Gustav Frenssen
Peter Moors Fahrt nach Südwest
Gustav Frenssen

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Kapitel III.

Wir stiegen zwei kurze Treppen hinunter und kamen in einen ziemlich großen, niedrigen Raum, der so ganz und gar und so dicht mit Bettstellen belegt war, daß wir uns wunderten. In zwei Stockwerken standen sie über- und unter- und hart beieinander. Sehr schmale Gänge liefen zwischen ihnen hin und an den Wänden entlang. Ich bekam ein unteres Bett.

Da stellten und legten wir nun an und über unser Bett alles hin, was wir hatten: Gewehr, Tornister und Kleidersack. Und packten und hantierten und standen inzwischen an den Bullaugen und sahen aufs Wasser, und waren sehr lebhaft und guter Dinge, wie immer in einem neuen Quartier; und wurden nur fortwährend durch das Zittern, das vom Gang der Maschine her durch das ganze Schiff ging, erinnert, daß dies unser Quartier uns in die weite Ferne trug. Wir aßen im selben Raum, an der Seite, an langen Tischen, und bekamen an diesem Abend Erbssuppe und Kaffee.

Nachher ging ich noch einige Zeit hinauf und stand im Windschutz der ersten Kajüte an der Reeling und sah nach der Küste hinüber. Ich sah aber im Dunkeln nichts weiter als von den Lichtern des Schiffes einen gelblichen, wirren Schein in schwarzen, schwer rauschenden Wellen, und in der Ferne einige stillstehende Lichter, wohl von Leuchttürmen oder Feuerschiffen; und am Himmel die Sterne. Da wurde ich von dem Gedanken bedrückt, daß ich fortgebracht würde und mich nicht dagegen wehren könnte und in der Fremde vielleicht Furchtbares erleben müßte. Ich fand aber Hilfe, als ich vor Gott gelobte, daß ich gut und fröhlich und mutig sein wolle, was mir auch geschähe.

Am andern Morgen sahen wir nichts als weites, dunkelgraues Meer, soweit das Auge sah. Am Horizont standen einige Rauchwolken und einige kleine Segel. Wir gingen zum Appell an Deck und bekamen jeder auf unsern linken Arm einen Anzug aus leichtem braunen Leinen, das Khaki heißt, und große, topfartige, hellbraune Helme aus Kork, sogenannte Tropenhelme. Wir wunderten uns und lachten; und gingen in unsern Schlafraum und probierten die Helme und machten viel Unsinn. Nachher befestigten wir Knöpfe an die Anzüge. Wir standen aber viel an den Bullaugen und sahen hinaus. So waren wir den ganzen Tag sehr tätig. Einige schrieben schon die ersten Ansichtspostkarten.

Am Spätnachmittag stand ich noch längere Zeit mit Heinrich Gehlsen vorn an der Back und redete mit ihm über die Kinderzeit. Nachher kamen noch einige andere Einjährige, davon der eine ein Arzt war – wie ich nachher erfuhr –; und fingen an mit ihm zu reden. Da sie aber begannen von gelehrten Dingen zu sprechen, ging ich fort. Ich bin nachher häufig mit Gehlsen zusammengekommen. Er war nur klein von Figur und von Gesicht zart; aber es stak ein ganzer Mann in ihm. Er war auch nachher im Busch umsichtig, anschlägig und tapfer.

Am zweiten Tag standen wir lange an der Steuerbordreeling und sahen nach der Küste von England hinüber, welche, gar nicht fern, mächtig schroff und stark aus dem Wasser aufstieg, und nach den Fischerboten, welche mit ihren grauen oder schwarzen Segeln in großer Zahl auf dem weiten, bewegten Meer lagen. Als ich dies große, weite Bild sah, dachte ich daran, daß wohl so klein und noch kleiner jene Fahrzeuge gewesen waren, mit denen einst vor tausend und mehr Jahren unsere Vorfahren dicht über den Wogen, ja fast zwischen ihnen, diesen rauhen Weg übers Meer gefahren waren, den wir jetzt fuhren; und ich malte mir die wilden Kämpfe aus, die sie bestanden hatten, ehe sie oben auf diesen hohen, starken Ufern Hütten gebaut und Heimat gefunden hatten. An dies alles dachte ich und freute mich, daß ich einen so guten Lehrer gehabt hatte und daß ich wohl als der erste von allen, die mit mir die Itzehoer Volksschule besucht hatten, diese Gegend mit meinen Augen sah.

Als ich noch so stand, ging der Stabsarzt an mir vorüber; neben ihm ging ein Oberleutnant zur See. Sie wollten wohl einen Matrosen besuchen, der krank war. Wir hatten nämlich auch ein Kommando Matrosen an Bord, welches zum Ersatz für den Habicht hinausfuhr. Sie blieben eine Weile nicht weit von mir an der Reeling stehen und ich hörte, wie der Oberleutnant zu dem andern sagte: »Wir Seeleute denken anders über die Engländer, als die Menschen drinnen im Lande: Wir treffen sie in allen Häfen der Erde und wissen, daß sie von allen die respektabelsten Leute sind. Da hinter den hohen Kreidefelsen wohnt doch das erste Volk der Erde, vornehm, weltklug, tapfer, einig und reich. Wir aber? Eine einzige ihrer Eigenschaften haben wir von alters her: die Tapferkeit. Eine andere gewinnen wir langsam: den Reichtum. Ob wir den Rest jemals bekommen: das ist unsre Lebensfrage.« Ich wunderte mich über das Wort. Aber nachher sprachen auch die alten Afrikaner, die ich kennen lernte, mit großer Hochachtung von den Engländern. Das Wetter war kalt, hell und windig. Wir sahen kleinere Schiffe auf den Wogen auf- und niedergehen; aber unser großes Schiff rührte sich nicht viel, und es waren nur Einige ein wenig seekrank. Ich konnte es nicht ertragen, das lange, lange Deck entlang zu sehn, wie es sich langsam ein wenig hob und dann wieder hinunterging. Es erschien mir so unvernünftig und unglaublich, und es legte sich ein Druck auf den Vorderkopf und auf den Leib. Auch andern ging es so. Aber wenn ich mich dann zusammennahm und mich aufrichtete und hin und her ging und weit übers Meer sah, verging es wieder. Aber als wir aus dem Englischen Kanal heraus und in das Gebiet der Biscaya kamen, da wurde es plötzlich schlimm.

Ich stand gerade in Gedanken vor meinem Bett, Behrens neben mir; wir besahen gemeinsam ein Bild seiner Eltern, das sie ihm mitgegeben hatten. In dem Augenblick hob und schob sich ganz plötzlich der Boden schräg unter unsern Füßen, während im gleichen Augenblick ein mächtiges Krachen, Klirren, Fallen und Schreien von überall her kam und wir beide übereinander und über das Bett fielen, und mit Armen und Beinen nach allen Richtungen Hilfe und Stützen suchten. Mühsam kamen wir wieder hoch und griffen nach den eisernen Stangen, welche die Bettstellen trugen, und torkelten, indem nun die andere Seite des Schiffes gewaltig hoch fuhr, gegen die andere Bettreihe; und strebten aus den Bettreihen heraus, als wenn da Rettung wäre. Ich hatte aber erst wenige Schritte gemacht, da war mir zumute wie damals, als ich zwölfjährig die erste Zigarre geraucht hatte. Ein Druck lag mir schwer auf dem Kopf, und mein Magen stieg und stieg zum Hals hinauf. Mein ganzer Mut und all meine Lebenslust war weg, und Angstschweiß tropfte mir von der Stirn. Da ging ich taumelnd und kläglich den Gang wieder zurück und warf mich auf mein Bett. Es war nur gut, daß ich nicht in ein oberes Bett hinauf mußte.

Es war eine schlimme Nacht. Wenn ich jetzt, nach zwei Jahren, daran denke, wird mir noch wieder schlimm zumute und ich muß schlucken. Was war das für ein Gespuck und ein Gewürge! Viele jammerten, als ob ihr letzter Tag gekommen wäre. Bloß einer, der ja wohl von der Kinderflasche an Seewasser getrunken hatte, oder auf irgendeine andere Art einen ausgepichten Magen hatte, lachte zuweilen auf, und zwar so heimlich und von Herzen, als wenn unter lauter heulend Verdammten ein Engel lacht, aus seiner schönen und sichern Seligkeit heraus.

Als ich gegen Morgen aus schwerem, dumpfem Schlaf erwachte, war es etwas ruhiger. Doch stöhnten noch viele. Der Ausgepichte aber pfiff leise und gemütlich. Da wurde ich zornig und überredete mich und nahm all meinen Willen zusammen und achtete auf das Hin- und Herfallen des Schiffes und dachte: »Sieh! Hier geht es hin, da geht es hin. Es kann nicht anders. Es muß so. Und alles, was dran und drin ist, muß mit. Es kann nicht anders sein und es ist nichts dagegen zu machen, und daß man sich dagegen auflehnt, ist ein Unsinn. Geh hier hin! So! Kannst du nicht weiter? Dann geh dahin! So! Kannst du nicht weiter? Dann geh wieder nach der andern Seite! So redete ich und wurde munter; und hörte dem Ausgepichten zu und merkte, daß er gut im Takt pfiff, in dem das Schiff hin- und herging.

Da merkte ich, daß es besser mit mir wurde, und gleichzeitig, daß eine schreckliche Luft im Raum war. Ich setzte mich bedächtig aufrecht im Bett, dann nahm ich vorsichtig die Füße herunter. Dreimal stellte ich mich auf die Füße, und dreimal setzte ich mich wieder hin. Dann ging ich stolpernd und ganz langsam und vorsichtig, als hätte ich einen Magen von dünnem Glas, und kam glücklich hinaus. Ich tappte mit beiden ausgestreckten Armen nach der Reeling und fiel gegen sie und atmete die frische Luft und starrte dumm und dumpf in den nachtgrauen Morgen.

Und da, als ich so stand und auf das Zittern des Schiffes und auf sein schweres Wiegen achtete und auf die großen, schwer aufrauschenden und schäumenden Wogen starrte, hatte ich noch wieder ein besonderes Glück. Ich sah, nicht weit von unserm Schiff, einen mächtigen Segler dahingleiten. Alle seine ungeheuren Segel hoch, lag er schräg vorm Wind, daß ich im grauenden Morgenschein das ganze Deck sehen konnte und den Steuermann im dicken Mantel so recht gemütlich auf dem Skylight sitzen sah, die kurze Pfeife im Mund. Es hob und senkte sich, von der Back bis zum Heck, schwer und machtvoll; aus zwei Fenstern kam heller Lichtschein. So zog es, eine mächtige Erscheinung, wie voll von einer ruhigen, großen Seele, lautlos, schön und mühelos im dunkelgrauen Morgen die dunkle, wilde Meerbahn. Ich habe niemals etwas Schöneres gesehen, von Menschen gemacht, und ich wurde gesund davon.

Es wurde nun Tag für Tag wärmer. Nicht weil der Frühling kam, sondern weil wir immer weiter nach Süden fuhren und die Sonne also immer senkrechter auf uns fiel. Die Sonne strahlte, das Meer war wieder ruhig. Wir waren vormittags sehr fleißig. Es war überm Heck ein Balken aufgestellt, der an seinem oberen Ende eine Scheibe trug; danach schossen wir mit unseren neuen Gewehren. Die Offiziere schossen auch, jeder mit seinem Revolver; und jeder prahlte mit seiner Waffe. Nachmittags saßen wir auf dem Deck umher, reinigten die Gewehre, oder flickten, oder wuschen; und unterhielten uns und sangen dazu. Abends saßen wir im Kreise und erzählten uns Kasernengeschichten aus Kiel, oder es erzählte jeder aus seiner Heimat. Einige Schelme konnten Stücke vortragen, die sie gelernt hatten, oder aus der Luft griffen. Es ging alles auf Hochdeutsch. Sie neckten uns Holsteiner aber, weil wir das »s« so zwischen die Lippen nahmen, als wäre es eine Nadel. Ich freute mich, daß wir Schleswig-Holsteiner an Bord zufällig lauter ordentliche Leute waren. Es gibt ja auch in unserer Provinz kümmerliche Menschen.

Wir sprachen natürlich auch viel über die nächste Zukunft und ärgerten uns sehr, wenn wir daran dachten, daß der Aufstand vielleicht niedergeschlagen sein könnte, wenn wir einträfen, und wir also vielleicht gar nicht von Bord kämen. Wir wollten doch wenigstens das Land betreten haben und nachher zu Hause von den afrikanischen Urwäldern, Affenherden und Antilopenrudeln erzählen können und von Strohhütten unter hohen Palmenschatten.

Einige spielten immer Skat. Ihr Eifer wurde immer größer; ihre Karten immer schmutziger. Es war ihnen ganz einerlei, was um sie vorging. Ob wir zu ihnen sagten: »Ihr da, da sind fliegende Fische zu sehen! Sie schwenken ein wie Schwadronen!« Oder: »Ein großer englischer Dampfer kommt vorüber!« Oder: »Ihr da, seht mal auf, wie schön die Sonne untergeht: das ganze Meer bis zu ihr hin ist goldgrün, und jede Welle hat einen blauschwarzen Kamm.« Oder: »Wir sehen den Rücken von einem Walfisch!« Oder: »Habt Ihr schon Meerleuchten gesehn? Geht doch mal nach dem Heck und seht, wie die aufbrodelnden Wellen ganz voll von warmem, rotem Feuer sind.« Aber sie sahen nicht auf. Sie schüttelten ärgerlich den Kopf; oder sagten: »Guck Dir das man genau an!« und spielten weiter. Sie spielten um nichts.

Es waren ziemlich viele Kleine und ganz Junge unter uns, zwanzig Jahre alt und noch darunter. Ich glaube, von ihnen hatte mancher schweres Heimweh. Und einige von ihnen erschraken, so schien es mir, über alles Neue, das sie sahen. Es war ihnen verwunderlich und fast unheimlich, und sie wurden immer stiller. Ich dachte darüber nach: wie wohl diese so Jungen, so Stillen sich machen würden, wenn wir jetzt in einen wirklichen, harten Krieg hineingingen. Wir gingen in einen wirklichen, harten Krieg hinein. Sie haben sich alle gut gemacht.

Andere saßen in einer Ecke und übten stundenlang, eine Kapelle zustande zu bringen. Der eine hatte einen Kamm quer vorm Mund, der andere klapperte mit Holzstücken, der dritte pfiff durch die Finger; unsere Spielleute lieferten Flöte und Trommel. Ein kleiner Schlesier war der Hauptmakker. Er war es auch, der an jedem Abend die Lieder anstimmte, die wir zusammen sangen. Und besonders war es ein Lied, das wir sangen, daß es weit und traurig übers Meer klang: ›Nach der Heimat möcht' ich wieder.‹ Wenn ich jetzt im Geist die einzelnen Gesichter sehe, die es damals sangen, wird mir das Herz still, und ich muß die Lippen zusammenpressen.

Es wurde immer wärmer und sonniger. Wir kamen in die Höhe der Straße von Gibraltar. Wir zogen die blauen Anzüge aus und zogen die leinenen braunen Khakisachen an. Immer, Tag und Nacht, zitterte das Schiff vom Gang der Maschine, wie der menschliche Körper vom Schlag des Herzens. Gott mag wissen, wie viel mal sie sich gedreht hat. Das Meer war immer gleicherweise sonnig, scheinend weithin. So jagten wir nach dem Süden, immer weiter, Tag und Nacht. Ich wunderte mich, wie groß die Welt war. Eines Tages sah ich auf der großen Karte, welche an der Treppe hing und auf welcher die tägliche Stellung unsres Schiffes bezeichnet war – wir standen oft in Haufen vor dieser Karte –, daß nun bald die Insel Madeira kommen mußte.

Und am andern Morgen schon, in aller Frühe, als ich sofort nach der Back ging, um Ausschau zu halten – viele standen schon da –: da lag vor uns, nicht mehr fern im Meer, ein buntes Eiland. Es erhoben sich rauhe Felsen breit, wuchtig und kahl, von denen der mittlere alte, breite Festungsmauern als schwere Krone trug. Davor aber, vom Strand sanft aufsteigend, breitete und dehnte sich eine ziemlich große Stadt von weißen, plattdachigen Häusern, die sich weiter nach oben hin, rund zu Füßen der alten Feste, in üppigem Grün, in Wäldern und Blumenfeldern verloren.

Immer näher kamen wir dem schönen Wunder. Wir standen und staunten und glitten in die Bucht hinein, wie neugierige Kinder dem Bilderbuch näherrücken, bis wir dicht davor waren. Da hörten wir auf das Schreien und Zurufen unter uns und sahen unter uns Bote dicht am Schiff, deren Insassen aussahen wie Italiener, dunkelbraun von Haut und bunt gekleidet. Sie standen aufrecht in Boten und hielten Fruchtkörbe in die Höhe und riefen zu uns hinaus. Wir kauften aber nichts, da wir wußten, daß wir an Land kommen würden.

Am Vormittag noch ging ich mit vielen andern die schmale Holztreppe hinunter, die draußen an der Schiffswand hinabgelassen war, und stieg in eins unsrer großen Boote, und wurde an Land gerudert. Wie war alles neu! Und wie war alles bunt! Unser Leutnant hatte uns gewarnt: »Ich will Euch was sagen: Kauft nicht so dumm drauf los! Es ist nicht alles, was bunt ist, schön und echt. Und nehmt Euch mit dem Wein in acht!« Aber es dauerte nicht lange, da standen hier zwei, dort drei, dort fünf und sechs in den weit geöffneten und niederen Läden und kauften für ihre Schwestern und Bräute Blusen und Tücher, alles aus leuchtender Seide in allerschönsten Farben. Und sie riefen mich an und sagten: »Du mußt doch auch ein Andenken mitbringen, Moor. Vielleicht ist der Aufstand vorbei, wenn wir in Swakopmund ankommen und wir kommen gar nicht an Land. Wenn Du dann nachher zu Hause sagst, Du wärst auch mit gewesen und hast nichts aufzuweisen, glaubt es Dir keiner.« Da schien mir richtig, was sie sagten, und ich ging hinein und kaufte zwei kleine seidene Halstücher für die beiden ältesten Schwestern; denn einen Schatz hatte ich nicht, und meine Mutter würde so Buntes niemals anlegen. Als wir endlich wieder herauskamen, ging gerade der Leutnant vorüber, der vorhin so großartig von »Ich warne Euch« geredet hatte und hatte auch schon ein Paket in der Hand, und ich mußte ein wenig lachen, und er lachte auch. Es war überhaupt, als wenn wir alle, sobald wir das Land betreten hatten, von lieblichem Wein trunken waren: so schön hell und weich schien die Sonne und so prächtig glänzte alles in Farben und so fröhlich waren die Menschen. Ich dachte: »Mach Deine Augen auf, daß Du jetzt etwas siehst; wer weiß, ob Du noch einmal im Leben wieder unterwegs kommst.« Ich ging durch mehrere Straßen und wunderte mich über alles, was ich sah, so über das langohrige Pferd, das vor seinem Karren ging, und erkannte plötzlich, daß es ein Maultier war, das ich zuweilen auf Bildern gesehen hatte. Ich besah die fremden Worte auf den Schildern der Läden und merkte mir am Inhalt des Ladens einige Worte. Ich sah nach den Frauen in bunten Kopf- und Schultertüchern und nach den Männern, die breite Schärpen um den Leib trugen; wunderte mich über den Stolz um den Mund und das dunkle Feuer im Auge. Ein Soldat kam langsam des Weges, ein schöner Mensch, aber in schlampiger Uniform. Er legte die Hand an die Mütze und sah mich freundlich an; da grüßte ich ihn ebenso.

Nachdem ich so eine Weile allein gegangen war, kam ich wieder an den Strand und fand einige Kameraden in einer offnen Weinstube sitzen, dicht an der Straße, fast auf dem Bürgergang. Sie saßen um kleine Tische und schrieben eifrig Ansichtspostkarten und tranken dabei aus kleinen Gläsern. Ich setzte mich zu ihnen, winkte und bekam auch ein Glas und schrieb auch eine Karte an meine Eltern. Ich wollte auch noch an meinen Onkel in Hamburg schreiben, aber ich kam nicht dazu. Ich mußte immer um mich sehn. Meine Mutter hat mich oft gescholten, daß ich so neugierig sei und in ihrem Nähtisch jedes Schubfach und jede Schachtel öffnete. Aber als sie es einst meinem Lehrer klagte, lachte er und sagte: »Das ist Lernbegierde«.

Nach einiger Zeit kamen einige der Unsrigen vorüber, die sangen und waren laut und wankten ein wenig. Da drängte ich die andern, daß wir weiter gingen. Der Wirt, in roter Weste und Hemdärmeln, konnte sicher kein einzig deutsches Wort sonst, aber die Namen der deutschen Geldstücke kannte er. Als ich den Leutnant am Kai stehen sah, war ich neugierig, ob er sich zu seinem schönen Tuch auch schönen Wein gekauft hatte; aber als ich ihm nahekam, sah ich, daß seine Augen nur trunken waren von all dem Schönen und Bunten und Freundlichen, das er gesehen hatte. Noch einen ganzen Tag lang, als wir schon wieder auf dem Meere schwammen, sah ich in träumender Seele schöne Menschen auf bunten, sonnigen Straßen gehn, dahinter erhoben sich weiche Hügel in schöner, frischer Fruchtbarkeit.

Am dritten Morgen hiernach stand ich ziemlich früh an der Reeling und wartete auf den Dienst und sah so in Gedanken verloren übers Wasser, ob ich wohl etwa in der Ferne eine der Kanarischen Inseln entdecken könnte, in deren Nähe wir nun waren. Es schien mir aber ziemlich zwecklos; denn es war noch nebelig.

Da sah Behrens, der neben mir stand, so von ungefähr nach dem Himmel auf und sagte: »Sieh mal, was für eine merkwürdige weiße Wolke da!« Ich sah auf und sah, ganz oben am Himmel, eine schwere, stillstehende, schneeweiße Wolke, von einem sanften Glanz, wie weißes Vogelgefieder, und stand noch und sah und dachte: ›Was ist das für eine merkwürdige Wolke.‹ Da kam Gehlsen nach vorne gelaufen, flink wie er war, und sagte in seiner raschen, kühnen Art: »Siehst Du schon? Dort? Siehst Du? Das ist der Berg von Teneriffa. Aus dem Meer steigt er auf, zu solcher Höhe, und sein Kopf ist mitten im Sonnenbrand weiß von Schnee.« Da erschrak ich, daß ich zitterte. So ergriff mich das Wunder, das Gott hier mitten ins weite Wasser und unter die brennende Sonne gestellt hatte. Sie standen alle und sahen hinauf. Einige redeten laut; aber viele sahen still hinauf. Und sahen, wie die Nebel da oben in der ungeheuren Höhe zur Seite glitten, und die glatten, schrecklich steilen Felsen sichtbar wurden, die wie alte, ungeheure Festungsmauern sich auftürmten, eine auf die andre. Und auf der obersten, breiten, zerfallenen Mauer lag der ewige Schnee. Langsam glitten wir an seinem steinernen Fuß dahin.

Es ging immer weiter, Tag und Nacht, immer nach Süden. Es ist ein Wunder, wie groß die Welt ist. Wie leicht und rasch gleitet auf der Landkarte die Hand von Hamburg nach Swakopmund; aber wie arbeitet die Maschine hastig, eintönig, dumpf, fleißig, unermüdet, durch Tag und Nacht, über drei Wochen lang. Was haben die Menschen doch für Kraft in sich und harten Willen, daß sie so in die Ferne fahren und dort leben, handeln, forschen und herrschen wollen.

Wir übten vormittags fleißig. Es knallte stundenlang; es wurde auch ein wenig exerziert. Die Stimmung war immer sehr gut. Wir steuerten südöstlich, der afrikanischen Küste zu. Wir sollten hier unterwegs siebzig Neger an Bord nehmen, wie die meisten Schiffe tun, die nach Swakopmund hinunterfahren. Diese siebzig Neger sind unterwegs Trimmer, Heizer und Helfer allerart und da unten Schauerleute, laden ein und aus, und fahren nachher wieder mit dem Schiff zurück und werden an ihrer Küste wieder an Land gesetzt.

Am siebenten Tag nach Teneriffa sahen wir die Küste von Afrika aufsteigen. Sie war ganz so, wie wir sie uns gedacht hatten: liebliche Hütten unter Palmen, viele hohe und schöne Bäume an sanft aufsteigenden grünen Hügeln und es wimmelte von Menschen. Daß sie schwarz waren, konnten wir noch nicht sehen.

Als wir nicht mehr fern waren, kam Gehlsen zu mir und erzählte mir, daß die Väter und Großväter dieser Neger einst Sklaven in Nordamerika gewesen wären. Die dortige Regierung hatte sie wieder hierher in ihre Heimat zurück geführt und hilft ihnen bis heute, daß sie freie Republikaner sind. Als er mir das erzählt hatte, ging er nach vorn, um besser zu sehen; denn wir kamen nun schon dicht heran. Ich aber ging noch rasch nach unserm Schlafraum um eine Karte zu schreiben; denn es ging Post an Land. Als ich so saß und schrieb, ganz in Gedanken, kam von draußen ein Wundern und Schreien und dummes Gekreische, und ein Schleifen, und Rutschen, und Gleiten, daß ich aufsprang und hinausging. Da erschrak ich und staunte mit offenem Munde. Denn über beide Borde kam es, mit Katzenschleichen und Schlangengleiten, schwarz und lang und halbnackt, mit großen, entblößten Gebissen, mit lachenden, wilden Menschenaugen, ältere und jüngere, und kleine Jungen, um Brust und Leib ein wenig buntes Zeug, mit Säcken und Töpfen und Kisten. Sie liefen schwatzend und lachend über Deck ganz unbekümmert um unser Staunen und verkrochen sich unter Deck und richteten sich ein. Wir lagen nur einige Stunden dort. Dann ging die Fahrt weiter, Tag für Tag und die ganzen hellen Nächte hindurch.

An einem dieser Tage machte ich mich an den dritten Maschinisten, der ein Eckernförder war, sagte ihm, daß ich ein gelernter Schlosser wäre und bat ihn, mich in den Maschinenraum mitzunehmen. Wir kamen durch viele Gänge und Räume, die ich noch nicht kannte; stiegen kurze eiserne Treppen hinunter, die ich noch nicht gesehen hatte, immer tiefer und tiefer. Immer stärker stieß und schütterte es unter meinen Füßen, immer näher hörte ich das wuchtige Gleiten schwerer Wellen und Kolben. Dann öffnete er eine eiserne Tür, und ich stand in der Maschine. Die größte Maschine, die ich bisher gesehen hatte, war die in einer Hamburger Bierbrauerei. Diese war fünfmal so groß. Die Kurbeln waren so lang und breit wie der Körper eines zehnjährigen Jungen, massiv von Eisen. Sie schwangen sich leicht und sicher im Kreise, und die beiden mächtigen Wellen, an deren Ende draußen die Schrauben sind, stark wie zwanzigjährige Lindenstämme, drehten sich fleißig. Ein Mann von mittleren Jahren, ziemlich fett und ölig, den ich noch nie gesehen hatte, obgleich ich nun schon drei Wochen lang mit ihm auf demselben Schiff wohnte, stand ruhig in all dem Auf und Ab und dem Hin- und Herspiel auf der durchlöcherten eisernen Plattform, die heftig zitterte, und sah so gleichmütig um sich, wie ein Bauer im Viehstall über seine wiederkäuenden Tiere schaut. Ich ging auch vorsichtig die Plattform entlang und eine Treppe hinunter durch ein offenes Schott nach dem rötlichbraunen eisernen Heizraum, in dem zwischen Steinkohlen und eisernen Schiebern und zischenden Hähnen halbnackte Leute vor den Kesseln standen, unter denen die mächtigen Feuer glühten. Ich sah alles rasch und scharf an und wäre gern noch länger geblieben, aber ich schämte mich, den im heißen Raum schwer Arbeitenden untätig zuzusehen.

In meiner freien Zeit stand ich oft bei den Schwarzen und beobachtete sie, wie sie friedlich beieinander saßen und in gurgelnden Tönen miteinander schwatzten, und wie sie um die großen Eßtöpfe hockten, mit den Fingern eine Unmenge Reis zum Munde führten, und mit ihren großen, knarrenden Tiergebissen Beine, Gekröse und Eingeweide ungereinigt fraßen; es schien ihnen gar nicht drauf anzukommen, etwas Schmackhaftes zu essen, sondern nur, ihren Bauch zu füllen. Und es schien mir, daß es so stand, nämlich, daß die Leute von Madeira zwar Fremde für uns sind, aber wie Vettern, die man selten sieht, daß diese Schwarzen aber ganz, ganz anders sind als wir. Mir schien, als wenn zwischen uns und ihnen gar kein Verständnis und Verhältnis des Herzens möglich wäre. Es müßte lauter Mißverständnisse geben. Wie von Anbeginn der Fahrt redeten wir viel von unsern Erwartungen, von den Palmen und Affen, die wir sehen würden und von den bunten Tierfellen und Vögeln und schönem Flechtwerk, das wir mit nach Hause nehmen wollten. Wir sprachen auch wieder von der Furcht, daß der Aufstand zu Ende sein könnte, wenn wir ankämen. Es wurde auch viel darüber gescherzt, daß wir dem Äquator näher kämen. Die ein wenig unbeholfen oder träumerisch waren, wurden geneckt, sie sollten aufpassen, daß sie den Strich auf dem Meere sehen könnten und sollten sich gut festhalten, wenn es nun bergab ginge, und dergleichen mehr. Ich nahm an diesen Neckereien nicht teil, da ich gar nicht dazu veranlagt bin; auch taten mir die leid, auf die sie zielten. Die waren nämlich lange nicht die Dummen. Sondern oft waren die, welche neckten, die Dummen und Gedankenlosen; sie hatten nur ein großes Maulwerk. Darum zog ich gern ihren Spott von jenen auf mich, indem ich mich dumm stellte. Wenn ich dann wollte, schüttelte ich die Hunde leicht wieder ab und lachte inwendig über ihr Bellen und Beißen. Gegen Abend fingen wir an zu singen, und am liebsten und meisten sangen wir von dem bekannten Liede den dritten Vers, und es klang schön über das abendliche Meer:

»Doch mein Schicksal will es nimmer,
Durch die Welt ich wandern muß.
Trautes Heim, dein denk' ich immer.« ...

Die Nacht war in dem engen Raum sehr heiß, ja fast unerträglich. Einige schalten; aber die Vernünftigen sahen ein, daß es nicht anders sein könnte. Wenn man einmal erwachte, war es fast unmöglich wieder einzuschlafen. Einmal, als ich so schlaflos und unruhig lag, schien mir, als wenn der kleine Schlesier, der, welcher so gern und so fröhlich sang – er lag rechts neben mir –, heiß und kurz aufschluchzte. Als ich ihn fragte, was los war, schwieg er erst. Dann sagte er mit leiser, ruhiger Stimme: »Dies Fahren wird langweilig, meinst Du nicht auch? Immer, Tag für Tag, ich weiß nicht wie viele Meilen ... es ist ja gar nicht möglich, daß wir einen so weiten Weg wieder zurückfinden.« Dann lag er wieder still.

Am siebenten Tage, nachdem die Neger über die Reeling geglitten waren, an einem Morgen, sagte uns ein Matrose, daß wir Swakopmund heute noch erreichen würden. Da standen wir stundenlang vorn an Backbord und sahen hinüber; aber ein Nebel verbarg uns die Küste. Gegen Mittag aber wich der Nebel und wir sahen am Himmelsrand einige große Dampfer liegen, und dahinter einen endlosen Streifen rötlichweißer Sanddüne aus dem Meer herausragen. Auf Meer und Dünen brannte grelle Sonne. Wir meinten erst, es wäre eine Barre, die vor dem Land läge, damit die schöne und große Stadt Swakopmund und die Palmen und Löwen nicht nasse Füße bekämen; aber bald, da der Nebel sich vollends verzog, sahen wir in der flimmernden Luft auf dem kahlen Sande weiße Häuser und lange Baracken stehen und einen Leuchtturm. Da standen alle und staunten, und sprachen ihre Meinung aus. Viele sahen still und ernst nach dem ungastlichen, öden Lande; andere spotteten und sagten: »Eines solchen Landes wegen so weit fahren!«

Wir wurden an diesem Tage nicht ausgebootet. Einige sagten, wir kämen überhaupt nicht an Land, da der Aufstand schon niedergeschlagen wäre, andere sagten, die Sache würde noch sehr lange dauern. Es war eine große Unruhe und viel Hin- und Herreden unter uns. Zwischen dem Kanonenboot Habicht und uns wurden eifrige Flaggenzeichen gegeben bis an den Abend. So lagen wir, in ziemlich starkem Wellengang schaukelnd, diese Nacht vor Swakopmund.


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