Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

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Einundzwanzigstes Kapitel

Es war ein trauriges, dürftiges Leichenbegängnis. Der Oktobersturm heulte durch das enge Tal und peitschte den Regen vor sich her. Darum blieben die Leute, als sie gegen die neunte Morgenstunde durch das dünne Kirchenglöcklein zur frommen Pflicht entboten wurden, in ihren warmen Hütten und begnügten sich, ein Kreuz zu schlagen und ein kurzes Gebet für das Seelenheil der Toten zu murmeln. Und manche waren sogar mitleidig genug, zehn Vaterunser hintereinander zu beten, denn, dachten sie, ›sie braucht es ja notwendig, sie hat ja durch Selbstmord geendet‹. Eben darum hatten auch der Richter und die Ältesten darauf bestanden, daß ihr nur ein Grab dicht an der Friedhofsmauer eingeräumt werde, obwohl der wackere Pfarrer eifrig dagegen sprach und sie aufzuklären suchte, daß dieses Mädchen für ihre Tat nur tiefes Mitleid, ja Bewunderung verdiene. Es war ihm nicht gelungen, seinen Pfarrkindern ihre Überzeugung zu nehmen, aber der tapfere Mann ließ sich auch die seine nicht rauben und ordnete an, daß die Unglückliche mit allen kirchlichen Ehren bestattet werde. Er selbst machte sich auf, ihr das letzte Geleit zu geben. Als er mit seinem geringen Gefolge vor der Kapelle eintraf und daselbst die Schar der wilden, bewaffneten Männer gewahrte, schrak er anfangs zusammen, wartete dann jedoch ruhig seines heiligen Amtes und beobachtete es mit stiller Rührung, wie inbrünstig diese friedlosen, verrufenen Männer in das Gebet einstimmten, das er am Grabe sprach.

Nachdem er geendet hatte, trat Taras auf ihn zu und bat ihn, drei Messen für das Seelenheil der Verstorbenen zu lesen. Der Pfarrer versprach es, lehnte jedoch das Geld, das ihm der Hetman bot, hastig ab. »Du kannst es ruhig nehmen«, versicherte dieser mit traurigem Lächeln, »es ist weder gestohlen noch geraubt, sondern ehrlich erworben.« Der Pfarrer blickte scheu in dieses früh gealterte, von den Spuren tiefen Seelenschmerzes durchfurchte Antlitz. »Ich will es glauben«, sagte er, »aber gestatte mir, für diese Ärmste ein frommes Werk ohne Entgelt zu tun.«

Der Hetman erwiderte nichts, er beugte sich stumm auf die Hand des Priesters nieder und küßte sie ehrfurchtsvoll. Dies ermutigte den frommen Mann, ein Wort zu wagen, das ihm aus tiefstem Herzen kam: »Du armer, verblendeter Mensch«, sagte er leise, mit bewegter Stimme, »wie lange soll es noch währen?« – »So lange es notwendig ist«, erwiderte Taras ebenso leise, aber fest und entschieden. »Noch habe ich kein Unrecht getan, wohl aber verüben es andere.«

Der Priester wollte sprechen, dann aber schüttelte er stumm das Haupt und ging von dannen. Taras und seine Leute blieben noch auf dem Friedhof zurück und beteten an dem frischen Grabe. Nur Naschko stand stumm abseits und starrte vor sich hin; in seinen Augen, die sonst so klug und klar blickten, lohte eine unheimliche Glut.

Als sie endlich den Friedhof verließen, bot sich ihnen ein rührendes Bild. Da standen die beiden alten Wirtsleute und weinten und schluchzten. Ihr Glaube verbot es ihnen, einen Raum zu betreten, an dessen Tor das Bild des Gekreuzigten aufgerichtet war; so erwiesen sie denn der Toten in ihrer Art die letzte Ehre.

Taras trat auf den Alten zu. »Ich danke dir«, sagte er bewegt, »du bist ein braver Mann.« – »Was habe ich von deinem Dank?« erwiderte Froim fast heftig. »Und daß ich ein braver Mann bin, weiß ich schon ohne dich. Aber daneben bin ich leider auch ein kranker, schwacher Jud, und du bist ein starker, gesunder Christ. Also, wenn ich so wär' wie du, so möcht' ich mit diesem Schandfalken ein Wörtchen reden, daß ihm Hören und Sehen vergeht.« – »Das wird ohnehin geschehen«, beteuerte Taras. »Es ist sogar das erste, was ich ausführen will. Ich reite sofort an den ›Schwarzen See‹ und lege seinem Vater die Sache vor. Weigert sich Hilarion, ihn zu strafen, so tue ich es selbst.«

Sie bestiegen ihre Pferde und ritten weiter nach Westen, der Czernahora zu. Im Weiler Magura hielten sie Nachtruhe. Am nächsten Morgen trafen sie im Hofe des Hilarion ein.

Der Greis hatte sie bereits erwartet, denn sein ältester Sohn trat sofort auf Taras zu und lud ihn ein, in die Stube zu treten. Hilarion kam ihm entgegen und begrüßte ihn mit derselben ruhigen Freundlichkeit, mit der er ihn eine Woche vorher entlassen hatte. »Du kommst«, begann er, »um meinen Sohn anzuklagen. Es ist aber nicht nötig, denn ich habe ihm eine genügende Strafe auferlegt.« – »Und worin besteht diese Strafe?« fragte Taras. – »Ich habe ihn auf eine entlegene Trift geschickt, wo er zu verbleiben hat, bis ich ihm die Rückkunft gestatte. Dies wird aber nicht vor dem nächsten Frühling geschehen. Denn er soll Zeit haben, über die Dummheit, die er begangen hat, reiflich nachzudenken.« – »Die Dummheit?« rief Taras bitter. – »Die Dummheit!« wiederholte Hilarion entschieden. »Gibt es nicht noch mehr schöne Mädchen auf der Welt? Er hätte begreifen müssen, daß ihn die Tatiana nun einmal nicht mochte, und daß er dies aus Eitelkeit nicht begriff, darin eben besteht seine Dummheit.« – »Ich aber«, rief Taras, »ich nenne es ein Verbrechen, und zwar ein feiges, schmähliches Verbrechen!« Der Greis nickte. »Ich habe ähnliche Worte erwartet«, erwiderte er ruhig. »Du tust aber meinem Julko Unrecht! Denn du vergißt dabei, daß er nun einmal ein Huzule ist. Und erwäge ferner, wie wenig er es voraussehen konnte, daß sie sich töten würde. Auch in der Ebene mag ein Selbstmord aus diesem Grunde unerhört genug sein, bei uns jedoch, ich schwöre es dir, ist er noch nicht vorgekommen, so weit der Menschen Gedächtnis reicht. Überlege dies alles, und du wirst zugeben, daß es nur eine Dummheit war.« – »Es war ein schmähliches Verbrechen«, wiederholte der Hetman. »Wer eine arme, schwache Dirne mit Gewalt um ihr heiligstes Gut bringen will, ist ein Ehrloser, und es soll ihm geschehen, wie einem Ehrlosen gebührt.« – »Du verlangst also, daß ich meinem Sohne das Haupt scheren lasse und ihn unwürdig erkläre der Genossenschaft tapferer und ehrenwerter Männer?« – »Ja«, erwiderte Taras mit lauter und fester Stimme. »Dies verlange ich. Und tust du es nicht, so werde ich es vollbringen.«

Eine lange Stille folgte diesen Worten. Taras hatte sich erhoben; er war darauf gefaßt, daß ihn der Greis zürnend hinwegweise. Aber Hilarion blickte ruhig, wie in ein tiefes Sinnen verloren, vor sich hin. Endlich nickte er einige Male, als wäre er mit sich selbst völlig einig geworden, und schlug mit seinem großen, metallbeschlagenen Stecken auf ein Kesselchen aus Kupfer, das neben ihm stand. Sein ältester Sohn trat ein. »Bescheide die Männer und Jünglinge unseres Stammes hierher«, befahl ihm der Greis, »so viele ihrer im Gehöfte oder in der Nähe sind. Und lade auch die Genossen dieses Mannes ein, hierherzukommen und meine Worte zu vernehmen.«

In der nächsten Minute begann sich die Stube zu füllen. Die Huzulen traten ein, ebenso die Leute des Taras. Als sie sämtlich versammelt waren, nickte der Greis wieder still vor sich hin und erhob sich von seinem Sitze. Er griff nach einem der Weidenstäbe, an denen er geschnitzt hatte, als Taras eingetreten, und begann mit feierlicher Stimme: »Höret es, ihr alle, was ich, der Führer dieses Geschlechtes, Hilarion, genannt der Gerechte, euch zu sagen habe. Präget es euch selbst genau ein und teilt es jedem mit, der euch darum befragen sollte . . . Ihr alle seid mit dabei gewesen, wie dieser Mann aus der Ebene, Taras, genannt der Rächer, zu mir gekommen ist und wie ich ihn empfangen habe. Ihr alle habt es mit eigenen Ohren mit angehört, wie wir uns Bundesfreundschaft zugeschworen haben, nicht bloß für heute oder für morgen, sondern für alle Zeit, bis an das Ende unserer Tage. Ihr alle habt es mit eigenen Augen mit angesehen, wie wir uns diese Freundschaft gegenseitig in unserem Blute zugetrunken haben, zum Zeichen, daß sie währen möge, so lange das Blut in unsern Adern rollt. Während aber ich bis zu diesem Augenblicke fortfuhr, die angelobte Treue zu halten, hat er sie soeben schnöde gebrochen. Er hat Ungebührliches, ja Schimpfliches von mir gefordert, daß nicht ich, sondern er einem Gliede meines Hauses die Strafe bestimme, und für den Fall, als ich nicht täte, was ihm recht scheint, hat er mir angedroht, diese Strafe selbst zu vollziehen und mein eigen Fleisch und Blut, meinen jüngsten Sohn, ehrlos zu machen.« Ein gellender Schrei der Entrüstung unterbrach ihn; drohend drangen die Huzulen auf Taras ein. »Ruhe!« befahl der Greis. »Schweiget und horchet, was ich euch zu verkünden habe, denn nur dazu habe ich euch hierher beschieden . . . Wer also tut, wie Taras eben getan hat, ist nicht mein Freund und Bruder mehr.« Er hielt den Weidenstab empor. »Wie die Teile dieses Stabes hier ineinander verwachsen sind, so daß man nicht erkennen kann, wo der eine aufhört und der andere anfängt, so waren wir beide, dieser Mann und ich, bisher zueinander. Aber wie diese Teile jetzt sind«, er zerbrach den Stab und schleuderte diese beiden Stücke nach verschiedenen Richtungen – »so haben wir von nun ab nichts mehr miteinander gemein.«

»Urrahah!« schrien die Huzulen auf; wieder gebot ihnen der Greis zu schweigen. »Höre, Taras!« wendete er sich nun an diesen. »Du bist nicht mehr mein Freund, sondern nur noch der Mann, der mir eine tödliche Beleidigung angetan hat. Aber die heilige Sitte der Väter fordert es von mir, nie zu vergessen, daß du von meinem Blute getrunken hast wie ich von dem deinen, und darum darf, kann und werde ich dir nur dann Böses antun, wenn du mich selbst durch fortgesetzte Ruchlosigkeit dazu zwingst. Es ist aber bereits genügende Ruchlosigkeit, wenn ein Mensch von der Art, wie du sie erwiesen hast, mich und meine Leute durch seine Anwesenheit belästigt. Darum banne ich dich hiermit aus diesem Gehöfte und aus den Bergen, soweit mein Wort gilt. Das Gehöfte wirst du sofort verlassen, die Berge aber, soweit ich in ihnen gebiete, binnen drei Tagen. Und wehe dir und deinen Leuten, wenn ihr jemals wiederkommt, es kehrt dann keiner von euch ins Flachland zurück. Nicht aus Furcht für meinen Sohn drohe ich dir dies an und werde es ausführen, denn ich werde dafür sorgen, daß er sich gegen dich vorsehe, und einen Feind, den er kennt, hat der Huzule noch nie gefürchtet. Nicht aus Furcht geschieht es, sondern weil du es also um mich und meine Leute verdient hast. Und nun – geh!«

»Ich gehe«, erwiderte Taras. »Aber ich rufe Gott und die Menschen zu Zeugen an, daß ich den Schimpf nicht verdiene, den du mir antust. Ich will ihn niemals rächen, gleichfalls um der einstigen Freundschaft willen. Was aber deinen Sohn Julko betrifft, so werde ich ihn zu treffen und zu richten wissen wie jeden anderen Frevler.«

Mit verdoppelter Wut drangen die Huzulen auf Taras ein, und er wäre wohl für diesmal verloren gewesen, wenn nicht der Greis selbst rasch unter sie getreten und sie abgewehrt hätte. So konnten der Hetman und seine Leute die Stube unverletzt verlassen und ihre Pferde besteigen, während hinter ihnen her die einstigen Freunde noch immer tobten und schrien.

Das war ein trauriger Ritt durch die unwirtliche Landschaft, wieder dem Weiler Magura zu. »Was nun?« – Keinem trat die Frage laut auf die Lippen, und doch lastete sie jedem schwer auf dem Herzen . . .

Nachdem sie den Weiler erreicht und in einer Scheune ihren Pferden die Nachtstreu gebreitet hatten, berief sie Taras zu einer Beratung. »Ich will euch nicht durch schöne Reden darüber täuschen«, sagte er, »wie es um uns steht. Jeder von euch weiß dies so genau wie ich selbst, und darum bitte ich euch, antwortet auf meine Frage kurz und gut: Wollt ihr bei mir bleiben oder gehen? Ich könnte es keinem übelnehmen, der davor zurückscheute, auch nun dieses Leben fortzusetzen. Denn wenn es schon bisher elend und mühselig genug gewesen, so wird es von heute ab, da auch die Huzulen gegen uns stehen, vollends unerträglich sein.«

»Und du, Herr«, fragte Wassilj Soklewicz, »wie gedenkst du selbst es zu halten?«

»Ich muß ausharren«, erwiderte Taras. »Das bedarf ja nicht erst der Frage. Und wenn ihr sämtlich mich verließet, ich müßte doch meine Pflicht erfüllen und es dann vor allem versuchen, wieder neue Gefährten zu werben.«

»Nun denn«, rief der treue Bursche, »dann wollen wir es nicht besser haben als du!« Und auch die anderen riefen einmütig: »Wir bleiben!«

»Ich darf keinem abraten«, sagte Taras. »Ihr nützt ja nicht mir, wenn ihr bleibt! . . . Und nun das Wichtigste. Wo sollen wir künftig unser Lager aufschlagen? In der Ebene bedrohen uns die Schergen und in den Bergen die Huzulen. Ich denke, wir setzen uns im ›Moor der Wlachen‹ fest, auf jener Insel bei Nazurna. Im ›Welyki Lys‹, bei den ›weißen Quellen‹ oder wohin sonst in den Bergen wir uns wenden würden, ließen uns die Huzulen keine Ruhe. Ich kenne diese Menschen besser als ihr; sie sind als Feinde noch weit hartnäckiger und ausdauernder, als ihr sie als Genossen kennengelernt habt. Auch gewährt uns die ›Burg‹ bei Nazurna den Vorteil, mitten in der Ebene zu sein, und dennoch an einer Stelle, die sich selbst gegen Übermacht leicht verteidigen läßt. Ich verkenne auch die Gefahren nicht, die uns dort bedrohen, weiß aber doch keinen besseren Platz.«

So beschlossen sie denn, am nächsten Morgen den Zug in die Ebene zu wagen. Dann streckten sie sich neben ihre Pferde hin und schliefen so friedlich und fest, als ruhe jeder in seinem eigenen Hause, von keiner Not und Sorge des Lebens bedrückt.

Nur zwei Männer der Schar wachten. Der Jude draußen auf dem Posten vor dem Tore des Weilers und Taras auf seinem Lager. Der Unglückliche konnte nicht die Ruhe finden, so heiß er sie auch ersehnte. Seit jener Begegnung an derselben Stelle, seit der furchtbaren Stunde, die ihn für immer von Weib und Kind geschieden hatte, war ihm die Wohltat des Schlafes nur noch selten zuteil geworden. Und ach, welch namenlose Qual erfüllte in diesen Stunden, die sich ihm zu Ewigkeiten dehnten, sein armes Herz! Da erhoben sich nicht bloß die Stimmen der Klage um das verlorene Glück, sondern auch jene anderen, schlimmeren Stimmen, die er bei Tage mit allem Aufgebot seines Willens niederhielt. Ihm war's, während er sich so ruhelos umherwälzte und dem schrillen Pfeifen des Windes lauschte, als klänge im Sturmgeheul sein Name von hundert Lippen, den Lippen der Menschen, die er gerichtet hatte. Und wenn er diesen schrecklichen Wahn abschüttelte und sich klar zu werden suchte über seine Taten und seine Zukunft, ach, war diese Wirklichkeit nicht fast ebenso gräßlich wie der Traum?

Als endlich das erste Grauen des neuen Tages durch die Sparren der Scheune fiel, erhob er sich von seinem Lager und trat vor das Tor. Der Jude, der da bleich und überwacht, die Flinte im Arm, auf- und niederschritt, nickte ihm stumm und traurig den Morgengruß. »Wir können erst in zwei Stunden aufbrechen«, sagte Taras. »Willst du noch ruhen?« – »Auch ich kann nicht schlafen«, erwiderte Naschko. »Aber meine Glieder sind steif vor Kälte, und ich könnte kaum reiten, wenn ich sie nicht vorher streckte.« Er übergab ihm die Flinte und ging in die Scheune.

Taras begann langsam auf- und abzugehen, bis ihn der eisige Wind zu rascherem Schritt nötigte. Es war ein trüber, häßlicher Spätherbstmorgen. Heulend stieß der Ostwind durch das enge Tal, wühlte im Tannengehölz und trieb mit den Schneeflocken sein Spiel. Die Sonne mußte längst aufgegangen sein, dennoch lag nur ein blasses, unheimliches Zwielicht über den beschneiten Berghängen und dem Tale, durch das sich die kotige Straße als ein dunkler Streifen dahinzog. Weit und breit war keine Spur des Lebendigen zu sehen, die Straße lag gänzlich verödet, nur auf der Tanne neben dem Weiler saß ein Rabe und krächzte.

Der unglückliche Mann blickte gleichmütig zu dem schwarzen, häßlichen Gesellen empor. Der Rabe gilt als Unglücksvogel, aber welches größere Unglück konnte er ihm noch verkünden? Den Tod? Er hätte ihn als Erlösung begrüßt! Und dennoch fehlte in jener Last der Schmerzen, die ihm das Schicksal und der eigene Wille aufgebürdet hatten, noch das schlimmste und schwerste Stück, und in den nächsten Stunden sollte es sich ihm aufs Herz legen, und dieser graue Tag sollte zugleich der unseligste in seinem unseligen Leben werden.

Eine Stunde mochte verstrichen sein, und noch lichtete sich die Dämmerung nicht, noch wirbelte der Wind die dichten Flocken umher. So kam's, daß Taras einen Reiter, der von Zabie her die Straße gezogen kam, nicht eher gewahrte, als bis dieser dicht am Weiler hielt. Es war ein kleiner, ältlicher Mensch, der sich offenbar auf seinem mageren, hochbeinigen Klepper sehr unbehaglich fühlte und zudem erbärmlich fror. Denn er war nur in eine braune, enge Lodenbunda gehüllt, die wohl mit vielen hellen Streifen und Flittern besetzt war, aber mit keinem einzigen Stück wärmenden Pelzwerks. Diesem Gewande entsprach die Kopfbedeckung, eine große dreifarbige Gauklermütze, die er mit einem Tuche unter dem Kinn festgebunden hatte, und auf dem Rücken hing an einem Riemen nicht, wie in den Bergen üblich, eine Flinte, sondern ein Holzgehäuse, aus dem der Hals einer Geige hervorguckte. Taras musterte den seltsamen Reiter mit großem Erstaunen; es war offenbar einer jener fahrenden Gesellen, die in der Ebene von Dorf zu Dorf, von Markt zu Markt ziehen und sich ihr kümmerliches Brot als Taschenspieler und Musikanten verdienen. Aber was konnte diesen Künstler in das Hochgebirge geführt haben?

Als der Mann ihn gewahrte, hielt er die Zügel an. »Gottlob«, rief er, »endlich ein lebendiger Mensch, bei dem man sich erkundigen kann! He, wie lange brauche ich noch bis zum Dembronia-Walde?« – »Was suchst du in der Wildnis?« fragte Taras erstaunt. »Der Wald ist ja unbewohnt. Willst du den Wölfen aufspielen?« – »Da irrst du«, erwiderte der Gaukler. »Es sind Leute im Walde. Dort ist ja das Lager des ›Rächers‹.« – »Suchst du ihn?« – »Freilich, das arme Weibsbild hat mir ja keine Ruhe gelassen.« – »Welches Weib? Du kannst dir den Weg sparen. Ich bin der ›Rächer‹.« – »Du?« rief der Mann erschreckt und schlug ein Kreuz. Dann aber beugte er sich vor und spähte dem Hetman mit furchtsamer Neugier ins Antlitz. »Ja! Du könntest es wirklich sein! So haben dich mir die Wirtsleute in Zabie beschrieben, und auch die arme Kasia meinte, ich müßte dich schon am finsteren Antlitz sofort erkennen. Nun denn, so bitte ich dich: erbarme dich dieses Mädchens und komm gleich mit. Sie stirbt sonst wirklich vor Reue und Angst.« – »Warum? Wohin? So sprich doch vernünftig!« – »Wohin? Zur Schenke in Zabie! Warum? Weil die arme, kranke Dirne nicht zu dir kommen kann. Nämlich meine Schwesterstochter, die Kasia. Sie behauptet, daß sie sterben muß, wenn sie dich nicht aufklären kann.« – »Ich verstehe nicht . . . Will sie eine Klage bei mir vorbringen?« – »Behüte! Das hat sie schon einmal getan, und es ist ihr schlimm genug bekommen. Nämlich es war nicht deine Schuld, auch nicht die ihre, sondern ihr Geliebter, der Jacek, dieser verdammte Lump, hat sie dazu verführt. Es war eine falsche Klage . . . nämlich in Bossowka . . .« – »In Bossowka?« schrie Taras auf und taumelte entsetzt zurück. »In Bossowka?« wiederholte er mit halb erstickter Stimme. Dann aber stürzte er auf den Gaukler zu, riß ihn vom Pferde und rüttelte ihn, daß der Körper des Mannes zwischen seinen Fäusten wie ein Ball hin und her flog. »Sprich! . . . War sie jene Marinia? . . . Sprich!« – »Laß los!« stöhnte der Spielmann. »Ich kann ja nichts dafür . . . Hilfe! Hilfe!«

Auf sein Angstgeschrei stürzte Naschko herbei, die anderen folgten. »Was ist geschehen?« riefen sie, und der Jude versuchte das zitternde Männchen aus den Fäusten des Hetmans zu befreien. »So fasse dich doch«, bat er. »Wer ist der Mann?« Taras erwiderte nichts; er ließ den Gaukler fahren und begann zu wanken wie ein Trunkener. »Ein Pferd!« schrie er auf, »um Gottes Barmherzigkeit willen rasch ein Pferd!« Und als die anderen, denen seine Verstörung ebenso rätselhaft als unheimlich war, zögerten und ihn zu begütigen versuchten, riß er sich aus ihrer Mitte, zerrte das Pferd aus dem Stalle, das der Tür zunächst stand, schwang sich auf seinen Rücken, ohne erst Sattel und Zaum anzulegen, und galoppierte so rasch, als ihn das geängstigte Tier tragen wollte, gegen Zabie hin . . .

Zwei Stunden später hielt er vor der Schenke. Das Pferd brach zusammen, er hatte es zuschanden geritten. Er achtete nicht darauf, sondern stürzte auf Froim zu, der ihm entgegentrat. »Wo ist sie?« stieß er hervor. »Das fremde, kranke Weib?« fragte der Schenker. »Wir haben sie in der kleinen Stube neben dem Schenkzimmer gebettet.«

In der nächsten Minute stand Taras an ihrem Lager. Das Weib hatte sich seit jener greuelvollen Nacht sehr verändert; das Antlitz war abgemagert, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. »Gottlob!« rief sie und suchte sich aufzurichten. »Da bist du, Herr, und ich kann dir alles gestehen. Das Gewissen hat mir keine Ruhe gelassen seit jener Nacht, und so habe ich mich von meinem Geliebten getrennt und bin nach Putilla gezogen, meinen Onkel Gregori aufzufinden, und nachdem ich ihn getroffen hatte, mußte er meinen Wunsch . . .« – »Kurz!« fiel ihr Taras ins Wort. »Erzähle!« – »Nicht dieses Antlitz!« schrie sie auf und barg ihr Gesicht in den Händen. Und in der Tat, furchtbar genug war der Unglückliche in diesem Augenblick anzusehen . . . »Ich will ja alles gestehen, ich habe mich ja nur gezwungen gefügt.« – »Kurz!« wiederholte er mit derselben heiseren Stimme. »Du heißest nicht Marinia Bertulak, bist keine Bauerndirne aus Bossowka, sondern eine Gauklerin namens Kasia?« – »Ja, Herr, Kasia Wywolow ist mein Name.« – »Und es war alles Lüge, was ihr in jener Nacht sagtet?« – »Alles, Herr, nur der Greis sprach die Wahrheit. Der Mann, der sich für meinen Vater ausgab, war mein Geliebter, der Spielmann Jacek, und jener andere war wirklich der Tagelöhner Dimitri Buliga und nicht der Richter . . .« – »Und wie kamt ihr auf diesen Gedanken?« – »Der Karol hatte alles angestiftet«, beteuerte sie. »Er traf den Jacek und mich bei der Kirchweih in Zabie und überredete uns; dann ging er nach Bossowka, bestach den Kutscher und mietete in der Nachbarschaft den Dimitri, den Richter zu spielen. Er hatte noch aus alter Zeit einen Haß gegen Zukowski, weil ihn dieser dem Strafgericht überliefert hatte, und dann meinte er, er kenne dich genau und wisse, wie man solche Geschichten einzufädeln habe . . . Dann hat er sich aus deiner Schar fortgestohlen; in Kotzman haben sie das Geld geteilt. Ich aber konnte es nicht länger ertragen, die Schuld hat mir das Herz abgedrückt . . .« – »Es ist gut«, sagte Taras tonlos, »ich danke dir.« Er ging wankenden Schrittes aus der Stube. An der Schwelle des Schenkzimmers sank er bewußtlos zusammen . . .

Am späten Nachmittag kamen auch seine Leute zur Schenke geritten, mit ihnen der Gaukler Gregori. Sie hatten aus den verworrenen Reden des erschreckten Mannes nicht die volle Wahrheit entnommen, aber doch immerhin so viel, daß Karol Wygoda sie schmählich getäuscht habe, und das war genügend, um ihre Herzen mit Weh und Entrüstung zu erfüllen. Noch tiefer jedoch empfanden sie das Mitleid mit ihrem unglücklichen Führer; sie ahnten, welchen furchtbaren Eindruck diese Enthüllung auf ihn üben müsse. So harrten sie denn, da er ihnen keine Weisung hinterlassen hatte, mit steigender Ungeduld und Besorgnis seiner Rückkehr entgegen und beschlossen endlich, sich zu überzeugen, ob er etwa noch in der Schenke verweile.

»Ja, er ist hier«, erwiderte der alte Froim bekümmert auf die Frage des Naschko, »aber mir scheint, er ist recht krank . . . Höre, Manasse«, fuhr er halblaut fort und zog seinen Glaubensbruder beiseite, »was ihm das fremde Weib gesagt hat, weiß ich nicht, aber es muß etwas Entsetzliches gewesen sein. Denn zuerst wird er ohnmächtig, und wie ich ihn endlich zum Bewußtsein bringe, sagt er: ›Jetzt bin ich selbst für den Galgen reif.‹ Und wie dies sein erstes Wort war, so ist es auch sein letztes geblieben. Seitdem liegt er stumm da, redet nicht und deutet nicht, seufzt nicht und klagt nicht, sondern starrt vor sich hin, und seine Miene . . . Es ist, als hätte er Weib und Kinder begraben. Auf mein Fragen antwortet er nichts; vielleicht hört er dich an.«

Naschko teilte es seinen Gefährten mit. »Ja«, sagten sie, »geh du zu ihm und sage ihm, daß er in unseren Augen deshalb doch der bravste Mensch ist und bleibt. Wie käme er, wie kämen wir dazu, die Schurkerei des Karol vor Gott zu verantworten?«

Naschko faßte sich ein Herz und trat in das Stübchen, in dem Froim den Hetman gebettet hatte, aber seines Auftrags vermochte er sich nicht zu entledigen. Denn nachdem er eingetreten war, sagte Taras mit leiser, aber fester Stimme: »Ich bitte euch, mir bis morgen früh Zeit zur Fassung und zum Nachdenken zu geben. Es ist nicht meinetwillen, denn was ich zu tun habe, weiß ich, sondern weil ich jedem von euch über seine Zukunft etwas Nützliches sagen möchte. Und dann, mir ist's jetzt noch, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich muß Kraft sammeln. Vielleicht gibt euch Froim ein Nachtlager, und dann, morgen um die achte Stunde, will ich euch meinen Entschluß sagen.« Das klang so fest, so bestimmt, daß Naschko nicht zu widersprechen wagte.

Als sie am nächsten Morgen um die angesetzte Stunde in der Schenkstube versammelt waren, trat Taras unter sie. Er hatte sich in der kurzen Frist, seit sie ihn nicht gesehen, fast schreckhaft verändert und glich nun völlig einem kranken, gebrochenen Greise. »Liebe Brüder!« begann er ruhigen, herzlichen Tones, »ich bitte euch vor allem, höret ruhig das Wenige an, was ich euch zu sagen habe, und versuchet es nicht, meinen Entschluß zu ändern. So vernehmet denn: Ich entbinde euch hiermit des Eides der Treue, den ihr mir geleistet habt, und bin von nun ab nicht euer Hetman mehr. Es ist, so Gott euch barmherzig ist, das letzte Mal, daß ihr meine Stimme vernehmet, und ich flehe zu ihm, dem Allerbarmer, daß er sich mit dem Opfer meines Glücks und Lebens begnüge und es jedem von euch erspare, mir jemals wieder auf meinem Wege zu begegnen. Denn dieser Weg führt zunächst zum Gefängnis in Kolomea und von da zur Richtstätte.«

Ein Schrei des Entsetzens unterbrach ihn. »Um Gott!« riefen sie, »Herr, geliebter Herr, was ficht dich an?«

»Nicht also«, bat er. »Ich tue auch jetzt nur, was mir mein Gewissen gebietet, aber während mir bisher diese innere Stimme gelogen und mich in Elend und Verbrechen geführt hat, spricht sie heute zum ersten Male klar und wahr. Merket wohl, was ich euch sagen werde. Es war kein Irrtum, als ich erkannte und sagte, es sei Gottes sichtbarer Wille, daß Recht und Gerechtigkeit auf Erden herrschen. Und kein Irrtum war es, als ich jenen zürnte, die zu dieser heiligen Pflicht berufen sind und sie nicht so ernst, so voll erfüllen, wie sie müßten. Aber ein Irrtum war es, als ich wähnte, daß dann die Erfüllung dieser Pflicht durch den Willen Gottes an mich falle oder an einen andern einzelnen Mann. Freilich darf ich, den die Liebe zur Gerechtigkeit um alles Glück auf Erden gebracht hat, den sie zum Mörder gemacht hat und schließlich zum Galgen führen wird, auch nicht etwa gegen mich selbst ungerecht sein, und darum füge ich hinzu: es war ein leicht begreiflicher Irrtum. Denn was hegt näher, als zu sagen: ›Wenn jene das Recht nicht schützen, die hierzu berufen sind, dann schütze ich es, der ich ein Mann starken Willens und reinen Herzens bin.‹ Gleichwohl war es ein Irrtum, wie ich heute erkenne. Ja, es ist nicht Gottes Wille, daß da, wo er jene Leiter von der Erde zum Himmel aufgebaut, und selbst wenn die eine oder andere Sprosse schadhaft wäre, der einzelne sich erhebt und sagt: ›Ich, ich allein will durch meine Kraft, die Kraft eines schwachen Menschen, die ganze Leiter ersetzen und ein Vollstrecker des göttlichen Willens sein.‹ Wer also sagt und tut, frevelt, und ich habe gefrevelt! Nicht bloß deshalb, weil ich vergaß, was aus der Ordnung auf Erden würde, wenn es mir andere gleichtäten, sondern tausendfach mehr um meines vermessenen Wahnes willen, daß ich nicht irren könnte, daß jedes meiner Gerichte gerecht sein müsse. Und warum mutete ich schwacher, sündiger Mensch mir solches zu? Weil ich glaubte, daß Gott mich davor bewahren müsse, mich, seinen Diener, den wackeren, gerechten Taras! Es war mein Hochmut, mein sündiger Hochmut, der mich zu diesem Wahne bewog! Die Gerichte konnten irren, ich nicht. Und doch besteht darin, daß ein einzelner richtet und entscheidet, die größte Gefahr für ein Unterfangen, wie das meine war. Nun denn, darin bin ich auch gescheitert und zuschanden geworden. Der Herr von Bossowka war ein braver Mann, ich bin nicht sein gerechter Richter gewesen, sondern sein ruchloser Mörder.«

»Aber es war ja nicht deine, sondern des Karol Schuld!« riefen sie.

»Nein«, erwiderte er. »Warum führte ich die Untersuchung nicht genauer? Warum schlug ich seine Bitte ab, irgendeinen Bewohner des Dorfes herbeizuholen? Ich bin sein Mörder, ich allein, und da ich diesmal irrte, wer bürgt mir dafür, daß ich es nicht schon früher des öfteren getan habe? Ich bin ein Mörder, und daher will ich dem verletzten Rechte Sühne leisten und mich jenen unterwerfen, welchen Gott die Pflicht aufgetragen hat, Frevel zu richten. Ich gehe nach Kolomea und übergebe mich des Kaisers Schreibern.«

Vergeblich versuchten sie es, seinen Entschluß zu erschüttern. Er wiederholte nur immer: »Ich tue auch diesmal, was mir mein Gewissen gebietet, aber diesmal tue ich das Rechte.« Da erkannten sie, daß alles Flehen vergeblich sei, und lauschten seinen Abschiedsworten. Er beschwor sie, sofort auseinanderzugehen und in verschiedenen Winkeln des Landes ein neues Leben zu beginnen; für jeden hatte er einen Rat, eine Hilfe. »Vierzig Gulden sind noch in meinem Besitz«, sagte er und legte das Säckchen Zwanziger auf den Tisch, »es ist der Rest des Geldes, das mir brave, reiche Bauern der Ebene gegeben haben, meinen Kampf fortzusetzen. Nehmt es und verteilt es gerecht untereinander. Ebenso den Erlös aus euren Waffen und Pferden.«

Dann nahm er von jedem einzelnen Abschied; der letzte, der an die Reihe kam, war der Jude. »Naschko«, sagte Taras, »ich habe eine Bitte an dich. Ich weiß, wie wert ich deinem Herzen bin, und es ist die Bitte eines Sterbenden. Wirst du sie erfüllen?« – »Sprich!« erwiderte dieser mit tränenerstickter Stimme. – »Ich weiß, was du gegen den Julko im Schilde führst, und weiß auch warum . . . Versprich mir, diesen Gedanken aufzugeben und friedlich aus den Bergen zu gehen.« – »Du forderst viel«, erwiderte der Mann, »aber ich will es dir erfüllen.« – »Wohin willst du dich wenden?« fragte Taras weiter. »Für jeden wußte ich einen Rat, für dich weiß ich keinen; du bist ja auch klüger als ich!« – »Ich will fort, weit fort«, erwiderte Naschko. »Leute, die in Büchern gelesen haben, haben mir erzählt: Wer immer der Sonne nachgeht, kommt endlich ans Meer, und wer über das Meer fährt, erreicht ein großes, schönes Land, in dem alle Menschen gleich sind und wo niemand nach seinem Glauben gefragt wird. Nach diesem Lande will ich mich aufmachen, vielleicht ist es mir vergönnt, es zu erreichen . . .« – »Möge es dir gelingen!« sagte Taras bewegt. »Gott mit dir, du guter, treuer Mensch. Und mit euch allen! Lebet alle, alle wohl!«

Er schritt aus der Stube, warf sich auf sein Pferd und sprengte im Galopp talabwärts, der Ebene zu.

 


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