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Zweites Kapitel.

Sterling begab sich geradeswegs nach der Detektivabteilung.

In einer kurzen Unterredung mit dem Chef, Kommissar Berner, verschaffte er sich ohne viel Mühe die Erlaubnis, den festgenommenen Stellan Röder besuchen zu dürfen. Stellan war noch nicht verhaftet, aber der Kommissar sagte zu Sterling, daß die Sache ziemlich übel für ihn aussähe, und daß er wahrscheinlich verhaftet werden würde, sobald das Ergebnis der polizeilichen Untersuchung am Ort der Tat bekannt sei. Zwei von den geschicktesten Mitgliedern der Abteilung waren nach Edeby entsandt worden und wurden demnächst zurückerwartet.

Schweren Herzens folgte Sterling dem diensttuenden Polizisten, der ihn zu seinem alten Freund führen sollte. Als er hereintrat, erhob Röder sich langsam von der Pritsche, auf der er gelegen hatte, und starrte nach der Tür. Doch kaum hatte er Sterling erkannt, als er einen Freudenruf ausstieß und rasch aufsprang.

»Kannst du dir vorstellen, daß man mich eines Mordes anklagt, Max!« sagte er, indem er Sterlings beide Hände freudig und innig drückte. »Ich – ich soll meinen väterlichen Freund und Wohltäter umgebracht haben! Sag' mir, daß du das nicht glaubst!«

»Nein, ich glaube es nicht,« erwiderte Sterling.

»Du hast also mit Marianne gesprochen?«

»Ja.«

»War sie bei dir?«

»Ja.«

»Erzähl' mir doch! Wußte sie, wie alles zugegangen ist?«

»Nein, über Einzelheiten wußte sie nichts zu berichten, und deshalb komme ich zu dir.«

»Ach ja, sie wurde ja ohnmächtig, das arme Ding, und hat darum keine Ahnung von dem gräßlichen Verhör, dem ich mich unterwerfen mußte.«

»Es gibt also Umstände, die den Verdacht auf dich lenken?« fragte Sterling und heftete den Blick forschend auf das Gesicht des Freundes.

»Ja,« sagte dieser sinnend, »einem Zufall zufolge sind wirklich solche Umstände vorhanden.«

»Berichte mir möglichst eingehend über den ganzen Zusammenhang!« ermahnte ihn Sterling.

»Na, um also beim Anfang anzufangen, muß ich vor allem berichten, daß man gehört hatte, wie Onkel Thord und ich uns stritten.« begann Stellan.

»Wer ist ›man‹?«

»Der Verwalter Karsten.«

»Wer ist das?«

»Der Verwalter von Edeby.«

»Ihr hattet euch also gezankt. Worüber denn?«

»Ach, es war eine alte Streitfrage, die wieder aufs Tapet gekommen war. Seit Onkel Thord wußte, daß Marianne und ich uns gern hatten, wollte er durchaus, daß ich meinen Ingenieurberuf aufgeben und einen landwirtschaftlichen Kursus in Ultuna durchmachen sollte. Weil ich die Leitung von Edeby doch einmal in die Hände bekommen werde, bestand er darauf, daß ich mir landwirtschaftliche Kenntnisse verschaffen müßte. Da ich meinen Beruf aber durchaus nicht aufgeben wollte, gab es darüber von Zeit zu Zeit unliebsame Auseinandersetzungen, und als die Streitaxt gestern wieder ausgegraben wurde, führte es zu einem heißen Treffen.«

»Ihr haßtet euch doch aber nicht?« warf Sterling ein.

»Nein, durchaus nicht,« erwiderte Stellan. »Ich sagte nur ganz offen, und vielleicht in etwas scharfem Ton, daß ich meine Laufbahn nicht für ein paar Fetzen Erde zum Opfer bringen wollte.«

»Wie kam es, daß der Verwalter Zeuge dieser Auseinandersetzung wurde?«

»Ja, das weiß ich selbst nicht recht. Der Streit entstand, während wir uns auszogen, um zu Bett zu gehen, und ich kann mir die Sache nicht anders erklären, als durch die Vermutung, daß Karsten hinter der Tür gehorcht hat, ehe er mit der Pistole hereinkam.«

»Pistole!« rief Sterling aus. »Kam er mit einer Pistole herein?«

»Ja, das ist eine andere Geschichte,« sagte Röder und lächelte über Sterlings verblüffte Miene. »Du mußt wissen, daß es in der Gegend seit einiger Zeit recht unsicher ist, weil jeden Augenblick die verwegensten Einbruchsdiebstähle vorkommen. Deshalb hatte Onkel Thord die Gewohnheit angenommen, sich beim Schlafengehen immer eine Browning neben das Bett zu legen, um im Notfall eine Waffe zur Hand zu haben. Gestern hatten wir uns unten im Garten mit Scheibenschießen amüsiert, und dabei passierte es Onkel Thord, daß er seine Pistole verlegte. Wir suchten den ganzen Nachmittag nach dieser Browning, konnten sie aber nicht wiederfinden. Doch gerade als wir zu Bett gegangen waren, klopfte es an die Tür, und das war Karsten, der die Pistole brachte und sagte, er hätte sie gefunden.«

»Sagte er auch, wo er sie gefunden hätte?« warf Sterling ein.

»Ja, er behauptete, sie hätte dicht beim Scheibenstand im Gras gelegen.«

Sterling dachte ein Weilchen nach und forderte seinen Freund dann auf, mit seiner Erzählung fortzufahren.

»Onkel Thord sagte dem Verwalter, er möchte die Pistole auf seinen Nachttisch legen,« nahm Stellan den Faden wieder auf. »Das tat er denn auch, sagte Gutenacht und verschwand wieder.«

»War euer Streit schon zu Ende, als er hereinkam?« fragte Sterling.

»Ja, wir lagen schon im Bett und sprachen längst von etwas anderem ... Na, als er wieder weg war, sagten wir uns Gutenacht, und bald darauf merkte ich an Onkel Thords Atmen, daß er eingeschlafen war. Ich lag noch eine Zeitlang wach und zerbrach mir den Kopf, ob ich nicht trotz alledem nachgeben und seinen Wunsch erfüllen sollte. Aber so allmählich schlief ich dann auch ein. Doch kurz nach drei Uhr erwachte ich von einem Schuß, der im Zimmer losging. Ich sprang natürlich erschrocken aus dem Bett. Das Zimmer war voller Rauch, und – stell' dir mein Entsetzen vor, als ich Onkel Thord durch den Kopf geschossen tot im Bett liegen sehe! Mein erster Gedanke war, daß er sich in einem Anfall von Geistesstörung selbst das Leben genommen hätte. Die Pistole, die Karsten auf den Nachttisch gelegt hatte, lag jetzt am Boden. Aber ich sah bald ein, daß ein Selbstmord vollkommen ausgeschlossen war.«

»Wie kamst du zu dieser Überzeugung?« erkundigte sich Sterling.

»O, ich habe mich nicht umsonst für deine Theorien interessiert.« lautete die Antwort. »Ich sah sofort, daß der Schuß aus einigem Abstand abgefeuert sein mußte, weil die Kopfwunde nicht vom Pulver versengt war. Folglich hatte er die Waffe nicht selbst gehandhabt. Aber wer – wer in aller Welt ist nur der Mörder? Denn daß ein Mord vorliegt, bezweifle ich keinen Augenblick.«

»Der Verwalter?« warf Sterling fragend ein.

»Ausgeschlossen. Er hat ein unumstößliches Alibi beigebracht.«

»So? Laß doch hören!«

»Er hat sich kurz nach seinem Erscheinen bei uns im Schlafzimmer mit einem der Hofleute von Edeby wegbegeben.«

»Warum denn?«

»O, er mußte nach einem anderen Gut hinüber, weil er da heute morgen eine Waldstrecke abschätzen sollte.«

»Bist du ganz sicher, daß er sich da wirklich hinbegeben hat?« fragte Sterling.

»Vollkommen. Er kam mit dem Kreisarzt zusammen wieder, den wir gegen vier angerufen hatten. Sie haben die ganze Nacht hindurch beim Kartenspiel gesessen.«

Sterling stieß einen leisen, gedehnten Pfiff aus.

»Die Sache ist sehr verwickelt,« meinte er.

»Sage nur, ganz einfach unerklärlich!« versetzte der junge Ingenieur mit einer verzweifelten Gebärde. »Der Schein ist gegen mich, und ich habe kein Schlupfloch, wodurch ich mich retten könnte.«

»Irgend jemand muß den Schuß abgefeuert haben,« sagte Sterling nachdenklich, »und mit der Zeit werden wir schon herausbekommen, wer es gewesen ist ... Sag' mal, Stellan, interessiert sich dieser Verwalter vielleicht für Fräulein Marianne?«

»Wo. zum Kuckuck, weißt du das her?« rief Stellan fast heftig aus.

Der Jurist lächelte.

»Dis Annahme liegt doch nah'.« sagte er. »Du hast also einen Nebenbuhler?«

»Gehabt,« verbesserte sein Freund.

»Wieso, gehabt?«

»Nun, der Verwalter hat Marianne allerdings den Hof gemacht, bevor ich auf der Bildfläche erschien.«

»Natürlich ohne Erfolg?«

»Selbstverständlich.«

»Und dann?«

»Seitdem hat er, soweit ich es beurteilen kann, davon Abstand genommen, ihr weitere Aufmerksamkeit zu erweisen.«

»Deine Braut hat nie davon gesprochen, daß er einen Annäherungsversuch gemacht hat?«

Ingenieur Röder zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

»Vor einiger Zeit hatte ich wirklich einen leisen Verdacht, daß irgend etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre,« sagte er dann. »Das war vor unserer Verlobung ... ich glaube sogar, am selben Abend. Jedenfalls hat es aber nichts zu sagen, denn ich weiß, daß Marianne ihn niemals irgendwie ermutigt hat.«

»Dessenungeachtet wird deine Braut vielleicht allerlei über den Punkt zu erzählen wissen.«

»Du glaubst doch ...«

»Ich glaube gar nichts, aber es erscheint mir nicht ausgeschlossen. Meine Intuition sagt mir, daß du das Opfer eines teuflischen Komplotts bist. Mag sein, daß ich mich täusche. Die Zukunft wird es erweisen.«

»Du versprichst also, mir auf jeden Fall beizustehen?«

»Versteht sich. Ich werde heute gleich nach Edeby fahren. Du wirst wahrscheinlich morgen für verhaftet erklärt werden, und da die erste Untersuchung wohl übermorgen stattfinden wird, hab' ich nicht viel Zeit zu verlieren.«

Stellan Röder sank auf die Pritsche nieder und verbarg sein verzweifeltes Gesicht in den Händen.

»Mut!« mahnte Sterling. »Nur Mut, alter Junge!«


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