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Da packten sie denn, während ich untätig und mit dumpfem, halbwirrem Kopf mit meinem entzündeten und brennenden Arm am Rad des Munitionswagens hockte, die Schwerverwundeten und die Kranken auf die Wagen. Die Gesunden marschierten neben und hinter den Wagen. Wenige saßen auf müden, zottigen Pferden. So zogen wir bedrückt davon. Ich saß auf dem Proviantwagen, den Hansen führte. Manche Stunde saßen wir nebeneinander auf der Kiste, während er aus seiner kurzen Pfeife rauchte und spärlich dazu redete.
Einmal ging einer im Irrsinn so einfach aus dem Wagen weg in den Busch hinein und wurde nicht wiedergefunden. Da mußten Wachen um die Wagen gestellt werden, daß niemand entfloh. Einer der Fiebernden ging mit dem Seitengewehr auf den Arzt los; ein anderer, der noch in Reihe und Glied ging, schoß plötzlich wild um sich. Drei von den Kranken starben unterwegs und wurden im Busch begraben. Der Einjährige war Arzt, Wärter, Soldat, alles zugleich. Sein Gesicht wurde schmaler und bleicher; aber sein Bart wurde länger und dichter.
In der dritten Nacht wurden mehrere Ochsen vor dem letzten Krankenwagen schlapp und einer verendete. Da ließen wir auch unsern Wagen halten, um ihnen zu helfen. Ich weiß nicht, wie es kam, daß die andern weiterzogen; sie meinten wohl, die Biwakstelle wäre ganz nah und wir würden gleich nachkommen. Aber wir hatten eine stundenlange Verzögerung. Da hielten wir denn auf dem schmalen Weg im Busch in der finstern Nacht: zehn Kranke mit drei Mann Bedeckung; und die Treiber behaupteten, sie hätten im Busch Feinde gesehen.
Ich kletterte mühsam in den Wagen und sagte den beiden Verwundeten, die noch leidlich bei Sinnen und Kräften waren, wie es um uns stand. Sie richteten sich halb auf und nahmen ihre Gewehre und hielten so mit uns andern Wache, bis wir weiter fahren konnten.
Am vierten Tag erreichten wir auf unserm Rückzug eine gute Wasserstelle. Es war da eine kleine, ganz schlichte Kirche, welche die Mission gebaut hatte, und das halbzerstörte Haus des Missionars; in diesem Gebäude wurden auf der Erde aus Gras und Decken Lager bereitet. Die Gesunden lagerten einige hundert Meter aufwärts an einem Hügel. Da wollten wir nun liegen bleiben, bis die Krankheit unter uns ausgewütet hatte. Zu der Zeit hörten wir, daß der Feldzug vorläufig ganz zum Stillstand gekommen wäre, weil der Aufstand für die kleine deutsche Macht, die zurzeit in der Kolonie vorhanden war, allzumächtig emporgelodert war.
Als wir ungefähr zehn Tage dagelegen hatten, kamen endlich Nahrungsmittel und für die Kranken Matratzen und auch Stärkungsmittel, nämlich Wein, Bouillon, Eiweiß, Kakao, Quäker Oats, so daß die Kranken nun endlich gebettet und gesättigt wurden, und auch wir satt wurden. Wir blieben aber weiter in den schrecklich dreckigen Kleidern.
Wir lebten in großer Niedergeschlagenheit, wir lauter Kranke und immer einige Sterbende. Ich machte mich nützlich, soviel ich konnte. Matt und mit dumpfem Kopf ging ich von einem zum andern, gab mit meiner gesunden linken Hand dem einen Wasser, dem andern ein Stück Zwieback, und half dem dritten ein wenig in die Höhe, daß er seine Leibesbedürfnisse verrichten konnte.
In diesen jammervoll dumpfen Wochen traten mir besonders zwei Kameraden nahe. Wir hatten uns früher, da wir gesund waren, kaum gekannt. Der eine war ein Thüringer Junge mit kindlichbraunen Äugen; er sprach wenig. Mir war schon auf dem Schiff aufgefallen, daß er so still war und so verwundert darein sah. Nachher, wie wir das Land betraten und dann in das Buschfeld eingedrungen waren, waren seine Augen immer banger, sein Mund immer stummer geworden. Er war sonst von kräftigem Körper und ertrug alles gut und klagte nicht, stand auch im Gefecht seinen Mann. Nun wurde er hier im Lager krank. Er kam mit Gewehr und Decke vom Lager zu uns herab, fröstelnd, mit glanzlosen Augen, und sagte mit schüchternem Scherz: »Nun will ich Rentner bei Euch werden alle meine Tage,« und legte sich hin. Ich sprach nun oft mit ihm, nicht viel mit Worten; denn unser Gaumen war ein ausgedörrter Schlauch, und unsere Gedanken hatten Schleppfüße; aber mit Andeutungen und Zeichen. Da wurde mir klar, daß ihm alles, alles, was wir erlebt hatten, seit wir Kiel verlassen hatten, unheimlich und grausig gewesen war. Die unendliche Weite des offenen Meeres, die trotzige, ernste Küste von England, der erhabene Berg von Teneriffa, die fremden Sternbilder, die stechende Sonne, der kahle Strand von Swakopmund, der Anblick unserer Toten, das Sterben der Kameraden: seine Seele war nicht stark genug für alle diese großen und harten Dinge. Er starb an Ruhr und Herzschwäche am siebenten Tag.
Der andere war schon schwerkrank, als wir dies Lager bezogen. Er war in Nürnberg geboren und hatte dort seine Kindheit zugebracht. Fünfzehnjährig war er wegen seines Stiefvaters aus der Heimat gegangen und war seitdem unruhig durch die Welt gewandert. Als Steward war er von Bremen aus nach Südamerika gefahren, war quer hindurch nach Chile gekommen, hatte Samoa gesehen und hatte in San Franzisko Kellner gespielt. Dann war er in die Marine der Vereinigten Staaten eingetreten; doch nicht auf lange. Einige hundert Mark, die er in der Tasche hatte, hatten ihn verleitet, von New Orleans nach Australien zu fahren, um Gold zu graben; er hatte aber wenig oder nichts gefunden. Als Australien gegen die Buren Freiwillige stellte, war auch er hinübergefahren, als Trimmer, aber um den Buren zu helfen. Er war gefangen genommen und hatte auf Ceylon böse Tage erlebt. Von da war er nach Kapstadt zurückgekehrt und war auf die erste Nachricht vom Aufstand in unserer Kolonie als Kriegsfreiwilliger eingetreten. Es gibt, glaube ich, nicht wenige Deutsche, die so unruhig und wirr und gutmütig dumm durch die Welt wandern. Ihr ganzes Leben geht damit hin, wahllos einem ersten Einfall ihres unruhigen, haltlosen Gemütes zum Rechten oder Verkehrten nachzulaufen und nach getanem Lauf ohne Nachdenken oder gar Reue sich auf ein anderes Ziel, das eben gerade in ihr Gesichtsfeld kommt, zu stürzen. Er schalt auf die Engländer, auf die Amerikaner und am meisten auf die Buren; aber ich war überzeugt, daß er zu den Franzosen und Japanern gelaufen wäre, wenn da bei ihnen irgend etwas los gewesen wäre. Es ist schlimm, wenn ein Mensch sein Leben nicht in der Hand behält. Nun lag er ziemlich lange schwerkrank an Typhus, obgleich er so sicher gemeint und geprahlt hatte, daß er ein »Gesalzener« wäre, und phantasierte in einem fort. Als er sich langsam wieder erholte, war er ganz vernünftig und erzählte mir von seinem ganzen Leben; er behielt aber noch eine ganze Woche lang den Wahn, daß ihm beide Beine abgeschossen wären. Ich saß manche Stunde bei ihm und habe aus der Unterhaltung mit ihm viel gelernt. Was nachher mit ihm geworden ist, weiß ich nicht.
Ich blieb immer so stark, daß meine Füße mich tragen konnten. Aber wenn ich vors Lager hinausging, meine Leibesbedürfnisse zu verrichten, was ich oft am Tage tun mußte, und ich mir vornahm, daß ich nicht hinter mich sehn wollte, sah ich doch hin und sah, daß es ganz blutig war. Dann kam ich sehr mutlos zu den andern und saß und brütete vor mich hin und meinte fest, ich müßte wohl auch hier sterben, und fand mich mit trüben Sinnen in dies Schicksal und dachte voll stiller Wehmut an mein Elternhaus. Dem Arzt sagte ich nichts. Es war aber ein Lazarettgast da, den ich fragte. Der sagte: »Du hast vorne im Leib den Typhus und hinten die Ruhr; aber Du hast eine glückliche Natur und machst es so im Gehn durch«; und gab mir Pillen. Ich nahm die Pillen genau, wie er mir gesagt hatte; aber ich glaubte weiter an seine Predigt nicht; denn er war halb von Verstand. Da waren viele in diesem Feldzug: Offiziere, Ärzte, Lazarettgäste, Soldaten, die taten noch treu ihre Pflicht wie eine Maschine, die noch eine Weile weiterläuft, wenn der Dampf schon abgestellt ist, und waren inwendig schon krank und voll von wirren Gesichten.
Eines Abends – ich war schon wochenlang im Typhuslager – hatte jemand einen Brief bekommen, ich glaube aus Swakopmund, darin stand unter anderm, daß in Deutschland jedermann von dem Krieg zwischen Rußland und Japan spräche, von uns aber spräche kein Mensch, ja man spotte über uns und unsern Jammer als über Leute, die für eine lächerliche und verlorene Sache stritten, und man wolle nichts von uns wissen, weil wir das rasche Siegen nicht verstünden. Ich wollte den Brief erst wegwerfen; dann aber dachte ich, ich wollte ihn Heinrich Hansen zeigen. Der aber kam nicht. Doch kam am andern Tag ein andrer alter Schutztruppler, da zeigte ich dem den Brief; denn mir war aller Mut entfallen. Er las ihn und lachte und sagte: »Was wundert Dich das? Ist es nicht immer so gewesen? ›Wie viele Frauen hat der König von Siam? Was für ein Strumpfband trägt die Königin von Spanien? Welche Antwort hast Du auf die Postkarte bekommen, welche Du dem japanischen Feldherrn geschickt hast?‹ Sieh! Das sind die Dinge, welche die Deutschen interessieren. Du solltest mal hören, wie die Engländer über uns lachen, über uns Redefratzen und Hänse in allen Gassen. Die Engländer fragen bei jeder Sache: ›Was nützt es mir und England?‹« Damit ging er weg.
Ich ging wieder zu den kranken Kameraden, holte meine Decke und setzte mich an die Seite des Eingangs auf die Erde. Es war ein kalter, unfreundlicher Abend. In den Büschen knarrte vertrocknetes Astwerk; Geier flogen seitwärts nach höhern Bäumen, die plump und dunkel übers Buschfeld ragten. Aus dem Raum hinter mir kam lautes, stoßweises Wimmern eines Schwerkranken. Ein Leichtkranker saß vor dem Proviantzelt geduckt auf einer halbzerschlagenen Kiste, stierte vor sich hin und sang mit müder, dösiger Stimme unser altes Lied:
»Doch mein Schicksal will es nimmer.
Durch die Welt ich wandern muß.
Trautes Heim, dein denk' ich immer,
Trautes Heim, dir gilt mein Gruß.
Sei gegrüßt in weiter Ferne,
Teure Heimat, sei gegrüßt!«
Zwei Kameraden gingen in ihren Mänteln, Spaten auf der Schulter, querüber nach dem Hügel, ein neues Grab zu graben.