Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

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Zwanzigstes Kapitel

Am nächsten Tage traf der Kreishauptmann von Bauer in Zulawce ein. Obgleich er dafür gesorgt hatte, daß Simeon Pomenko sowie alle übrigen Bewohner nicht über seine friedlichen Absichten im unklaren seien, hielt es der alte Herr doch für angezeigt, zwei Eskadronen Husaren als Eskorte mitzunehmen, um so mehr, da er ja nicht bloß die Untersuchung wegen des Ackers führen, sondern auch pflichtgemäß der Republik ein Ende bereiten und den neuen Mandatar des Gutsherrn einsetzen mußte.

Graf Georg Borecki hatte endlich einen Mann gefunden, der sich bereit erklärte, den von Herrn Hajek so tief verfahrenen Karren wieder flott zu machen. Es war ein alter Bekannter der Dörfler, Herr Severin Gonta, vielleicht der einzige Mann, der dieser Aufgabe gewachsen war. Wie ihn die Bauern empfangen würden, war gleichwohl zweifelhaft, und so verließ sich Herr von Bauer zwar in erster Linie auf die Gerechtigkeit seiner Mission, aber daneben doch auch auf die scharf geschliffenen Pallasche seiner Begleiter.

Diese Vorsicht erwies sich zum Glück als überflüssig. Als der Zug neben dem Holzbrücklein über den Pruth eintraf, stand da wohl die ganze Gemeinde versammelt, aber in friedlichster Absicht. Der alte Simeon hatte nämlich seinen Leuten tagsvorher kurz und trocken erklärt: »Wir bekommen alles, was wir verlangen: den Acker, einen menschlich gesinnten Mandatar und Straflosigkeit des Geschehenen. Wären wir damit nicht zufrieden und wollten wir den Kampf fortsetzen, so verdienten wir, allesamt ins Narrenhaus nach Lemberg geschafft zu werden. Ich aber bin ein vernünftiger Mann und will auf meinem Hofe bleiben.« Das wirkte. Simeon konnte den Kreishauptmann im Namen des ganzen Dorfes ehrerbietig begrüßen.

Herr v. Bauer nahm dies gütig auf und erwiderte mit gewohnter Höflichkeit: »Leute! Ich habe euch zwar allesamt im Laufe der letzten Monate in den tiefsten Höllenpfuhl verwünscht, aber weil ihr doch eigentlich arme Kerle seid, denen die Husaren etwas unsanft mitgespielt haben, so mag das Geschehene vergessen und vergeben sein. Und dich, alter Simeon, will ich sogar niemals fragen, wie du dich als Kaiser von Zulawce geführt hast. Solltet ihr in Zukunft unvernünftig sein, so wird euch freilich ein Donnerwetter an die dicken Schädel fahren, daß sie euch für Lebenszeit brummen sollen. Doch befürchte ich dies nicht, und so sind wir denn wieder gute Freunde.«

Dann begrüßte auch Gonta die Leute im Namen des Grafen mit etwas geringerer Deutlichkeit, aber mit gleichem Wohlwollen, und den letzten Rest der Verstimmung räumten seine Schlußworte hinweg. Er erklärte nämlich, daß er selbst bereit sei, für das Recht des Dorfes vor Gericht einzutreten, und auch gar nicht daran zweifle, daß sein Herr gern und freiwillig, ohne erst die Entscheidung des Amtes abzuwarten, auf das nicht rechtmäßig erworbene Gut verzichten werde.

Unter diesen Umständen war es dem Kreishauptmann nicht schwer, den richtigen Sachverhalt festzustellen. Um so schwieriger erwies sich die weitere Aufgabe, die Meineidigen zum Geständnis zu bringen. Der alte Herr war wohlwollend und billig genug, um deutlich zu empfinden, wie peinlich diese Tätigkeit sei, da alles andere vergessen und vergeben war. Gleichwohl übte er seine Pflicht und erleichterte sie sich nur durch die Zusicherung, daß das Gericht wohl die Verführer strenge strafen, hingegen die Verführten mit Milde behandeln werde, ›id est: so weit es Recht und Gesetz erlauben‹. Diese Zusicherung wirkte, und es gelang in der Tat, einige Fälle festzustellen, wo der Mandatar teils persönlich, teils mit Hilfe des Meiers Boleslaw die Leute durch Bestechungen oder Versprechungen zum Verbrechen verleitet hatte. Der humane Mann beließ die Reuigen gegen Bürgschaft des Richters bei ihren Familien.

Dann kehrte er nach Zablotow zurück, um den Bericht der beiden Herren entgegenzunehmen, die er an Taras entsendet hatte. Er war fest überzeugt, daß ihre Mission ohne Nutzen und Erfolg geblieben sei, und daher von ihrer Erzählung nicht weiter überrascht. »So wollen wir denn unsere volle Pflicht gegen den Mann tun!« sagte er gefaßt. »Wie viel Schlimmes er uns auch noch jetzt zufügen mag, der schwerste Druck ist nun doch von uns genommen: Wir haben kein Unrecht mehr auf dem Gewissen! Vorläufig freilich bleibt uns nichts anderes übrig, als die Ebene vor ihm zu schützen, so gut es eben glücken mag, denn ein Zug gegen den ›Schwarzen See‹, um ihn endlich zu fassen, wäre gleichbedeutend mit der Entfesselung eines furchtbaren Aufruhrs im ganzen Gebirge. Man muß nur diese Huzulen kennen. Nun gleichviel, er soll nicht umsonst der Überzeugung sein, daß Gott mit dem Gerechten ist, er wird es über kurz oder lang spüren!«

Der September verstrich, gegen alle Befürchtung, ohne neue Schreckenstaten. Dies erklärte sich daraus, weil keine Klagen an Taras gelangten, die ihm der Abhilfe würdig erschienen. Nur eine Anzeige erschien ihm näherer Prüfung wert, die gegen einen Edelmann des Czortkower Kreises, Stephan von Zukowski in Bossowka, die ein erprobter Mann der Schar, Karol Wygoda, erstattete. »Hetman«, rief er, »dein Werk ist nur halb getan, so lange der alte Teufel in Bossowka lebt!« Und er zählte eine Reihe gräßlicher Frevel auf, die der Mann begangen hatte. Taras vernahm es mit Entrüstung. »Wir wollen ihm das Handwerk legen!« rief er. »Aber wie erfuhrst du davon?«

»Ich weiß es längst, Herr. Denn wohl bin ich in der Kotzmaner Gegend daheim, also weit weg von jenem Dörfchen, habe aber dort als junger Knecht gedient und konnte so mit eigenen Augen ansehen, wie es jener Unhold trieb. Kein Viehstück in des Bauern Stalle, kein Mädchen in des Bauern Hause war vor ihm sicher. Aber es sind ja mehr als zwanzig Jahre her; ich hatte diese furchtbaren Geschichten vergessen und glaubte, daß der Elende längst im Grabe liege. Aber noch lebt er und treibt sein Unwesen fort, ich habe es gestern zufällig erfahren. Da war ich mit deiner Erlaubnis zur Kirchweih in Zabie, um mir durch meinen Dudelsack einige Heller zu verdienen, und traf dort mit einem andern Spielmann zusammen, der eben aus Bossowka kam. Ach, Hetman, was dort geschieht, schreit wahrlich zu Gott empor – Ähnliches hat sich schwerlich anderswo begeben. ›Warum rufen die Leute von Bossowka nicht unseren Hetman zu Hilfe?‹ fragte ich den Spielmann. – ›Ja!‹ erwiderte er, ›dies habe ich ihnen auch geraten, aber ihr Elend ist so groß, daß es sie um allen Verstand, allen Mut gebracht hat!‹ Obwohl dies nun wahrlich sehr glaublich klingt, so ist dennoch Vorsicht geboten. Und darum bitte ich dich, entsende mich als Kundschafter nach Bossowka. Ich kenne dort noch aus früherer Zeit einige vertrauenswürdige Leute und werde leicht die Wahrheit erkunden können. Mich treibt mein Gewissen dazu und die Liebe zu meinen früheren Dorfgenossen.«

»Das ist brav und gut«, sagte Taras. »Geh mit Gott. Es ist mir ein Herzenstrost, daß ich Leute habe wie du, Leute, die so genau wissen, wie heilig unsere Pflicht ist.«

Die Worte kamen ihm aus tiefstem Herzen. Denn wahrlich! – es bedurfte dieses Trostes, um sich noch aufrecht zu erhalten. Er hatte seinen Leuten bei der Rückkunft aus dem Weiler Magura von seiner Antwort an die Abgesandten des Kreisamtes erzählt, aber was es ihn gekostet hatte, so von Weib und Kind zu scheiden, erfuhr niemand.

Mit diesem größten, tiefsten Weh verglichen, konnten alle sonstigen Widerwärtigkeiten, die den unglücklichen Mann trafen, nur von geringem Gewichte sein. Trotz des beiderseitigen besten Willens, allen Streit zu vermeiden, trotz der herzlichen Freundschaft, die Hilarion für seinen Gast empfand, ergaben sich doch nahezu täglich kleine Reibereien zwischen dem Lager im Dembronia-Walde und dem Gehöfte am ›Schwarzen See‹. Namentlich hatte Naschko um seines Glaubens willen vielen Spott von den Huzulen zu erdulden, und Taras durfte dies schon deshalb nicht geduldig hinnehmen, weil sich der Jude bei jeder Unternehmung als Führer trefflich bewährt hatte, daher in Zukunft sicherlich auch wieder in die Lage kam, die Huzulen zu befehligen, und daher in ihren Augen nicht verächtlich werden durfte. »Hilarion«, bat darum der Hetman, »kläre doch du deine Leute darüber auf, daß Naschko nicht deshalb verhöhnt werden darf, weil er Gott in anderer Weise verehrt als wir.« Der Alte blickte, wie dies seine Gewohnheit war, lange schweigend vor sich nieder, ehe er, scheinbar ohne Bezug auf diese Bitte, fragte: »Sage, Taras, bist du je auf einem Ochsen geritten?« Und als dieser erstaunt verneinte, fuhr er lächelnd fort: »Auch ich habe den Ochsen nie zum Reiten benützt. Warum nicht? Ist es denn nicht möglich, daß sich unter den Ochsen auch ein Tier findet, das schlank und behend genug ist, um als Satteltier zu dienen? Gewiß, möglich ist es. Dennoch haben wir beide es nie versucht. Warum? Weil der Ochse nun einmal vom lieben Gott nicht dazu geschaffen wurde und weil jeder Reiter, der auf einem solchen Tiere angetrabt käme, ausgelacht würde.« – »Das Gleichnis taugt nicht viel«, erwiderte Taras ruhig, aber entschieden. »Die Juden sind Menschen wie wir.« – »Ja«, sagte Hilarion. »Der Ochs und das Pferd sind beide ganz nützliche Tiere, aber deshalb ist doch ein großer Unterschied zwischen beiden. Die Juden sind Menschen wie wir, aber andere Menschen, und nun einmal nicht dazu geeignet, die Waffen zu führen und uns zu befehligen. Sie gelten als feig und unterwürfig, und gewiß mit Recht.« – »Aber Naschko ist mutig und hat sich trefflich bewährt!« – »Ich zweifle nicht daran«, erwiderte der Greis. »Aber ich bleibe dabei: man reitet deshalb doch nie auf einem Ochsen. Wer es dennoch tut, darf sich nicht beklagen, wenn die Pferde im Stalle auf den sonderbaren Genossen, den er ihnen zuführt, hochmütig herabblicken. Höre, Taras«, fuhr er ernster fort, »du tust mir recht leid. Du suchst dir die festesten Türen aus, um sie mit deinem Schädel einzurennen. Zuerst bist du gegen das Unrecht und nun gar auch noch für die Juden. Taras! Die Türen werden dabei nicht entzweigehen, sondern . . .« Er verstummte. »Der Schädel«, ergänzte Taras. »Was liegt daran? Ich tue deshalb doch, was ich muß. Dich aber bitte ich noch einmal, ermahne deine Leute, die Gastfreundschaft nicht zu verletzen. Wer den Naschko kränkt, kränkt mich.« – »Das tut mir leid«, erwiderte Hilarion kühl, »aber ändern kann ich es nicht. Wer Gastfreundschaft in Anspruch nimmt, muß sich auch in die Art der Gastfreunde schicken . . .«

So wurde durch diese Unterredung jene leise Verstimmung nicht, wie Taras beabsichtigt, behoben, sondern nur noch mehr verstärkt. Und da sich zudem die Gehässigkeit der Huzulen gegen den Juden seither nur mehrte, so beschloß der Hetman, jede neue Auseinandersetzung nach Kräften zu vermeiden. Aber die Verhältnisse waren stärker als sein Wille und zwangen ihn doch wieder, und diesmal in weitaus ernsterer Sache, die Gerechtigkeit des Greises anzurufen. Der armen, blonden Tatiana drohte ihre ungewöhnliche Schönheit wieder einmal zum Verderben zu werden. Sie hatte das Anerbieten des Hilarion, in seinem Hause zu verbleiben, mit innigstem Dankgefühl aufgenommen und sich ihr Brot im Hause durch treue, fleißige Dienste zu erwerben gesucht. Die Sittenlosigkeit der Menschen, unter die sie ihr Geschick geführt hatte, konnte ihr natürlich nicht lange verborgen bleiben, aber sie half sich dadurch, daß sie weder nach rechts noch links blickte, sondern nur eben auf die eigene Arbeit, und vor dem Schlimmsten ward sie durch die Teilnahme bewahrt, die ihr der jüngste Sohn ihres Herrn, der ›Edelfalke‹, erwies. Nahm sich einmal ein Bursche eine Freiheit gegen sie heraus, so verbot er es ihm so nachdrücklich, daß sich die Behelligung nicht wiederholte. Und da es selbst der kühnste unter diesen Jünglingen nicht wagte, sich den Unwillen des Julko zuzuziehen, so fühlte sich das Mädchen bald wieder froh und sicher wie in den ersten Tagen, bis sie plötzlich einmal, da sie allein auf einer entlegenen Trift die Kühe melkte, zu ihrem Entsetzen erkannte, daß Julko sie nur aus Eigennutz vor den Zumutungen der anderen bewahrt hatte. Mit Mühe erwehrte sie sich des ungebärdigen Werbers und eilte dann entsetzt in das Lager, um die Hilfe des Hetmans zu erbitten. »Kannst du mich nicht vor der Schmach schützen«, rief sie verzweiflungsvoll, »dann wäre mir besser gewesen, du hättest mich nicht aus Henkershand gerettet!«

Taras suchte sie zu beruhigen und machte sich sofort auf den Weg. Aber Naschko trat ihm erregt entgegen. Er, der sonst seine Ruhe so trefflich zu wahren wußte, zitterte vor Wut, und die Augen sprühten Blitze. »Demütige dich nicht vergeblich!« rief er. »Diese Menschen werden nicht verstehen, was du von ihnen erbittest, und verständen sie es, sie wären zu roh, um es zu erfüllen!« – »Dich macht die persönliche Kränkung ungerecht«, verwies ihn Taras, »du vergißt . . .« – »Es ist nicht dies!« rief der Jude heftig. – »Sondern? . . .« Naschko erblaßte, dann flammte wieder dunkle Röte über sein scharf geschnittenes Antlitz. »Geh«, murmelte er, »überzeuge dich selbst!«

In der Tat lautete der Bescheid, den Hilarion auf die Bitte gab, kurz und trocken: »Da kann ich nichts tun!« – »Wie?« rief Taras. »Haben wir das Mädchen nur deshalb mit solcher Gefahr vom Tode gerettet, um sie als Metze deinem Sohne zu überliefern?« – »Das häßliche Wort ist hier nicht am Platze«, erwiderte Hilarion. »Wenn der ›Edelfalke‹ eine Jungfrau liebgewinnt und sie besitzen will, so kann dies nur eine Ehre für sie sein.« – »Also will er die Tatiana heiraten?« – »Behüte, er heiratet die einzige Enkelin meines Vetters Stanko, drüben auf der anderen Seite des Czernahora, sobald die Dirne das sechzehnte Jahr erreicht hat. So haben es Stanko und ich bereits vor zehn Jahren vereinbart, damit der Besitz dem Geschlecht verbleibe.« – »Nun, so will er das Mädchen denn doch nur zur Geliebten!« – »Gewiß, aber warum du dies so entsetzlich findest, begreife ich nicht. Du kannst nicht verlangen, daß wir die Tatiana höher achten als jedes Huzulenmädchen. Halte Umfrage, und wenn du eine findest, die es für eine Schmach hielte, meinem Sohne anzugehören . . .« – »Das ist gleichgültig!« rief Taras. »In den Augen der Tatiana wie in den meinen ist es eine Schmach, und darum flehe ich dich an, sie vor deinem Sohne zu schützen!« – »Das kann ich nicht!« erwiderte Hilarion. »Es würde auch nichts nützen! Hält sich deine Tatiana in der Tat zu gut für meinen Sohn, so kann ich ihr nur den Rat geben, mein Haus zu verlassen.«

Voll Groll und Entrüstung kam Taras ins Lager zurück. Dort hatte sich inzwischen Wygoda wieder eingefunden; mit ihm waren zwei Bauern aus Bossowka gekommen. Aber Taras hörte sie nicht an, er mußte zunächst dem Juden Rede stehen, der ihm hastig entgegenstürzte. »Du hast recht gehabt«, mußte er zugestehen. »Und wo sollen wir das arme Mädchen nun bergen?« – »Dafür weiß ich Rat!« rief Naschko energisch, fast freudig. »Sie muß in den Bergen bleiben, weil sie in der Ebene den Häschern in die Hände fiele, aber in einem Hause, wohin die Macht des Julko nicht reicht. Darum wollen wir die jüdischen Schenkleute in Zabie bitten, die Ärmste bei sich aufzunehmen. Es sind alte, kinderlose Leute, für deren Bravheit ich bürgen kann. Auch werden sie unsere Bitte gewiß erfüllen.«

»Wie aber«, wendete Tatiana angstvoll ein, »wenn mich Julko auch dort bedroht?«

»Das wird ihm nichts nützen«, beruhigte sie der Jude, »und Gewalt anzuwenden, wird er nicht wagen. Auch muß man ja diese Leute recht kennen: sieht er dich nicht mehr, so denkt er auch nicht mehr an dich.«

»Wie dem auch sei«, entschied Taras, »wir haben keinen andern Ausweg und müssen daher diesen wählen. Mache dich bereit, Mädchen!«

Dann ließ er sich von Karol Bericht über seine Sendung erstatten. »Herr, es ist entsetzlich«, versicherte der Mann. »Gegen diesen Teufel war selbst der Pfarrer von Kossowince ein Engel.« Und er erzählte einige Fälle von wahrhaft verruchter Grausamkeit und Bedrückung. »Haben die Bauern beim Kreisamt geklagt?« fragte Taras. – »Ja, Herr, aber er ist auch der frechste Lügner unter der Sonne; natürlich haben die ›Schreiber‹ dem reichen Herrn mehr geglaubt als den armen Bauern. Ach, Herr, wie haben diese Unglücklichen aufgejubelt, als ich ihnen sagte, daß ich von dir gesendet sei. Wahrlich, diesen Menschen wirst du als Retter und Erlöser kommen. Aber höre sie doch lieber selbst.«

Die beiden Männer traten vor Taras. Der eine, ein sehr ärmlich gekleideter Greis von würdigem Wesen, stellte sich als der Richter des Dorfes, Harassim Perko, vor. Sein Genosse war ein stattlicher Mann, in einen neuen Schafpelz gehüllt. Er nannte sich Wassilj Bertulak. Seine Stimme zitterte vor verhaltenem Weh, als er sagte: »Unsere Leute haben mich gesendet, weil der Unhold an mir den letzten Frevel verübt. Er hat meine Tochter entehrt.« Dem Manne schien die Stimme zu versagen, er wendete sich ab und verstummte. Um so ausführlicher erzählte der Richter von der Not des Dorfes. Es hätte nicht erst der flehentlichen Bitten, mit denen er schloß, bedurft, um in Taras den Entschluß zu festigen, sofort nach Bossowka aufzubrechen. Der Mithilfe der Huzulen bedurfte er zu diesem Zuge nicht. Obwohl seine Schar kaum ein Dutzend Leute zählte, konnte sie doch genügen, um den Edelherrn und die beiden Diener, die mit ihm im Schlößchen von Bossowka hausten, zu bewältigen. So suchte denn Taras seinen Gastfreund nur deshalb auf, um Abschied von ihm zu nehmen.

»Geh mit Gott«, sagte Hilarion. »Denke meiner nicht im Groll. Und so oft du wiederkommst, steht dir mein Haus offen und die Kraft meines Geschlechts zu deinem Dienste. Ich habe von deinem Blute getrunken und du von dem meinen. Ich werde dessen immer eingedenk bleiben, vergiß es auch du nicht.« – »Ich werde es nie vergessen«, beteuerte Taras und drückte seine Hand.

Dann ließ er seine Leute aufsitzen und ritt mit ihnen den Czeremosz abwärts gegen Zabie. Dort übergab er die Tatiana den Wirtsleuten und forderte von ihnen das Gelöbnis, über dem Mädchen zu wachen, was sie denn auch nach der Sitte ihres Volkes mit vielen Schwüren taten. Dann sprengten sie weiter, der Ebene zu. Die beiden Abgesandten aus Bossowka hatten sich ihnen angeschlossen.

Erst drei Tage später erreichte die kleine Schar, da sie nur nachts zu reiten wagte, die Kreidefelsen am linken Ufer des Dnestr. Dort rastete sie zum letzten Male, da sie nun dem Schlößchen auf eine Stunde Entfernung nahe war. Am späten Nachmittag kam ein blasses, verhärmtes Mädchen in die Schlucht, wo sie sich verborgen hielten; Wassilj Bertulak ging ihr entgegen und schloß sie gerührt in seine Arme. Dann faßte er ihre Hand und führte sie zu Taras. »Meine Tochter«, sagte er. »Sie will dabei sein, wenn wir ihren Verderber richten.« – »Nein! Nein!« rief das Mädchen ängstlich. – »Es ist aber notwendig, falls der Verruchte leugnen sollte«, mahnte sie ihr Vater nachdrücklich. Der Hetman blickte voll Mitleid auf das verhärmte Weib. »Bleib nur in der Nähe«, sagte er mild. »Es wird dir wohl bitter werden, armes Mädchen, vor so viel fremden Männern von deiner Schmach zu erzählen, aber es mag dir ein Trost sein, daß du es tust, um andere vor gleichem Schicksal zu retten.«

Dann traf er seine Anordnungen für den nächtlichen Überfall. Das Schlößchen lag ganz einsam und war nur von Zukowski, seinem alten Lakaien Stephan und seinem Kutscher Theophil bewohnt; der Verwalter und die Knechte hausten im Meierhof, der dicht am Dorfe lag. Ein Widerstand war also nicht vorauszusehen, und Taras begnügte sich zu befehlen, daß Naschko mit sechs Leuten das Schlößchen umzingelt halte, während er selbst mit den übrigen das Rächeramt vollziehen wollte.

Gegen die elfte Stunde brachen sie auf, kurz nach Mitternacht hielten sie vor dem kleinen, einstöckigen Hause. Die Tür war halb angelehnt. »Der Kutscher wird zu seiner Geliebten im Dorf geschlichen sein«, flüsterte der Richter dem ›Rächer‹ zu. Als jedoch dieser hierauf mit den andern ins Dienerzimmer trat, den Lakaien vorher zu bewältigen, erwies sich diese Vermutung als unrichtig. Wohl schlief da nur ein Mann, aber es war der Kutscher. Er fuhr entsetzt empor und begann um sein Leben zu flehen. »Ich bin kein Mörder«, beruhigte ihn der Hetman und fragte dann, wo der Lakai wäre. »Er hat«, erwiderte Theophil zitternd, »heute morgens Botschaft erhalten, daß seine Schwester in Mielnica auf dem Sterbelager liegt, und so hat ihm der Herr erlaubt, zu ihr zu gehen.«

Taras befahl seinem Knechte Sefko, den Mann zu bewachen, und schritt mit den anderen die Stiege empor. Der Edelherr schien bereits erwacht, sie hörten oben eine Tür gehen, dann fiel matter Lichtschein auf die Treppe, und eine schwache, zitternde Greisenstimme fragte: »Theophil, was gibt es?« – »Das sollst du sofort erfahren«, erwiderte Taras mit starker Stimme, »ich bin der Rächer.« Ein schwacher Schrei folgte, dann ein Klirren; der Lichtschein erlosch, dem Entsetzten war das Nachtlämpchen aus der zitternden Hand gesunken. Zur Flucht schien ihm die Kraft zu fehlen. In der Tat sah Taras, als er, die Fackel in der Linken, den oberen Korridor betrat, den Edelmann wie versteinert vor Schreck regungslos an der Tür lehnen.

Lazarko sprang hinzu und schob ihn, auf einen Wink des Taras, in die Stube, aus der er getreten war. Es war ein großes, aber dürftig eingerichtetes Gemach, das nicht bloß als Schlafkammer, sondern auch als Bücherei zu dienen schien, denn mächtige Regale, mit Büchern besetzt, bedeckten die Wände; auch auf dem großen Tische in der Mitte lagen Folianten aufgehäuft. Die Einrichtung schien schlecht für das Schlafzimmer eines Wüstlings zu passen, und noch weniger entsprach das Äußere des Mannes der Vorstellung, die sich Taras von ihm gemacht hatte. Denn vor ihm stand ein gebückter Greis mit ehrwürdigem Antlitz. Aber nur einen Atemzug lang blickte er ihn zweifelnd an, dann nahmen seine Züge wieder den Ausdruck drohenden Ernstes an. Er wußte ja aus Erfahrung, wie oft der Schein trüge; hatte nicht der Unhold in Kossowince gleichfalls die Mienen eines Heiligen zur Schau getragen?

»Ich bin gekommen, dich zu richten«, begann er rauh. »Du hast dich an deinen Bauern durch unerhörte Frevel vergangen.« – »Ich?« stöhnte der Greis und sank in den Lehnstuhl, neben den ihn Lazarko gedrängt hatte. »Jesus! Maria! Das kann nur ein Irrtum, eine Verleumdung sein!« – »Rufe die Heiligen nicht an!« herrschte ihn Taras finster an. »Ich bin darauf vorbereitet, daß du lügen wirst, und habe daher die Zeugen mitgebracht! Du leugnest, daß du deine Bauern gedrückt, das Dorf an Äckern, die einzelnen an Hab und Gut geschädigt hast?« – »Gott ist mein Zeuge, daß ich es nicht getan habe!« rief Zukowski feierlich. »Frage den Richter, er wird es bestätigen; er heißt Harassim Perko, wohnt gleich am Eingang des Dorfes und kann in einer Stunde hier sein.« – »Er ist näher, als du glaubst«, sagte Taras und winkte dem Lazarko.

Der ältere der beiden Männer trat ein. »Hier ist der Richter«, fuhr Taras fort. »Befrage ihn, ob er Zeugenschaft für dich leisten will.« – »Das ist ja nicht der Richter!« schrie der Greis entrüstet auf und erhob sich. »Dieser Mann heißt nicht Harassim Perko, sondern Dimitri Buliga, ist ein schlechter Mensch, der sein Hab und Gut durchgebracht hat und vom ganzen Dorfe verachtet wird, und wohnt auch seit einem halben Jahre nicht mehr hier.« Diese Worte waren so sehr im Tone ehrlicher Entrüstung gesprochen, daß Taras fast verblüfft auf den Bauer blickte. Aber dieser blieb ruhig und sagte dann lächelnd: »Herr Zukowski, du verdienst doch wirklich deinen Ruf als frechster Mensch, der je gelebt hat! Jetzt willst du mir gar, nur um eine Galgenfrist zu gewinnen, meinen Namen abstreiten, und daß ich – ich bin! . . . Hetman, mach doch diesem traurigen Spaß ein Ende. Befrage den Mann, den du hierher gesendet, er kennt mich ja.« Karol Wygoda trat vor. »Ja, Hetman«, bestätigte er, »dieser Mann heißt Harassim Perko und ist Richter in diesem Dorfe. Ich kenne ihn seit fünfundzwanzig Jahren.« – »Lüge«, stöhnte der Greis, erhob sich und trat dicht an ihn heran. »Auch dich muß ich schon einmal gesehen haben, aber vor langen Jahren . . . Nun weiß ich es, du heißest mit dem Taufnamen Karol und standest als Ackerknecht in meinem Dienst. Du bist mir in Erinnerung geblieben, weil du der einzige Knecht warst, den ich Zeit meines Lebens den Gerichten überliefern mußte.«

Karol hatte die Worte ruhig, fast heiter angehört und den Greis mit einer Miene gemustert, wie man sich eine Merkwürdigkeit besieht. »Hetman«, sagte er dann, »da hast du eine Probe von der Verlogenheit dieses Elenden. Er kennt mich natürlich, da ich ja hier diente; aber auf seinem Hofe war ich nie, und noch weniger hat er mich jemals dem Gerichte überliefert.« – »Denk an Gott . . .«, begann der Greis wieder. »Genug!« fiel ihm Taras ins Wort. »Antworte! Glaubst du, daß dein eigener Diener keine Lüge sagen wird, um dich zu verderben?« – »Da sei Gott vor!« rief der Edelmann eifrig. »Mein alter Stephan ist wohl nicht im Hause, aber auch der Kutscher Theophil kennt den Richter Harassim und kann bestätigen, daß dieser Mensch sich fälschlich seinen Namen anmaßt.« – »Führet den Kutscher vor«, befahl Taras.

Der junge Mensch wurde hereingebracht. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gebunden, auch hielten ihn Sefko und Soklewicz an den Armen fest. Er war totenbleich und blickte zitternd zu Boden. »Fürchte nichts«, sagte Taras. »Du sollst nur die Wahrheit sagen. Weh dir, wenn du lügst! Kennst du diesen Mann?« – »Ja!« erwiderte der Bursche, »es ist Harassim Perko, der Richter.« – »Theophil!« schrie der Greis auf, »du lügst! Du mußt den Richter kennen, er war ja erst heute vormittags bei mir.« – »Genug!« entschied Taras. »Ich befehle dir nun, zu schweigen, bis du gefragt wirst. Sprich, Richter, hat dieser Mann einen Teil eures Ackers an sich gerissen?« – »Ja!« erwiderte der Bauer und berichtete es ausführlich.

»Herr Zukowski«, wendete sich Taras an den Edelmann, »was hast du darauf zu entgegnen?« – »Lüge!« rief dieser. »Er ist ja nicht der Richter, sondern der Lump Dimitri. Willst du dich nicht mit dem Blute eines Unschuldigen beflecken, so schicke ins Dorf und lasse den wirklichen Richter herbeiholen.« – »Du bleibst also bei deinen Lügen«, erwiderte der Hetman verachtungsvoll. »Nun, wie es dir recht scheint, du willst enden, wie du gelebt hast! . . . Lasset die beiden anderen eintreten.«

Der Bauer Wassilj trat in die Stube, hinter ihm seine Tochter. Sie folgte nur zögernd, und der Vater mußte sie fast gewaltsam vorwärts zerren. »Kennst du diese beiden?« fragte Taras den Edelmann. – »Den Mann nicht«, erwiderte dieser fest. »Ich habe ihn meines Wissens nie gesehen. Das Mädchen aber war heute morgens zum ersten Male in meinem Hause. Sie sagte, sie sei von der sterbenden Schwester meines Dieners Stephan in Mielnica gesendet, ihn sofort dahin zu berufen . . . Taras!« schrie er auf, »nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Diese Elenden haben meinen treuen Stephan weggelockt und den Kutscher bestochen, um dich zu täuschen und zu meinem Mörder zu machen!« – »Du bist in der Tat ein sehr findiger Mensch«, erwiderte Taras mit kaltem Hohne. »Antworte, Marinia, so, als ob du vor Gott stündest! Warst du wirklich heute morgens zum ersten Male in diesem Hause?« – »Nein!« sagte sie leise. – »Aber vor drei Wochen? Da übte der Elende Gewalt an dir?« – »Ja! Stephan gab mir einen Trank ein, der mich betäubte!« – »Lüge!« schrie der Greis auf. »O mein Gott, wie sollte ich in meinen Jahren . . .« – »Schweig!« befahl Taras. »Warst du damals bereits im Hause?« wendete er sich an den Kutscher. – »Ja!« erwiderte der Bursche. »Und es begab sich wirklich so, wie das Mädchen sagt.« – »Erbarmen!« flehte der Greis. »Ich bin ein armer Mann, ich habe nur vierhundert Gulden im Hause, aber nimm sie hin, nimm alles, was mir gehört, aber laß mich nicht so elend sterben.« – »Ich bin kein Räuber, sondern ein Richter«, erwiderte Taras. »Du hast den Tod verdient und wirst ihn erleiden. Willst du vorher beten, so gönne ich dir fünf Minuten Frist.« – »Erbarmen! Rufe doch irgendeinen Menschen aus dem Dorfe!« – »Du bist überführt. Bete!« – »Mörder!« schrie der Greis im wilden Zorne der Verzweiflung und wollte sich auf Taras stürzen. Ein Schuß aus der Pistole des Lazarko streckte ihn nieder.

Das Mädchen fiel in Ohnmacht, ihr Vater brachte sie aus der Stube. Die anderen blieben mit Taras dort, bis sie im Wandschrank die Geldkassette des Verstorbenen aufgefunden hatten. Sie enthielt in der Tat nur etwa vierhundert Gulden. Taras vermied es, das Geld zu berühren. – »Nimm es als Entschädigung für das Dorf«, sagte er dem Richter, »und verteile es gerecht.« Eine Stunde später lag das Schlößchen von Bossowka verlassen.

Taras trat mit seiner Schar sofort den Rückweg in die Berge an. Nach einem scharfen Ritt erreichten sie am nächsten Tage das einsame, weiherreiche Tiefland zwischen Kotzman und Zastawna. Hier beschlossen sie, bis zum Abend zu rasten. Da sie nur etwa eine halbe Stunde vom Heimatsdorfe des Karol Wygoda lagerten, so erbat sich dieser von Taras die Erlaubnis, seine Vettern besuchen zu dürfen. »Ich habe nichts dagegen«, sagte Taras, »aber du mußt bis zum Sonnenuntergang zurück sein.« Karol versprach es und ging. Der Mann kam nicht wieder, weder zur angesetzten Frist noch später. Immer besorgter lauschte Taras in die Dunkelheit hinaus. »Brechen wir auf«, mahnte Naschko. »Ist der Mann gefangen, so wäre es Torheit, länger auf ihn zu harren, weil sich dann mit jeder Minute auch die Gefahr für uns vermehrt. Und ist er etwa freiwillig bei den Seinen zurückgeblieben, so können wir ihn ja nicht zwingen zu kommen.« – »Das ist undenkbar«, sagte Taras. »Er ist ja einer der verläßlichsten Männer meiner Schar. Und ebenso fällt es mir schwer zu glauben, daß dem treuen Menschen ein Unglück zugestoßen ist. Vielleicht hat ihn nur irgendein Zufall gehindert, rechtzeitig wieder einzutreffen. Wir wollen bis Mitternacht warten.« Auch diese Stunde kam heran, ohne daß der Vermißte wieder erschien. Da gab Taras endlich das Zeichen zum Aufbruch . . .

Am zweitnächsten Tage, den sie im Hochwald am Ufer des Czeremosz verbrachten, legte es Taras den Leuten zur Entscheidung vor, wohin sie sich nun wenden sollten, ob nordwärts gegen den ›Welyki Lys‹, um dort allmählich eine neue Bande zu sammeln, oder westwärts nach dem Lager im Dembronia-Walde, um wieder bei größeren Wagnissen auf die Kraft der Huzulen zählen zu können. »Wir folgen dir, wohin du uns führst«, erwiderten sie. – »Nun denn«, erklärte Taras, »dann führe ich euch nach dem Dembronia-Walde zurück. Denn wohl machen uns die Huzulen das Leben schwer, aber wir dürfen nicht auf unsere Bequemlichkeit achten, sondern auf die heilige Sache, der wir dienen. Steht uns Hilarion bei, so sind wir mächtig; ohne ihn müßten wir großes Unrecht geschehen lassen.«

Am späten Abend desselben Tages ritten sie in Zabie ein. Alle Hütten des Dorfes lagen bereits in tiefem Dunkel, nur aus den Fenstern der Schenke, deren Tür gleichfalls schon verriegelt war, brach noch matter Lichtschein auf die Straße. Taras ritt heran und spähte hinein. Das große Schankzimmer war leer, nur auf der Ofenbank gewahrte er eine dunkle Gestalt, die regungslos mit gesenktem Haupte dasaß. »Es ist Froim, der Schenker«, rief Naschko. »Um Gott! Es wird doch kein Unglück geschehen sein!« Mit zitternder Hand klopfte er an die Scheiben.

Der alte Mann fuhr erschreckt auf und eilte zu dem Tische, offenbar in der Absicht, das Lämpchen zu löschen. Als er die Stimme des Naschko erkannte, blieb er stehen, nickte traurig, ging dann langsam auf das Fenster zu und öffnete es. »Wollt ihr sie noch einmal sehen?« fragte er. – »Die Tatiana?« rief Taras. »Was ist geschehen?« – »Sie ist aber nicht hier aufgebahrt«, fuhr der Mann langsam, mit zitternder Stimme fort. »Weil wir Juden sind, konnten wir ihr diesen letzten Dienst nicht erweisen. Sie liegt in der Kapelle auf dem Friedhofe, und morgen früh ist das Begräbnis.« – »Sie ist tot?« schrie Naschko auf. – »Weißt du es noch nicht?« fragte Froim. »Ich dachte, daß ihr deshalb so rasch gekommen seid. Gestern vormittags haben wir sie aus dem Wasser gezogen, der Herr Pfarrer, ich und einige Männer unseres Dorfes. Es war aber eine schwere Mühe, denn der wilde Czeremosz gibt nicht gerne wieder, was er einmal hat.« – »Erzähle!« rief Taras. »Sie ist gemordet worden?« – »Nein«, erwiderte der Jude, »sie hat sich selbst getötet, um der Schande zu entgehen. Ach, wie war sie so schön und brav und gut und hat doch elend sterben müssen.« Der alte Mann begann zu schluchzen. »Erzähle!« wiederholte Taras ungestüm. »Wie ging es zu?« – »Was ist da viel zu erzählen!« klagte der Jude. »Vorgestern gegen Mitternacht ist der ›Edelfalke‹ gekommen – aber der Schmutz- und Schandfalke sollte er eigentlich heißen! Ist er also gekommen mit hundert Reitern oder mit zweihundert, was weiß ich? – und hat von mir verlangt, ich soll ihm das Haus öffnen. Frag' ich: ›Wozu?‹ Sagt er: ›Öffne, sonst breche ich das Tor ein!‹ Sag' ich: ›Ich bin nur ein alter, schwacher Mensch, und außer mir sind bloß drei Weiber im Hause, nämlich mein Weib, die Dienerin und die Tatiana, also wehren‹, sag' ich, ›können wir uns nicht gegen dich, aber überlege es dir, ob es sich für den Sohn des gerechten Hilarion schickt, ein Räuber und Einbrecher zu werden!‹ Sagt er: ›Öffne, sonst geht es dir schlimm!‹ Sag' ich: ›Wie Gott will, aber ich öffne nicht, denn ich habe meinen Eid geschworen, das Mädchen vor dir zu behüten, und wer seinen Eid bricht, den straft Gott! Es ist wahr‹, sag' ich weiter, ›ich fürcht' mich vor dir, denn ich bin nur ein schwacher, alter Jud, aber vor Gott fürchte ich mich noch mehr als vor dir, und darum öffne ich nicht.‹ Nun, so hat er die Tür eingebrochen und ist hereingekommen mit seinen Leuten und hat das Mädchen geraubt. Auf das eigene Pferd hat er sie gesetzt, vor sich auf den Sattel, und ist davongesprengt, zurück zum ›Schwarzen See‹. Sie aber war ein golden' Kind, ihr war ihre Ehre lieber als ihr Leben, und so ist sie, während sie so am Flusse geritten sind, vom Pferde geglitten und war mit einem Sprung unten im Wasser. Da haben die Reiter sie zu retten gesucht, aber es war umsonst. Wie ich es im Morgengrauen erfahre, gehe ich zum Herrn Pfarrer, und wir bieten die Männer auf und suchen so lange, bis wir sie finden. Morgen früh wird sie begraben, und wenn ihr sie noch sehen wollt, so reitet sogleich zur Kapelle.«

Mancher Ausruf des Zornes und der Entrüstung hatte die Erzählung des Wirtes unterbrochen, nur Taras und Naschko hatten lautlos gelauscht.

»Kommt!« befahl Taras endlich. »Zur Kapelle!« Stumm und im Schritt ritten sie wieder zurück durch das langgedehnte Dorf, bis sie den Friedhof erreicht hatten, der am Eingang desselben lag. Sie stiegen von den Pferden, schlangen die Zäume um das Gitter und traten entblößten Hauptes in die Kapelle . . .

Zwei Fackeln erhellten nur mühsam den engen, feuchten Raum. Zu Füßen eines großen, plump gefügten Kreuzes stand der offene Holzsarg, in den sie die Leiche gebettet hatten. Niemand wachte an dem Sarge. Die beiden Männer, denen der Pfarrer diese fromme Pflicht aufgetragen, hatten es wohl vorgezogen, die naßkalte Herbstnacht in der Stube des Totengräbers zu verbringen.

Gebeugten Hauptes, ein Gebet im Herzen oder auf den Lippen, traten die friedlosen Männer an den Sarg und blickten auf die starren, selbst im Tode noch schönen Züge nieder. Das holde, liebliche Antlitz war unentstellt, und wie ein Diadem schmückte der grüne Kranz, der Schmuck der Jungfrau, die stolze Stirne. Die rohen Herzen dieser Männer waren im tiefsten bewegt, aber nur einer vermochte sein Weh nicht schweigend zu tragen, er schrie auf, als er die Tote gewahrte, kurz, gellend, halberstickt klang ihr Name von seinen Lippen. Dann brach er zusammen.

Das war Naschko. Taras richtete ihn auf und führte ihn hinaus in die Nacht. Dort ließ er ihn auf dem Treppchen der Kapelle niedersitzen und strich ihm sanft über die Stirn und Wangen. »Ich weiß . . .«, murmelte er, »ich habe es längst geahnt . . . Und wenn ich den Frevel nicht rächen kann, so wirst du es vollbringen! . . .«

 


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