Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

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Zehntes Kapitel

Wie ein ungeheurer Grenzwall, hier steil emporgeballt, dort sacht aufgebaut, ziehen sich die Karpaten zwischen den beiden Ebenen dahin: dem bräunlich fahlen Tiefland, durch das die Theiß rinnt, und dem gewaltigen ostslawischen Steppen- und Ackerlande, das südwärts, über den Pruth hinweg, nach Rumänien hinübergreift, bis an und über die Ufer der Aluta. Um diese blaugrünen Kuppen flattert das Gewölk, das sich dann, vom Sturme gehäuft und getrieben, über dem Madjaren oder Ruthenen entlädt, wie es dem launischen Windstoß beliebt; in diesen umwaldeten Schluchten werden all die Flüsse geboren, die zuerst pfeilschnell und kristallhell, dann immer langsamer und trüber die Ebenen durchrinnen. So ist dieses Waldgebirg der gemeinsame Wetter- und Wasserspender für alle Lande und Völker zu seinen Füßen, und gemeinsam ist ihnen auch die Legende, wie und warum einst der riesige Wall aufgerichtet worden. In allen Zungen erklingt diese Legende, und es ist ihr nicht abzusehen, ob sie zuerst im Hirne des Slawen, des Madjaren oder des Rumänen geboren worden ist.

Als der liebe alte Herrgott, erzählen sie, zuerst diese Erde schuf, da war sie ein blühender Fruchtgarten, durchaus eben, nur zuweilen rauschte auf sanftem Hügel ein kühler Hain dazwischen. Es gab keine Berge und keine wilden Tiere, kein Gewitter und keine Wassernot, auch keine verschiedenen Grenzmarken und Sprachen. Vergnüglich lebten die Menschen dahin, redeten eine Zunge und nährten sich von den Früchten dieser schönen Ebene, und wenn der gute Herrgott alljährlich im Herbste in Gestalt eines freundlichen alten Mannes mit langem weißem Barte zu ihnen auf Besuch kam, so bewirteten sie ihn und jubelten ihm dankbar zu. Aber weil es ihnen so gut ging, so wurden sie leider sehr übermütig und verschworen sich insgesamt, vom lieben Herrgott bei seinem nächsten Besuche noch mehr zu fordern, nämlich, daß das Getreide von selber aus der Erde wüchse, ohne jegliche Arbeit der Menschen. Diese Verabredung gelang ihnen mühelos, weil sie ja alle eine Sprache redeten. Die Madjaren meinen, es sei die ihrige gewesen, die anderen Völker hingegen: eine solche, die nun nicht mehr auf Erden zu hören sei. Natürlich wußte der liebe Gott, der ja allwissend ist, auch von dieser Verabredung und kam drei Jahre lang nicht auf Besuch, weil er sich überflüssigen Ärger sparen wollte. »Wozu soll ich alter Mann mich aufregen?« sagte er zu der Jungfrau Maria und blieb im Himmel. Aber da höhnten die Leute: »Seht! Er traut sich nicht mehr zu uns!«, und so kam er im vierten Jahre wieder. Als sie ihn nun mit ihrem sündhaften Anliegen bestürmten, suchte er es ihnen zuerst ganz sanft auszureden: »Seht, ihr Leute, das ist ja Unsinn! Arbeit muß sein. Wollt ihr es etwa besser haben als ich? Auch ich habe durch sechs Tage gearbeitet und erst am siebenten geruht. Und jetzt? Meint ihr, daß ich jetzt faulenze? Ich sage euch, so eine Weltregierung ist eine ganz verteufelte Arbeit!« Aber sie hörten nicht darauf, sondern wurden zornig und höhnten ihn, und einige zupften ihn gar am Barte. Da verlor der liebe Gott die Geduld und sprach einen furchtbaren Fluch über sie aus: »Weil ihr euch in eurer gemeinsamen Sprache gegen mich verschworen habt, so trenne ich euch von nun ab nach Sprachen und Ländern und richte eine riesige Grenzmauer zwischen euch auf. Ungekannte Schrecken sollen euch von dieser Mauer her kommen, Wasser- und Wetternot und wildes Getier!« Sprach's und fuhr auf einer Wolke in den Himmel zurück.

Dort versuchten sowohl die heilige Jungfrau als auch sein Sohn, der Heiland, ihn zu begütigen, er aber wollte nichts davon hören und ließ sogleich den Teufel kommen. »Stelle mir von da bis dorthin die Karpaten auf«, befahl er, »und mache sie zur furchtbarsten Gegend der Erde!« Das ließ sich der Teufel nicht zweimal sagen, sondern ging sogleich an die Arbeit und brachte sie in sieben Tagen fertig, weshalb man auch sieben Teile in diesem Gebirge unterscheiden kann. Am ersten Tage, einem Sonntag, häufte er mit frischer Kraft die Tatra auf, die darum der höchste Teil ist, und am letzten flickte er noch ganz erschöpft die ›Kleinen Karpaten‹ hinzu; sie sind am Sonnabend gemacht, und darum wohnen noch heute so viele Juden dort.

Dann trat er vor den Herrn und erhoffte großes Lob, aber der Alte nickte nur brummend: »Schon gut!«, weil nämlich sein Zorn schon halb verraucht war und ihn seine Härte hinterher reute. Das erkannte die heilige Jungfrau und trat vor ihn hin. »Das kommt von deinem Jähzorn«, rief sie. »Die böse Gewohnheit stammt noch aus der alten Zeit, wo dich die Juden immer ungeduldig gemacht haben durch das goldene Kalb und ähnliche Dummheiten, aber jetzt hast du doch gottlob mit Christen zu tun und legst sie doch nicht ab. Nun hast du dir gar vom Teufel deine schöne Erde verhunzen lassen, daß sie dich selbst nicht mehr freut, wenn du hinunterschaust. War es denn nötig, ihm zu befehlen, daß die Karpaten gerade die furchtbarste Gegend sein müssen? Höre, Mann, du weißt, ich rate dir immer gut! Schicke denen da drunten ein gehöriges Donnerwetter, daß sie sich wieder ducken lernen, aber dann räume das häßliche Zeug schnell wieder weg!« Da aber ergrimmte der liebe Herrgott. »Das sind Weiberreden!« rief er zornig. »Was sage ich immer: Lange Haare, kurzer Verstand! Wenn ich täte, was du verlangst, dann hätten sowohl die Menschen als der Teufel für immer den Respekt vor mir verloren, und das wäre wahrhaftig das größere Unglück.« Betrübt schlich die Heilige von dannen und erzählte es ihrem Sohn. Aber der Heiland tröstete sie: »Seufze nicht. Laß mich nur machen. Ich weiß, wie man mit dem Alten zu reden hat.«

Darauf trat er ganz unbefangen in des Vaters Stube, bot einen »Guten Morgen!« und sprach von dem und jenem, bis er endlich leichthin sagte: »Wie bist du mit den Karpaten zufrieden? Hat der Teufel die Sache gut gemacht?« – »Hm, ja!« sagte Gottvater etwas verlegen. – »Ich habe sie mir noch gar nicht angesehen«, fuhr der Heiland fort, schob eine Wolke beiseite und guckte hinunter. »Pfui Teufel!« rief er, »ist das häßlich! Lauter schwarzes, kahles Gestein, nirgendwo ein Baum oder auch nur ein Grashalm, und das Wasser schmutzig wie Spülicht!« – »Hm, ja«, meinte Gottvater kleinlaut, »aber zu ändern ist es nicht mehr.« – »Nun, wer weiß?« erwiderte der Heiland lächelnd. »Der Grenzwall muß bleiben, und er darf auch nicht minder furchtbar werden. Aber hast du dem Teufel befohlen, die Karpaten gerade zur häßlichsten Gegend zu machen?« – »Nein, bei mir selbst«, rief Gottvater eifrig, »das nicht! Ei, Sohn, da hast du recht, wir können sie schöner machen! Willst du es besorgen?« – »Mit Freuden«, erwiderte der Heiland. »Aber darf ich sie auch so schön machen, wie ich will?« – »Meinetwegen soll's die schönste Gegend werden«, gab Gottvater zu, »wenn es nur auch die furchtbarste bleibt.«

Da rieb sich der gütige Heiland vergnügt die Hände, nahm hundert Engel mit und verwandelte in einem einzigen Tage das ganze Gebirge. Die herrlichen Wälder pflanzte er hin und breitete die schönen Grasmatten aus, ließ unzählige klare Brünnlein fließen, und da er die Wölfe und Bären nicht wegjagen durfte, so fügte er doch wenigstens nützliche und schöne Tiere hinzu, Hirsche und Rehe, Schafe und Pferde. »So kommt's«, pflegen die Leute diese fromme Erzählung zu schließen, »daß unsere Karpaten die schönste und zugleich die furchtbarste Gegend der Erde sind.«

In ähnlicher Weise stammelt der Volksgeist überall den Wundern der Erde nach und sucht sie sich zu deuten. Es gelingt ihm meist trefflich, so auch hier. Die Karpaten mögen nicht die furchtbarste Gegend der Erde sein und wohl auch nicht die schönste, aber wer sie offenen Auges und empfänglichen Herzens durchstreift, wird doch immer jene beiden Begriffe reimen müssen, die sonst so fern auseinander liegen; dieses Waldgebirg ist in der Tat von schöner Furchtbarkeit und furchtbarer Schönheit.

Es ist kaum auszudenken oder gar nachzufühlen, wie dem Menschen zumute werden müßte, den etwa eine geheimnisvolle Gewalt aus dem Flachland hinweg in das Herz dieses Gebirges trüge, so daß sein erwachendes Auge urplötzlich und ohne Gewöhnung diese Landschaft erblickte. Unbewegt ließe ihn der Anblick nicht, und wären seine Sinne noch so stumpf, und selbst dem Rohesten würde sich ein jähes Bangen schwer auf die Brust senken, er würde aufschreien oder zu beten beginnen. Denn dies geschieht sogar mit jenen, die langsam aus dem Flachland emporsteigen, von Schritt zu Schritt mehr auf dieses Bild voll schreckhafter Erhabenheit vorbereitet.

Wer aus der Ebene kommt, ersieht das Gebirg zuerst nur wie eine ungeheure Wolkenbank, die von verschiedener Färbung ist, je nach der Tageszeit und dem Sonnenstande: bläulich-schwarz, dann bläulich-grau und immer lichter und lichter, bis sie mit sinkender Sonne rötlich zu strahlen beginnt und noch lange fortleuchtet in die Dämmerung; hinein, eine feurige Grenzwand der dunklen Ebene. Aber am nächsten Morgen liegt diese Wand wieder dunkel, dunkler, je klarer die Luft, und der Himmel ist keine Glocke mehr wie in der Ebene, sondern er endet über der Wand, zerrissen von ihren Spitzen und Kuppen.

Nah, sehr nah scheint dies alles dem Wanderer zu liegen, aber die Ebene täuscht; es ist noch manche Stunde Weges dahin. Doch ist die Gegend nicht einförmig wie im Tiefland; rasch, sichtlich, fast von Schritt zu Schritt verändert sich ihr Antlitz. Kein Sumpf, kein Weiher blinkt mehr durch umhegendes Schilfrohr; die Bäche werden zahlreicher, klarer ihre Wasser und rascher ihr Lauf. Denn sacht, aber stetig steigt der Boden an, und von Stunde zu Stunde weitert sich dem Wanderer der Gesichtskreis. Immer seltener führt sein Pfad an bebautem Acker vorüber, und was hier gedeiht, ist Korn und Hafer, nicht mehr der fette Weizen der Ebene. Hingegen dehnt sich um ihn gewaltig der braune Heideboden, und immer dichter steht drauf der Wacholder und jene holde, stille Blume, die der bescheidene Schmuck armer Landschaft ist, die Erika. Nur noch selten ist ein Dörflein zu erspähen, aber dabei steht kein Edelhof mehr, die Kirchen und die Hütten sind ärmlicher als im Flachland, und nur die Schenke ist leider gleich groß. Die Obstpflanzungen verschwinden, hingegen treten die Buchen immer häufiger zusammen, im Waldesschatten läuft der Pfad dahin, und in einigen Stunden weicht die Buche der Fichte. Die Stücklein Himmels, die durch das nadlige Geäst herabblinken, schimmern im tieferen Blau, der ewige Dunsthauch der Ebene liegt nicht mehr darüber. Und in den Lüften schwimmt ein prickelndes, fremdartiges Arom, der Harzduft. So vermitteln dem Wanderer alle seine Sinne den Wechsel der Landschaft, und er, dem vielleicht sein trauriges Flachland liebvertraut ist, schreitet fast bangen Herzens dem Unbekannten entgegen. Und wenn er den Wald überwunden, wenn er auf dem kahlen Rücken der Erdwelle steht, die er erstiegen, und den Blick zurückwendet, dann will ihm jählings auch das Bekannte unbekannt erscheinen. Denn wohl liegt da unten seine Ebene, aber in seltsamer, fremdartiger Schönheit; zum grünen leuchtenden Riesenteppich ist sie geworden, silberne Schlänglein huschen hindurch – die Bäche; hellblinkende Edelsteine sind darauf hingestreut – die Hütten, und fern, fern im Osten, wo sich das Blau der Lüfte mit dem Grün des Gefildes vermählt, liegt schimmernd ein gelber Topas: der Flecken, aus dem er kam.

Sein Ziel aber – jene Grenzwand? Er sieht sie nicht. Zur Rechten und zur Linken und vor ihm sind Kuppen wie jene, auf der er steht, und häufen sich immer höher übereinander. So hat ihn der Pfad durch den Tannenhag unmerklich zur Höhe geführt, und nun umstarrt ihn von allen Seiten in unsäglich ernster Schönheit das dunkle Waldgebirg.

Entsetzlich einförmig ist's auch hier, wie im Tiefland. Will sich das Auge von dem überaus gewaltigen, tiefgrünen Tannenmeer losreißen, so bleibt ihm nichts, darein es flüchten kann als das Blau des Himmels; einsam und sehnsüchtig wird auch hier des Wanderers Herz, vielleicht auch traurig, aber nimmer weich, wie wenn er über die Steppe zieht. Denn mit seinen tausend Stimmen rauscht ihm das Waldgebirg den Atem seiner herben Kraft zu. Wild, stürmisch, ungezügelt stäubt durch die Klüfte der Bergbach zu Tal, daß die jungen Tannen an seinen Ufern ewig scheu erzittern; kreischend, in grausamer Lust, pfeilschnell stößt der Falke aus blauer Höhe auf sein Opfer hernieder, und dazwischen singt unablässig das Geäst des Waldes sein Lied, bald überaus dröhnend, bald leise wie im Traume, aber selbst bei tiefster Luftstille nie ganz ersterbend; unablässig, ewig, wie Rauschen der Meerflut. Wer diesen Stimmen lauscht, dem werden sie zu Gebietern, und er muß tiefer hineinwandern in die tiefgrüne Wüstenei dieser Berge und Wälder. Hier lockt die Natur nicht durch kleine anmutige Gaben, hier fesselt sie den Wanderer nicht durch Blumenketten, sondern in herber, ernster, ja schreckhafter Schönheit reißt sie ihn unwiderstehlich an ihr Herz.

Wen einmal der keusche, herbe Zauber umsponnen hat, der begnadet sich selbst immer wieder mit seinem Genusse. Aber es gibt nicht viele solcher Wissenden, heute ebenso wenig als in jenen Tagen, da Taras Barabola hier ›seine Fahne entrollte‹. Kaum daß zuweilen aus einer der beiden ungeheuren Ebenen, zwischen die das Gebirg sich legt, von den Ufern der Theiß oder des Pruth ein Wanderlustiger emporsteigt in diese fremde, wildschöne Welt. Noch heute gehört der ›Welyki Lys‹ dem Bären, dem Hajdamaken und dem Huzulen. Und wenn man die Leute der Ebene befragt, so pflegen sie zu sagen, es sei zwischen diesen dreien, was Rechtsgefühl und gute Sitte betreffe, kein fühlbarer Unterschied. Aber das ist eine Verleumdung; sie alle sind besser als ihr Ruf.

Dies gilt auch vom Bären. Nur in dem niedriger gelegenen Waldteil, wo er die genauere Bekanntschaft des Menschen gemacht, hat sein ursprünglich biederer Charakter entschieden gelitten. Er ist da aus einem Jäger, der sich gemächlich aus der nächsten Hürde seine Nahrung holte, ein Gejagter geworden, und das verbittert sein Gemüt. Man muß leider sogar zugeben, daß er in diesen belebteren Waldstrichen die täppische Ehrlichkeit völlig abgelegt hat und ein feiger, heimtückischer Bursche geworden ist, der mehr raubt, als er verzehren kann, und aus Blutdurst mordet, wo es ohne Gefahr glücken will. Aber anders sein unverderbter Vetter hoch droben am Kamme des Gebirges. Dort ist noch der Bär der Herr und benimmt sich demgemäß: stolz und eigenwillig, aber doch auch großmütig und gastfrei. Daß er sich täglich seinen Tribut holt, bald aus dieser, bald aus jener Hürde, ist freilich wahr, aber das nehmen ihm die Hirten kaum übel; das ist, meinen sie, nun einmal Art der Herren, auf deren Boden man lebt, nur daß man diesen sogar die Steuer zutragen muß, während sich der Bär das Seine selbst holt. Nicht grimmig wie ein Räuber, nicht verstohlen wie ein Dieb, sondern langsam, breitspurig und würdevoll kommt Meister Petz zur Herde geschritten, hält Umschau, nimmt sich das Schäflein, das Zicklein oder das Kalb, das ihm genügend wohlgenährt erscheint, und geht ebenso würdevoll und bedächtig wieder ab. Auch bedrückt er nicht etwa einen der Untertanen zugunsten der anderen; er sucht alle Herden heim, die um seinen Stammsitz liegen, und kehrt in ziemlich regelmäßigen Zeiträumen wieder. Die Hirten sind fest überzeugt, daß dies aus Rechtsgefühl geschehe; andere Leute meinen, es rühre daher, weil der Karpatenbär ein fleißiger Spaziergänger ist und sich daher naturgemäß um die Stunde, wo sich sein Appetit zu regen beginnt, bald der, bald jener Herde zunächst befindet. Daß die schlanke, zweibeinige, seltsam behaarte Bestie, mit der er hier und da zusammentrifft, gleichfalls warmes rotes Blut hat, scheint er großmütig zu übersehen. Gewahrt er den Hirten neben der Herde, so erhebt er das Haupt und brummt verdrießlich. »Nun, Bruder, ist es dir vielleicht nicht recht?« übersetzt sich der Hirte diesen Ton. Ähnlich läßt er sich vernehmen, wenn ihm ein Mensch begegnet; zuerst ein heller, fast zorniger Ton, dann tiefes, langgezogenes Brummen, endlich wieder jener helle Ton; dies soll heißen: »Kerl, was willst du da, Kerl?« Zum Angriff schreitet er höchst selten, wie er denn auch Schlafende wohl eifrig beschnüffelt, aber nie verletzt.

Während das gemeine, häßliche Tier, der Wolf, grimmig gehaßt und rastlos verfolgt wird, hält den Eingeborenen der oberen Waldschichten eine seltsame, tiefe Scheu ab, den Bären zu töten. »Das arme Väterchen hat es ohnehin schwer genug«, sagt er, oder auch: »Mit dem Braunen soll man sich nicht auf den Mordfuß stellen.« Noch heute geht dort die Sage von einem Engländer, der zur Zeit des Kaisers Franz in den Bergwald kam, den Bären zu jagen. »Obwohl er«, erzählen sie, »jedem von uns armen Leuten eine Flinte aus Silber bot, falls wir mit ihm ziehen wollten, fanden sich doch nur wenige, die sich zu dieser ruchlosen Verrichtung ermieten ließen. Sie sind alle bei einer großen Kälte droben erfroren, auch der Herr. Und es ist ihm auch recht geschehen, was hat ihm denn das arme Väterchen zuleide getan, daß er es ausrotten wollte?« Selbst auf den Fremdling, den heimatlosen Hajdamaken, überträgt sich diese Scheu; in den tiefer gelegenen Waldstrichen jagt er unablässig, wie dies ja dort auch der Eingeborene tut, mehr zum Vergnügen, als um seinen Hunger zu stillen; hier oben verhält er sich friedlich. »Hier ist des Bären Reich, und er tut ja auch uns nichts!«

Auch der Huzule, dieser Mischling slawischen und mongolischen Blutes, der als Hirte, als Wolf- und Rotwildjäger, aber zugleich, wo es irgend angeht, als Ackerbauer im Bergwald haust, ist nicht so schlimm, wie ihn die Leute der Ebene schelten. Ihn befleckt im Grunde nur ein Laster: die Sittenlosigkeit, die sich im Verkehr der beiden Geschlechter offenbart. Wie die Huzulen die einzigen Bergbewohner der Erde sind, die man als Reitervolk bezeichnen darf, so auch die einzigen, die unkeuscher sind als die Menschen der benachbarten Ebene. Beides steht beispiellos da, beides läßt sich aus gleich natürlichen Gründen erklären. Das erste durch die Beschaffenheit des Bodens, der durch seine Triften der Pferdezucht sehr günstig ist und durch seine runden Kuppen, die sanften Abhänge das Reiten überall gestattet, ja bei den ungeheuren Entfernungen unbedingt nötig macht, das zweite aber durch die Mischung des Blutes und das Erbe an Vätersitten, das dem Huzulen zugefallen ist. Sein Ahn, der Uze, den der Kriegssturm von der ›goldenen Horde‹ abgelöst und hierher verschlagen hat, kannte weder den festen Wohnort noch den persönlichen Besitz, weder das Christentum noch die Ehe. Der Enkel hat sich all diese Zügel wilder Triebe anlegen lassen, aber er trägt sie locker und in seiner Art. Er ist angesiedelt, er hat eine Hütte, aber er benützt sie nur während der Zeit, wo ihm die Natur die Nötigung dazu auferlegt. Von den Tagen, da zuerst der Schnee schmilzt, bis zu jenen, da er wieder bergehoch liegt, durch sieben Monate des Jahres, zieht der Huzule mit seinen Herden im Gebirge umher, von Trift zu Trift, von Tal zu Tal, weiter als er müßte, weil ihn nicht bloß die Notwendigkeit treibt, sondern ein dunkler, rätselhafter Drang. Während dieser ›grünen‹ Zeit – der Winter heißt ihm die ›schwarze‹ – kehrt er immer nur auf wenige Tage zu seiner Siedlung zurück; er muß die schwerste Arbeit tun, die es für ihn gibt: sein Haferfeld bepflügen, besäen und mähen. Er muß es tun, weil er sonst verhungern würde, aber der Hang nach Mehrung des Besitzes geht nie nach dieser Richtung. Der Huzule ist über jedes junge Zicklein erfreut und jubelt über jedes neue Füllen, aber wenn er je den Versuch unternimmt, seinen ackerfähigen Grund zu erweitern, so hat ihn sicherlich nur die eiserne Not dazu gezwungen.

Ebenso ist die Entwicklung des persönlichen Besitzes nicht über die ersten Anfänge hinaus gediehen. Zu jeder dieser Einschichten gehören allerdings bestimmte Äcker, Triften und Herden, die sonst niemand zugehören, aber in der Siedlung wohnen drei, vier, zuweilen auch zehn bis zwölf Familien gleicher Abstammung unter einem durch die Geburt bestimmten Oberhaupte. Der ›Hausvater‹ ordnet an, wann die Frucht zu säen, die Herde auszutreiben ist, aber kein Schäflein, kein Hälmchen Frucht gehört etwa ihm oder einem andern persönlich zu, es ist gemeinsames Gut. Daneben gibt es aber auch Triften und Herden, die nicht einer einzelnen Siedlung gehören, sondern mehreren zusammen, so daß man da Lämmer sehen kann, an denen achthundert Menschen zugleich das Miteigentum besitzen. Die Verwaltung und Verteilung geschieht durch die Versammlung der Hausväter, die sämtlich untereinander verwandt sind, denn dieser gemeinsame Besitz mehrerer Siedlungen rührt immer daher, daß sie vor Jahrhunderten eine Familie gebildet haben, welche sich dann, immer mehr anwachsend, räumlich schied. Persönlicher Besitz besteht also eigentlich bloß an Kleidern und Waffen. Alles andere ist gemeinsamer Familien-, Geschlechts- und Stammesbesitz. Man sieht, ein Professor der Volkswirtschaft könnte an unseren Huzulen, der lehrreichen Beispiele wegen, seine helle Freude haben.

Der Pope hat weniger Grund dazu. Der Uze war ein Heide, der Huzule ist ein katholischer Christ nach griechischem Ritus, das ist allerdings richtig. »Aber«, meinen die Podolier, »der Huzule hat nicht mehr Christentum als die Katze, wenn sie sich mit gekreuzten Pfoten über die Schnauze fährt«, und das ist auch nicht so ganz unrichtig. Jeder von ihnen ist von einem Priester mit geweihtem Wasser auf den Namen eines Heiligen getauft worden und darauf bedacht, daß auch seinen Kindern das Gleiche widerfahre; jeder weiß, wie man nach griechisch-katholischem Ritus das Kreuz schlägt und daß da droben ein guter, alter Herr thront, mit seinem jungen Weibe Maria, seinem Sohne Jesus Christus und einem Hofstaat von unzähligen Heiligen, Engeln und Teufeln. Das ist aber auch alles, höchstens wissen einige noch das ›Vaterunser‹ herzusagen. Kein gütiger Mensch neigt sich zu diesen Armen im Geiste und gewährt ihnen den Trost, dessen sie so sehr bedürfen. Denn auch hier erfaßt und durchwühlt den Menschen der Schmerz der hilflosen Kreatur gegenüber der Naturgewalt, auch hier treibt ihn ein dunkler Drang, dem Rätsel des Daseins nachzuspüren, auch hier tönen von Mund zu Mund jene ewigen Schmerzensfragen der Menschheit: »Warum? Woher? Wohin?«, wenn auch nicht als klarer, bewußter Gedanke, so doch als gellender Schrei, der sich den Lippen des Gequälten entringt. Und hier ertönt dieser Schrei öfter als anderwärts, weil die Natur grausamer ist, größer ihre Schrecken und geheimnisvoller ihr Walten, und darum bedürfte es hier am meisten einer jener holden, tröstlichen Sagen, die große, gütige Männer zur Linderung dieser Qual ersonnen, einer jener rührenden Antworten, die wir uns selbst erträumen, wenn unser Herz von jenen Schmerzensfragen durchbohrt wird, bedürfte es hier am meisten einer Religion, eines starken Gottglaubens.

Aber woher sollte diese Hilfe und Tröstung kommen?

Die Popen in den Dörfern, zu denen diese Einschichten eingepfarrt sind, zucken die Achseln, wenn man sie danach fragt. »Warum kommen die Kerle nicht? Christenlehre und Kirche stehen ihnen ja ebenso offen wie allen anderen!« Nun, sie kommen eben aus purer Verstocktheit nicht, obwohl man ihnen die Sache wahrhaftig bequem genug macht. Denn wie weit ist's zum Beispiel von der Einschichte des Marko Zakowicz bis zur nächsten Pfarrkirche? Bloß drei Tagereisen! Allerdings kommt Marko sogar zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten nicht regelmäßig, weil ihn nichts an die Kirche im Tale erinnert. Und so bleibt ihm bloß die überlieferte Sage von dem göttlichen Haushalt da droben, und diese blasse Sage hat nur geringe Kraft, so sehr auch der Huzule bemüht ist, sich seinen Gott nach seinem eigenen Bilde auszumalen. Ihm ist Gottvater ein strenger, aber gerechter huzulischer Patriarch, etwa so wie Hilarion Rosenko, der am ›schwarzen See‹ haust; die Gottesmutter eine mildherzige, tüchtige Hausfrau, Christus endlich ein kühner, herrlicher Jäger, der von Hajdamaken schuldlos getötet wurde. Der Pope sagt freilich, er lebte noch, aber warum sieht man ihn nie? Und so blickt der Huzule auch zu jenen leuchtenden Göttern empor, denen sein Ahne geopfert, als er über die Steppen Zentralasiens zog: zur Sonne, zum Mond und den lieben Sternen. Sie kann man ja sehen, und ihr Segen ist sichtlich, da sie Licht und Wärme spenden im kalten, dunklen Bergwald. Wer aber schützt den Menschen vor den unheimlichen, boshaften Wesen, die ihn umgeben? Da ist die Windsbraut, die das Dach seiner Hütte eindrückt und die Tannen knickt, die Schar der Kobolde, welche die Schneewirbel erzeugen, in denen Menschen und Vieh erblinden und ersticken, die ›alte Riesin‹, deren Atem allem Lebendigen Krankheit zuweht, und was solcher Personifikationen dunkler Naturgewalten mehr sein mögen. Gegen sie gibt es nur den Schutz, sich eben mit ihnen zu vertragen, wie man sich mit einem bösen Nachbarn verträgt, und sie durch Geschenke zu begütigen.

Ja, es sind seltsame ›Christen‹, die im Bergwald hausen, sogar das Sterben bringen sie ohne den Popen fertig. Wenn der greise Vater des Marko veratmend auf dem Lager liegt, das sie ihm aus weichen Fellen inmitten der Hütte errichtet haben, so denken weder er noch sein Sohn an den bärtigen Herrn im stattlichen Pfarrhof da unten. Und wenn sie auch an ihn dächten, was nützte es ihnen? Mindestens neun Tage würde es dauern, bis der Bote unten, der Pope oben und wieder daheim wäre. So lange darf ein geistlicher Hirte seine Schafe nicht allein lassen, selbst wenn er wollte. Darum ist es tröstlich zu wissen, daß weder der Sterbende noch die Nachkommen und Geschlechtsgenossen, die ihn weinend umstehen, den letzten Trost des Christen vermissen. Irgendein Frommer spricht das ›Vaterunser‹ und fügt dann jene dunklen Formeln hinzu, mit denen diese armen Menschen die anderen Götter, an die sie glauben, zu beschwören suchen. Der Todkranke stammelt die Worte nach und stirbt getröstet. Ist die Leiche erkaltet, so betten sie sie im Bergwald unter einer mächtigen Tanne und kerben vorne ein großes Kreuz in den Baum, zu beiden Seiten aber seltsame Zeichen für ihre anderen Götter.

Wer sogar im Sterben nicht an den Pfarrer denkt, von dem ist nicht zu verwundern, daß er es beim Freien unterläßt. Wenn da oben ein Mann und ein Mädchen, gewöhnlich schon in reiferen Jahren, zum Entschlusse kommen, ihre fernere Lebenszeit in ehelicher Gemeinschaft zu verbringen, so ist dies eine Sache, die außer ihnen zunächst nur die Hausväter ihrer Siedlungen angeht. Diese geben denn auch willig ihren Segen, sofern nicht etwa die Brautleute Geschlechtern angehören, die gerade um eines Besitzstreites oder gar um einer Bluttat willen verfeindet sind. Liegt dieser Grund nicht vor, so wird sofort der Hochzeitstag festgestellt, und es geht die Kunde durch die Berge: »Ihr seid am nächsten Sonntag alle zur Siedlung des Marko geladen, der lange Sefko nimmt die rote Magdusia!« Dann kommen sie insgesamt gezogen, bringen kleine Geschenke und berauschen sich in dem Branntwein, den die beiden Hausväter in der nächsten Schenke gegen einige Schafe eingetauscht. Und wenn der letzte Tropfen getrunken ist, dann sind der Sefko und die Magdusia ein Ehepaar geworden, was aber nicht immer eine Änderung ihrer Lebensweise bedeutet. Und der Segen des Popen? Er wird keineswegs grundsätzlich verschmäht, man denkt ja bei solchen festlichen Gelegenheiten auch der anderen Götter, warum sollte man gerade die heilige Familie im Himmel und ihren Diener übergehen? Nur wird keine Überredung der Welt dem langen Sefko klar machen können, daß die rote Magdusia erst dann sein rechtmäßiges Eheweib geworden ist, nachdem der Pope seinen Segen über beide gesprochen hat. Und demgemäß benimmt er sich auch. Er beeilt sich nicht, diesen Segen einzuholen, sondern wartet auf irgendeine Veranlassung, die den Zug zur Kirche notwendig macht, also etwa die Taufe des ersten Sprößlings. Wenn der Pope ein eifriger Mann ist, so läßt er sich selten die Gelegenheit entgehen, eine überaus saftige Strafpredigt vom Stapel zu lassen, die nun freilich auf die Herzen seiner Hörer keinen tieferen Eindruck macht als die Erbse, die man an die Wand schleudert. Die guten Leute begreifen es gar nicht, warum sich der Herr Pope so sehr aufregt; sie wollen es ihm ja glauben, daß ihr Benehmen den guten Heiland gekränkt hat, aber wie und warum, das bleibt ihnen für immer ein Rätsel . . .

Es muß leider fraglich bleiben, ob diese freie Auffassung der Liebe und Ehe sich wesentlich zum Besseren kehren würde, wenn das Christentum auch im Bergwald mehr würde als eine blasse, abenteuerlich ausgeschmückte Sage, denn die Gründe für jene Erscheinung wurzeln sehr tief. Zunächst im Blut, diesem Mischlingsblut, in dem sich noch immer der wilde, wüste Hang und Drang des Mongolen mitvererbt. Dazu die Lebensweise – in derselben Siedlung wohnen mehrere Familien in engster Gemeinschaft beisammen –, endlich die Besitzverhältnisse. Während anderwärts die Not der Sinnenlust einen Damm setzt, fällt hier dieser Zwang gänzlich fort. Der Neugeborene ist Mitglied der Gemeinschaft, der seine Mutter zugehört, er hat dasselbe Anrecht auf den Besitz der Siedlung wie jeder andere.

Rechnet man diese traurige Eigentümlichkeit ab, so finden sich am Huzulen, wie an jedem Naturmenschen, nur jene Laster und Tugenden, die aus seinen Lebensbedingungen hervorgehen. Er ist neidlos und offenherzig, tapfer und gastfrei, aber auch roh und grausam. Des Kaisers Schreiber kümmert ihn nicht, er braucht seinen Schutz nicht und leistet ihm gutwillig keine Steuer. Das mögen seine Stammesgenossen in der Ebene tun, auf die er mit einer Empfindung hinabblickt, die aus Mitleid und Verachtung seltsam gemischt ist.

Dieselbe Empfindung erfüllt den Huzulen gegenüber dem heimatlosen Gesellen. Der Eingeborene benimmt sich gegen den Hajdamaken etwa so, wie sich der Bär der oberen Waldschichten gegen den Menschen benimmt. Er bekümmert sich nicht um ihn und brummt ihn höchstens an: »Kerl, was willst du da, Kerl?« Aber auch dies ist nicht böse gemeint und hat keine ernsteren Folgen wie jenes Gebrumm des ›braunen Väterchens‹, das so übersetzt wird. Ein feindlicher Zusammenstoß ist äußerst selten. Nur in der bittersten Not und wenn er bereits die Krallen des Todes in seinem Nacken fühlt, des Todes durch Hunger oder Kälte, entschließt sich der Hajdamak, einen einzelnen Hirten anzufallen. Solche Verbrechen ereignen sich äußerst selten und werden lange als ein Unerhörtes an den Herdfeuern der Siedlungen, an den Waldfeuern der Banden erzählt, wie man sich etwa in der Großstadt eines Raubes am hellen Tage jahrelang erinnert. Ein letzter Rest von besserem Empfinden hält die wüsten Burschen davon ab: das sind ja die Leute, die sie großmütig dulden; noch mehr der Trieb der Selbsterhaltung; jeder Hajdamak weiß, daß er und seine Genossen verloren wären, wenn sich der Huzule gegen sie kehrte. Darum hat sich auch, so weit die Erinnerung der Menschen zurückreicht, und diese ist ja die einzige Geschichtsquelle im Bergwald, niemals der Fall ereignet, daß eine Bande einen Angriff auf eine Siedlung gewagt hätte.

So hat der Huzule von dem Hajdamaken selbst keine Gefahr, keinen Schaden zu befürchten. Wohl aber kann ihm um seinetwillen beides zukommen: durch die ›Weißröcke‹, die hinter dem Gesindel her sind. Dem Huzulen sind die Soldaten schon deshalb unwillkommene Gäste, weil sie Diener einer Gewalt sind, die er nicht begreift, nicht anerkennt. Nun kommt aber überdies in ihrem Gefolge zuweilen diese Gewalt über ihn und faßt ihn am Kragen. Der ›Oberschreiber‹ des Kaisers muß sich wohl oder übel in Geduld fügen, wenn Marko Zakowicz weder Steuern entrichtet noch seine Söhne zur Rekrutierung bringt; aber wenn nun eine Kompanie Soldaten zur Streife nach Räubern ausgeschickt wird, so gibt er ihnen wohl einen ›gemeinen Schreiber‹ mit, der sich mit dem Marko über beide Punkte mit der Ruhe auseinandersetzt, die das Bewußtsein einer ganzen Kompanie dem furchtsamsten k. k. Steuer-Akzessisten verleihen kann. Das ist ein Unglückstag für die Siedlung; denn wenn sich auch die jungen Leute rechtzeitig geflüchtet haben, so fallen dem Herrn Akzessisten doch einige Lämmer und Felle in die Hand. »Wären die Hajdamaken nicht«, seufzte Marko, »dann hätte der Schreiber nicht den Weg zu mir gefunden. O diese verdammten Hajdamaken!« Das ist aber nur sein erster Gedanke. Dann wird es ihm erst recht klar, welche ›Ungerechtigkeit‹ es war, ihm deshalb einige Lämmer und die besten Felle seiner Hütte zu rauben. »O diese verdammten Weißröcke!« flucht er. »Ich wollte, sie zögen mit langer Nase ab oder bekämen gar von den Burschen einige eiserne Bohnen in den Leib, so daß ihnen die Lust zu künftigen Besuchen vergeht!« Der Wunsch kommt ihm vom Herzen und schwindet auch dann nicht, wenn sich sein Zorn verkühlt. Nur daß er dann in einem Atemzuge flucht: »Diese verdammten Weißröcke und Hajdamaken! Es ist schwer zu sagen, wen der Geier zuerst holen soll.« Dieser Widerstreit der Empfindungen bestimmt ihn zur Neutralität. Marko würde sich lieber die Zunge abbeißen, ehe er dem Führer der Soldaten die Zufluchtsstätte des ›grünen Giorgi‹ verriete. Aber ebenso wenig fällt es ihm bei, den Räuberhauptmann warnen zu lassen oder ihm sonstige Hilfe zu leisten. Mit verschränkten Armen sieht er dem Kampfe beider Parteien zu, und das liebste wäre ihm, wenn sie sich, wie die Löwen der Fabel, gegenseitig aufzehrten. Auch andere Erwägungen legen ihm die Rolle des Zuschauers auf. Er weiß, daß es unter den Hajdamaken Burschen gibt, denen er auch nach seinen Rechtsbegriffen je eher je lieber die Hanfkrawatte gönnen muß. Aber die Gesellschaft ist gemischt und zählt auch Leute, die keine Handlung verübt haben, die dem Huzulen verächtlich erschiene. Nun kann man es ja dem Menschen nicht vom Gesichte ablesen, weshalb er ein ›freier Mann‹ geworden ist, und so benimmt sich der Huzule gegen alle gleich: er tut ihnen weder Gutes noch Böses und hält nicht die geringste Gemeinschaft mit ihnen.

In der Regel haben die Gerichte in diesem Kampfe die Mithilfe der Eingeborenen weder zu erhoffen noch zu fürchten. Das wird sich auch schwerlich ändern, weil ja niemand ans Werk geht, diese armen Menschen zu veredeln, ihr Rechtsgefühl auszubilden. Alles übrige jedoch ist vergebliche Mühe. Und wenn man ganze Regimenter aufböte, sie würden dem Unwesen kein Ende machen. In diesem ungeheuren Bergwald nach einem Menschen suchen ist gleich schwierig, als wenn etwa jemand ein winziges Käferchen aufstöbern wollte, das sich in einem riesigen Heuschober geborgen hat. Das Unwesen wird erst in den fernen Tagen enden, da die Kultur in diese Gaue einziehen und die Menschen besser oder doch zahmer machen wird. Und in ihrem Gefolge ihre edle Schwester, die Gerechtigkeit, die allen ein menschenwürdiges Los bereitet.

Man täte Unrecht, zu glauben, daß jeder dieser Männer ein Verderbter ist, den nur die Beutegier in die Berge getrieben hat, oder ein Verbrecher, der aus Furcht vor dem Kerker der Ebene entflohen ist. Wie sich für das kleinrussische Wort ›Hajdamak‹ in keiner Sprache des Westens ein zutreffender Ausdruck findet, so liegt die Sache selbst den gewohnten Anschauungen glücklicherer Völker ferne. Nur die Bulgaren haben ein Wort, das einen ähnlichen Begriff ausdrückt, das Wort ›Hajduk‹. Das Hajdamakentum in den Karpaten, das Hajdukentum im Balkan sind verwandte Erscheinungen; in beiden offenbaren sich in seltsamer Mischung, die ein gerechtes Urteil sehr erschwert, die besten und schlimmsten Triebe eines unterdrückten Volkes.

Drei scharf geschiedene Gruppen kann man unter diesen ›freien Männern‹ unterscheiden. Zum ersten die gemeinen Verbrecher, Burschen, die Untaten begangen haben, durch die sie nicht bloß den Gerichten, sondern auch ihren eigenen Volksgenossen verächtlich, strafwürdig, vogelfrei werden. Hajdamaken dieses Schlages treten niemals in größeren Banden auf, weil sie durch das gegenseitige Mißtrauen auseinandergehalten werden oder weil ihre wüste Art den geschlossenen Bund bald wieder sprengt. Einzeln oder zu zweien gehen sie ihrem traurigen Handwerk nach, einsame Reisende an den Pässen zu überfallen, oder wenn ihnen Pferde zu Gebote stehen, zum Zwecke größerer Diebstähle in die Ebene zu streifen. Zum offenen Kampfe stellen sie sich nie, wie sie denn überhaupt durch ihre List und Vorsicht dem Arme der Gerechtigkeit am leichtesten entrinnen.

Anders die zweite, weitaus zahlreichere Gruppe von Jünglingen und Männern, die den Behörden als Missetäter gelten, ihren Volksgenossen jedoch als Märtyrer der bestehenden Ordnung. Das sind zunächst die Leute, die sich bei der Einhebung der Steuer gewaltsam widersetzt, wohl gar den Beamten schwer geschädigt haben. Es ist vielleicht weniger aus Trotz geschehen als in der bitteren Verzweiflung, seine letzte Habe von dem Riesen Staat hinweggerafft zu sehen, und oft genug sind es brave, friedfertige Menschen, die so in einem Augenblick der Verwirrung ihr bisher fleckenloses Leben zu Jammer und Unrast wenden. Furchtbar ist das Leben im Bergwald, aber noch furchtbarer das im Zuchthaus; der Unglückliche entflieht, und wenn die Gendarmen kommen, ihn zu holen, so erhalten sie von seinen Nachbarn mit schlecht verhehlter Freude die Antwort: »Er ist der Sonne nachgegangen!« (Nach Westen, also von Podolien aus den Karpaten zu.) Ferner die Rekrutierungsflüchtlinge. Dem Naturmenschen wird ja das Recht des Staates, die Blutsteuer von ihm zu erheben, stets unverständlich bleiben und jedes Mittel, sich darum zu drücken, berechtigt erscheinen. Endlich zählen hierher die Opfer des traurigen Verhältnisses zwischen dem polnischen Herrn und dem ruthenischen Bauer. Der Pole braucht seine Macht, bis die dunkle Stunde der Verzweiflung, des Zornes, vielleicht auch der Trunkenheit kommt, wo der Ruthene sein Handbeil braucht . . .

»Kommt, kommt zu uns, bei uns ist's schön!« beginnt ein Hajdamakenlied. Aber in Wirklichkeit ist's ein elendes Leben im Bergwald, obwohl es sich die unseligen Gesellen durch treues Zusammenhalten nach Kräften erträglich machen. Sie sind stets in größeren Banden von zwanzig bis fünfzig Köpfen vereinigt, leben ohne Zwist und Hader, ja wahrhaft brüderlich, und teilen getreulich die kümmerlichen Freuden und die großen Beschwerden dieses Daseins. Der Eingeborene legt ihnen nichts in den Weg, den ›Weißrock‹ haben sie nicht zu fürchten, aber es ist schwer, sich vor Hunger und Kälte zu schützen, wenn man dabei doch ein ›ehrlicher Hajdamak‹ bleiben will – »ehrlich, oder wie man es eben so nennt«, wie der alte Jemilian dem Popen Leo erwiderte. Denn ›ehrlich‹ heißt der ›freie Mann‹, der unter keiner Bedingung stiehlt, nur aus Notwehr oder Rache mordet und Leben oder Eigentum seiner eigenen Volksgenossen niemals antastet. Er darf den Polen oder ›Schreiber‹ berauben; wer einen Popen oder Großbauer plündert, gilt als ehrlos. Diese feine Unterscheidung führt denn freilich zu ganz seltsamen Ergebnissen. Es gilt als ›ehrlich‹, den k. k. Postwagen zu überfallen, die Geldbriefe zu rauben und einen polnischen oder deutschen Passagier bis aufs Hemd zu plündern; ›unehrlich‹ aber wäre es, sich um den Inhalt der Geldkatze zu bekümmern, die der mitreisende Pope um das Bäuchlein geschnallt trägt. Der Post zwischen Ungarn und Galizien, zwischen der Bukowina und Siebenbürgen aufzulauern, war einst die Haupttätigkeit der Hajdamaken, bis sie diese der starken Militär-Eskorten wegen einstellen mußten. Heute sind also ›große Taten‹ schwer möglich, sie waren auch niemals leicht. Es war stets ein erbärmliches Leben da oben, und zu den Beschwerden, in dieser unwirtlichen Gegend ohne Obdach auszuharren, gesellte sich immer zeitweise auch der Hunger. Durch welche Mittel sich eine Bande aus solcher Drangzeit rettete, kam stets nur auf den Hauptmann an. Entweder sank sie nun zur ›Unehrlichkeit‹ hinab und fristete ihr Leben durch dieselben Mittel wie der sonst gemiedene und verachtete Verbrecher, oder sie raffte sich in der Verzweiflung zu einer ›großen Tat‹ auf, auch wenn dadurch der Zusammenstoß mit den ›Weißröcken‹ unvermeidlich wurde. Dies geschah jedoch wohl nur dann, wenn der Hauptmann ein ›Freiwilliger‹ war.

Diese ›Freiwilligen‹ bilden die dritte und mindest zahlreiche Gruppe der Hajdamaken; es wird stets als etwas Besonderes berichtet, wenn sich ein Mann ohne äußere Nötigung in den Bergwald schlägt. Aus Beutegier geschieht es nicht; wer so verderbt ist, »von anderer Leute Grütze mitzukosten«, wie sie im Flachland sagen, ist auch meist erfahren genug, um zu wissen, daß sich dies in der Ebene bequemer durchführen läßt. Nein, Gründe edlerer Art, wilde Tatkraft und schmerzliche Entrüstung über das jammervolle Los ihres Volkes treiben diese einzelnen dazu, ›der Sonne nachzugehen‹. Nur diese wenigen erinnern noch an das Hajdamakenwesen der Vorzeit. Die Ruthenen, nun der friedlichste und unterdrückteste slawische Stamm, sind einst das wehrhafteste und keckste Glied dieser Völkerfamilie gewesen, ewig zu Raub- und Rachekriegen geneigt, der Schrecken ihrer Nachbarn, der Polen, Moskowiter und Rumänen. Wer sich die Ruthenen von heute genau besieht, würde es kaum begreiflich finden, warum sie durch Jahrhunderte in Liedern und Chroniken immer ›Falkenangesichter‹ genannt wurden, wenn ihn nicht noch zuweilen ein solches Antlitz grüßte: kühne, hagere, scharfgeschnittene Züge voll Tatkraft und leidenschaftlicher Bewegung, die braunen Augen keck und unruhig. Und wie sich noch diese Prägung des einstigen Typus in einzelnen erhalten hat, so auch der wilde Trotz, die glühende Freiheitsliebe der Väter. Wohl mag es einem solchen Spätling bitter zumute werden, wenn er um sich blickt und all den Jammer schaut und dann den Blick zurückwendet in die Tage, von denen die Lieder singen, diese wilden Lieder voll überschäumender Kampflust, die heute seltsam genug im Munde dieser demütigen Knechte klingen. In der Ebene ist kein Raum für seine Tatkraft, er geht in die Berge, den ›Erbfeind‹ zu bekriegen, den Polen. Dies ist in der Tat der einzige Grund, der feste Entschluß. Und weil diese wenigen in der Regel Menschen voll Energie und Körperkraft sind, so treten sie bald als Führer an die Spitze einer Bande. Sie treiben ihr Handwerk anfangs immer ›ehrlich‹, doch das hält selten vor. Es ist ein böses Handwerk, es verdirbt Körper und Seele. Aber wie dem auch sei, ob diese Männer nun bei der edleren Art bleiben oder zur ›Unehrlichkeit‹ hinabsinken, sie nehmen ein trauriges Ende, sie und alle ihre Genossen. Es ist ein böses Handwerk; man kommt dabei nicht zu Jahren. Nur wenige sterben oben als Greise eines natürlichen Todes und finden ihr Grab unter einer Tanne des Hochwalds. Die meisten werden in jungen Jahren jählings dahingerafft, die einen durch Hunger und Kälte, die anderen durch die unsäglichen Mühen dieses Daseins, denen selbst eiserne Körperkraft auf die Dauer nicht gewachsen ist, die dritten durch die Bestien des Waldes, einige endlich durch die Kugeln der k. k. Jäger oder den Strick des Henkers. Wie immer ihr Ende sei, die Verwandtschaft in der Ebene nimmt die Trauernachricht sehr kaltblütig auf und bemüht sich dann nach Kräften, vergessen zu machen, daß einer der Ihrigen da oben verkommen ist. Der lebende Hajdamak steht in gewisser Achtung; ihn umfließt ja der Nimbus des ›freien Mannes‹, vor dem der polnische Herr zittert; der Tote gilt nichts mehr.

Davon machen unter all den Unzähligen, die diese traurigen Wege gegangen sind, nur drei eine Ausnahme; ihr Andenken lebt in Lied und Sage fort, wenngleich nur dunkel und ins märchenhafte gewandelt. Es sind dieselben drei, die auch dadurch bemerkenswert sind, daß sie die einzigen Bandenführer waren, für oder gegen welche die Huzulen Partei nahmen.

Der erste war Alexander Dobosch, den sie im Liede den ›Schwarzen‹ oder ›Eisernen‹ nennen, ein Bukowinaer Ruthene aus der Gegend von Putilla, der zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sein Wesen trieb und durch mehrere Jahre in Pokutien weitaus mächtiger war als Kaiser Franz. Nur maßloser Ehrgeiz scheint dem wohlhabenden Manne seine ebenso seltsame als gewaltige Rolle aufgedrängt zu haben. Von den Huzulen fast abgöttisch verehrt, warf er sich gleichsam zum Fürsten der Berge auf, ordnete eine neue Gerichtsbarkeit und hob Steuern ein. Seine Härte wurde ihm zum Verderben; er wurde von seinen eigenen Leuten verraten.

Von anderem Schlage war der ›wilde Wassilj‹, den die Lieder auch den ›großen Hajdamaken‹ nennen, ein Bauernsohn aus Podolien, ›schlank wie eine Tanne, stark wie ein Bär, mutig wie ein Falke‹. Der junge Graf, bei dem er als Leibjäger diente, entehrte ihm die Braut. Wassilj ermordete den Jüngling, stellte sich an die Spitze einer Bande und verübte in unersättlichem Rachedurst furchtbare Greuel an den Adeligen Podoliens. Nicht der Arm des Gesetzes befreite die Entsetzten von ihrem Todfeind; nur das eigene Herz hat den ›großen Hajdamaken‹ gefällt. Er war eine ursprünglich gute Natur und empfand darum qualvolle Reue über seine Frevel, die er nur durch den Wahn beschwichtigen konnte, sich den Dank seines unterdrückten Volkes zu verdienen. Aber dieser Wahn zerstob ihm, als er einmal einen Hauptschlag führte, im Schlosse seines Heimatdorfes einige Adelige gefangen nahm und den Richter von Biala, Iwan Megega, aufforderte, sie gemeinsam mit ihm zu ›richten‹. Iwan weigerte dies, er könne als ehrlicher Mann mit dem Räuber nichts zu tun haben. Das traf den Wassilj mitten ins Herz hinein, und in der nächsten Nacht brachte er dies Herz zur Ruhe, indem er sich erschoß.

Der dritte, dem die Huzulen beigestanden, war jener Mann, den sie im Liede den ›braven Richter‹, den ›großen Rächer‹ nennen, war Taras Barabola.

 


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