Gustav Frenssen
Peter Moors Fahrt nach Südwest
Gustav Frenssen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel VI.

Wir sollten den Feind nordostwärts im Bogen umgehn und ihn stellen, wie einer auf der Hofstelle einen Bogen läuft und das Fohlen stellt, daß es wieder zurück läuft, wo mit dem Halfter in der Hand der Knecht wartet. In Eilmärschen sollten wir marschieren, mit wenigen und leichten Wagen, das heißt, mit wenigem und leichtem Proviant und weniger und leichter Kleidung. Wir waren gegen dreihundert Mann, Seesoldaten, Matrosen und die Schutztruppler, die uns führten. Voran zog wieder der Haufe alter Afrikaner, Offiziere und einfache Soldaten, alle beritten. Dann kam der Alte mit einem Offizier. Dann kamen wir zu Fuß, in langer, dünner Linie, in Staub gehüllt. In unserer Linie, hier und da, fuhren unsere dreißig mächtigen Kapwagen mit Proviant und Munition und die leichten Geschütze, von je zehn bis vierundzwanzig langhörnigen Ochsen gezogen, von Schwarzen unter lautem Schreien getrieben. Zu beiden Seiten des Weges war dichter oder lichter, graugrüner Dornbusch mit knochenhartem Holz und fingerlang gebogenen Dornen, mannshoch, zuweilen zwei Mann hoch. In solcher Weise und durch solches Gelände sind wir nun Tag für Tag, Woche für Woche gezogen. Und von Tag zu Tag und Woche zu Woche mühseliger. Denn bald fing die Zeit an, wo wir mehr und mehr verhungerten und verelendeten, wo die Ochsen vor Entkräftung stürzten, und wo einige der schweren rumpumpelnden Wagen voll von dem Jammer der Verwundeten und Schwerkranken waren.

Wenn die Sonne über uns hoch und höher, fast bis zur höchsten Himmelshöhe stieg und der Sand unter unseren Füßen glühend wurde und Auge und Kehle brannten, hielt die Spitze an einer Lichtung, wo Wasser sein sollte. Nicht immer war Wasser da; oft mußten wir, die schwer dürstenden, Löcher graben, ob wir ein wenig fänden, welches langsam hervorsickerte; fast immer war es salzig oder milchig von Kalk oder stinkend. Oft aber fanden wir auch dieses lumrige, widerliche Wasser nicht und mußten durstig weiter ziehn bis in die Nacht.

Fanden wir es, so machten wir erst einen Dornverhau rund um uns. Dann holte sich jede Backschaft ihre schmale Nahrung: ein wenig Fleisch von einem frischgeschlachteten schlappen Ochsen, ein wenig Mehl, ein wenig Reis. Das Fleisch oder Mehl verrührten wir in unserm Kochgeschirr mit dem schlechten Wasser, setzten es aufs Feuer und nannten es Fleischsuppe, Bouillon mit Reis, oder Pfannkuchen, die sie Plinsen nannten. Die Kochgeschirre reinigten wir mit dem Sand, der daneben lag. Danach lagen wir noch eine Stunde im Schatten der Wagen oder einer hochgestellten Zeltbahn. Dann ging es weiter.

Müde und gleichgültig zogen wir in den Abend hinein. Ich weiß nicht, ob wir in diesen Wochen jemals gesungen haben. Oft zogen wir bis in die Nacht. Wunderlich fahl, wie helle Spinnweben, lag der Mondschein über dem weiten, buschigen Land; wunderlich wirr und unruhig funkelten die fremden Sterne. Der Gewehrriemen auf der Schulter drückte; die Füße stolperten in der unebenen Wegspur; die Gedanken waren langsam und stumpf.

Wenn wir dann in der Nacht eine Wasserstelle erreicht hatten und zuletzt ein oder zwei, oder, wenn es hoch kam, drei Kochgeschirrdeckel voll des schlimmen Wassers ausgeliefert bekommen hatten, waren wir zu müde, um noch ordentlich abzukochen. Wir rührten ein wenig zusammen, was wir bekamen, und aßen es halb gar. Es war uns befohlen, das Wasser erst zum Sieden zu bringen. Aber ich habe gesehen, daß auch die Offiziere, ja selbst die Ärzte es so wegtranken. Wir waren zu müde und zu stumpf.

So ging es Tag nach Tag, vier Wochen lang. Das Land war immer eben, buschig. Wir trafen kein einziges Haus, und wir trafen keinen Menschen. Es war schlimm, daß wir nicht reichlich Proviant mitnehmen konnten. Dann hätte mancher die Heimat wiedergesehen. Wir selbst merkten es nicht; aber die Offiziere und Ärzte haben es wohl gesehen, daß wir allmählich saft- und kraftlos wurden. Wenn wir noch Zeit und Lust gehabt hätten, ordentlich zu kochen; aber das Wasser war oft so widerlich, daß es keine Freude war. Und wir mußten noch dazu so sparsam damit umgehen, daß unsere Geschirre verschmutzten. Ich rieb sie mit Sand; ich rieb sie mit abgerissenem Gras, aber sie wurden nicht rein. Es war auch schlimm, daß wir nichts als den dünnen Khakianzug hatten. Die Beinkleider, morgens im kniehohen, nassen Gras, mittags im heißen Staub, den ganzen Tag zwischen dornigem Buschwerk, fransten unten aus und hingen bald in Fetzen. Wenn zuweilen ein Gewitter oder ein Regensturz herniederging und dann die Nacht kam, fror uns entsetzlich. Es gab sehr kalte Nächte.

So mußte es kommen, daß wir bald kraftlose Leute wurden. Wir selbst merkten es nicht. Ich dachte nur zuweilen verwundert: ›Es war doch so viel Reden und Streiten an Bord! Es waren doch so viele Schelme unter uns! Wo sind die Narren? Und warum singen wir nicht? Wie ist Behrens gelblich blaß und mager geworden! Wie liegen dem Unteroffizier die Augen tief und fiebrig im Kopf! Was haben wir für wunderliche dünne Bärte, wir jungen Menschen!‹ Es waren viele unter uns, die noch nicht zwanzig waren.

Einmal trafen wir einen großen Kapwagen. Verlassen stand er auf dem Weg. Ein Farmer oder Händler hatte entfliehen wollen, hatte seine wertvollste Habe auf den Wagen gepackt, seine Ochsen davor gespannt, seine übrige Herde vor sich hergetrieben. Bis hierher war er gekommen. Seine Knochen lagen von Tieren rein gefressen, seitwärts am Busch in der Sonne; seine Habe war gestohlen; und rund um den Wagen lag zerrissen das einzige, was der Feind nicht hatte brauchen können: Briefe und Bücher. Wir begruben die Knochen im Busch, banden mit Bindfaden ein Kreuz zusammen und stellten es auf das Grab, und nahmen einige Briefe und Buchfetzen an uns und lasen darin und warfen sie weg.

An einem andern Tage entdeckten wir, versteckt im Busch neben dem Weg, auf einer Anhöhe, viele verlassene Hütten der Feinde. Sie waren wie große Bienenkörbe, im Gerippe aus Ästen und Reisig, mit Kuhdung beschmiert. Obgleich wir so müde waren, nahmen wir uns doch Zeit, sie anzustecken, und standen nachher auf einer Steigung unseres Weges und sahen zurück. Die Glut färbte weithin den Abendhimmel.

Sonst weiß ich nicht, daß uns etwas Besonderes begegnet wäre. Wir zogen immer auf dem sandigen Weg dahin, in Staub gehüllt. Zu beiden Seiten war Buschfeld, das zuweilen dünner war und zuweilen zur Seite wich, daß es eine stattliche Lichtung gab.

Unsere Reiter, die alten Afrikaner und die Offiziere, ritten oft voraus, oft stundenweit, und suchten den Feind zu erspähen. Wenn sie zurückgekommen waren, ging es oft durch die Reihen, und abends von Feuerstelle zu Feuerstelle: »Wir sind dem Feind nun ganz nah, morgen, übermorgen treffen wir ihn!« Dann freuten wir uns, und jeder saß und besah sein Gewehr und untersuchte den Patronengurt. Aber es kam ein neuer Tag, und noch einer, und wir wurden matter und schlapper und sahen nichts vom Feind.

So ging es vier Wochen, immer weiter, weiter. Es war schlimm, daß wir nie aus den Kleidern kamen und uns nie waschen konnten, selten und unvollkommen einmal das Gesicht und die Hände. Aber schlimmer war wohl, daß wir uns nie mehr satt essen konnten. Sie hatten es mir übergeben, den Proviant zu holen: ich brachte immer weniger zum Kochloch. Ein wenig Reis, ein wenig Büchsenfleisch, ein wenig Mehl, ein wenig Kaffee. Es gab keinen Zucker mehr. Und dann kam ich eines Tages vom Wagen zurück: da brachte ich kein Salz mit. Da buk ich Plinsen aus Mehl und schmutzigem Wasser. Das Wasser, das wir dazu tranken, schmeckte oft widerlich nach Glaubersalz, oft war es gelb wie Erbsensuppe und stank. Die Nächte waren kalt.

Ich kann nicht sagen, daß wir immer niedergeschlagen waren. Auch murrten wir nicht. Wir sahen ein, daß es nicht anders gehen konnte, und daß die Offiziere alles wie wir ertrugen. Wir waren aber still und sehr ernst. Wir dachten immer, und damit hielten wir uns aufrecht: ›Wir kommen nun bald an den Feind und schlagen ihn und beenden damit den Feldzug, und dann ... dann, ach, dann kehren wir nach der Hauptstadt zurück und bekommen einen neuen Anzug und baden. Wir springen ins Wasser. Und bekommen ein Taschentuch, ein schönes rotgewürfeltes, ganz reines, und bekommen einen großen Topf voll schönem Fleisch und eine Handvoll weißem, körnigem Salz, und einen großen, großen Becher voll reinem, silberblankem Wasser ... wie das hell leuchtet! und trinken einen langen, langen Zug, und halten den großen leeren Becher wieder hin und – wieder fließt das Wasser hinein – und trinken und trinken ... Und dann, nach einigen Tagen, fahren wir zur Küste, und dann geht es in die Heimat. Was werden wir alles erzählen aus diesem Affenland!‹

Unsere Stiefel gingen entzwei; unsere Beinkleider waren unten nichts als Fetzen und Lumpen; unsere Jacken bekamen vom Dorn große Löcher und wurden entsetzlich schmierig, weil wir alles daran abwischten: unsere Hände waren voll von entzündeten Stellen, weil wir oft in den Dorn greifen mußten.

Unser Leutnant sprach oft mit uns. »Seid munter!« sagte er. »Wir werden ein Gefecht haben und die Kerle nach Westen zu der Hauptabteilung in den Rachen werfen. Und im Juli sind wir wieder zu Hause.« Ich wunderte mich über ihn, daß er, obwohl er nicht viel älter war als wir und alle Beschwerden hatte wie wir, immer gleichmäßig ruhig war, während wir doch oft unnütz waren und zornig wurden und schimpften. Es kam nicht davon, daß er mehr gelernt hatte als wir: ich glaube, es kam daher, daß er ein inwendig gebildeter Mensch war; das heißt: Seele und Geist in Gewalt hielt, daß sie die Dinge rund um ihn her ruhig, gerecht und nachsichtig überdachten. Sein Wille wollte so, und da geschah es. Da habe ich gemerkt, daß Wille zehnmal mehr wert ist als Wissen. Wir sagten mit keinem Wort, wie viel wir von ihm hielten. Aber wir sprachen oft von ihm und sahen oft nach ihm hin. Er war ein kleiner Mann und ritt ein starkes, ostpreußisches Pferd und trug den grauen Filzhut mit der aufgeklappten linken Krempe immer ein wenig auf dem linken Ohr.

Der Alte kam auch zuweilen zu uns und redete uns an. Dabei sah er jeden genau an, als wollte er erkennen, ob er irgendeine Not hätte. Wir fühlten alle, daß er ein kluger und wacher Mann war und daß er ein mildes, teilnehmendes Herz hatte. Darum fühlten wir uns sicher unter ihm, wußten auch, daß es nicht anders sein konnte, wie es war – sonst hätte er es geändert –, und liefen wie die Hasen, wenn wir ihm etwa eine Freude machen konnten. Und wenn einer so gelaufen war, verspotteten wir ihn: »Mensch, was bürstest Du!« Aber wenn die Reihe an einen andern kam, lief er ebenso.

Zuweilen, wenn wir an unserm Kochloch saßen, machte ich mich davon und ging zu den alten Afrikanern, die ihr Feuerloch immer an einem der Wagen hatten, die Sergeant Hansen führte. Dann winkte mir Hansen; denn er mochte mich leiden, seit ich ihn im Hof der Feste angesprochen hatte. Sie saßen immer für sich, nicht allein aus Stolz, sondern auch, weil sie meist fünf oder gar zwanzig Jahre älter waren als wir. Einige von ihnen waren schon zehn Jahre oder darüber im Lande.

Ich setzte mich still zu ihnen und hörte mit großer Begierde, was sie miteinander redeten. Zuweilen sprachen sie von den wilden fünfzehnjährigen Kämpfen in der Kolonie, die sie ganz oder zum Teil mitgemacht hatten, und von den Kämpfen der letzten drei Monate. Sie nannten manchen Ort tapferer Tat und manchen wackern Mann, Tote und noch Lebende. Ich wunderte mich, daß schon so große und harte Dinge von Deutschen in diesem Lande ausgeführt waren, davon ich nimmer auch nur ein Wort gehört oder gelesen hatte, und daß schon so viel deutsches Blut qualvoll in diesem heißen, dürren Lande geflossen war. Sie kamen auch auf die Ursachen des Aufstandes; und ein Älterer, der schon lange im Lande war, sagte: »Kinder, wie sollte es anders kommen? Sie waren Viehzüchter und Besitzer, und wir waren dabei, sie zu landlosen Arbeitern zu machen; da empörten sie sich. Sie taten dasselbe, was Norddeutschland 1813 tat. Dies ist ihr Befreiungskampf.« »Aber die Grausamkeit?« sagte ein anderer. Aber der erste sagte gleichmütig: »Glaubst Du, daß es ohne Grausamkeit abginge, wenn bei uns das ganze Volk gegen fremde Unterdrücker aufstände? Und sind wir nicht grausam gegen sie?« Sie sprachen auch darüber, was wir Deutschen hier eigentlich wollten. Sie meinten, darüber müßten wir uns klar werden. »Jetzt stände es so: Es wären Missionare hier, die sagten: ›Ihr seid unsere lieben Brüder in dem Herrn, wir wollen Euch diese Güter bringen: Glauben, Liebe und Hoffnung,‹ und es wären hier Soldaten, Farmer und Händler, die sagten: ›Wir wollen Euch Euer Land und Euer Vieh so allmählich abnehmen und Euch zu rechtlosen Arbeitern machen.‹ Das ginge nicht nebeneinander. Das sei eine lächerliche und verrückte Sache. Es sei entweder recht und richtig, zu kolonisieren, das heiße entrechten, rauben und zu Knechten machen, oder es sei recht und richtig, zu christianisieren, das heiße Bruderliebe verkünden und vorleben. Man müsse das eine klar wollen und das andere verachten, man müsse herrschen wollen oder lieben wollen, gegen Jesus sein wollen oder für Jesus. Die Missionare predigten ihnen: Ihr seid unsre Brüder! Und verwirrten ihnen die Köpfe! Sie seien nicht unsre Brüder; sondern unsre Knechte, die wir menschlich aber streng behandeln müßten! Diese sollten unsre Brüder sein? Sie mögen es einmal werden, nach hundert oder zweihundert Jahren! Sie mögen erst mal lernen, was wir aus uns selbst erfunden hätten: Wasser stauen und Brunnen machen, graben und Mais pflanzen, Häuser bauen und Kleider weben. Danach mögen sie wohl einmal Brüder werden. Man nimmt niemanden in eine Genossenschaft auf, der nicht vorher seinen Einsatz bezahlt hat.«

Ein älterer Frachtfahrer, der manches englische und holländische Wort in seine Rede mischte, sagte, es wäre das Beste, wenn die Kolonie an die Engländer verkauft würde, die Deutschen seien wohl brauchbare Soldaten und Farmer, aber von der Verwaltung der Kolonien verständen sie nichts; sie wollten dies und sie wollten das. Ein jüngerer, der erst drei Jahre im Lande war, sagte darauf: »Es müssen erst tausend oder zweitausend deutsche Gräber in diesem Lande sein, und die werden vielleicht noch in diesem Jahre gegraben werden.«

Über diesen Gesprächen wurde es tiefe Nacht, und die Feuer glühten noch wenig, und ich sah in ihrem unsicheren Schein die Gesichter, die vom Brand der afrikanischen Sonne verwittert und dunkelbraun geworden waren.

In diesen schlimmen, heißen Marschtagen und mondhellen, kalten Nächten, da wir auf der Spur der Feinde mühselig, doch nicht mutlos durch das wilde, buschige Land zogen, eine Woche nach der andern – da war kein Haus, kein Graben, kein Baum, keine Grenze, im Sonnenbrand des Tages und in dem fahlen Mondlicht der klaren Nächte – da ich hungrig, schmutzig und müde neben der sandigen, holperigen Wagenspur dahinzog, das Gewehr am Riemen über der Schulter, da ich in heißer Mittagsstunde im Schatten des hohen Kapwagens und in bitterkalten Nächten hungrig und unruhig in dünner Decke auf der blanken Erde lag und am schönen, blauen Himmel die fremden Sterne standen: da, glaube ich, gerade in diesen schweren Wochen habe ich das wunderliche, endlose Land lieb gewonnen.


 << zurück weiter >>