Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Es war wieder Frühling geworden in den Bergen. Wohl blinkte noch auf den Gipfeln der weiße Schnee im Strahl der Aprilsonne, aber in den Gärten von Zulawce blühten, schon die ersten Blumen; auch im großen Garten der Toten am Abhang gegen Prinkowce, wo der alte Richter ruhte. Sein Grab war wohlgepflegt und mit einem schönen Steinkreuz geziert, wie es Taras angeordnet hatte, der neue Richter. Denn Harasim, des Stefan Sohn, hatte sich nicht darum bekümmert; er verkam immer mehr, und wenn sein Anwesen gleichwohl in leidlicher Ordnung blieb, so dankte er dies einzig seinen Verwandten, der Anusia und ihrem Gatten. Taras hatte auch diese Sorge auf sich geladen, obwohl ihm sein Leben ohnedies nicht leicht wurde. Denn immer klarer wurde seine Erkenntnis, welch bitteres Amt es war, Richter von Zulawce zu sein, während als Vertreter des Grafen Wenzel Hajek auf dem Schlosse saß und gebot. Oft, sehr oft mußte er der Worte des Sterbenden gedenken.

Der Mandatar hatte die Kunde von der Wahl des Taras freudig aufgenommen; dieser sanfte Podolier, der immer zum Nachgeben riet, schien ihm der rechte Mann für seine Pläne. Darum wurde er doppelt erbittert, als er seinen Irrtum einsah. Denn wohl wagte der ›treffliche Untertan‹ nie ein heftiges Wort oder eine Drohung, aber jeder unberechtigten Forderung setzte er auch ein starres »Nein« entgegen, das um so wirksamer war, weil es ruhig, fast demütig ausgesprochen und begründet wurde. Nur einmal hätte ihn seine Ruhe fast verlassen; das war, als ihm Hajek einmal auf die Schulter klopfte und mit schlauem Augenblinzeln sagte: »Stell mir doch künftig zwei Mann mehr; es wird nicht dein Schade sein, wir werden uns vertragen!« Da sah er den Schurken mit einem Blick an, daß dieser erbleichte und zwei Schritte zurückwich . . .

Von dieser Stunde an gestaltete sich das Verhältnis zwischen den beiden Männern immer feindseliger; je mehr der eine forderte, desto mehr mußte der andere verweigern. Während jedoch Taras auch nun seine Ruhe bewahrte, brauste der Mandatar oft zornig auf. So begab es sich auch am ersten Sonntag im April und aus geringer Veranlassung; Hajek forderte aus dem Gemeindewalde junge Setzlinge für den herrschaftlichen Garten, und Taras mußte sie ihm abschlagen. »Dazu sind wir nicht verpflichtet!« sagte er ruhig.

Der Mandatar ging raschen Schritts, anscheinend in größter Erregung, auf und nieder. Ein schärferer Beobachter hätte freilich bemerken können, daß dieser Zorn zum guten Teil erheuchelt sei. »Treibt mich nicht zum Äußersten!« rief er. »Wollt ihr mir das bißchen Strauchwerk nicht geben, das euch wertlos, mir nützlich ist, so werde ich es mir selbst nehmen!« – »Das wirst du nicht wagen, Herr«, erwiderte Taras, noch immer gleich ruhig. – »Meinst du, daß ich mich vor euren Flinten und Beilen fürchte?« Er rief es mit kreischender Stimme, die von Wut erstickt schien, aber sein Blick ruhte scharf und lauernd auf dem Antlitz des Bauers. – »Nein, Herr«, erwiderte dieser. »Ich meine das Kreisamt! Zur Gewalt werden wir nie greifen, selbst wenn du den Anfang machen solltest!« – »Du heuchelst!« – »Ich heuchle nicht!« erwiderte Taras und richtete sich stolz auf. »So lang ich lebe und Richter bin, wird sich die Gemeinde, wenn auch noch so schwer gereizt, nie und nimmer an Recht und Ordnung versündigen! Aber was sollen diese bitteren Reden? Hast du sonst noch etwas zu befehlen, Herr?« – »Du kannst gehen!« murmelte der Mandatar. Nachdem die Türe ins Schloß gefallen war, wandelte sich blitzschnell der Ausdruck seiner Züge. »Das wollen wir uns merken«, murmelte er mit behaglichem Lächeln. »Dieser Mann ist wirklich kein Heuchler. Und ich«, fuhr er vergnügt fort, »ich wollte dir schon böse werden, mein guter Taras! Nein! Der erste Eindruck ist immer der richtigste! Das Dorf hätte unmöglich eine bessere Wahl treffen können!«

In trüben Gedanken ging der Richter heim. Nur sein eigenes Gewissen lohnte ihn für diese widrigen Kämpfe; die Bauern wußten ihm geringen Dank für seine Mühe. Ihnen schien er viel zu nachgiebig gegen die Herrschaft, und sie hatten in der Tat von ihrem Standpunkt einigen Grund zu dieser Klage. Severin Gonta und der alte Graf hatten, um des lieben Friedens willen, nie die genaue Erfüllung aller Leistungen begehrt, Hajek hingegen forderte haarscharf alles, was der Herrschaft nach dem Buchstaben der Gubernial-Verordnung zukam; er gab keine Stunde Frist und ließ sich keinen Metzen Weizen entgehen. Ihm darin nicht entgegenzutreten, gebot dem Taras seine Pflicht, und daher konnten die Leute mit Recht klagen, daß der neue Richter sie zur Leistung schwererer Pflichten anhalte als sein Vorgänger. Nur die ungemeine Liebe und Achtung, die sich der Podolier im Dorfe erworben hatte, bewahrte ihn vor offenem Mißtrauen und ernstlicher Anfeindung. Denn er stand allein, niemand klärte die Leute auf; auch der Mann nicht, dessen Pflicht dies zunächst gewesen wäre. In seliger Verschollenheit saß der hochwürdige Martin auf seinem Pfarrhofe wie auf einer Insel, und weil ihm dieser merkwürdige Avrumko in letzter Zeit nicht bloß ein, sondern zwei Fäßchen monatlich vor die Tür rollte, so trank er auch das doppelte Maß pünktlich, obwohl er es nicht gleich pünktlich bezahlte.

Gleichwohl blieb Taras tapfer und ergeben und tröstete sein Weib, wenn diesem um die Zukunft bange wurde. »Recht muß Recht bleiben«, sagte er ihr immer wieder. »Noch lebt Gott im Himmel und der Kaiser in Wien!« – »Gott ist hoch, und der Kaiser ist weit!« erwiderte sie bekümmert. – »Nicht so hoch und weit«, rief er, »daß sie uns nicht hören könnten, wenn wir sie anrufen müßten. Aber dazu wird es nicht kommen. Unrecht tun und Gewalt brauchen, das wird auch ein Mandatar nicht wagen!«

Er irrte; Herr Hajek wagte beides. Es war etwa drei Wochen nach jener letzten Unterredung, in der ersten Frühe; Taras stand vor seinem Hofe und ordnete eben seine Knechte, Sefko und Jemilian, auf seinen Acker ab, die Frühlingssaat zu bestellen. Da vernahm er plötzlich einen dumpfen, jähen Ton in den Lüften, zwei, drei ähnliche Schläge folgten rasch. »Flintenschüsse!« rief er erbleichend. – »Wohl eine Jagd!« meinte Sefko. – »Nein!« rief Jemilian. »Es kommt von der Niederung her. Vielleicht gar der ›grüne Giorgi‹ mit seinen Leuten!« So hieß ein berüchtigter Räuber, der damals die Berge unsicher machte, ein Urlauber, Georg Czumaka, der immer ein grünes Wams trug. »Unsinn!« erwiderte Taras und eilte auf die Straße. »Bei hellem Tage wagt sich . . . Was ist geschehen?« unterbrach er sich entsetzt. Denn ihm entgegen, die Dorfstraße empor, kam eben verstört ein junger Bursche gerannt, Wassilj Soklewicz. »Hilfe! Hilfe!« schrie er gellend. Sein Antlitz war totenbleich, das Gewand zerrissen.

»Was gibt's?« rief Taras, sprang auf ihn zu und faßte ihn am Arme. – »Hilfe!« stöhnte der Bursche, »sie haben meinen Bruder Dimitri erschossen!« – »Wer? Wo?« – »Der Mandatar«, stammelte Wassilj, »auf dem Gemeindeacker! Wir waren in aller Frühe gekommen, mein Bruder und ich und die beiden Söhne des Dubko, um den Acker zu bestellen, ganz wie du befohlen hast, Richter. Bis zur Mittagsstunde wollten wir arbeiten und dann zur Jagd gehen, darum hatten wir unsere Flinten mit scharfer Ladung mit. Kaum hatten wir die Ochsen vor die Pflüge gespannt, da kam der Mandatar mit einem Haufen Knechte, alle bewaffnet. ›Hinweg‹, rief er, ›hier ist gräflicher Boden!‹ – ›Hinweg, du!‹ rief ihm mein Bruder Dimitri zu und ergriff seine Flinte, die er abgelegt hatte, und also taten wir drei anderen. ›Dem Dorf gehört der Acker, seit die Welt steht, und wer seinen Fuß darauf setzt, wird erschossen!‹ Da sprang der Mandatar zurück, seinen Knechten aber befahl er: ›Drauf, ihr Leute!‹ Und sie drangen auf uns ein mit Flinten und Sensen. Da schossen wir, und der vorderste unter den Knechten, der rote Hritzko, tat einen Sprung, drehte sich wie ein Kreisel in der Luft und fiel aufs Antlitz; eine unserer Kugeln hatte ihn getroffen. Nun feuerten jene, und mein Bruder fiel hin, tot, mitten durchs Herz getroffen! Wir anderen wurden umzingelt, und sie stießen und schlugen uns, aber wir rissen uns los und entrannen!«

So erzählte der Bursche, wirr, fliegenden Atems, und in wenigen Minuten hatte sich der Kreis um ihn auf fünfzig Köpfe vermehrt. Von den Feldern her, aus den Hütten kamen die Männer zu des Richters Hause gestürzt, alle bewaffnet, voll furchtbarer Erregung im Herzen und Antlitz. Denn der gemeinsame Acker ist das Heiligtum jeder slawischen Gemeinde; wer diesen antastet, führt den Streich nicht bloß gegen ihr Vermögen, sondern auch gegen ihr Herz, und keine Freveltat scheint diesen Männern verruchter. Auch Taras war in tiefster Seele entrüstet, aber er dämmte seinen Zorn zurück; er kannte seine Leute. »Bewahre ich nicht meine Ruhe«, sagte er sich mit Recht, »so fließt heute das Blut in Bächen!« Darum stellte er sich den Männern entgegen, die nach dem Orte der Freveltat drängten. »Halt!« befahl er. »Wir gehen alle hin! Berufet die Ältesten und die Männer!«

Der Befehl war überflüssig, sie kamen ungerufen mit ihren Weibern und Kindern. Wilder Zornruf durchbrauste die Luft; dazwischen das Jammern der Weiber, das Kreischen der Kinder. Auch die Mutter des Erschossenen, die Witwe Xenia, stürzte herbei; sie hatte jammernd das Tuch vom Haupte gerissen, das graue Haar fiel wirr um ihr entstelltes Antlitz. »Räche mein Kind!« rief sie dem Richter zu und umfaßte seine Knie. Er hob sie auf und suchte sie zu beruhigen. »Ordne den Zug!« rief er dann dem Ältesten Simeon zu. »Nur die Hausväter! Weiber und Burschen bleiben hier!« – »Warum?« schrie ihm Xenia entgegen. »Warum?« wiederholte die erregte Menge. »Es soll mitgehen, wer ein Gewehr tragen kann!« – »Es geschieht, wie ich befehle!« rief Taras und richtete sich hoch auf. »Meinen Kopf zum Pfande, daß ich meine Pflicht tun werde!« Das Wort wirkte, die Leute traten zurück und ließen Raum für den Zug, den Simeon bildete.

Da aber drängte Anusia durch die Reihen, ihr jüngstes Kind ans Herz gepreßt, in der Rechten eine Flinte schwingend. »Nimm!« rief sie ihrem Gatten zu, »es ist die Flinte meines Vaters, sie trägt weit!« – »Geh heim«, bat Taras, »das ist keine Weibersache. Ich nehme keine Waffe!« – »Warum?« scholl rings der Ruf; sie aber stürzte auf ihn zu und faßte ihn an den Schultern. »Taras!« schrie sie gellend. »Laß mich nicht bereuen, daß ich in jener Nacht nicht ertrunken bin! Einem Manne hab' ich mich zu eigen gegeben und keiner Memme!« – »Halt ein!« rief Simeon erschreckt dazwischen. »Du faselst, Weib!« Sie aber fuhr fort: »Wer noch den Frieden will, nachdem Blut geflossen ist, ist kein Mann! Oder willst du dich wehrlos hinschlachten lassen, du Lamm?«

Hoch aufgerichtet stand Taras da, totenfahl war sein Antlitz, die Augen wie erloschen. Stürmisch hob und senkte sich seine Brust, aber kein Wort drang aus seiner Kehle. So, schweigend, streckte er die Hand gegen das Weib, und es gehorchte dem Wink und taumelte beiseite. »Ihr Männer«, begann er endlich langsam, laut, aber mit einer Stimme, die niemand als die seine erkannt hätte, so rauh klang sie, »es ist nicht Zeit, von dem Schimpf zu sprechen, den mir mein Weib angetan hat; ich werde es später tun, gleichfalls vor der ganzen Gemeinde. Jetzt aber frage ich euch, wollt ihr mir als eurem Richter gehorchen oder nicht? Noch einmal: meinen Kopf zum Pfande, daß ich meine Pflicht tue!« – »Ja!« erscholl es. – »Dann kommt!« Der Zug setzte sich in Bewegung, voran Taras mit Simeon und dem neuen Ältesten Alexa Sembrow, hinter ihnen sechzig verheiratete Männer. Die anderen blieben zurück.

Der Gemeindeacker von Zulawce war damals ein längliches, unregelmäßiges Viereck, das sich den Bergabhang hinabzog. Seine untere Grenze bildete der Pruth, die obere ein Wäldchen, das gleichfalls Eigentum der Gemeinde war. In der Mitte erhob sich ein großes, schwarz bemaltes Kreuz. Als die Männer aus dem Wäldchen traten, vermochten sie das ganze Feld zu überblicken. Neben dem schwarzen Kreuz lagerte der Mandatar mit seinen Knechten; er mußte viele hinzugedungen haben, es waren etwa vierzig Köpfe. Weit hinter ihnen, unten am Flusse, pflügten zwei Knechte langsam mit einem Gespann Ochsen; ein anderes stand an das Kreuz gebunden. Dicht am Wäldchen aber, zu Füßen der Männer, lag der Leichnam des Dimitri; die Knechte mußten ihn wohl zur Höhe emporgeschleift haben. Als die Bauern den toten Genossen ersahen und drunten die bewaffnete Schar, da ward ihre Empörung zur wilden Wut. »Urrahah!« brach der donnernde Ruf aus ihren Kehlen, und sie stürmten den Abhang hinab.

Aber vor ihnen Taras. Flugs hatte er dem Simeon die Pistole aus dem Gurt gerissen und gegen seine eigene Stirn gekehrt. »Halt!« schrie er mit mächtiger Stimme, »noch ein Schritt und ich töte mich vor euren Augen!« Sie stutzten, hielten. Einige, die vorwärts gerannt waren, kehrten zurück.

Inzwischen hatten sich die Reihen der Knechte um das Kreuz zum Kampfe geordnet. Der Mandatar war unsichtbar geworden, er hatte sich in die letzte Reihe gestellt. Für ihn trat der Meier des Schlosses hervor, ein riesiger Mazure aus der Bochniaer Gegend, Boleslaw Stipinski mit Namen. »Was wollt ihr?« rief er. »Kampf oder friedliche Unterredung?« – »Wir wollen unser Recht wahren!« rief Taras zurück. – »Euer Unrecht!« erwiderte Boleslaw. »Aber gleichviel, wir stehen auf gräflichem Boden und weichen nicht, so lange einer von uns lebt. Wollt ihr dies von dem gnädigen Herrn Mandatar selbst hören, so ist er bereit, den Richter und die Ältesten zu empfangen!«

Taras trat vor, Alexa und Simeon folgten ihm. Sie fanden Hajek auf einem Feldstein sitzend, hinter ihm hielten einige Knechte die Gewehre im Anschlag. »Laß die Büchsen wegtun, Herr«, sagte Taras ruhig. »Du brauchst nicht so zu zittern; hätten wir Kampf gewollt, wir wären rascher dagewesen.« – »Also wollt ihr Frieden?« fragte Hajek. – »Wenn du dein Unrecht einsiehst und Buße leistest!« – »Und wenn nicht?« – »Dann klagen wir beim Kreisamt!«

Der Mandatar atmete auf, er konnte wieder lächeln. »Hoffentlich kommt es nicht einmal dazu«, sagte er. »Du bist ein rechtlicher Mann, Taras, und wirst die Sache rasch begreifen. In der Gutsbeschreibung, die unter Kaiser Joseph von Amts wegen aufgenommen wurde, heißt es ausdrücklich: ›Der Gemeindeacker reicht vom Wäldchen bis zum ›schwarzen Kreuz‹, hingegen gehört das Stück vom Kreuz bis zum Ufer dem Grafen.‹ Ich war also berechtigt, die Hälfte des Ackers, vom Kreuz bis zum Ufer, wieder für meinen Herrn in Besitz zu nehmen!« – »Nein!« rief Taras. »Denn damals und bis vor fünfzehn Jahren stand das ›schwarze Kreuz‹ dicht am Ufer, und dem Grafen wurde bloß deshalb der Landstreifen von zwei Schritten Breite zugesprochen, damit sein Fischereirecht im Pruth unzweifelhaft sei. Als das alte Kreuz morsch wurde, richteten wir ein neues in der Mitte des Ackers auf. Dies, Herr, ist die Wahrheit.« – »Möglich«, erwiderte Herr Hajek lächelnd. »Darüber kann ja das Gericht entscheiden. Ich muß mich daran halten, was meine Augen sehen. Darum forderte ich die fremden Leute, die ich vor zwei Stunden hier vorfand, auf, sich zu entfernen. Sie erwiderten mit Schüssen und töteten einen meiner Knechte. Darauf mußte auch ich schießen lassen, das wirst du einsehen, und die beiden Gespanne bleiben natürlich als Pfand für den bisher angerichteten Schaden in meinem Besitz. So, damit sind wir fertig!« – »Noch nicht!« erwiderte Taras und entblößte sein Haupt. »Ich rufe Gott den Allwissenden zum Zeugen an, daß uns hier Unrecht geschehen ist! Und ich lege Verwahrung dagegen ein, daß wir es etwa jetzt oder in Zukunft für Recht halten! Nur aus Ehrfurcht vor Gottes Geboten und aus Ehrfurcht vor dem Herrn Kaiser haben wir unsere Waffen nicht genützt. Und diese beiden, Gott und der Herr Kaiser, werden uns auch zu unserem Rechte verhelfen!« – »Schön! Sehr schön!« sagte der Mandatar lächelnd. »Der hochwürdige Herr Sustenkowicz weiß gar nicht, welchen gefährlichen Nebenbuhler er im Dorfe hat. Eine so erbauliche Anrede habe ich noch nie von ihm vernommen!«

Taras wollte heftig erwidern, aber er bezwang sich. Schweigend kehrte er mit den beiden Ältesten zu seiner Schar zurück. »Nun?« riefen ihm die Männer erwartungsvoll entgegen. »Gibt er nach? Oder erlaubst du jetzt endlich, daß wir ihm beweisen, wer im Rechte ist?« – »Nein!« erwiderte Taras. »Ihr kommt jetzt alle mit zur Linde, wir wollen Versammlung halten. Vorher jedoch müssen wir den Toten in das Haus seiner Mutter tragen, und du, Simeon, geh zum Pfarrer und bitte ihn, mit dem Allerheiligsten zur Versammlung zu kommen.« – »Wenn er aber betrunken wäre?« wendete der Älteste ein. – »Gleichviel, seine Weihen bleiben deshalb doch heilig!«

Eine Stunde später waren sämtliche Hausväter um die Linde vor der Schenke versammelt. Auch Vater Martin hatte sich eingefunden: im vollen Ornat und mit dem Sanctissimum in der Hand. Da es noch früh am Morgen war, so hatte sich die Besorgnis des Simeon zum Glück als unbegründet erwiesen.

Ehe Taras die Versammlung eröffnen konnte, hatte er noch eine häusliche Sache abzutun. Sein Weib stürzte ihm zu Füßen, und wie früher ihr Zorn grenzenlos gewesen, so nun ihre Reue. »Zertritt mich!« schluchzte sie, »verstoße mich, ich verdiene es nicht besser!« Taras zog sie empor und küßte sie. »Ich verzeihe dir«, sagte er. »Einmal, aber nie wieder!« Dann legte er den Leuten den Sachverhalt klar. »Unser Recht«, schloß er, »ist zweifellos und darum auch die Hilfe des Kreisamts. Selbsthilfe jedoch führt nur zu Blut und Tränen, ohne zu nützen: Ich will noch heute zum Kreisamt reiten und die Klage anbringen. Ihr aber müßt mir beim Allerheiligsten schwören, daß ihr in meiner Abwesenheit nicht zu den Waffen greifet!« Vater Martin erhob die Monstranz, und sie leisteten kniend den Schwur . . .

Eine Stunde später war Taras auf dem Wege. Er hatte sein bestes Pferd gewählt und entlieh am Abend ein anderes. Gleichwohl war er erst am Mittag des nächsten Tages in der elf Meilen entfernten Stadt. Aber vor ihm war bereits eine Estafette Hajeks an den Kreishauptmann Herrn Franz von Bauer eingelaufen.

Darum empfing der alte Mann den Richter nicht gerade gnädig und wollte kein Protokoll mit ihm aufnehmen lassen. »Ich weiß ohnehin alles!« versicherte er. Als aber Taras darauf bestand und der Beamte nun dieselbe Sache in so verschiedener Darstellung vernahm, wurde er doch nachdenklich und ging eine Weile brummend und kopfschüttelnd in seinem Büro auf und ab. Dann blieb er vor Taras stehen und musterte ihn scharf. »Sprichst du die Wahrheit?« fragte er barsch. Der Bauer hielt den Blick ruhig aus. »So wahr mir Gott helfe!« sagte er feierlich. »Hm! Hm!« Eine andere Antwort gab der alte Herr vorläufig nicht. Wieder durchmaß er kopfschüttelnd die große Amtsstube. Endlich blieb er wieder vor Taras stehen. »Der Teufel hole euch beide!« brach er los, »Gutsherrn und Bauern. Könnt ihr denn gar nicht Frieden halten? Das ist ein schönes Los, auf seine alten Tage Kreishauptmann in Galizien zu sein.« In dieser Tonart ging es noch eine Weile fort. »Geh heim!« schloß er endlich sanfter. »Von hier aus kann ich nicht entscheiden, wer im Rechte ist. Ich schicke nächstens einen Kommissär. Die Toten könnt ihr inzwischen jedenfalls begraben lassen, die machen auch wir nicht mehr lebendig!«

Beruhigt kehrte der Richter heim. Der Friede war nicht gestört worden, trotz des wilden Ingrimms der Bauern, als sie zusehen mußten, wie der Mandatar das geraubte Feld ruhig durchpflügen und besäen ließ. Die andere Hälfte, die ihnen geblieben war, bestellte Taras selbst mit seinen Knechten. »Der Schreiber des Kaisers muß ja bald kommen«, tröstete er sich und die anderen, »und dann wird alles wieder gut!«

Der Beamte erschien denn auch, wenngleich erst zwei Wochen später, aber gut wurde dadurch wenig. Es war der k. k. Kreiskommissär Ladislaus Kaplonski, den seine Kollegen teils seines biederen Charakters, teils seiner Bewegungsweise wegen nur die ›Schlange‹ zu nennen pflegten. So viel stand fest: vor einem Vorgesetzten war dieser Mann noch niemals gegangen, er hatte sich immer gewunden, und vielleicht verdankte er dieser Eigentümlichkeit sein Emporkommen, vielleicht auch der Zahl seiner Dienstjahre, aber schwerlich seinen Verdiensten um den Staat. Man konnte dem Menschen, der hinter einem linkisch unterwürfigen Wesen große Heimtücke verbarg, mit Recht vieles nachsagen, aber wer ihm nachgesagt hätte, daß er seine Amtspflichten mit Verständnis und Tüchtigkeit erfülle, wäre einer Lüge schuldig geworden. Und da dieser allgemein beliebte Mann zudem in dem Rufe stand, vor dem Schatten einer Henne zu erschrecken, geschweige denn vor einer erregten Menge, so war er sicherlich in jeder Beziehung der rechte Mann für diese Aufgabe.

In der Tat machte er auch hier seinem Rufe keine Schande. Zunächst schaffte er die Untersuchung wegen Mordes in der einfachsten Art aus der Welt. »Beiden Parteien ist je ein Mann getötet worden. Nehmen wir an, daß der Dimitri den Hritzko erschossen hat und der Hritzko den Dimitri. Gegen Tote kann keine Untersuchung geführt werden.« Ebenso bündig entschied er den Streit um den Acker. »Ich finde die Herrschaft«, erklärte er den Bauern, »im Besitz des strittigen Feldes; sie kann ihren Rechtstitel aus der Gutsbeschreibung erweisen; ich muß sie daher im Besitz schützen!«

»Und hätten wir Gewalt mit Gewalt vergolten«, rief Taras bitter, »hätten wir Menschenblut vergossen, dann wären wir im Besitze geschützt?!«

»Nun«, erwiderte Herr Kaplonski hastig, »es war ja sehr brav von dir, Gewalttat zu vermeiden. Auch ist Besitz nicht Eigentum. Wenn das Feld wirklich euch gehört, so müßt ihr den Grafen Borecki beim Kreisamte auf Herausgabe klagen. Aber bis diese Klage entschieden ist, darf sein Besitz nicht gestört werden!«

Die Bauern murrten. Taras wies sie zur Ruhe. »Ist dies alles, was du uns zu sagen hast?« fragte er den Kommissär.

»Oh! Noch etwas!« rief dieser eifrig. »Ihr sollt erkennen, daß ich unparteiisch bin. Die beiden Gespanne Ochsen, die der Herr Mandatar gepfändet hat, werden euch noch heute zurückgestellt! Ich habe es so angeordnet, ich bin gerecht! Aber, ich wiederhole, der Besitz des Grafen darf nicht angetastet werden, oder ihr begeht ein Verbrechen!« Diese letzten Worte rief er bereits vom Wagensitz herab. Dann fuhr er rasch von dannen. Es war ihm unter den Bauern recht schwül geworden, und er atmete tief auf, als er das Dorf im Rücken hatte.

Nur einige Stunden war Taras trostlos, dann richtete er sich wieder auf. Er trat vor die Versammlung. »Recht muß Recht bleiben!« rief er den Männern zu. »Ich vertraue auf Gott und den Herrn Kaiser! Wir müssen eben den Prozeß führen!« Aber nun war die Zeit vorbei, da sein Wort gebot und entschied. »Du hast alles verschuldet!« riefen ihm die Leute zu, »so trage du die Folgen! Wir Männer von Zulawce führen unseren Streit mit Flinten, nicht mit Federn! Die eine Hälfte des Ackers ist durch dein Zagen verloren gegangen, wir wollen keinen Prozeß, der uns noch die andere kostet! Willst du den Prozeß, so führe ihn auf deine Kosten.« – »Ich bin dazu bereit«, erwiderte Taras. »Wer eine gerechte Sache vertritt, muß ihr zum Siege verhelfen, und wenn er selbst daran zugrunde gehen müßte!«

Wieder ritt er zur Stadt; wieder suchte er den Kreishauptmann auf. Aber diesmal wies ihn der Beamte kurzweg ab. »Geh zum Advokaten!« rief er. »Das Amt hat seine Pflicht getan!« – »Das verstehe ich nicht«, erwiderte Taras bescheiden, aber fest. »Ich will unser Recht, und der Herr Kaiser hat dich ja hierhergesetzt, das Recht zu wahren!« – »Dummkopf!« brauste der alte Brummbär auf. Aber im selben Augenblicke reute ihn das heftige Wort. Er erhob sich, trat auf Taras zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will es dir erklären!« sagte er nachdrücklich. »Wenn du den Mandatar erschießest oder der Mandatar dich, so geht das uns an, auch wenn niemand gegen dich oder ihn Klage führt. Das ist ein Verbrechen. Wenn ihr hingegen behauptet, daß ein Acker, den der Graf besitzt, euer Eigentum ist, so geht das uns nur dann an, wenn ihr die Klage einbringet. Das ist eine Streitsache. Also, geh zum Advokaten und laß dir die Klage machen. Verstehst du mich nun?« – »Nein!« erwiderte Taras. »Recht bleibt Recht, ob es nun um Leben oder Eigentum geht. Der Gemeindeacker ist der Gemeinde so heilig wie mir mein Leben. Auf Recht ist die Welt gebaut; wer Unrecht tut, stürzt die Weltordnung um. Und das sollte den Kaiser und seine Schreiber nicht kümmern?« – »Ach ja!« seufzte der Beamte, »was sag' ich immer – lieber Diurnist in Wien als Kreishauptmann in Galizien! Ihr seid ja Wilde, ihr habt ja gar kein Rechtsgefühl! Aber mit dir wenigstens will ich mich nicht ärgern! Geh mit Gott!« Taras tat, wie ihm geheißen. Als er draußen vor der Tür stand, überkam ihn das Weh der Enttäuschung, der ohnmächtigen Empörung so heftig, daß er alle Kraft zusammennehmen mußte, um nicht aufzuschreien wie ein verwundetes Tier.

Dann aber faßte er sich wieder und erfragte das Haus des einzigen Advokaten der Kreisstadt. Er hieß Dr. Eugen Starkowski. Der kluge Mann erfaßte den Sachverhalt rasch und schüttelte den Kopf. »Es war unvorsichtig«, meinte er, »ein Grenzzeichen zu verrücken! Übrigens, ich will mein möglichstes tun.« – »Wann kann eine Entscheidung kommen?« – »Frühestens im Herbste.« – »So spät?« rief Taras erschreckt. – »Wahrscheinlich noch später!« meinte der Advokat. »Es liegt nicht an mir, aber die Herren beim Gericht pflegen es sich gerne bequem zu machen.« – »Bequem zu machen!« wiederholte Taras mechanisch und starrte ihn an, fassungslos vor Erstaunen. »Bequem zu machen!« rief er noch einmal, aber diesmal wild und laut. »O Herr! Das ist nicht gut! Das Recht sollte so allgemein und leicht erreichbar sein wie Luft und Wasser! Denn bitterer als das Dürsten fällt es dem Menschen, wenn er nach dem Rechte lechzen muß!« Der Anwalt blickte ihm prüfend ins Auge, zuerst lächelnd, dann mit warmer Teilnahme. »Noch einmal«, versprach er, »ich werde mein möglichstes tun!« Es klang diesmal anders als früher.

In der Tat bot er seinen ganzen Einfluß auf, die Sache zu beschleunigen. Während sonst in der Regel ein halbes Jahr verging, ehe das Gericht der Gegenpartei die Klage behändigte, erhielt Herr Hajek diese nach wenigen Tagen. Aber nun stand ihm die Frist dreier Monate offen, die Einrede einzubringen, und er machte vollen Gebrauch von dieser Frist. Wozu er sie nützte, sollte den armen Bauern später klar werden. Erst am letzten Tage, der ihm noch dafür gegönnt war, reichte er seine Schrift beim Kreisamt ein. Er führte darin dieselben Gründe an, die er dem Taras mitgeteilt hatte, und erbat, gleich den Klägern, die Absendung einer gerichtlichen Kommission zur Vernehmung von Zeugen.

Der Anwalt des Taras las die Schrift mit Erstaunen. Er hatte seinen Antrag gestellt, weil die eidliche Aussage der Bauern das einzige Rechtsmittel war, um erweisen zu können, daß in der Tat vor fünfzehn Jahren eine Versetzung des Grenzkreuzes stattgefunden hatte. War dem nun wirklich so, dann gebot dem Mandatar sein Interesse, diese Vernehmung zu vereiteln und sich bloß darauf zu berufen, daß die Gutsbeschreibung und der Augenschein für ihn sprächen. Was konnte ihn nun bewegen, das Mittel zu begehren, das er verhüten mußte? Vergeblich grübelte der Anwalt darüber nach. ›Hajek handelt unsinnig‹, dachte er, ›wenn er nicht wirklich im Rechte ist oder wenn er nicht etwa die Zeugen bestochen hat!‹ Aber beide Vermutungen schienen ihm gleich unwahrscheinlich; gegen die erste sprach die feierliche, erschütternde Art, in welcher der Richter seine Hilfe angerufen hatte; gegen die zweite der Ruf Hajeks in der Kreisstadt. Denn hier wußte man ja nichts von seinen Pariser Freuden und Leiden; er galt als liebenswürdiger, gebildeter Mann von achtungswertem Charakter.

Das Gericht willfahrte natürlich dem Begehren beider Parteien. Derselbe Beamte, der im Mai den Kriminalfall in Zulawce so trefflich entschieden hatte, wurde nun im September als Zivilrichter hingesendet. »Untersuchen Sie die Sache recht gründlich!« trug ihm der Kreishauptmann auf. »Vernehmen Sie sämtliche Zeugen beider Parteien, reden Sie den Leuten ernst ins Gewissen. Noch einmal, Herr Kaplonski, nehmen Sie sich Zeit!«

Der Kommissär verbeugte sich ehrfurchtsvoll und ging dann lächelnd zum Wagen. »Der alte Querkopf!« murmelte er. »Als ob es auf die Zeit ankäme und nicht auf die Geschicklichkeit! Je länger man mit diesem Pöbel spricht, desto wilder wird er ja! Mich darf die Vernehmung keine zwei Stunden kosten.«

In der Tat brachte er dies Kunststück zustande. Als er am nächsten Tage um die zehnte Vormittagsstunde vor der Schenke eintraf, empfing ihn eine überaus zahlreiche Versammlung. Alle Bauern von Zulawce standen im Festkleide da; Männer, Weiber und Kinder. Ferner der hochwürdige Martin, der diesmal, um den seltenen Besuch seinerseits auch durch eine Seltenheit zu ehren, völlig nüchtern war. Und endlich kam auch auf die Kunde von dem Eintreffen des Beamten Herr Hajek herbei, hinter ihm Boleslaw Stipinski mit einer zahlreichen Schar von Knechten.

Der Kommissär sprang vom Wagen, lüpfte seinen Hut zum Gegengruß und ließ dann einen Tisch unter die Linde bringen. »Das ist mein erstes Instrument«, sagte er zu Herrn Hajek, »das zweite habe ich mir mitgebracht.« Er deutete auf den dicken Kanzlisten, der eben, mit einem riesigen Tintenfaß und einem schweren Pack Papier beladen, vom Wagen herabkletterte und auf den Tisch zuhinkte. »Und das dritte wird leicht zu requirieren sein: ein Kruzifix!« Es wurde rasch aus dem nächsten Hause herbeigeholt und auf den Tisch gestellt. »Eigentlich sollten wir«, flüsterte ihm der Kanzlist zu, »auch zwei brennende Kerzen« – »Wozu?« unterbrach ihn der Kommissär lächelnd. »Ich werde den Leuten selbst ein Licht aufstecken!«

Aber als er nun zu reden begann, klang seine Stimme etwas unsicher: »Ihr wißt, warum ich gekommen bin. Ich habe zu erkunden, wo das schwarze Kreuz, das heute in der Mitte des Gemeindeackers steht, vor sechzehn Jahren gestanden ist. Alles andere kümmert mich nicht. Wer also nichts über diese Sache zu sagen hat, entferne sich – habe die Güte, sich zu entfernen!« verbesserte er sich rasch.

Nur einige Tagelöhner aus der Ebene traten beiseite, die anderen alle behaupteten ihren Platz; ein solches Schauspiel war eben nicht alle Tage zu sehen.

»Die eine Partei«, fuhr Herr Kaplonski fort, »behauptet, daß das Kreuz vor fünfzehn Jahren umgestellt wurde. Daran wie an das Gegenteil kann sich nur derjenige genau erinnern, der schon damals zurechnungsfähig war, also heute wenigstens dreißig Jahre alt ist. Wer jünger ist, möge – hm! Möge so freundlich sein zu gehen!«

Noch immer regte sich diese lebende Mauer nicht: Herr Kaplonski blickte wie Hilfe suchend um sich, und der Richter erbarmte sich seiner. »Habt ihr nicht gehört?« rief er. »Wer unter dreißig ist, hat hier nichts zu suchen!«

Der Zuruf übte sofort seine Wirkung. Zuerst liefen die Mädchen kichernd davon, dann die Weiber und Kinder, endlich die jungen Burschen. Aber es blieben noch immer an zweihundert Menschen festgeballt vor dem Gerichtstische stehen.

»Und nun gebt acht!« fuhr der Kommissär fort. »Wer sich nicht daran erinnert, wo das Kreuz vor sechzehn Jahren stand, hebe die Rechte auf!«

Nur zwei Hände streckten sich empor: die der Führer beider Parteien. »Ich bin erst seit anderthalb Jahren im Dorfe«, sagte der Mandatar. »Und ich seit zehn Jahren«, bemerkte der Richter. »Tut nichts!« erwiderte Herr Kaplonski. »Ich bitte Sie dennoch, hier zu bleiben, weil diese Menschen sonst vielleicht, hm!« Er räusperte sich verlegen und setzte dann laut hinzu: »Also, der Unparteilichkeit wegen! Treten Sie an den Tisch zur Rechten, Herr Mandatar, und Ihr, Herr Richter, zur Linken!«

»Nun höret abermals!« wandte er sich wieder an die Menge. »Wer sich genau erinnert, daß das Kreuz auch vor sechzehn Jahren in der Mitte des Ackers stand wie heute, trete zur Rechten, also zum Herrn Mandatar hin. Wer sich aber genau daran erinnert, daß das Kreuz vor sechzehn Jahren noch dicht am Flusse stand und erst ein Jahr später von dort entfernt und an seiner heutigen Stelle aufgerichtet wurde, trete zur Linken, zum Richter hin.«

Die Scheidung vollzog sich unter dumpfem Gemurmel, aber als nun beide Parteien einander getrennt gegenüberstanden, da erhob sich wilder Zornruf, Schimpf und Verwünschung. »Ihr Hunde!« riefen die Bauern und schwangen die Beile. Denn drüben standen nicht bloß, wie sie erwartet hatten, die Knechte, Meier und Sassen der Herrschaft, sondern auch einige der Ihren, Tagelöhner und herabgekommene Hausväter, Lumpe und Schelme. Welch schlimmer Tat man sie auch sonst fähig hielt, niemand hätte ihnen offenen Verrat an ihrem Dorfe zugetraut. Denn das erscheint den Ruthenen als schlimmste Schandtat: das Band der Gemeinde gilt ihnen heiliger als jedem anderen Volke. Aber tiefer und schmerzlicher als diese Niedertracht des besitzlosen Gesindels empörte es die Männer, daß sie den Sohn ihres einstigen Richters gleichfalls im Feindeslager erblicken mußten. Auch Harasim Woronka war nach rechts getreten. Was bei den anderen das Geld, hatte bei ihm der Rachedurst bewirkt; nun endlich konnte er dem gehaßten Fremdling einen Streich spielen. Denn je grimmiger ihm sein Laster an Kraft und Vermögen zehrte, desto fester war seine Überzeugung geworden: »Ohne den Taras wäre ich heute Richter, der reichste Mann des Dorfes und der Gatte der Anusia«, und alle Guttat, die ihm der Todfeind erwiesen, hatte nur seinen Groll gemehrt. Zu feig, um dem Verhaßten an Leib und Leben zu greifen, hatte er sich vom Mazuren Boleslaw zu dieser Art der Rache überreden lassen. Aber als er nun das Versprechen erfüllen mußte, da regte sich doch sein Gewissen, und er zitterte an allen Gliedern. »Elendes Mannweib!« schrien ihm die Männer zu, »du schändest deinen Vater im Grabe!« Harasim wurde totenfahl und griff wie ein Ertrinkender mit den Händen in der Luft herum; es ist der furchtbarste Vorwurf, der einem Sohne dieses Volkes gemacht werden kann. Vielleicht wäre er im nächsten Moment zurückgekehrt in die Reihen der Menschen, zu denen er nach Blut und Schicksal gehörte. Aber Boleslaw ersah sein Schwanken, ergriff den Zitternden mit mächtiger Faust und schob ihn hinter sich.

»Gewalt!« heulten die Bauern auf und drangen auf den Riesen ein. Es schien, als müßte die nächste Sekunde Mord und Entsetzen bringen.

Mit verschiedenen Empfindungen blickten die Männer am Tische auf die wilde Szene. Der Kommissär war totenbleich geworden, er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Anders Herr Hajek; er hatte Mühe, seinen Triumph zu bergen, und zwang sich eine Trauermiene auf, als er zu dem Beamten sagte: »Nun werden Sie mir wohl gerne glauben, wie schwer es ist, gegen solche Menschen sein gutes Recht zu behaupten!« Der Treffliche hätte viel darum gegeben, wenn eines dieser geschwungenen Beile auf das Haupt des Harasim niedergesaust wäre. Es kam nicht dazu, dank der Entschlossenheit des Richters. Wohl hatte der Verrat des Harasim ihn noch tiefer empört als all die anderen, aber kaum einen Atemzug lang gab er sich dieser Empfindung hin, dann raffte er sich auf und tat seine Pflicht. »Zurück!« rief er. »Zurück!« wiederholten die Ältesten seinen Ruf, und so drängten die drei Männer die Wütenden langsam nach links, daß wieder der Raum frei wurde zwischen den beiden Haufen.

Herr Kaplonski zitterte noch immer an allen Gliedern; die bleichen Lippen zuckten, aber er brachte keinen Laut hervor. Ein jämmerlicher Zwischenfall kam ihm zu Hilfe und lenkte die Aufmerksamkeit von seinem Zustand ab. Als nämlich die Leute wieder geschieden standen, da gewahrte man erst, daß ein Mann keine Partei ergriffen hatte, sondern fein in der Mitte stand: der hochwürdige Martin Sustenkowicz. Freilich sah das Wort Gottes von Zulawce in diesem Momente nicht gerade so aus wie ein Mann, der ruhigen Gemütes vermittelnd zwischen zwei Streitenden steht; im Gegenteil, recht ängstlich blickte er drein, schielte nach rechts und links und dann wieder hilfesuchend zu dem Gerichtstische hin.

»Hochwürdiger!« rief der Meier, »was soll das heißen? Du hast mir gestern zugeschworen, daß die Herrschaft im Rechte ist!« – »Hm, ja, gestern!« stammelte der Pfarrer, warf einen scheuen Blick auf die Bauern und trippelte nach rechts. »Halt, Väterchen!« rief der Älteste Alexa und faßte ihn am Kaftan, »hast du mir nicht vor einer Stunde gesagt: ›Euer ist der Acker, denn ich selbst habe das neue Kreuz vor fünfzehn Jahren eingesegnet‹?« – »Hm; ach! Eingesegnet!« wiederholte der Bedrängte in maßloser Verwirrung, blieb stehen und wischte sich die schweren Schweißtropfen von der Stirne. Der Mandatar erbarmte sich seiner Not. »Kommen Sie hierher, Herr Pfarrer«, sagte er, »an meine Seite! Oder noch besser«, fügte er mit bitterem Spott hinzu, »hinter den Tisch, dicht an das Kruzifix. Wir haben keine Kerzen, so mag denn das Licht, welches von Ihrem ehrwürdigen Gesichte strahlt, alle Zeugen erbauen und erschüttern!«

Der Kommissär hatte sich mühsam gefaßt. Er konnte wieder sprechen, wenn auch mit umflorter Stimme. »Wir schreiten nun zum Eide«, sagte er, »denn die Aussage habt ihr bereits abgelegt, indem ihr euch dahin oder dorthin gestellt habt. Wer seine Aussage nicht beeiden will, erhebe die Hand!«

Niemand rührte sich. Herr Kaplonski geriet wieder in große Bedrängnis. Er hätte die Vernehmung so rasch als möglich abtun mögen, aber diese unerhörte Sachlage legte ihm ja eine Ermahnung als gebieterische Pflicht auf. »Liebe Leute!« sagte er hastig, »ein Meineid ist kein Kinderspiel! Denket an Gott! Und dann, hm, die irdische Strafe! Es kann ja, hm, nur eine der beiden Parteien im Rechte sein. Also noch einmal: Wer will, hm, nicht schwören?« Auch diese ebenso würdige als erschütternde Mahnung übte keine Wirkung. Der einzige, dessen Hand emporzuckte, Harasim Woronka, ließ sie wieder sinken, als ihm der Mazure ins Ohr flüsterte: »Memme! Willst du, daß dein Freund Taras auch ferner die Nase hoch trägt?«

Dem Kommissär trat der Angstschweiß auf die Stirn; dieses Resultat konnte er dem gestrengen Herrn Kreishauptmann denn doch nicht gut vorlegen. »Das ist ein schwerer Fall!« seufzte er, zum Mandatar gewendet. »Wünschen Sie vielleicht, daß ich die Leute durch den Pfarrer zur Wahrheit ermahnen lasse?« – »Gewiß!« erwiderte Hajek mit ernsthafter Miene, »ich halte dies für ein ebenso wirksames als würdiges Mittel!« Aber Taras schüttelte den Kopf. »Herr Kommissär«, sagte er, »es ist ein rechtes Unglück für die Gemeinde, einen solchen Pfarrer zu haben! Wie er ist, hast du selbst gesehen. Aber was sollen wir armen Bauern tun? Wir müssen uns bemühen, seine heiligen Weihen zu achten, da wir ihn selbst nicht achten können. Darum vermeiden wir jede Gelegenheit, wo er uns lächerlich erscheinen muß, denn es tut nicht gut, wenn die Leute sich daran gewöhnen, ihren Pfarrer zu verspotten. Beim allmächtigen Gott, Herr Kommissär, es tut nicht gut! Und nun entscheide du, ob es schicklich ist, daß er jetzt eine Predigt an die Leute halte. Ich meine: ein Schwur ist eine ernste Sache, eine furchtbar ernste, Herr Kommissär!«

Kaplonski atmete erleichtert auf. Die Bauern waren ja die Kläger; wenn es ihnen erwünscht war, daß eine fernere Ermahnung unterbleibe, so war er jedenfalls außer Verantwortung. Er trat vor. »Wir schreiten also zur Vornahme der Eide!« Die Leute entblößten ihr Haupt, er tat desgleichen. Dann sagte er den Bauern noch einmal vor, was sie beeiden sollten. Und darauf traten sie der Reihe nach vor das Kruzifix, gaben ihren Namen an, erhoben mit den Worten: »Ich schwöre« die drei Finger der Rechten und konnten wieder gehen. Dann kamen die Anhänger des Mandatars an die Reihe und waren gleichfalls im Handumdrehen fertig.

Der Kommissär zog seine Uhr. »Eine Stunde vierzig Minuten!« murmelte er triumphierend. Dann lüpfte er abermals den Hut zum Gruße, bestieg hastig seinen Wagen und fuhr davon.

 


 << zurück weiter >>