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Sechstes Kapitel.

Die Vernehmung des Ingenieurs Stellan Röder sollte am Tage nach Sterlings Rückkehr von Edeby stattfinden.

Schon lange vor Beginn der Verhandlung war die Zuhörertribüne überfüllt. Ingenieur Röder war in Stockholm eine bekannte Persönlichkeit, und seine Verhaftung hatte ungeheures Aufsehen erregt. Von nah und fern strömten Menschen herzu, um der Untersuchung beizuwohnen, und besonders das schöne Geschlecht hatte eine große Anzahl von Zuhörerinnen entsandt. Infolge dieses Gedränges herrschte eine drückende Hitze. Aber auch diese wurde geduldig ausgehalten, und als der Rechtsfall schließlich an die Reihe kam, war man ganz Auge und Ohr.

Durch eine Seitentür wurde der Angeklagte hereingeführt und nahm seinen Platz hinter der Schranke ein. Gleich einer Woge stieg und fiel das Gemurmel im Zuhörerraum.

Man hatte erwartet, einen unter der Last seines furchtbaren Verbrechens zusammengebrochenen Mann zu sehen, und statt dessen trat der Angeklagte mit hocherhobenem Haupt und freimütigem Blick herein.

»Das soll ein Mörder sein?« murmelte man. »... Unmöglich!«

Wie mit einem Schlage wandte sich die allgemeine Sympathie dem Angeklagten zu, und auf allen Seiten begegnete er teilnehmenden Blicken.

Nun wurden die Zeugen vorgeladen.

Als erste erschien Marianne in tiefer Trauer und mit verschleiertem Antlitz. Darauf folgte der Verwalter Karsten und zuletzt Hofarbeiter Holm.

Die Untersuchung nahm ihren Anfang.

Der Richter las erst den Polizeibericht vor und wandte sich dann an den Angeklagten, indem er ihn fragte:

»Gestehen Sie ein. daß Sie den Gutsbesitzer Faxe erschossen haben?«

Eine Pause entstand, und alle Augen richteten sich gespannt auf Stellan Röder. Dieser blickte dem Richter gerade ins Gesicht und erwiderte laut und klar:

»Nein.«

Die Spannung löste sich in leisem Gemurmel auf, der Richter gebot Schweigen und gab den Befehl zur Eröffnung des Zeugenverhörs.

Die erste Zeugin war Fräulein Faxe.

Sie erzählte mit leiser, aber deutlicher Stimme, was sie zu sagen wußte, und schloß mit der Beteuerung, daß sie fest an die Unschuld des Angeklagten glaube.

»Darüber zu entscheiden, ist Sache des Gerichts,« sagte der Richter in mildem Ton. »Der nächste Zeuge!«

Verwalter Karsten trat vor.

Er berichtete über den Streit zwischen dem Toten und dem Angeklagten, und als er schließlich aussagte,. daß er den geladenen Revolver auf den Nachttisch gelegt habe – denselben Revolver, aus welchem der tödliche Schuß nachher abgefeuert wurde –, entstand eine merkliche Unruhe unter den Zuhörern.

Der Richter gebot abermals Schweigen, worauf er den dritten und letzten Zeugen, Arbeiter Holm, aufrief.

Der Mann erzählte in unzusammenhängenden Sätzen von einem Mordversuch, der seiner Ansicht nach begangen worden war, als er im Frühjahr mit dem Gutsbesitzer und dem Ingenieur Röder auf Schnepfenjagd war. Die ganze Geschichte wirkte im höchsten Grade gesucht und unwahrscheinlich, aber der Form wegen fragte der Richter den Angeklagten, was er in bezug auf die letzte Zeugenaussage zu erwidern habe.

Stellan Röder schien in seinem Gedächtnis zu suchen.

»Ich kann sie mir nur so erklären, daß der Zeuge Holm die Sache völlig verkehrt beurteilt hat.« sagte er schließlich.

»Es hat sich also wirklich etwas Derartiges zugetragen?« fragte der Richter und faßte den Angeklagten scharf ins Auge.

»Ja.«

»Wann denn?«

»Bei der von Holm erwähnten Gelegenheit.«

»Ah! ... Vielleicht haben Sie die Güte, uns selbst zu erzählen, was sich da begeben hat.«

»Gern!« erwiderte Stellan. »Die Sache verhält sich ganz einfach so, daß ich im Jagdeifer aus Versehen einen Schuß in einer Richtung abfeuerte, die so dicht bei meinem Onkel vorbeiführte, daß er von einigen Schrotkörnern getroffen wurde. Die Entfernung war aber so beträchtlich, daß die Körner beim Aufschlagen nicht einmal die Haut zu durchbohren vermochten. Die Behauptung, ich hätte einen Mordversuch gemacht, wird deshalb durch ihre eigene Ungereimtheit hinfällig, da kein irgendwie mit Schußwaffen vertrauter Mensch sich einbilden wird, daß man jemand auf achtzig Schritt Abstand mit Schnepfenschrot totschießen kann. Mein Onkel faßte die ganze Sache auch als eine kaum erwähnenswerte Kleinigkeit auf und neckte mich auf dem Heimweg scherzend mit meinem Mißgeschick.«

Damit war die Zeugenvernehmung zu Ende. Der Richter erklärte nunmehr, es lägen so belastende Umstände vor. daß der Angeklagte bis zur nächsten, für drei Wochen später in Aussicht genommenen Verhandlung in Haft bleiben müsse. Darauf fragte er den Angeklagten, ob er noch etwas hinzuzufügen habe, was dieser verneinte.

Schließlich wandte sich der Richter dem Saal zu und fragte, ob jemand zugegen sei, der etwas zu diesem Rechtsfall zu beantragen wünsche.

Zur allgemeinen Überraschung ertönte darauf aus dem Zuhörerraum eine Stimme, die laut und vernehmlich antwortete:

»Ja, ich.«

»Wer sind Sie?« fragte der Richter, nachdem er sich von seiner Verwunderung erholt hatte.

»Max Sterling,« erwiderte die Stimme.

»Doch nicht etwa der Rechtsanwalt dieses Namens?« entgegnete der Richter verblüfft, indem er seine Brille zurechtrückte.

»Jawohl, gerade der,« sagte Sterling lächelnd, indem er sich durchdrängte, um die Zeugenbank zu erreichen.

»Na, das muß ich sagen!« rief der Richter aus. »Was haben Sie denn zu beantragen?«

»Nur die Schuldlosigkeit des Angeklagten,« lautete die gelassene Antwort.

Auf der Tribüne wurde es wieder sehr unruhig.

»Haben Sie Beweise dafür?« fragte der Richter trocken.

»Ja,« erwiderte Sterling.

»Gut! Dann haben Sie die Güte uns hören zu lassen, was Sie vorzubringen haben.«

Sterling warf dem Angeklagten einen ermutigenden Blick zu, bevor er das Wort nahm.

»Die Ordnung einer juristischen Angelegenheit führte mich an demselben Tage, da der Angeklagte festgenommen wurde, nach Edeby,« begann er. »Sie kennen mein Interesse für verwickelte Kriminalfälle, Herr Richter, und werden begreifen, daß ich mich gern ein wenig über das Drama unterrichten wollte, das sich dort abgespielt hat.«

Der Richter nickte stumm.

»Ich bat also um Erlaubnis, mir das Zimmer ansehen zu dürfen, worin Herr Faxe erschossen worden war. Von Herrn Röders Unschuld war ich von Anfang an überzeugt, und gerade deshalb lag es mir am Herzen, seine Schuldlosigkeit beweisen zu können, denn er gehört seit langen Jahren zu meinen besten Freunden. Falls wirklich ein Verbrechen vorlag, hoffte ich, dem wahren Täter auf die Spur zu kommen. Lag jedoch nur ein Unglücksfall vor, so wollte ich versuchen, das festzustellen.«

»Sie durchsuchten also das Zimmer?« warf der Richter mit schlecht verhehlter Ungeduld über Sterlings Weitschweifigkeit ein.

»Ja, ich untersuchte das Zimmer.«

»Und fanden ...?«

»Ich gelangte zu einem höchst eigentümlichen Ergebnis.«

»Seien Sie so gut, uns davon Kenntnis zu geben.«

»Ich kam zu der Überzeugung, daß der Gutsbesitzer Faxe zum Opfer einer sehr seltsamen Kombination von Umständen geworden ist.«

»Er wurde ihrer Ansicht nach also nicht ermordet?«

»Nein.«

Wieder regte es sich heftig im Zuhörerraum. Der Angeklagte war aufgesprungen und schien seinen Verteidiger mit den Augen verzehren zu wollen. Mariannes Wangen glühten gleich Rosen, und der Verwalter Karsten betrachtete Sterling unverwandt und mit zusammengezogenen Brauen.

»Erzählen Sie, bitte, mit kurzen Worten, was Sie entdeckten!« ermahnte der Richter.

»Nun, vor allen Dingen entdeckte ich, daß die Pistole auf dem Nachttisch gelegen hat, als der tödliche Schuß losging. Ein deutlich wahrnehmbarer Rauchstreifen auf der Marmorplatte bezeichnete die Schußrichtung ...«

Diesmal entstand nicht nur im Zuhörerraum, sondern auch auf der Zeugenbank Bewegung, aber Sterling fuhr gelassen fort:

»Da die Waffe also auf dem Tisch lag, konnte niemand sie beim Losgehen des Schusses in der Hand gehalten haben. Es entstand also die Frage, auf welche Weise der Schuß losgehen konnte.«

Der Detektivchef Berner trat achselzuckend an den Richtertisch heran und schien etwas sagen zu wollen. Auf einen Wink des Richters unterließ er es jedoch, und Sterling berichtete weiter:

»Die einzige Erklärung bestand darin, daß der Schuß infolge irgendeines sonderbaren Umstandes losgegangen war, und der einzige in solchem Fall denkbare Umstand war, daß sich auf irgendwelche Weise eine so starke Wärme in der Nähe der Pistole entwickelt hatte, daß die Pulverladung der Patrone zur Explosion gebracht wurde. Während ich nun darüber nachsann, wie diese starke Wärme zur Entwicklung gebracht sein konnte, fiel mein Blick zufällig auf eine Karaffe, die auf dem Nachttisch stand. Sie war mit Wasser gefüllt, und durch ihren kugelförmigen Körper hindurch gewahrte ich eine unnatürlich vergrößerte Weckeruhr. Im selben Augenblick schoß mir die Lösung des Rätsels durch den Kopf. Ich beeilte mich, Fräulein Faxe aufzusuchen, und fragte sie, ob die Karaffe auf demselben Platz gestanden hätte, als das Unglück eintraf. Sie bejahte meine Frage.«

In dieser Sekunde würde ein scharfer Beobachter vielleicht einen eigentümlichen Blickwechsel zwischen Sterling und Marianne bemerkt haben. Ihre Augen drückten unzweideutiges Staunen aus, und seine schienen zu sagen:

»Schweig, und laß mich Stellan retten!«

Marianne schwieg.

»Welcher Zusammenhang konnte zwischen der auf dem Nachttisch stehenden Karaffe und der tödlichen Waffe bestehen?« fuhr Sterling fort. »Nun, die Karaffe hatte wie ein starkes Brennglas gewirkt.«

Er unterbrach sich einen Augenblick und ließ seinen Blick wie zufällig über die Zeugen hingleiten. Marianne saß mit niedergeschlagenen Augen da, der Verwalter Karsten fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn, und Holm starrte mit offenem Mund und höhnischem Lächeln zu Sterling empor.

»Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß die Sonnenstrahlen durch die Karaffe gedrungen sind und sich zu einem Brennpunkt gesammelt haben, der dann die Pistole traf?« fragte der Richter in ungläubigem Ton.

»Jawohl, so ist es zugegangen,« erwiderte Sterling ruhig. »Das erklärt einen Fall, der sowohl mir wie dem Herrn Detektivchef viel Kopfzerbrechen gemacht hat,« setzte er mit einer lächelnden Verbeugung gegen Berner hinzu. »Die Pistole, die auf dem Fußboden im Schlafzimmer des Herrn Faxe gefunden wurde, war nämlich gesichert, und die leere Patronenhülse saß immer noch im Patronenlager. Nach Ansicht des Herrn Detektivchefs beruhte dieser Umstand auf einem plumpen Versuch des Mörders, die Polizei hinters Licht zu führen. Dank meiner Entdeckung ist es dagegen wohl klar, daß der Repetierapparat der Pistole beim Losgehen des Schusses nicht funktionieren konnte, da die Waffe gesichert war. Infolgedessen war die Hülse an ihrem Platz sitzengeblieben.«

»Ich fange wirklich an, Ihrer Auffassung zuzuneigen,« sagte der Richter nachdenklich.

»Übrigens beschloß ich sofort, auszuproben, ob meine Theorie stichhaltig sei,« nahm Sterling wieder das Wort. »Aus Anlaß der bereits angeführten Gründe nahm ich an, daß die durch die Karaffe angesammelten Sonnenstrahlen mit ihrem Brennpunkt auf die Pistole eingewirkt hätten, die zufällig so lag, daß der Lauf auf den Kopf des Schlafenden gerichtet war ... Denn es war doch natürlich reiner Zufall?« fügte er, zu Karsten gewandt, hinzu.

»Ich erinnere mich wirklich nicht, wie ich die Pistole hingelegt habe,« erwiderte dieser. »Natürlich habe ich nicht darauf geachtet ... es muß also ein Zufall gewesen sein.«

»Selbstverständlich!« pflichtete Sterling ihm bei. »Ich beschloß also, meine Theorie zu erproben, und da ich mich doch genötigt sah, in Edeby zu übernachten, bot sich mir eine ungesuchte Gelegenheit, meinen Plan auszuführen. Voraussetzung für das Gelingen des Experiments war, daß die Sonne am nächsten Morgen bei wolkenlosem Himmel aufging. Abends unternahm ich noch einen späten Spaziergang, um die Wetteraussichten zu erkunden. Es war recht trübe, und ich machte mir schon Sorge. Doch kurz vor Sonnenaufgang klärte es sich auf, und ich machte mich rasch ans Werk, um meine Vorbereitungen zu treffen.

Glücklicherweise hatte ich eine Browningpistole bei mir, wie ich es auf Reisen stets zu tun pflege. Diese legte ich nun auf denselben Platz, wo jene unselige Pistole gelegen hatte. Die Wasserkaraffe stand noch da, und so waren dieselben Voraussetzungen vorhanden, wie in der vorhergehenden Nacht, als das Unglück geschah.

Die Uhr war schon nach zwei, als ich fertig war. Ich hatte daher noch Zeit genug vor mir. Die Sonne ging um 2 Uhr 37 auf. Am Tage zuvor war sie um 2 Uhr 36 aufgegangen, und das Unglück war kurz vor drei Uhr – einer Aussage nach um 2 Uhr 58 – geschehen. Um diese Zeit erreichte der verhängnisvolle Brennpunkt also das Kugellager der Pistole. Es stand demnach zu erwarten, daß dieses Phänomen eine Minute später, oder vielmehr um 2 Uhr 59, eintreten werde.

Ich setzte mich hin und wartete.

Mit Besorgnis sah ich einzelne Wolken über den Himmel jagen. Je weiter indessen die Uhr fortschritt, um so mehr erhellte sich das Wetter.

Am 2 Uhr 45 sah ich einen kleinen, intensiv leuchtenden Punkt an einer Kante der Marmorscheibe auf dem Nachttisch emporklettern. Voll atemloser Spannung verfolgte ich den winzigen Brennpunkt.

Langsam kroch er über die Marmorplatte, näherte sich dem Pistolenkolben, glitt wie ein gerader Strich über die Ebonitplatten, die sein Seitenstück ausmachen, und erreichte schließlich das Lager, worin die Patronen saßen.

Ich sah nach der Uhr. Es war siebzig Sekunden vor drei.

Mit einemmal erschütterte ein heftiger Knall das ganze Zimmer, und der Rückstoß schleuderte die Waffe ein ganzes Ende auf den Fußboden hinaus.«

Marianne hüstelte und führte das Taschentuch an den Mund.

»Meine Theorie war also richtig,« schloß Sterling seinen Bericht und zog mit triumphierender Miene ein Papier aus der Tasche.

»Ich habe hier eine flüchtige Silhouette des Kopfes skizziert,« sagte er. »Diese Silhouette hatte ich so auf dem Kissen aufgebaut, daß sie sich genau in derselben Lage befand, wie das Haupt des Verstorbenen gelegen hatte. Bitte, Herr Richter, überzeugen Sie sich selbst: die eine Schläfe ist von einer Kugel durchbohrt.«

Damit war Sterling zu Ende und trat zurück.

Und jetzt ereignete sich etwas Seltsames.

In dem feierlichen Gerichtssaal brach ein Beifallssturm los, der in den Annalen der gestrengen Behörde ohnegleichen war. Man rief Hurra, man schrie und klatschte Beifall, und sogar die Beamten wurden von der allgemeinen Begeisterung hingerissen.

Von allen Seiten drang man auf Sterling ein, und keine Macht der Erde hätte vermocht, dem Publikum Einhalt zu gebieten.

Der Richter fand nur mit Mühe Gehör, und als es ihm endlich gelang, erhob er sich und erklärte in fast bewegtem Ton, wenn auch mit ernster Amtsmiene:

»Auf Grund der Ergebnisse der Verhandlung, und weil es nach der Beweisführung des Herrn Rechtsanwalts Sterling einleuchtet, daß kein Mord, sondern ein Unglücksfall vorliegt, verkündige ich hiermit, daß der Angeklagte nichts mit der Sache zu tun gehabt hat. Ingenieur Röder ist frei.«

Wieder erfolgte ein Beifallssturm.

Sterling aber eilte auf seinen Freund zu und schloß ihn in seine Arme.


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