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Vom Polizeiamt begab Sterling sich geradeswegs nach seiner Wohnung zurück. Nachdem er im Hinblick auf eine mehrtägige Abwesenheit von Stockholm die erforderlichen geschäftlichen Anordnungen getroffen hatte, packte er seine Toilettenutensilien in seine Handtasche und fuhr nachmittags auf der Elektrischen nach dem Hauptbahnhof, um nach Edeby zu reisen.
Eine Eisenbahnfahrt von etwa einer Stunde brachte ihn nach einer Station, die einige Kilometer von dem Faxeschen Gut entfernt lag, und bevor er seinen Weg dorthin antrat, zog er bei dem Stationsvorsteher Erkundigungen darüber ein.
Unterwegs entwarf er einen Feldzugsplan. Da es ihm darauf ankam. möglichst wenig Aufsehen zu erregen, beschloß er, als Ursache seines Besuchs eine juristische Angelegenheit rein formeller Natur vorzuschützen.
Die Wanderung machte ihm Freude, und kurz bevor er sein Ziel erreichte, bot sich ihm ein besonders malerischer Anblick, der seinen Fuß zum Stehen brachte. In einem abseits vom Wege gelegenen Gehölz gewahrte er ein ziemlich verfallenes kleines Gebäude, das aussah, als ob es einmal eine Schmiede gewesen wäre. Er hätte es fast übersehen, denn mit seinem niedrigen Dach und dem dichten Schlinggewächs, das sich um alle Hausecken und um den halbzerstörten Schornstein rankte, lag es tief eingebettet in frischem, saftigem Grün.
Da Sterling sich in Mußestunden gern und nicht ohne Talent mit Skizzieren beschäftigte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen kleinen Abstecher von der Landstraße zu machen, um dies kleine Gebäude näher in Augenschein zu nehmen. Indem er sich ihm näherte, vernahm er jedoch zu seiner Überraschung Stimmen, die aus dem romantischen Häuschen hervordrangen. Er wollte eben umkehren, um seinen Weg fortzusetzen, wurde aber plötzlich von dem unwiderstehlichen Trieb erfaßt, stehenzubleiben und aufzuhorchen.
Es waren zwei Männer, die sprachen. Einer von ihnen schien den anderen zu irgend etwas überreden zu wollen.
»Seien Sie kein Dummkopf, Holm,« hörte Sterling ihn sagen. »Was laufen Sie denn für Gefahr? Nicht die geringste. Halten Sie nur diese Nacht um eins die Siegel bereit. Alles andere übernehme ich.«
Der andere murmelte etwas, was wie Nachgeben klang, und die erste Stimme fuhr fort:
»Gut, daß Sie wieder zur Vernunft kommen! Und noch eins, Holm: keinen Branntwein, eh' ich meine Einwilligung gebe ...«
Jetzt rasselte ein rostiges Schloß, und Sterling hielt es für geraten, sich wegzubegeben. Mit ein paar elastischen Sätzen erreichte er die Landstraße und setzte seinen Weg fort. Das kleine Intermezzo gab ihm zu denken, aber in Edeby drangen andere Eindrücke auf ihn ein, und erst später kam ihm das kleine Erlebnis wieder in den Sinn.
Sterling fand Marianne ein wenig ruhiger vor. Röders Unschuld stand in ihren Augen so unumstößlich fest, daß sie sich damit zu trösten suchte, der schreckliche Irrtum müsse bald aufgeklärt werden. Aber ihre Trauer um den lieben, verstorbenen Onkel war groß, und die geröteten Augen zeugten von vielen heißen Tränen.
Bevor Sterling eingehend mit Fräulein Faxe redete, wollte er eine genaue Untersuchung des Zimmers vornehmen, worin sich das unheimliche Drama abgespielt hatte. Die Leiche war in einem anderen Raume aufgebahrt worden, so daß kein Hinderungsgrund für diese Untersuchung vorlag.
Fräulein Faxe teilte ihm mit, daß außer dem Revolver, der morgens von den Detektivs mitgenommen worden war, noch alles im Zimmer unverändert sei.
Sterling ging mit seiner charakteristischen Gründlichkeit ans Werk. Er begann mit den Fenstern und Türen. Keine Spur von Gewaltanwendung war zu entdecken. Auf Sterlings Frage erwiderte Fräulein Faxe, daß während der Nacht kein Fenster offengestanden habe. Ihr Onkel litt an chronischen Bronchialbeschwerden und durfte nicht bei offenen Fenstern schlafen. Daß der Mörder auf diesem Wege hereingekommen sei, wäre vollkommen ausgeschlossen. Es blieben also nur die Türen.
Um auf diesem Wege zu entkommen, hätte der Mörder jedoch nach vollführter Tat durch einen langen Flur und über die Treppe hinabgehen müssen. Fräulein Faxe erinnerte sich indessen, daß sie sofort nach dem Schuß aus dem Bett gesprungen war und ihre Tür geöffnet hatte. Sie hätte es also sehen müssen, wenn jemand die Treppe heruntergekommen wäre, zumal da es ganz hell gewesen war. Die Sache wurde mithin immer rätselhafter.
Sterling unterbrach seine Untersuchungen und dachte angestrengt nach. Mit einemmal entfuhr ihm ein nur halb unterdrückter Ausruf. Seine Wangen röteten sich, und seine funkelnden Augen verrieten, daß er dem Geheimnis auf der Spur zu sein glaubte.
»Haben Sie etwas entdeckt?« fragte Fräulein Faxe mit zitternder Stimme.
»Es kann sein,« erwiderte Sterling vorsichtig. «Der Gedanke ist aber so phantastisch, daß ich ihn noch nicht in Worte kleiden möchte.«
»Gott gebe, daß Sie das Rätsel lösen können!« sagte das junge Mädchen mit einem tiefen Seufzer.
Darauf setzte Sterling seine Untersuchung des Zimmers weiter fort.
Er schien jetzt nach einem gewissen Plan zu verfahren. Dabei ging er von dem Nachttisch aus, der am Kopfende des Bettes stand, worin der Hausherr geschlafen hatte, als die tödliche Kugel ihn traf. Es war ein gewöhnlicher Mahagoninachttisch mit Marmorplatte.
»Können Sie mir sagen, ob dieser Nachttisch seit heute morgen von der Stelle gerückt worden ist?« wandte er sich an Marianne.
»Nein, das glaube ich nicht,« erwiderte sie.
In diesem Augenblick erschien ein Hausmädchen und meldete, daß der Verwalter Karsten etwas Geschäftliches mit dem gnädigen Fräulein zu besprechen habe.
Sie bat Sterling, sie ein Weilchen zu entschuldigen, und wollte gehen. Doch Sterling hielt sie zurück.
»Mir liegt sehr viel daran, daß niemand von dem wirklichen Zweck meines Hierseins erfährt.« sagte er rasch und leise. »Vergessen Sie also nicht, daß ich in meiner Eigenschaft als Rechtsbeistand Ihres Onkels hier bin, um allerlei mit seinem Ableben zusammenhängende Angelegenheiten zu ordnen.«
Das junge Mädchen nickte stumm und eilte hinaus.
Sterling war sehr erfreut, daß man ihn allein ließ. Seine Untersuchung hatte eine Stufe erreicht, bei der ihm jeder Zuschauer unwillkommen gewesen wäre.
Sobald Marianne verschwunden war, eilte er auf den erwähnten Nachttisch zu und begann die Marmorplatte eingehend in Augenschein zu nehmen. Mit Hilfe einer Lupe prüfte er jeden Quadratmillimeter der weißen Fläche.
Plötzlich stieß er einen leisen Pfiff aus.
Was hatte er gefunden?
In einer Ecke des Zimmers stand eine Reitgerte. Er holte sie und kehrte mit ihr zum Nachttisch zurück, worauf er sie auf die Marmorplatte legte, indem er sich nach irgendwelchen Merkzeichen richtete, die er auf dem Marmor entdeckt zu haben schien. Als das geschehen war, trat er ein paar Schritte zurück, duckte sich und blickte in der Richtung, nach der die Gerte deutete.
Was er dabei sah. schien etwas Aufsehenerregendes zu sein. Mit tief gefurchter Stirn richtete er sich wieder auf. Alle Farbe war aus seinem Gesicht entwichen.
»Welch eine höllische Schurkerei!« murmelte er vor sich hin. »Aber warte, du Schuft, warte nur!«
Im selben Augenblick hörte er Marianne zurückkommen. Sofort nahm er die Reitgerte vom Tisch und brachte sie rasch wieder auf ihren Platz zurück.
»Nun?« fragte Marianne und warf einen fragenden Blick auf Sterling, indem sie hereintrat. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Ich kann mir noch nicht darüber klar werden,« erwiderte Sterling. »Ich hoffe aber, daß ich imstande sein werde, das Rätsel zu lösen. Jedenfalls habe ich hier nichts mehr zu tun.«
»Sie werden aber doch bis morgen früh hierbleiben müssen,« sagte Marianne. »Der letzte Zug nach Stockholm ist vor einer Stunde abgegangen.«
»Das schadet nichts,« versetzte Sterling. »Ich habe noch allerlei Fragen an Sie zu stellen und glaube bei näherer Überlegung, daß ich meine Untersuchungen vielleicht morgen früh um drei fortsetzen muß.«
Marianne warf ihm einen forschenden Blick zu.
»Um drei?« wiederholte sie. »Warum gerade um die Zeit?«
»War es nicht um drei, daß dies Unglück geschah?« fragte er.
»Ja, kurz vor drei.«
»Gut. Dann möchte ich Sie also bitten. Ihre Gastfreiheit für die Nacht in Anspruch nehmen zu dürfen.«
Mariannes verhärmtes Gesicht verriet, daß sie sich über Sterlings rätselhaftes Benehmen wunderte. Sie begriff jedoch, daß er das, was er entdeckt zu haben glaubte, vorläufig für sich zu behalten wünschte, und enthielt sich deshalb weiterer Fragen. Statt dessen sagte sie:
»Es ist schon Abend geworden, und Sie werden vielleicht müde sein. Ich werde deshalb dafür sorgen, daß Ihr Zimmer gleich zurechtgemacht wird. Aber ich hoffe, daß Sie mir vorm Schlafengehen noch beim Abendessen Gesellschaft leisten werden.«
»Die Einladung nehme ich mit Dank an,« erwiderte Sterling mit einer Verbeugung. »Ich habe doch noch weitere Fragen auf dem Herzen die wir dann in aller Ruhe besprechen können. Übrigens wäre es mir sehr lieb, wenn ich die Bekanntschaft des Verwalters Karsten machen könnte. Ließe sich das vielleicht auf scheinbar zufällige Weise bewerkstelligen?«
»O ja,« gab das junge Mädchen zurück. »Er überwacht eben die Reparatur eines Wasserleitungsrohrs, das im Park geplatzt ist. Wir könnten einen Spaziergang machen, ehe wir zu Abend essen, und dabei dem Verwalter begegnen, ohne zu verraten, daß wir ihn aufsuchen.«
»Vortrefflich!« sagte Sterling.
»Warum ist Ihnen denn daran gelegen, den Verwalter kennenzulernen?« wollte Marianne wissen.
»Ach, ich möchte ihn nur einmal sprechen,« erklärte Sterling. »Weiter will ich vorläufig nichts von ihm.«
»Dann wird es am besten sein, wenn wir gleich in den Park hinuntergehen.« meinte Marianne sanft und warf ein Tuch um die Schultern.