Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

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Fünftes Kapitel

Der Herbst pflegt in diesen Vorbergen die schönste Jahreszeit zu sein, die einzig schöne. Denn der Winter ist lang, bang und schaurig, der Frühling kühl und von kurzer Dauer, der Sommer übermäßig heiß und fast täglich durch Gewitter getrübt. So zeigt die Natur in diesem Anland des Waldgebirgs nur im Herbste ein mildes, freundliches Antlitz; die Sonne scheint stetig und warm, die Lüfte sind fast unbewegt und von unsäglicher Klarheit, und dieses sanfte Prangen dauert lange, oft bis tief in den November hinein. In jenem Jahre war es anders; schon um Maria Geburt zogen die Vögel von dannen, die Erde wurde jählings kahl und fahl, die Sonne verbarg sich hinter schwerem Dunstgewölk, und schon vierzehn Tage nach jenem Fest, am Tage der heiligen Thekla, schwammen die ersten Schneeflocken in der trüben, grauen Luft. Dann kamen einige heitere, aber bitter kalte Tage und wieder ein Schneefall, Stunde um Stunde, Tag um Tag; die graue Dämmerung schien nicht enden zu wollen. Bang und mißmutig saßen die Leute in ihren Hütten; der frühe Winter erschreckte sie, noch mehr die Erzählungen der alten Leute von dem grausamen Winter, der mehr als vierzig Jahre vorher, 1792, diese Landschaft heimgesucht und gleichfalls schon an jenem Festtage begonnen. Damals war die Kälte im Gebirge so hoch gestiegen, daß die Menschen kaum mehr ins Freie zu treten wagten, weil ihnen jeder Atemzug schmerzhaft in die Lungen schnitt und die Glieder nach wenigen Minuten erstarrten. Und so hoch hatte sich damals der Schnee getürmt, daß die Leute in den Einschichten selbst dann, wenn die Kälte zeitweilig nachließ, sich den Weg zur Kirche und Schenke nicht bahnen konnten; es war das Gräßliche geschehen, daß ein altes kinderloses Ehepaar in seiner Einsamkeit verhungerte. So steht es in den Chroniken geschrieben, aber die Greise von Zulawce waren eben nicht anders als die Greise der übrigen bewohnten Welt und stellten ihre Erlebnisse noch viel furchtbarer dar, als diese ohnehin gewesen. Die Gespenster der Furcht wurden wach in den niedrigen Hütten und legten sich lastend auf die Gemüter.

Aber das waren nicht die einzigen bösen Gäste, die mit dem Winter kamen; auch die Not hielt ihren Einzug. Der Ertrag ihres Gemeindeackers war ja den Leuten zur Hälfte geraubt worden, und schon dieser Entgang hätte sie schwer genug getroffen. Nun war noch zudem die Ernte eine kümmerliche gewesen, und die furchtbare Kälte drohte die Winterfrucht zu zerstören. So gesellte sich zu der Bedrängnis des Augenblicks die Sorge um die Zukunft. Wäre solcher Kummer über die Bewohner der Ebene gekommen, sie hätten still geklagt und das Haupt demütig vor Gott gebeugt. Anders die wilden, trotzigen Männer von Zulawce; in starken Naturen schlägt der Kummer leicht in Zorn um. Grimmig lehnten sie sich gegen ihr Geschick auf und suchten nach einem Opfer, dem sie die Verantwortung aufbürden konnten. Es war leicht gefunden, denn wer anders, meinten sie, habe den Verlust des Ackers verschuldet als Taras? Das waren schwere Tage für den Richter, und kaum hätte er ihren Druck zu ertragen vermocht, wenn ihn nicht die felsenfeste Überzeugung beseelt hätte, daß jeder nächste Tag die günstige Entscheidung des Kreisamtes bringen werde, bringen müsse. So gewann er die Kraft, Tag um Tag seine harte Pflicht zu erfüllen. Der Mandatar forderte erbarmungslos, was ihm irgend zukam; die Gemeinde konnte oder wollte es nicht leisten. Sprach Taras den Leuten gütig zu, die Waldrobot zu tun, die auch diesmal an den Forstmeister von Prinkowce vermietet war, so entgegneten sie ihm finster: »Das ist nicht unsere Schuldigkeit, und wohin es führt, wenn man gegen den Böhmen nachgiebig ist, solltest du wissen! Auch können wir nicht arbeiten, die Entbehrung hat uns schwach gemacht. Hätten wir die Frucht zu verzehren, die zwischen Kreuz und Fluß gewachsen ist, wir wollten nicht klagen.« Erklärte er ihnen darauf, daß er das Amt nun nicht weiter führen könne, so lachten sie höhnisch: »Unser Väterchen Stefan, der leider im Grabe ruht, war Richter für gute und böse Tage; willst du es nur für die guten sein?« Diese Worte wirkten auf ihn tiefer als die leidenschaftlichen Beschwörungen seines Weibes; er beschloß auszuharren, und da es nicht anders ging, so ließ er die Waldrobot durch seine Knechte leisten oder durch Tagelöhner, die er aus eigenem Gelde bezahlte. »Wir sind ja wohlhabend«, tröstete er sein Weib, »und wenn ich die Schuldigkeit für die Gemeinde abtrage, so greife ich dadurch nicht die Mitgift an, die du mir zugebracht hast; ich habe sie ehrlich durch meinen Fleiß gemehrt. Auch werde ich mit Recht Ersatz fordern dürfen, wenn bessere Tage kommen. Gott muß ja ein Einsehen haben und diese Drangsal wieder von uns nehmen, wie er sie geschickt hat. Und auch die Schreiber des Kaisers müssen die Sache endlich entscheiden und dem Dorfe zusprechen, was ihm gebührt.« Aber diese Entscheidung wollte noch immer nicht kommen. Die Wochen verrannen langsam, in Not und Mißmut, auch das Weihnachtsfest wurde trübselig genug begangen. Denn stetig währten die Schneestürme fort, und wenn sich zeitweilig der Himmel klärte, so brach auch die Kälte doppelt bitter ein.

Endlich, am Dreikönigstage 1837, nahm wenigstens diese Unbill des Wetters ein Ende. Schon in der ersten Frühe wurden die Leute durch ein seltsames Brausen in den Lüften erweckt, und als sie bestürzt ins Freie eilten, da schlug es ihnen warm entgegen; es war der Südwind, den sie so sehnsüchtig erhofft hatten. Er währte nicht lange genug, um die ungeheuren Schneemassen zum jähen Schmelzen zu bringen, kaum zwei Stunden hindurch, aber auch nachdem er verstummt war, hob sich die Kälte nur unmerklich wieder. In freudiger Erregung ging alt und jung zur Kirche; Männer, die seit Jahren durch Feindschaft geschieden waren, nickten einander fröhlich zu, wenn sich ihre Blicke begegneten; auch den Taras begrüßten überall so freundliche Worte, wie er sie seit jenem traurigen Apriltag von keinem mehr gehört hatte. So stark und allgemein war dieses Gefühl der Entlastung, der Dankbarkeit für Gottes Erbarmen, daß es selbst den Pfarrer erfaßte und aus dem traurigen Zustand emporhob, in den er seit langem geraten war. Denn als sich die Leute nach der Messe entfernen wollten, weil er ihnen ja seit Jahren die Predigt schuldig geblieben war, da geschah das Unerwartete, daß er sie zu verweilen bat, die Kanzel bestieg und zu reden begann. Sie war kein Meisterwerk, diese Predigt, aber sie gab der Empfindung Ausdruck, die aller Herzen erfüllte, und darum rührte sie alle Herzen . . .

Es war eine gute Stimmung unter den Leuten, als sie aus der Kirche traten und, wie gewöhnlich, auf dem Platz um die Dorflinde zusammenstanden. Das Wetter wurde beredet, die Predigt, der Prozeß. »Wer weiß«, hörte man selbst diejenigen sagen, die dem Taras das Leben am schwersten gemacht hatten, »vielleicht wird noch alles wieder gut.« Am fröhlichsten war Taras selbst. Er ging unter den Männern umher, gab und empfing freundliche Worte. »Wir wollen auf Gott vertrauen«, sagte er. »Wie er die tödliche Kälte von uns genommen hat, so wird er auch das Unrecht abwenden. Mir sagt es mein Herz: die Entscheidung ist gewiß schon unterwegs und wird bald eintreffen.«

Kaum hatte er dies gesprochen, als sich etwas begab, was in Komödien häufig, im Leben selten zu geschehen pflegt: die sofortige Erfüllung seines Wunsches. Vom Pruth her, die Dorfstraße empor, kam ein Schlitten, dessen Gespann ein Bauer lenkte, während auf dem Rücksitz ein runder, dicht zusammengerollter Ballen Pelzwerk lag. Von einem Menschen war nichts zu gewahren, bis der Schlitten mitten unter den Bauern anhielt. Da begann sich der Ballen zu bewegen, wälzte einen riesigen Schafpelz ab, dann einen Fuchspelz, bis endlich der Kern erkennbar wurde: ein kleiner, buckliger, ältlicher Mann in ärmlicher städtischer Tracht. Er richtete sich auf und fragte herablassend: »He! Ihr Leute, ist nicht der Richter unter euch?« Die Männer lachten über das putzige Männchen; Taras trat zum Schlitten. »Was wünschest du?« fragte er lächelnd. Der Fremde gab vorerst keine Antwort. Er zog aus der Tasche ein Futteral heraus, aus diesem eine mächtige Brille. Die setzte er sich würdevoll auf das gerümpfte Näschen und sagte dann, des Gekichers nicht achtend, das immer lauter erscholl, gemessen und feierlich: »Zu mir sagt man ›Herr!‹ Ich heiße Herr Michael Stupka und bin Beirat des Herrn Dr. Eugen Starkowski.«

Bebend stürzte Taras auf ihn zu und faßte ihn am Arm. »Der Prozeß ist entschieden?« stammelte er. »Du bringst die Schrift vom Advokaten?« Die Bauern drängten aufgeregt heran. »Gottlob!« riefen sie, »wir haben den Acker wieder! Hoch der Richter! Es mußte ja so kommen! Leset die Schrift vor!«

Der Schreiber wand sich unter dem eisernen Griff, der seinen Arm gefaßt hielt. »Laß los!« stöhnte er. »Freilich ist der Prozeß entschieden, aber . . .« Er stockte verlegen, die erregte Menge machte ihn bangen. Taras wurde fahl. Mit starker Faust faßte er das Männchen an der Brust, hob es vom Schlitten empor und stellte es dicht vor sich hin. »Gewonnen?« rief er, »er muß ja gewonnen sein!«

»Ich bin nicht schuld daran!« jammerte der Kleine. »Bin ich unter Wilde geraten? Laß los! Ich bin ja nur Beirat oder eigentlich nur Schreiber! . . . Der Herr Doktor hat sich alle Mühe gegeben! . . . Übrigens ist ja das Judicium primae instantiae nicht entscheidend.«

Die letzten Worte hatte Taras sicherlich nicht verstanden, aber wohl ebensowenig die früheren. Sein Antlitz war verzerrt, er wankte wie ein Trunkener. »Verloren?« rief er; das Wort entrang sich nur in heiserem Flüstern seiner zusammengepreßten Kehle. Aber um so lauter riefen es die Bauern und drängten ungestüm heran.

Der Schreiber hatte inzwischen zwei Briefe hervorgezogen. »Da! Das Urteil des Kreisamtes und ein Schreiben des Herrn Doktors.«

Taras hatte sich mühsam gefaßt. »Wir können nicht lesen«, sagte er dumpf. »Du mußt uns sagen, was in den Schriften steht. Wem ist der Acker zugesprochen?«

Es schien Herrn Stupka nicht klug, auf diese Frage zu antworten. Er brach das Amtssiegel. »Ja, ja, liebe Leute«, versicherte er eifrig, »sehr gerne will ich es euch vorlesen und übersetzen . . .«

Aber Taras fiel ihm ins Wort. »Wem?« wiederholte er seine Frage.

»Nun, allerdings«, stotterte der Schreiber, »so gewissermaßen – der Herrschaft!«

»Du lügst!« rief Taras wild und gellend. Aber die anderen Männer lachten höhnisch auf: »Uns hast du es nicht glauben wollen, daß ein Prozeß vergeblich ist, so glaube es doch dem Urteil!«

Wütend, seiner Sinne nicht mehr mächtig, ballte der Richter seine Fäuste gegen die Spötter. Aber die beiden Ältesten traten hinzu und hielten ihn zurück. »Fasse dich«, bat Simeon, sein treuester Freund. »Was etwa zu geschehen hat, wollen wir später erwägen. Höre vorerst das Urteil an!«

Der Schreiber entfaltete das Dokument. »Im Namen des Kaisers!« begann er laut und feierlich die Eingangsformel zu übersetzen. Die Bauern entblößten ehrfurchtsvoll das Haupt, nur Taras rührte nicht an seine Pelzmütze. Simeon machte ihn leise darauf aufmerksam, aber er schüttelte finster den Kopf. Der Freund blickte ihn scheu an und trat einen Schritt von ihm zurück. Die anderen jedoch bemerkten es nicht, sie horchten dem Urteil.

Es war ein langes, gründliches, wohlmotiviertes Aktenstück, natürlich in deutscher Sprache verfaßt, die ja damals die allgemeine Gerichtssprache in Österreich war. Es war nicht leicht, den sonderbar gewundenen Kurialstil in schlichtes Ruthenisch zu übersetzen; aber Herr Michael Stupka wußte als gewiegter, praktischer Jurist diese Schwierigkeiten mühelos zu bewältigen. Das Urteil wies die Klage der Gemeinde ab. Der tatsächliche Besitz und der Wortlaut der Gutsbeschreibung sprächen für die Herrschaft, gegen diese nur die Eide der Bauern. Aber diese Eide seien durch Gegeneide entkräftet. Das Kreisamt habe in dieser zivilrechtlichen Sache nicht zu verfolgen, ob eine der Parteien einen bewußten Meineid geschworen habe; wohl aber sei es ihm Pflicht gewesen klarzustellen, welchem der Eide höhere Glaubwürdigkeit und Beweiskraft beizumessen sei. Die Entscheidung müsse zu Gunsten der Herrschaft lauten. Denn erstlich sei es höchst auffallend, »daß sich dem Protokoll zufolge gerade der Richter des Dorfes gegen eine Vermahnung durch den Pfarrer ausgesprochen habe . . .«

Bis zu dieser Stelle hatte Taras schweigend und regungslos gehorcht. Nun aber überlief ein Zittern seinen Körper; die Fäuste ballten sich. »Ihr Schlangen«, keuchte er, »ihr giftigen Schlangen!«

»Schweige!« bat ihn Simeon flehentlich und legte den Arm um den Wankenden. Aber der Richter brachte ohnehin keinen Laut mehr hervor; seine Augen schlossen sich, er schien einer Ohnmacht nahe.

Zweitens aber, fuhr der Schreiber zu erläutern fort, seien unter den Zeugen für die Herrschaft auch Hausväter des Dorfes, also Männer, die dadurch ihren eigenen Vorteil geschädigt hätten. Um so höher sei ihr Eid anzuschlagen. In Anbetracht all dieser Gründe werde die Gemeinde abgewiesen und in die Kosten verurteilt – »von rechtswegen!«

»Von rechtswegen!« wiederholten die Männer höhnisch. Nur Taras blieb stumm. Er griff sich ans Herz und schlug zu Boden, plump und schwer, als hätte ihn ein Blitzstrahl gefällt.

Lange Stunden lag er in tiefster Ohnmacht. Sie hatten den Betäubten in sein Haus getragen; weder das Jammern seines Weibes noch die Mittel, die sie anwendeten, schienen ihn wieder erwecken zu können. Und als er endlich die Augen aufschlug, da sprach er so wirre Worte, daß die Umstehenden erschraken. »Nun muß die Erde einstürzen!« rief er immer wieder, »das Heiligste ist geschändet!« Dann überkam ihn, in dessen Augen noch niemand Tränen gesehen hatte, ein heftiger Weinkrampf; er beklagte sein Los und verlangte schluchzend nach seinen Kindern, um Abschied von ihnen zu nehmen.

So stürmisch wiederholte er diesen Wunsch, daß man ihm willfahren mußte. Von Mitleid und Grauen erfüllt, verließen die Nachbarsleute die Stube; nur Simeon Pomenko durchwachte die Nacht am Lager des Kranken; die anderen aber trugen die Nachricht ins Dorf hinaus, daß der Richter wahnsinnig geworden sei.

Herr Hajek vernahm es erst am nächsten Morgen, bei seiner Heimkunft aus Zablotow, wo er die Nacht mit den Husaren-Offizieren am Pharao-Tische verbracht hatte. Der Meier Boleslaw dachte ihm dadurch eine rechte Freude zu machen und war sehr erstaunt, als der Mandatar eine finstere Miene zog. Das war keine Heuchelei; Graf Georg hatte seinen Bekanntenkreis in Paris neuerdings stark vermehrt und zu den Wucherern endlich auch die Gerichtsvollzieher gefügt; Herr Hajek brauchte Geld für ihn und nicht minder für sich selbst; da nun die eine Untat geglückt war, ließ sich ja bei nächster Gelegenheit vielleicht eine andere ausführen. Und für dieses Vorhaben mußte es sehr wertvoll sein, wenn ein Richter im Dorfe gebot, der sein eigenes Leben einsetzte, um Gewalttat zu verhüten.

»Wahnsinnig?« fragte er darum mit aufrichtiger Betrübnis. »Es wird hoffentlich nicht so schlimm sein! Geh zu seinem Weibe und sag ihr, ich sei gern bereit, den Physikus aus Kolomea auf meine Kosten holen zu lassen.«

Der Mazure blickte ihn verblüfft an. »Herr«, sagte er dann, »mit einem Dutzend Bauern will ich es aufnehmen und meinetwegen mit dem Teufel selbst, aber was diese Anusia betrifft – Herr! Das ist eine Huzulin! Ich habe nämlich auch nur zwei Augen zu verlieren!«

Unwillig fügte er sich dem wiederholten Befehl und schlich zaghaft dem Hause des Richters zu. Als er jedoch in die Stube trat, hellte sich seine Miene auf; am Lager des Taras weilten nur die beiden Ältesten, Simeon und Alexa. Sie sprachen dem Kranken Trost zu. Aber noch immer hatte sich jenes Gewitter nicht ausgetobt, das seine Seele durchwühlte und sein Wesen scheinbar gänzlich verwandelte. Noch immer schluchzte der sonst so standhafte Mann fassungslos wie ein Kind. Seine Freunde überlief ein Grauen, als er stets von neuem klagte: »Ich habe mein Leben in Ehren geführt und muß es nun in Schmach vollenden! Was soll aus meinen Kindern werden, wenn ich ausführe, was mir nun mein Herz gebietet?«

Als der Meier eintrat, verstummte er, und das Blut stieg ihm in die bleichen Wangen. Simeon erhob sich hastig, den unwillkommenen Besuch abzuweisen, aber Taras wehrte es ihm. »Komm nur heran, mein Freund Boleslaw!« rief er bitter. »Welch freudige Nachricht hast du mir zu verkünden?« Der Meier trat näher und richtete verlegen seinen Auftrag aus. »So, einen Arzt!« wiederholte Taras. »Nun, ich bin nicht erst seit heute überzeugt, daß der Herr Mandatar ein braver Mann ist.« Dann schloß er die Augen und lag lange ruhig wie ein Schlummernder.

Unschlüssig stand der Meier da. »Soll ich –« begann er, zu dem Ältesten gewendet. Aber bei dem Klange seiner Stimme schlug Taras die Augen wieder auf. »Geh!« rief er so laut, so befehlend, daß der Riese zusammenfuhr und schleunigst die Tür suchte.

Mit seltsamem Lächeln blickte ihm Taras nach. »Gottlob!« sagte er, »diese Botschaft ist mir zur rechten Zeit gekommen. Euer Zureden, Freunde, hat nichts gefruchtet, aber der Hohn des Feindes gibt mir meine Kraft wieder. Ich will gegen mein gräßliches Geschick kämpfen, so lange ich vermag!«

»Welches gräßliche Geschick?« fragte Simeon begütigend. »So besinne dich doch! Du hast eine gerechte Sache geführt und bist in Ehren unterlegen. Das ist alles!«

»Alles!« bestätigte der Richter. »Aber eben darum, weil die Sache eine gerechte ist – doch wozu davon sprechen! Ihr habt mich wohl für krank oder wahnsinnig gehalten, als ich so fassungslos jammerte?« Die Männer blickten verlegen vor sich hin. »Nun«, fuhr er mit zitternder Stimme fort, »ich will hoffen, daß niemals die Stunde kommt, wo ihr erkennet, wie klaren Geistes ich da war! Möget ihr nie meine Tränen verstehen lernen! . . . Aber«, setzte er hinzu, »damit sich dieser Wunsch erfülle, muß ich meine Kraft wieder zusammennehmen. Ist noch der Schreiber hier?«

»Nein!« erwiderte Simeon. »Das Männchen hat mir, nachdem du hingesunken warst, hastig die beiden Schriften in die Hand gedrückt und ist davongefahren, so rasch die Pferde laufen konnten. Es hat an allen Gliedern gezittert und geschworen, solche Aufträge übernehme es sein Leben lang nicht wieder!« Taras lächelte. »Da muß der Pfarrer den Brief vorlesen«, sagte er. »Tretet vor die Haustür, ich mache mich gleich zurecht.« – »Schone dich doch!« bat Simeon. »Es gilt mein Geschick!« brauste Taras auf, und die Männer verließen die Stube.

»Was hältst du davon?« fragte Alexa seinen Gefährten, als sie vor der Tür harrten. »Das mag Gott wissen«, erwiderte Simeon bekümmert, »ich muß nur immer daran denken, daß er sein Haupt nicht entblößte, als das Urteil verlesen wurde.« Aus dem Flur vernahmen sie die Stimme der Anusia, sie wollte ihren Gatten nicht gehen lassen. »Du fällst ja um!« jammerte sie. Aber Taras, obwohl bleich im Antlitz, schritt ganz fest einher.

Die drei Männer begaben sich zu Vater Martin. Als sie die Tür des Pfarrhofs öffneten, kam ihnen seine Wirtschafterin mit verweinten Augen entgegen. Es war ein ältliches Mädchen aus dem Dorfe, Praxenia, das den kleinen Haushalt versah, seit die Gattin des Popen verschieden war. »Ach«, schluchzte sie, »wie freue ich mich, Richter, daß wenigstens du nicht verrückt bist! Nämlich, eben war die alte Hania da und hat mir erzählt: ›Denke nur, der Richter ist ganz um seinen Verstand gekommen!‹ Ach, habe ich erwidert, was sind das für böse Zeiten! Zuerst eine so grimmige Kälte und dann werden gar an einem Tage zwei Männer im Dorfe verrückt! Und was für Männer: der Pfarrer und der Richter! Denn, lieber Taras, bei dir scheint zwar, so viel ich sehe, wieder alles in Ordnung, aber mein Hochwürdiger ist wirklich seit gestern Mittag ganz verrückt!«

»Es wird nicht so schlimm sein«, tröstete Taras, »er hat wohl wieder einmal zu viel getrunken.«

»Ach nein«, schluchzte Praxenia, »das wäre ja nicht beängstigend, das ist ja alle Tage vorgekommen; es hat ihm geschmeckt, und alles war gut. Aber seit gestern hat er keinen Tropfen mehr getrunken, der arme, alte Mann, der es so gewohnt ist, sondern starrt nur immer vor sich hin und spricht dummes Zeug!«

»Hm«, meinte Simeon, »ich kenne ihn seit dreißig Jahren, das ist allerdings sehr bedenklich.«

»Nicht wahr? Ach, das habe ich ja eben der Hania gesagt und mit ganz denselben Worten, Simeon, so wahr Gott meiner Seele gnädig sei. Wißt ihr aber, wie das Unglück entstanden ist? Durch die Predigt! Höret nur! Gestern morgens trete ich zu ihm in die Stube und sage ihm, ich dummes Ding – aber warum hätte ich es ihm eigentlich nicht sagen sollen? – ›Väterchen!‹ sag' ich, ›die Kälte hat sich gebrochen, und es ist großer Jubel im Dorfe!‹ – ›Ei! Ei!‹ sagt er, ›das freut mich sehr!‹ und nimmt sich kaum Zeit, seinen Morgenschnaps zu trinken, dann schlüpft er in seinen Kaftan und läuft auf die Gasse. Nach einer halben Stunde ist er schon wieder da, ganz aufgeregt, seine Augen leuchten. ›Väterchen!‹ sag' ich zornig, ›du bist beim Avrumko gewesen, ich sehe es dir an den Augen an, und das ist gar nicht hübsch von dir, vor der Messe tut man so etwas nicht.‹ Er aber schwört, daß ich ihm Unrecht tue, nur die Freude hat ihn so aufgeregt. ›Ach, Praxenia!‹ sagt er, ›welch ein schöner Tag! Wo man hinhorcht, wird Gott gepriesen! Das hat mich so erfreut, Praxenia, ich muß heute eine Predigt halten!‹ – ›Väterchen!‹ sag' ich streng, ›das wirst du bleiben lassen. Du bringst es nicht mehr zustande, und die Leute lachen nur wie vor fünf Jahren, weißt du noch?‹ – ›Ich weiß‹, sagt er, ›aber heute wird es besser gehen‹, und läßt es sich wirklich nicht ausreden, sondern geht in die Stube, riegelt sich ein und läuft da unter lautem Gerede auf und ab, bis die Glocken läuten. Bekümmert gehe ich zur Kirche, und wie er wirklich die Treppe zur Kanzel emporsteigt, denk' ich mir: ›Steige nur, Väterchen, du wirst es bald bedauern, daß du deiner Praxenia ungehorsam warst.‹ Er aber – nun, ihr wart ja auch dabei und wißt, wie schön er gesprochen hat, ohne zu stottern, ohne sich zu schneuzen, ohne sich hinter dem Ohr zu kratzen, die erbaulichsten Worte, als hätte sie ihm Gott selbst in den Mund gelegt! Alle waren gerührt, alle! Und ich, ich gehe also ganz stolz heim, das Essen anzurichten. Heute, denk' ich, wirst du nicht mit ihm zanken, selbst wenn er gleich zum Avrumko geht und erst nachts heimkommt. Aber wie ich die Tür öffne, sitzt er schon in seiner Stube, und die Tränen rinnen ihm wie Bäche über die Wangen. ›Ach, Praxenia!‹ schluchzt er, ›Gott ist barmherziger, als ich verdiene, da läßt er mich alten, versoffenen Lumpen noch so eine Freude erleben!‹ Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, gehe in die Küche, trage das Essen auf und stelle die Karaffe mit Schnaps daneben. ›Komm, Väterchen!‹ rufe ich hinein, und er setzt sich auch gehorsam zu Tische, rührt aber keinen Bissen an, sondern starrt nur so vor sich hin. ›So trinke wenigstens ein Gläschen!‹ bitte ich. ›Nein!‹ sagt er ganz entschieden. ›Nein! Nein!‹ Da erschrecke ich sehr und denke mir gleich: sein Verstand ist verwirrt! Und so war es auch, Leute! Von Mittag bis in die tiefe Nacht lief er in seiner Stube auf und ab und sprach so allerlei heilige Sachen vor sich hin, und wenn ich fragte: ›Was machst du da, Väterchen?‹ so erwiderte er nur: ›Laß mich!‹ oder ›Die Predigt muß ja fertig werden!‹ Erst um neun Uhr flößte ich ihm etwas Suppe ein und brachte ihn zu Bette, was nicht schwer war, denn freilich ist er kaum sechzig Jahre alt, aber wenn er keinen Schnaps im Leibe hat, könnte ihn ein Kind bewältigen. ›Nun schlafe!‹ befahl ich; aber wieder gehorchte er mir nicht, sondern lag mit offenen glänzenden Augen da und flüsterte immer vor sich hin. Und so liegt er noch jetzt! Ich fürchte, es geht mit ihm zu Ende!«

Die Männer trösteten die Klagende, aber als sie in die Stube traten und sich über das Lager des Kranken beugten, da erkannten sie gleichfalls, daß er sich während dieser kurzen Frist erschrecklich verändert hatte. Das Antlitz war bleicher und schmaler geworden, die Furchen tiefer, und die Augen blickten wirr und unheimlich. Den Taras erkannte er doch sofort. »Ach! Der Richter!« flüsterte er. »Und er war siebzig Jahre ein gerechter Richter im Lande! . . . Die Glocken läuten, ich muß predigen gehen . . . Was willst du?«

»Ich wollte nach deinem Befinden fragen und dich bitten, mir einen Brief vorzulesen.«

»Einen Brief?« fragte der Pope. »Ach ja! Der Brief Pauli an die Korinther . . . ›Wenn ich mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht‹ . . . ›Die Liebe glaubt alles und hofft alles und duldet alles.‹« Er war wieder in seinen Fieberphantasien.

Unverrichteter Dinge gingen die Männer von dannen. »Es ist seltsam«, sagte Simeon mit trübem Lächeln, »unser Pope hat bei gesundem Verstande nie so erbauliche Dinge gesprochen wie jetzt . . . Du meinst wohl auch, daß er sterben wird?« Taras gab keine Antwort. »Ich muß zur Stadt«, sagte er dann, wie aus tiefen Gedanken emporfahrend. »Was alles kann in dem Briefe stehen! Ich muß mit dem Advokaten selbst sprechen, so rasch wie möglich.«

Er sagte es so entschlossenen Tones, daß sie ihm nicht zu widersprechen wagten. Auch Anusia mußte ihn gewähren lassen, so schwer es ihr fiel. »Laß die Sache ruhen!« bat sie. »Und wenn du schon ein Opfer bringen willst, so gib der Gemeinde zum Ersatz den Acker, den wir vor zwei Jahren angekauft haben. Aber wirf doch wenigstens unser gutes Geld nicht den Federfuchsern in den Rachen!« Er umarmte und küßte sie. »Du bist ein treffliches Weib«, sagte er, »aber diese Sache verstehst du nicht. Es handelt sich ja nicht bloß um das Recht der Gemeinde, sondern um mein, dein und der Kinder Los!« – »Was sprichst du da?« rief sie angstvoll. Er aber erwiderte nichts mehr, bestieg den Schlitten und fuhr zur Kreisstadt.

Als er am nächsten Tage in das Vorzimmer des Advokaten trat, fuhr Herr Stupka mit einem Angstschrei vom Stuhle auf und stürzte in das Zimmer seines Chefs. »Herr Doktor!« hörte ihn Taras angstvoll stöhnen. »Ein Gespenst . . . der Richter . . .

Lächelnd trat der Advokat seinem Besucher entgegen und begrüßte ihn herzlich. »Ich dachte mir gleich«, sagte er, »daß mein Schreiber übertrieben hat. Dich hat wohl nur die schmerzliche Enttäuschung einen Augenblick niedergeschmettert?«

»Nein!« erwiderte Taras. »Es war mehr; es war das Bewußtsein, daß dieses Urteil auch über meine Zukunft entscheidet, falls es nicht abgeändert werden kann. Dies zu erfragen, bin ich gekommen. Vielleicht steht es in deinem Brief, Herr Doktor, ich kann nicht lesen.«

»Im Brief stehen nur die Kosten verzeichnet«, erklärte Dr. Starkowski. »Hundertzwölf Gulden. Ich sage es nicht, um dich zu mahnen, du kannst die Zahlung nach Bequemlichkeit leisten. Von einem weiteren Rechtsmittel steht nichts darin. Denn zur Fortführung eines Prozesses pflege ich nur dann zu raten, wenn Aussicht auf Erfolg ist . . .«

»Herr Doktor«, sagte der Richter langsam, mit tonloser Stimme, »überlege wohl, was du sagst!«

Dieser Ton und das entstellte Antlitz des Mannes befremdeten den Anwalt. »Ich kann mich ja irren«, sagte er. »Aber die Vernehmung der Zeugen hat schlimmen Erfolg für uns gehabt, obwohl sie, nach dem Protokoll zu schließen, sehr gewissenhaft durchgeführt wurde.«

»Gewissenhaft!« rief Taras und erzählte dann ruhigen Tones die Szene vor der Schenke und wie man im Dorfe den Kaufpreis nenne, den der Mandatar jedem der Lumpe und Schelme für ihren Eid bezahlt habe. »Hilf mir, Herr, in meiner Not!« schloß er.

Die schlichten Worte, fast tonlos geflüstert, wirkten auf den Advokaten stärker als jede Beschwörung. Vielleicht hatte den alten, wackeren Herrn die Überzeugung von der Heiligkeit seines Berufes nie vorher so tief ergriffen als bei der Erzählung dieses Bauers, vielleicht niemals war sein Wunsch heißer, ein Helfer zu werden. Er versprach dem Richter, sofort den Rekurs an das Gubernium zu richten und eine nochmalige Vernehmung zu beantragen. »Wohl stünde uns«, erklärte er ihm, »noch ein anderes, rascheres Rechtsmittel zu Gebote: du könntest die Anzeige wegen Meineids erstatten. Aber wenn uns der Wahrheitsbeweis nicht gelingt, so kommst du als Verleumder selbst in den Kerker. Dieser Gefahr mag ich dich nicht aussetzen und wähle darum den andern Weg.«

»Tue, wie dir recht scheint!« erwiderte Taras. »Ich glaube allen deinen Worten. Aber was ist das für eine Welt, wo man in den Kerker kommen kann, wenn man die Wahrheit behauptet? Ist nicht alles auf Recht und Wahrheit gegründet? Kann die Erde noch bestehen, wenn Lüge und Unrecht siegen?«

Der Advokat wußte sicherlich die rechte Antwort auf diese Frage, eine traurige, bittere Antwort, aber er wagte sie diesem Manne nicht zu verkünden. So begnügte er sich denn, ihm nochmals treueste Verwendung für die Sache zu versprechen, und entwarf wirklich schon am nächsten Tage, von einer Empfindung gedrängt, deren er sich selbst kaum für fähig gehalten hätte, die Berufung an das Obergericht, während Taras mit seinem Knechte wieder der Heimat zufuhr.

Als die beiden am Abend in die Nähe des Pruth kamen, vernahmen sie vom Dorfe her das Geläute der Glocken und sahen am Abhang gegen Prinkowce roten Lichtschein durch den Nebel schimmern. »Feuer!« rief der Knecht erschreckt und hielt die Rosse an. Taras spähte hin, dann zog er die Mütze vom Haupte und bekreuzte sich andächtig. »Fahr zu!« befahl er. »Es ist Fackelglanz vom Friedhof. Sie begraben unsern Popen!«

So war es auch. Vater Martin war am Morgen verschieden, und schon am Abend betteten sie ihn zur Ruhe, wie dies damals allgemeiner Brauch war in den Bergen. Man vernahm kaum eine Klage an seiner Bahre, wohl nur der Schmerz der Praxenia war ein aufrichtiger. »Ach, ihr Leute!« schluchzte sie immer wieder, »an der Predigt ist er gestorben und nicht, wie der Arzt sagt, an Altersschwäche.« Aber die Bauern glaubten weder dem Arzte noch der Wirtschafterin, sie hatten ihre eigene Meinung. »Der schlechte Schnaps des Avrumko«, sagten sie, »läßt die Leute nicht alt werden. Würde er gutes, starkes, ungewässertes Getränk ausschenken, wir könnten alle hundert Jahre leben, gleich unseren Vorvätern.«

Wie gering auch die Trauer um den alten Herrn war, sie lenkte doch die Aufmerksamkeit der Leute von dem verlorenen Prozesse ab, und noch lebhafter beschäftigte alle Gemüter die Frage, welchen Wesens sein Nachfolger sein würde. Das war wahrlich nicht bloße Neugier; ein Seelsorger jener Landschaft bedeutet für seine Pfarrkinder ein gut Stück ihres Schicksals, und sie müssen auch dieses tatlos erwarten; ein Einfluß auf die Wahl steht ihnen nicht zu. Aber die Bewohner von Zulawce hatten nicht lange zu harren und konnten mit der Entscheidung wohl zufrieden sein.

Schon nach drei Wochen zog in das verödete Haus ein junger Pope ein, Leo Woronczuk mit Namen, der bis dahin in Borkowka, einem Dörfchen der Ebene, als Vikar gewirkt hatte. Es sprach sehr für ihn, daß ihm die Männer von Borkowka fünf Meilen weit das Geleite gaben, bis zur Pruthbrücke, wo ihn Taras an der Spitze der Bauern empfing. Und noch mehr gewann es ihm die Herzen, daß der junge, stattliche Mann nicht allein kam, sondern mit einer blühenden, runden Gattin und drei roten, dicken Bübchen. Gegen einen ledigen Pfarrer, einen Witwer oder einen Mönch des Basilianer-Ordens haben die Bauern in Ostgalizien immer ein Vorurteil; sie meinen, das sei ein halber Mensch, der anderer Leid und Glück, Sorgen und Gedeihen nicht recht verstehen könne. Vater Leo verstand dies alles, und nicht bloß deshalb, weil er Weib und Kind hatte. Er war kein Ausbund von Gelehrsamkeit, dieser arme Dorfpfarrer, keine Musterkarte aller Tugenden, er war ein Mensch mit menschlichen Schwächen, aber er hatte ein warmes Herz, und wenn auch der Kreis seiner Anschauungen nicht allzuweit über den seiner Bauern hinausreichte, so beherrschte er doch diese kleinen, engen Verhältnisse mit scharfem Verstande. Nur zögernd hatte er die neue Stelle angetreten, dem Zwange der Verhältnisse gehorchend, weil das kärglich besoldete Vikariat die wachsende Familie nicht mehr ernähren konnte. Was vielleicht eine höher geartete, eine Apostelnatur gelockt hätte: der schlimme Ruf, den die Männer von Zulawce in der Ebene hatten, schreckte ihn; er fühlte nicht den unwiderstehlichen Drang gutzumachen, was Vater Martin verschuldet hatte; ihm wäre es weit lieber gewesen, wenn er der Führer einer Gemeinde hätte werden können, in welcher nicht ein so furchtbares Zeichen sittlicher Fäulnis sichtbar geworden war: der gemeinsam abgelegte Meineid vieler Menschen. Aber nachdem er sich dem Wunsche seiner Vorgesetzten gefügt hatte, stand der eherne Entschluß in ihm fest, auch hier seine Pflicht zu tun, ohne Rücksicht darauf, daß sie hier weit schwerer war als anderwärts.

Vor allem mühte er sich, die Aufgabe zu erkennen, die er zu lösen hatte, festzustellen, wie breit und tief jene sittliche Verderbnis wurzle. Er tat dies still und geräuschlos, ohne um das Vertrauen der Leute zu buhlen, ohne ihnen eindringlich Himmel und Hölle auszumalen. Auch seine Predigten waren schlicht, fast alltäglich. »Das könnte ja ein Bauer auch!« meinten die Zuhörer, weil er auf der Kanzel weder schluchzte noch donnerte. Aber allmählich erkannten sie doch, daß sich aus diesen prunklosen Reden manches gute Wort mitnehmen ließ, während auch er sich bald zu seiner Freude sagen konnte, daß diese Menschen weitaus besser seien als ihr Ruf. Denn neben dem Hauptlaster, das in jener Gegend so allgemein ist wie Luft und Wasser, der Trunksucht, befleckte sie doch eigentlich nur ihr Hang zu trotziger Gewalttat. Gewissenlos fand er sie nicht, ihr Rechtsgefühl war ein reges, wenn auch etwas getrübt durch den ungezähmten, egoistischen Instinkt des Naturmenschen. Welche Partei im September des Vorjahres den rechten Eid, welche den Meineid abgelegt hatte, war dem Pfarrer bereits nach wenigen Wochen klar, obwohl er es vermied, jeden einzelnen aufzugreifen und ihm ins Gewissen zu sprechen. Es war freilich nur eben eine moralische Überzeugung, gleichwohl war ihm zumute, als könnte er selbst einen Eid darauf ablegen, daß das schwarze Kreuz erst im Sommer 1821 in der Mitte des Gemeindeackers aufgerichtet worden sei. Aber wie stark auch sein ehrliches Herz die Empörung über den Frevel empfand, der hier geschehen war, den doppelten Frevel am Eigentum und an der Gewissensruhe armer, roher, leicht zu mißleitender Menschen, so dämmte er doch sein Empfinden zurück und verriet dem Mandatar mit keinem Wort, mit keiner Miene den Abscheu, den er gegen ihn empfand. Nicht etwa dem Eigennutz entsprang diese Zurückhaltung, sondern der Erkenntnis, daß er dem Recht und dem Frieden in der Gemeinde vorläufig weit mehr nützen konnte, wenn er den Schurken durch sein Benehmen zwang, den Schein der Wohlanständigkeit festzuhalten. In der Tat ließ sich Herr Hajek täuschen. Er hielt den Popen für einen biederen, aber beschränkten Mann und behandelte ihn darnach, indem er ihn mit Schmeicheleien überhäufte, ihm in kleinen Dingen einen vermittelnden Einfluß gönnte. Wenn Vater Leo im Schlosse erschien, um die Erleichterung einer Abgabe für die Gemeinde zu erwirken, gab Herr Hajek gerne nach. »Ich habe ja nur immer den Frieden gewollt«, beteuerte er. Denn so lange der Prozeß währte und damit auch die Gefahr einer neuen Vernehmung, kam es ihm viel darauf an, von dem Popen für einen edelmütigen Mann gehalten zu werden, dem nicht einmal Härte zuzutrauen war, geschweige denn Verleitung zum Meineid.

So gewann Taras an dem Popen unvermutet einen Helfer und allmählich noch mehr: einen ehrlichen Freund. Der verdüsterte Mann hatte auf dieses Glück kaum mehr zu hoffen gewagt und gab sich ihm nur zaghaft hin. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern gestaltete sich bei aller Innigkeit ganz eigentümlich; das letzte, tiefste Wort blieb unausgesprochen, weil jedem im Grunde doch das volle Verständnis für die Eigenart des anderen fehlte.

Je näher der Pope dem Richter trat, desto größer war seine Freude darüber, daß er auch einem solchen Menschen auf Erden begegnen durfte, so ohne Falsch und Makel und eigennützige Regung, nur vom eigenen Rechts- und Pflichtgefühl in seinem Handeln geleitet, dem Glauben an eine sittliche Weltordnung mit grenzenlosem Vertrauen hingegeben. ›Das ist ein echter Christ!‹ dachte der Pope, aber zuweilen überkam ihn auch, ihm selbst unerklärlich, der ketzerische Gedanke: ›Dieser Mensch brauchte nicht einmal den Glauben an ein künftiges Leben, um so zu sein, wie er ist!‹ Zweifelnd schwankte er zwischen diesen Gedanken, aber unerschütterlich blieb seine Freude an dem reinen Menschen und der Wunsch, ihm hilfreich zu sein. Darum suchte er ihm die schwere Last des Verkehrs mit dem Mandatar nach Kräften zu erleichtern und ward nicht müde, die Männer des Dorfes aufzuklären, wie rechtlich sich ihr Richter immer benommen habe. Es war in der Art, wie der junge Pope für seinen älteren Freund eintrat, etwas von der Zärtlichkeit des Vaters für sein Kind. In der Tat erschien ihm Taras oft nur wie ein guter, unverdorbener Knabe. ›Ich würde ihn ganz verstehen‹, dachte er, ›wenn er erst vierzehn Jahre alt wäre!‹ Größer als sein Wohlwollen war sein Staunen darüber, wie dieser Mann noch immer den Lauf der Welt und das Wesen der Menschen so wenig kannte. Wenigstens glaubte er dies aus allen seinen Handlungen zu erkennen, was nun freilich ein großer Irrtum war.

Dem Richter fehlte nicht die Fähigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie waren, wohl aber die Fähigkeit, diese Erkenntnis irgendwie zu nützen. Er gehörte zu den seltenen Menschen, denen vom Schicksal auferlegt ist, nur dem Zwange ihrer eigenen Natur folgen zu müssen, zu den Menschen, die eben darum durch keine Riesenhand gebeugt, aber oft mit lächerlich geringer Mühe gebrochen werden können. Trauriges geschieht oft, Tragisches selten; die wenigen reinen, echten Trauerspiele, die das Schicksal auf Erden dichtet, haben stets solche Menschen zu Helden . . .

Auch Taras verstand seinen neuen Freund nicht ganz. Er hätte die Stunde, wo Leo ins Dorf gekommen, auch dann gesegnet, wenn ihm dieser fremd geblieben wäre. Denn schmerzlicher als die anderen Bauern hatte er die unwürdige Führung des Toten empfunden, weil sein Instinkt für das Rechte und Gute schärfer war; sein Herz empfand es als etwas Entsetzliches, daß der Richter eines Dorfes aus Ehrfurcht für die Heiligkeit des Eides eine Ermahnung des Seelsorgers hatte vereiteln müssen! Nun war mindestens diese Last von ihm genommen, im Pfarrhofe saß ein verständiger, pflichteifriger Mann, und als sich dieser Wackere ihm zudem in Wort und Tat herzlich erwies, da steigerte sich sein Dank zu grenzenloser Ergebenheit. Aber auch er empfand trotz alledem ein leises Staunen über die Art des andern. Wenn der Pope einen verlotterten Menschen vermahnte, so pflegte er ihm stets nur einen bestimmten Fehler vorzurücken: »Du bist in allem ein braver Mann; aber du vergeudest dein Gut beim Avrumko; lege dies eine ab!« Das ist ja eine Lüge, dachte Taras, der Mensch ist noch durch viele andere Laster befleckt, der Pope weiß es so genau wie ich; darf ein Mann lügen, wenn auch um eines guten Zweckes willen? Schlichtete Vater Leo einen Streit zweier Hausväter, so legte er beiden eindringlich das Wort der Bergpredigt ans Herz: »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen!« Er mühte sich, einen Vergleich zu ermöglichen, auch wenn der eine der Streitenden aus bösem Willen des andern Gut begehrte; darf ein Mann, fragte sich Taras, Unrecht herbeiführen, wenngleich in reinster Absicht? Wollte der Pope von dem Mandatar eine Begünstigung für die Gemeinde erlangen, so hörte er nicht bloß geduldig das reiche Selbstlob des Schurken an, sondern fügte noch gern ein Wort aus Eigenem hinzu; darf man aus Barmherzigkeit heucheln? fragte sich der Richter. Und als sie eines Tages von einem solchen schweren Gange heimkehrten, da trat ihm diese lang und bang im Herzen gehegte Frage laut auf die Lippen.

Der Pope lächelte. »Es steht im Evangelium geschrieben: ›Seid klug wie die Schlange.‹« – »›Und ohne Falsch wie die Taube!‹ Das steht dort gleichfalls geschrieben!« – »Gewiß!« sagte der Pope, »und ich handle darnach. Falsch ist, wer einen andern trügt, um ihn zu schädigen! Das tue ich niemals; stets will ich das Gute fördern, das Schlimme bekämpfen; aber weil ich leider nicht mit Engeln zu tun habe, sondern mit Menschen, so wende ich eben menschliche Mittel an.« – Taras schüttelte den Kopf. »So wäre Trug«, sagte er, »doch zuweilen ein erlaubtes Mittel, einer guten Sache zu nützen?« – »Niemals!« erwiderte der Pope. »Aber wenn ich einen Schlechten dadurch vom Bösen abhalte, daß ich ihn nicht verachtungsvoll, sondern freundlich behandle, so schädige ich ihn nicht, noch trüge ich ihn, im Gegenteil, ich nütze ihm!« Der Richter ging lange schweigend neben dem Freunde her, dann sagte er leise, aber fest: »Verzeih, Trug bleibt Trug! Ich verstehe dich nicht!« – »Leider!« erwiderte der Pope und blickte voll zärtlichen Mitleids zu dem Riesen empor . . . ›Das große Kind!‹ dachte er.

Welche Schatten schon damals über dem Manne lagen, das wußte auch Leo nicht. Nur zuweilen überkam ihn die Ahnung, daß dieses kindlich reine Herz hilflos im Banne dunkler Gewalten liege. Er schloß es aus äußeren Zeichen: Taras lächelte selten, versank, wenn er sich unbeachtet glaubte, in starres Brüten, und in sein kräftiges Antlitz gruben sich früh die Furchen der Sorge. Auch kam zuweilen Anusia ins Pfarrhaus und klagte da ihr Leid: »Er schläft kaum mehr, grämt sich bei Tag und Nacht und kommt um die Kräfte.« – »Aber was kann es sein?« fragte der Pope. – »Nun, der verdammte Prozeß!« schluchzte das leidenschaftliche Weib und ballte die Fäuste: »Ich wollte, ich könnte den Mandatar erwürgen und des Kaisers Schreiber dazu!« Der Pope verwies ihr die Rede, hielt auch ihre Vermutung für irrig. »Der Prozeß kann es nicht sein«, sagte er. »Taras spricht ruhig darüber und hofft mit Zuversicht auf ein günstiges Urteil des Guberniums. Was ihn bedrückt, kann nur das getrübte Verhältnis zum Mandatar und zur Gemeinde sein, und dieses bessert sich jetzt zusehends – durch mein Zutun«, fügte er mit einigem Selbstgefühl hinzu.

Der brave Mann ahnte nicht, daß er dem Freunde nur eine äußerliche Last erleichterte, jene, die diesem gleichsam nur auf den Schultern lag und die er ohnehin hätte ertragen können, während dem stillen Dulder eine andere, schwerere Last fast das Herz abdrückte. Denn Taras schwieg gegen jedermann, auch gegen seinen Seelenhirten, weil er wohl fühlte, daß der Widerstreit ihrer Naturen eine Verständigung über tiefgeheimste Empfindungen unmöglich mache. »Er würde traurig werden«, dachte er, »traurig und zornig, aber überreden könnte er mich nicht. Das könnte überhaupt kein Mensch, vielleicht nicht einmal Gott. Denn wenn er ruhig zusieht, wie auf Erden Unrecht geschieht, dann muß er auch die Folgen geschehen lassen!«

Es stand schon damals schlimm um Taras, sehr schlimm. Er war äußerlich ruhig geworden, aber der furchtbare Gedanke, der ihn bei der Verkündigung jenes Urteils so fassungslos niedergeworfen hatte, blieb in ihm lebendig. Dieser Gedanke wuchs nicht an in den langen, schweren Monden, die nun folgten, aber er minderte sich auch nicht. Während er so Tag um Tag seine Pflicht erfüllte und des Bescheides aus Lemberg harrte, war ihm zumute wie einem Wanderer, der in dumpfer Gewitterschwüle über die endlose Heide zieht. Bleiern und unbewegt ist die Luft, dicht hangen die schweren, dunklen Wolken hernieder, bange schreitet der Wanderer durch die unheimliche Öde, dem losbrechenden Wetter, dem tödlichen Blitzstrahl entgegen. Nirgendwo ein schützendes Obdach, er muß durch die Schwüle weiter hasten, vielleicht dem Tode zu; seine einzige Hoffnung ist, daß sich urplötzlich der Ostwind erhebe und die Wolken verjage . . . Aber wie soll er auf diesen rettenden Windstoß hoffen, während die heiße, stille Luft sich ermattend um seine Glieder schmiegt und die Wolken ewig drohend zu seinen Häupten stehen? So zieht er gebeugten Hauptes seinen Pfad, müde, hoffnungslos, der Gefahr entgegen . . .

 


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