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Vierzehntes Kapitel.

Ist voller Abentheuer, die im Wirthshause einander drängen.


Schon dämmerte der Abend, als ein ältlicher Herr in den Hof einritt, dem Stallknecht sein Pferd übergab, und sich sofort in die Küche verfügte, wo er, nachdem er eine Pfeife Taback verlangt, am Feuer Platz nahm, wo bereits mehrere andere Personen versammelt waren.

Das Gespräch betraf einzig und allein den in der vergangenen Nacht vorgefallenen Straßenraub und den Unglücklichen, der fast ein Opfer desselben geworden war. Mistreß Towwouse sagte, sie begriffe nicht, wer zum Henker den Tom Whizwell geheißen habe, einen solchen Gast in ihr Haus zu bringen, da es doch so viele Bierhäuser in der Straße gebe; »aber wenn der Mensch stirbt,« fügte sie hinzu, »so mag das Kirchspiel ihn begraben lassen. Denkt doch, der Bursche will durchaus Thee haben!« – Betty, die eben sich so menschenfreundlich seiner angenommen, versicherte, sie halte ihn für einen vornehmen Herrn, denn sie habe in ihrem Leben keine feinere Haut gesehen. – »Was nutzt uns seine Haut,« versetzte Mistreß Towwouse, »ich vermuthe, das wird wohl unsere ganze Zahlung für seine Zeche sein. Solche vornehme Herren mögen immer vom Drachen (so hieß das Wirthshaus) wegbleiben.«

Der zuletzt angekommene Fremde schien viel Theilnahme an dem Unglück des armen Menschen, welcher, wie er bald bemerken konnte, aber nicht in die barmherzigsten Hände gefallen war, zu zeigen. Es läßt sich nicht leugnen, daß wenn Mistreß Towwouse auch den zarten Regungen ihres Gemüths keine Worte geliehen hätte, es schon durch die Natur in ihren Zügen so leserlich gezeichnet war, daß Hogarth selbst nie einem Gemälde mehr Ausdruck verliehen haben mag.

Von Statur war sie kurz, hager, krumm. – Ihre Stirn, in der Mitte mächtig vorgebogen, stieg dann jäh zur Nase hinab, die scharf und roth war, und über den Mund herabgehangen haben würde, wenn die Natur ihrer Spitze nicht eine Richtung aufwärts gegeben hätte. Ihre Lippen waren zwei Streifen Haut, welche, so oft sie sprach, sich in einen Sack zusammenzogen. Ihr Kinn war zugespitzt, und von dem obern Ende der gelblichen Haut, die ihre Wangen bedeckte, standen zwei Knochen, die ein paar kleine rothe Augen fast verbargen. Hierzu kam noch eine Stimme, die den Gesinnungen, welche sie äußerte, völlig entsprach, indem sie rauh und kreischend war.

Es dürfte schwer zu entscheiden sein, ob der Fremde mehr Widerwillen gegen die Wirthin, oder mehr Mitleid für deren unglücklichen Gast empfand. Er fragte sehr dringend den Chirurgus, der jetzt in die Küche getreten war, ob noch einige Hoffnung zur Wiederherstellung des Patienten vorhanden sei, und bat ihn, alles mögliche zu diesem Zweck anzuwenden, indem er hinzufügte, es sei die Pflicht eines Jeden in jeglichem Beruf, dem Armen und Bedürftigen gratis beizustehen. Der Chirurgus antwortete, er werde sich schon des Kranken annehmen, aber alle Chirurgen Londons könnten ihm nicht helfen. »Um Verzeihung, Sir,« sagte der Fremde, »was für Wunden hat er?« – »Ei, verstehen Sie etwas von Wunden?« fragte der Chirurgus (indem er Mistreß Towwouse bedeutsam zuwinkte). – »Sir, ich habe einige geringe Kenntnisse in der Chirurgie,« antwortete der Fremde. – »Geringe Kenntnisse – ho ho!« sagte der Chirurgus, »sie mögen wohl allerdings gering sein.«

Die ganze Gesellschaft wurde aufmerksam, in Erwartung, der Chirurgus, der das war, was man einen trockenen Gesellen zu nennen pflegt, werde den Fremden aufziehen. Er begann mit triumphirendem Gesicht: »Ich vermuthe, Sie sind auf Reisen gewesen?« – »Das nicht, Sir,« versetzte der Fremde. »So! dann haben Sie vielleicht in Hospitälern prakticirt?« – »Nein, Sir.« – »Hm! auch das nicht? – Woher denn also, Sir, wenn ich so frei sein darf zu fragen, woher haben Sie Ihre chirurgischen Kenntnisse?« »Sir,« antwortete der Fremde, »ich mache keine großen Ansprüche; das Wenige was ich weiß, habe ich aus Büchern.« – »Aus Büchern?« rief der Chirurgus. »Ei, da haben Sie ja wohl den Galenus und Hippokrates gelesen?« – »Nein, Sir!« entgegnete der Fremde. – »Wie, Sir, Sie wollen Chirurgie verstehen, und haben nicht den Galenus und Hippokrates gelesen?« – »Sir,« sagte der Fremde, »ich glaube, es giebt viele Wund[er]ärzte, die keinen von beiden gelesen haben.« – »Das glaube ich auch, desto größer die Schande; ich aber verdanke es meiner Erziehung, daß ich sie auswendig weiß, und ich gehe selten aus, ohne Beide in der Tasche zu haben.« – »Es sind ziemlich starke Bände,« bemerkte der Fremde. – »O ja,« versetzte der Wundarzt, »ich glaube, wie stark sie sind, ist mir besser bekannt als Ihnen.« (Hierbei zog er ein Gesicht, und die ganze Gesellschaft brach in ein Gelächter aus.)

Der Chirurgus fragte, um seinen Triumph zu verfolgen, den Fremden, ob er sich nicht auch eben so gut auf die Arzneikunst, als auf die Chirurgie verstehe? – »Noch etwas besser,« erwiederte Jener. – »Ah, leicht möglich,« rief der Chirurgus, indem er den Anderen zuwinkte; »nun, ich verstehe auch etwas weniges von der Arzneikunst.« – »Wüßte ich nur halb so viel davon,« fiel Towwouse ein, »so wollte ich nie wieder eine Schürze tragen.« – »Ich glaube, Herr Wirth,« sagte der Wundarzt, »es giebt Wenige so ein drei, vier Meilen in der Runde, die ein Fieber besser zu behandeln wissen wie ich, wenn ich's auch selbst sage. Venienti accurrite morbo ; das ist meine Methode. Ich hoffe, Sie verstehen Latein, Herr College?« – »Ein wenig,« sagte der Fremde.« – »Nun, und griechisch gewiß auch: Ton dapomibominos poluflospoio thalasses. Aber so was vergißt sich; ich hätte vor Zeiten wohl den ganzen Homer hersagen können.« – »Alle Tausend! der Fremde hat seinen Mann gefunden!« sagte Mistreß Towwouse, worauf sich wieder ein allgemeines Gelächter erhob.

Der Fremde, der nicht im geringsten zum Spaßen aufgelegt zu sein schien, ließ den Chirurgus ganz ruhig sich seines Triumphes erfreuen, welches dieser fast über die Gebühr that, und er sagte, nachdem er dessen Tiefe genug sondirt zu haben glaubte, er sei von seiner großen Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit vollkommen überzeugt, und werde ihm für die Mittheilung seiner Meinung über den Zustand des Patienten sehr verpflichtet sein. »Sir,« sprach der Wundarzt, »sein Fall ist der eines todten Mannes. Die Contusion an seinem Kopfe hat die innere Membrane des Occiput perforirt, und jenen radikalen winzig dünnen, unsichtbaren Nerven durchschnitten, der mit dem Pericranium cohärirt; hieraus entstand ein anfangs symptomatisches, dann aber pneumatisches Fieber, und er ist endlich wahnsinnig geworden, oder von Sinnen, wie man insgemein fälschlich zu sagen pflegt.« – Er wollte in dieser gelehrten Auseinandersetzung fortfahren, als ein mächtiges Geräusch ihn unterbrach. Einige junge Bursche aus der Gegend hatten einen der Straßenräuber gefangen, und brachten ihn in das Wirthshaus. Betty eilte mit dieser Neuigkeit zu Joseph, der sogleich bat, man möchte nach einem abgebrochenen Goldstückchen suchen, das an ein Band gehenkelt sei, und welches er unter den Schätzen des reichsten Mannes auf Erden leicht herausfinden wolle. Obgleich der Gefangene seine Unschuld betheuerte, so ward er doch durchsucht, und man fand unter andern Dingen auch das eben erwähnte Goldstückchen bei ihm, welches Betty kaum erblickte, als sie gewaltsame Hand daran legte und es Joseph brachte, der es vor Freuden außer sich annahm, und indem er es an sein Herz drückte, ausrief, jetzt könne er im Frieden sterben. Einige Minuten darauf kamen mehrere andere Bursche mit einem Bündel, das sie in einem Graben gefunden hatten, und worin sich wirklich die dem armen Joseph abgenommenen Kleider und seine andern Habseligkeiten befanden. Kaum sah der Fremde den Rock, als er erklärte, er kenne die Livree, und wenn sie dem armen Menschen eben abgenommen sei, wünsche er ihn zu sehen, denn er sei sehr gut bekannt mit der Familie, welcher diese Livree angehöre. Er wurde demgemäß durch Betty hinaufgeführt, aber, o Leser, wie groß war das beiderseitige Erstaunen, als der Fremde in dem Patienten Joseph erkannte, und dieser in ihm seinen Freund und Gönner, Herrn Abraham Adams!

Es würde ungeziemend sein, ein Gespräch mitzutheilen, das meist nur Umstände betraf, die dem Leser bereits bekannt sind; denn sobald der Pfarrer Josephs Fragen nach Fanny's Wohlergehen beantwortet hatte, war er nun auch seinerseits sehr begierig, zu erfahren, was Joseph in diese unglückliche Lage gebracht habe.

Wir kehren jetzt zur Küche zurück, wo ein großes Gedränge von Menschen aus dem Hause und der Nachbarschaft, die herbeigeeilt waren, um den Räuber in Augenschein zu nehmen, entstanden war.

Herr Towwouse rieb sich schon die Hände vor Freude über die ansehnliche Versammlung, welche, wie er hoffte, sich bald in die Stuben vertheilen würde, um sich über den Straßenraub zu unterhalten, und aller ehrlichen Leute Gesundheit zu trinken. Mistreß Towwouse dagegen, die das Unglück hatte, gewöhnlich alle Dinge verkehrt zu sehen, fing an gegen Diejenigen, welche ihr den Räuber ins Haus gebracht hatten, sich in Vorwürfen zu ergehen, und sagte ihrem Manne: sie würden gute Geschäfte machen, wenn sie nur Bettler und Diebe beherbergten.

Die Durchsuchung des Gefangenen war jetzt beendigt; man hatte nichts weiter bei ihm gefunden, das gegen ihn hätte zeugen können; denn das Kleiderbündel wurde zwar allgemein als ein Beweis gegen ihn angesehen, doch der Chirurgus bemerkte, es sei als solcher noch nicht genügend, da man es nicht in dessen Gewahrsam gefunden; womit Barnabas übereinstimmte, und noch hinzufügte, dies seien bona waviata, und gehörten mithin dem Grundherrn.

»Wie,« warf der Chirurgus ein, »Sie wollen behaupten, der Grundherr habe Anspruch auf diese Sachen?« – »Allerdings,« rief Barnabas. – »Mit nichten,« versetzte Jener, »wie kann der Grundherr hier betheiligt sein? Wollen Sie behaupten, daß das, was Jemand findet, nicht sein Eigenthum ist?« – »Ich habe vom Friedensrichter Wiseone gehört,« fiel hier ein alter Mann ein, der in einem Winkel saß, »daß, wenn Jedem sein Recht widerführe, Alles was gefunden wird, dem König von London gehöre.« – »Das mag gewissermaßen wahr sein,« erwiederte Barnabas, »denn das Gesetz macht allerdings seinen Unterschied zwischen gestohlenen und gefundenen Sachen; es kann auch in der That etwas gestohlen werden, das nie gefunden wird, und man kann etwas finden, das nie gestohlen war; Dinge aber, die zugleich gestohlen und gefunden werden, nennt man waviata, und sie stehen dem Grundherrn zu.« – »Also der Grundherr nimmt gestohlene Sachen an,« entgegnete der Chirurgus, worüber ein allgemeines Gelächter entstand, zu dem er selbst den ersten Ton angab.

Während der Gefangene hartnäckig seine Unschuld betheuerte, und fast (da keine Beweise gegen ihn vorlagen) Barnabas den Chirurgus, Towwouse und mehrere andere auf seine Seite gebracht hatte, trat Betty hinzu, und sagte, sie hätten ein kleines Goldstück übersehen, das sie dem Kranken hinaufgetragen habe, und wovon dieser beschwören wolle, er könne es unter einer Million, ja unter Zehntausenden als sein Eigenthum herausfinden. Dies gab sofort den Ausschlag gegen den Gefangenen, und Jeder erklärte ihn jetzt für schuldig. Es wurde daher beschlossen, ihn diese Nacht wohl zu bewachen, und früh am andern Morgen vor einen Friedensrichter zu führen.


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