Gustav Frenssen
Peter Moors Fahrt nach Südwest
Gustav Frenssen

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Kapitel II.

Ich war gerne Soldat, besonders nachdem wir die Ausbildung hinter uns hatten. Wir hatten lauter ordentliche Leute auf der Stube, und der Unteroffizier, der ein Schleswiger war, war nur dann ungemütlich, wenn einer faul oder dreckig war. Den Leutnant taxierten wir damals nicht richtig. Wir meinten, er wäre für einen Offizier zu zart. Aber nachher haben wir erkannt, daß er ein Held war.

Am Anfang meines zweiten Dienstjahres, in den Weihnachtstagen 1903, war ich auf Urlaub bei meinen Eltern in Itzehoe und tanzte am zweiten Weihnachtstage auf dem Ball mit Maria Genthien. Ich kannte sie ein wenig von meiner Kindheit her; aber ich hatte sie nachher niemals wieder getroffen; ich wußte auch nicht, daß sie seit zwei Jahren in Kiel in der Holtenauer Straße diente. Als wir zum drittenmal miteinander tanzten, lachten wir uns an und sagten beide zu gleicher Zeit: »Das geht schön!« Wir dachten aber mit keinem Gedanken daran, daß es eine ernste Sache werden könnte. Am Tage nach Neujahr ging ich wieder nach Kiel in den Dienst.

Vierzehn Tage später, am Abend des 14. Januar, ging ich mit Behrens und einem andern Kameraden durch die Dänische Straße; da kam Gehlsen uns entgegen, der nun wirklich als Einjähriger diente und bei meiner Kompagnie stand, und sagte zu mir: »Hast Du schon gelesen?« Ich sagte: »Was denn?« Er sagte: »In Südwestafrika haben die Schwarzen feige und hinterrücks alle Farmer ermordet, samt Frauen und Kindern.« Ich weiß ganz gut in der Erdkunde Bescheid; aber ich war erst doch ganz verwirrt und sagte: »Sind diese Ermordeten deutsche Menschen?« »Natürlich,« sagte er: »Schlesier und Bayern und aus allen andern deutschen Stämmen, und auch drei oder vier Holsteiner, und nun, was meinst Du, wir vom Seebataillon ...« Da erkannte ich plötzlich in seinen Augen, was er sagen wollte. »Wir müssen hin!« sagte ich. Er hob die Schultern: »Wer sonst?« sagte er. Da schwieg ich eine kurze Weile; es ging mir sehr viel durch den Kopf. Dann war ich damit fertig und sagte: »Na, denn man zu!« Und ich freute mich, und ich sah im Weitergehn die Leute an, die des Weges kamen, ob sie vielleicht schon wüßten und uns anmerkten, daß wir nach Südwest gingen, um an einem wilden Heidenvolk vergossenes deutsches Blut zu rächen.

An einem Vormittag war es wirklich so weit. Der Major hielt auf dem Hof der Kaserne eine kurze Rede: das und das wäre draußen geschehen; es sollte ein Bataillon Freiwilliger geschickt werden; wer mit wolle. Da traten wir fast alle vor. Die Ärzte untersuchten uns, ob wir für den Dienst in den Tropen fähig wären. Sie fanden mich brauchbar. Am selben Nachmittag schon bekamen wir in den niedrigen Stuben der Kammer die gelben Langschäftigen ausgeliefert, dazu die kurze blaue Jacke oder Litewka. So ausgerüstet gingen wir sogleich in die Stadt.

Was war das für ein Zunicken und ein Anreden! Während sonst Soldaten, die sich nicht kennen, stumm und ohne Gruß aneinander vorüber gehen, wurden wir jetzt von allen angeredet. Die Fünfundachtziger waren sehr zurückhaltend, weil sie zu Hause bleiben mußten; die Matrosen sprachen mit Würde, als wenn jeder von ihnen dreimal um die Welt gefahren wäre. Auch viele Bürger redeten uns an, sagten, es würde eine sehr interessante Fahrt werden und es würde eine angenehme und schöne Erinnerung fürs ganze Leben bleiben, und wünschten uns gute Heimkehr.

Am andern Tage, als wir in der folgenden Nacht mit der Bahn nach Wilhelmshaven abreisen sollten, kamen Vater und Mutter auf zwei Stunden von Itzehoe herüber. Ich holte sie vom Bahnhof ab und ging ein wenig mit ihnen die Holstenstraße entlang bis nach dem Schloßplatz. Mein Vater fragte dies und das, ob da wilde Tiere wären, ob die Feinde schon alle Gewehre hätten, oder ob sie noch mit Pfeil und Bogen schössen, ob es dort sehr heiß und fiebrig wäre und dergleichen. Ich konnte nicht viel drauf antworten; denn ich wußte alles dies nicht. Ich nahm aber an, daß es so wäre, wie er sagte, und gab ihm in allem recht. Wir saßen eine Stunde in einer Wirtsstube in der Nähe des Bahnhofs, sahen aus dem Fenster nach den Leuten, die vorbei gingen, und sagten nicht viel. Meine Mutter schwieg fast ganz. Sie starrte mit großen, steifen Augen auf den Fußboden und wenn sie aufsah und mich mit ihren Augen streifte, sah sie mich an, als ob sie mich das letztemal sähe. Als es Zeit wurde, brachte ich sie wieder nach dem Bahnhof.

Als der Hamburger Zug kam und sie einsteigen mußten, bat mich mein Vater, ich möchte ihm irgendeine Kleinigkeit mitbringen, ein Horn, oder einen Schmuck der Feinde, oder so was. Ich glaube: das hatte er sich aufgespart, damit er im letzten Augenblick etwas zu sagen hätte. Meine Mutter aber umarmte mich plötzlich mit Weinen. Da sie mich seit meiner frühesten Kindheit niemals mehr umarmt hatte, erschrak ich und sagte: »Was tust Du, Mutter?« Sie sagte: »Ich weiß nicht, mein Sohn, ob ich Dich wiedersehe.« Ich lachte und schüttelte ihre Hände und sagte: »Es ist ja gar keine Gefahr! Ich will schon wiederkommen!« Die Eltern von Behrens waren auch auf dem Bahnhof.

Als ich im Dunkeln nach der Kaserne zurück kam, war da ein großes Leben. Eltern, Geschwister, Verwandte, Bräute und Bekannte waren gekommen; sie tanzten und tranken und redeten. Da war einer, der hatte das eiserne Kreuz von 70 her, ein älterer Mann und Vorarbeiter auf der Werft; dessen Jüngster ging mit hinaus. Der stand auf und sprach einige Worte von Fahneneid und Tapferkeit, so, als wenn es gegen einen ernsthaften Feind ginge; aber wir hörten ihm doch gerne zu. Ja, wir wurden von seinen Worten Feuer und Flamme und vergaßen gern, daß wir wußten, es ginge gegen Flitzbogen und Holzkeule. Wir wollten ehrlich streiten, und wenn es sein mußte, auch sterben für die Ehre Deutschlands.

Um Mitternacht nahmen wir auf dem Hofe Aufstellung und gingen dann mit vollen Kapellen durch die Stadt.

Wenn ich hundert Jahre alt werde, so vergesse ich doch niemals diese nächtliche Stunde, als Tausende von Menschen mit uns zogen und in unsere Sektionen drangen, uns anriefen, grüßten und winkten, und Blumen auf uns warfen und unsere Gewehre trugen und uns zum Bahnhof brachten. Der Platz vor dem Bahnhof war schwarz von Menschen.

Auf der Bahnfahrt nach Wilhelmshaven schlief und döste ich so vor mich hin. Auch die andern waren müde. Als wir ankamen, ging ich mit einigen andern in eine kleine Wirtschaft nicht weit vom Hafen und bekam für viel Geld ein wenig schlechtes Essen. Um vier Uhr nachmittags traten wir wieder an und gingen unter dem Zuschauen vieler Menschen, die aus der ganzen Umgegend zusammengelaufen waren, zu zweien, mit voller Bepackung, die lange, schmale Holztreppe hinauf, die vom Kai auf das hohe Schiffsdeck führte. Es war ein heller, bitterkalter Wintertag.


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