den Kolben im Sande rein und warf das Gewehr am Riemen über die Schulter. Aber ich mochte den Kolben den ganzen Tag nicht anfassen.

Die Erde war rund umher kahl, gelbbraun, steinig; das spärliche Gras war abgegrast oder verbrannt oder vertreten. Überall lag totes Vieh. Das heisere Brüllen verendender Rinder zitterte schrecklich durch die Luft. Der Busch wurde dünner, oft weitete sich ein Raum zu einer großen Lichtung.

Ganz verlassen lag in der glühenden Sonne ein zweijähriges Kind. Als es uns sah, setzte es sich aufrecht und sah uns an. Ich stieg ab und hob es auf und trug es eine Strecke zurück, wo an einem Busch eine verlassene Feuerstelle war. Es kroch gleich auf allen vieren über die Stelle, wobei es mit der Hand Asche und Unrat zur Seite rakte. Es fand auch gleich etwas, den Rest einer Wurzel oder einen Knochen, und aß. Es weinte nicht; es fürchtete sich auch nicht; es war ganz gleichmütig. Ich glaube, es ist da im Busch groß geworden, ohne Hilfe von Menschen.

Der heiße Tag senkte sich, unsere Pferde wurden sehr müde. Wir hatten Mühe, die stolpernden Tiere wieder hoch zu kriegen; einige Reiter stiegen ab; gegen Abend führten schon viele ihre Pferde. Bald darauf stürzten einige. Die Reiter warfen die Sättel auf die Wagen und zogen zu Fuß weiter. Es wurde dunkel. Vom Feinde war nichts zu sehen. Da kamen wir endlich zu den heiß ersehnten Wasserlöchern.

Da waren sie bis an den Rand voll von toten Ochsen; und Wasser war nicht da. Und von Weide keine Spur.

Da bissen wir die Zähne zusammen und starrten vor uns hin; denn nun wußten wir, daß wir zurückmußten und daß viele Pferde zugrunde gehen würden. Wir mußten wohl froh sein, wenn wir alle Menschen lebendig zum Lager zurückbrachten.

Wir blieben hier drei oder vier Stunden der Nacht. Ich versuchte, mir ein wenig Wasser zu verschaffen, zwängte mich zwischen die toten Tiere und kam nach einer Stunde mit einem halben Feldkessel voll von einer schrecklichen Flüssigkeit heim. Wir kochten uns aber doch Kaffee damit und tranken ihn. Die anderen hatten indes ein großes, klumpiges Nest von Webervögeln vom Baume geholt und es den Pferden vorgelegt; auch alten Kuhdung trugen wir in den Händen zusammen und schnitten Zweige von den Büschen, entfernten die Dornen und hielten sie ihnen vor. Ich ging eine Stunde lang rund um mein Pferd, und rieb es mit der Faust und war freundlich mit ihm.

Nach Mitternacht traten wir den Rückzug an. Zuerst, wenn ein Pferd fiel, nahm der Reiter den Sattel auf den Rücken und ging in schweren Reiterstiefeln durch den Sand; aber bald lag da, bald da ein Sattel. Wir anderen stiegen ab und führten die Pferde; es war ein langer, müder Zug. Dicht vor meinen Füßen taumelte ein Kamerad und fiel lang hin. Wir hoben ihn mit vier Mann auf; er war schwer wie Blei. Immer mehr Pferde fielen; bald lag alle Kilometer ein edles Tier. Dann und wann krachte ein Schuß; wir achteten nicht darauf. Die älteren Kadaver waren hochaufgetrieben; eine schreckliche Luft dunstete über dem weiten Totenfelde. Wir setzten stumm Fuß vor Fuß. Der Mund war heiß; die stickige, stinkende Luft ging wie mit Peitsche und Sporen den Hals hinunter. Einer vor mir fing an, wild zu reden, er wolle alle Feinde erschlagen und sich an ihrem Blute satt trinken. Sie setzten ihn auf ein Pferd; zwei Mann hielten ihn. Ich spürte keinen Hunger; der Ekel vertrieb den Hunger. Aber der Durst quälte mich, daß ich begehrte, das Blut zu trinken, das ich in den Adern der gefallenen Tiere sah.

Der Morgen war da und die brennende Sonne. Wir erreichten eine Wasserstelle, die aber wieder voll von verendetem Vieh war. Wir warfen uns dennoch hin und versuchten, in der Tiefe Wasser zu finden, und schöpften einige Deckel voll von der ekligen Flüssigkeit und tranken der Reihe nach. Als die Reihe an mich kam und ich den Deckel schon zum Munde hob, wurde mein Kopf sachte zur Seite geschoben. Als ich mich erstaunt umsah, steckte mein Pferd sein Maul in den Deckel und trank. Da tat ich mir schreckliche Gewalt an und dachte: ›Was willst Du Dir an geronnenem Blut und Urin den Tod saufen? Lieber verdursten,‹ und ließ es ihm, und stand auf, und hatte keine Hoffnung mehr, den Abend dieses entsetzlichen Tages zu erreichen. Unser Zug wurde länger und länger.

Es ist wunderbar, wieviel der Mensch ertragen kann. Ich bin noch vier Stunden lang in brennender Sonne gegangen. Ich weiß aber wenig oder nichts von diesen Stunden; ich habe nur eine Erinnerung, als wenn ich durch Feuerlohe gegangen bin. Mein Pferd fiel und blieb liegen.

Gegen Abend, als wir noch zehn Kilometer vom Lager entfernt waren, bekam ich Befehl, ein anderes Pferd zu besteigen und zu sehen, ob ich auf ihm das Lager erreichen könnte, damit man uns von da einige frische Zugochsen entgegenschickte; denn unsere Gespanne versagten. Ich stieg in den Sattel und brachte den Ostpreußen wirklich in langsamen, schweren Trab: so ritt ich allein den Totenweg entlang. Als ich eine Weile geritten hatte, zog von Süden her eine schwere, dunkle Wolke herauf wie eine Gewitterwolke. Ich freute mich und sah mit Begier, wie sie breiter und breiter und breiter wurde; ich glaubte schon, den Regen zu schmecken. Da fiel mir auf, daß sie so niedrig hing und so rasch näher kam, gleich als wenn sie flöge, und nun kam sie heran: rauschend und surrend umschwirrten mich dicht gedrängt, die Sonne verdunkelnd, unzählige Mengen von großen Heuschrecken. Es glitzerten ihre fingerlangen, silberblanken Flügel wunderschön in der untergehenden Sonne; in zahllosen Scharen fielen sie rund um mich auf den Busch. Ich aber schüttelte mich vor Entsetzen über dies schreckliche, wunderlich fremde Land und kam durch sie hindurch. Ich erreichte das Lager, meldete, trank, fiel hin und schlief.


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