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Erstes Kapitel.

Es war einer der heißesten Tage des denkwürdigen Sommers 1917. Fast einen Monat lang war Stockholm ein Glühofen gewesen, in dem sich Menschen und Tiere nur mühsam zu bewegen vermochten. Wer dazu imstande war, flüchtete sich aufs Land, um in den Wogen des Mälarsees oder in den Schären ein wenig Kühlung zu suchen.

Einer der wenigen, die von der erstickenden Hitze vollkommen unberührt blieben, war der bekannte Rechtskundige Max Sterling.

Sterling war eine völlig unberechenbare Natur.

Wenn der Nordwind heulte und die Kälte in den Hausecken knackte, so daß jeder froh war, sich am Kamin wärmen zu können, unternahm Sterling, nur mit einem dünnen Jackettanzug bekleidet, stundenlange Wanderungen. Und ebenso wenig, wie die Kälte, vermochte die Hitze irgendwelchen Eindruck auf ihn zu machen. Nie war er so frisch bei Kräften gewesen, wie in jenem fürchterlichen Monat Juni, und niemals hatte er einen solchen Arbeitseifer an den Tag gelegt.

Es war, wie gesagt, einer der heißesten Tage am Ende des Monats. Sterling hatte soeben gefrühstückt und saß bequem zurückgelehnt auf einem hochlehnigen Stuhl im Wohnzimmer seiner Etage in der Regeringsstraße. Während er gedankenvoll den Rauchwölkchen der Zigarette folgte, die er zwischen den Fingern hielt, lauschte er dem schläfrigen Klappern einer Schreibmaschine, das gedämpft aus dem am anderen Ende der Wohnung befindlichen Kontor herüberdrang.

Es klang, als ob jemand ein Telegramm auf einem Morseapparat entsendete. Das Klappern erfolgte ganz ungleichmäßig in einzelnen, abgerissenen, oder nur durch ein Zeichen verbundenen Folgen.

Ein Lächeln spielte um Sterlings Lippen.

»Eigentlich ein gar nicht übles Verständigungsmittel,« murmelte er vor sich hin. »Wenn ich ein Verbrecher wäre, würde ich es vielleicht ausnutzen ... Wer weiß, ob es mir nicht auch einmal von Nutzen sein könnte!«

Sein Gedankengang wurde dadurch unterbrochen, daß die Schreibmaschine aufhörte, zu arbeiten. Statt dessen hörte man eine erregte Frauenstimme fragen, ob er zu Hause sei.

»Der Herr Rechtsanwalt ist eben beim Frühstück,« erwiderte irgend jemand vom Personal. »Aber wenn es eine eilige Sache ist, will ich es ihm gern sogleich melden.«

»Ja, es ist sehr dringend,« ließ sich die weibliche Stimme wieder vernehmen. »Ich muß Herrn Sterling durchaus gleich sprechen.«

»Aha,« dachte Sterling, indem er eine leichte Sommerjacke anzog, die nachlässig hingeworfen auf einem Stuhl lag, »wie es scheint, ist es etwas Besonderes, was diese Dame zu mir führt.«

Im selben Augenblick trat ein Angestellter herein und meldete, daß eine Dame den Herrn Rechtsanwalt in seinem Privatkontor erwarte.

»Gut, ich komme sofort,« lautete seine Antwort.

Obwohl sich Sterling nicht leicht verblüffen ließ – und am allerwenigsten durch weibliche Schönheit, blieb er bei dem Anblick, der sich ihm beim Betreten seines Privatkontors bot, doch unwillkürlich wie verzaubert auf der Schwelle stehen.

Auf einem der lederbezogenen Sessel am Schreibtisch saß eine elegant gekleidete junge Dame von zwanzig bis etwa zweiundzwanzig Jahren. Die moderne Straßentracht ließ die edeln, geschmeidigen Linien ihrer Gestalt in auffallender Weise hervortreten. Ein feinbeschuhter kleiner Fuß stampfte ungeduldig auf den Boden, und die ganze Haltung der schönen Unbekannten verriet aufs deutlichste, daß sie sich in einem Zustand höchster Erregung befand.

Doch am meisten fesselte Sterling das Gesicht der jungen Dame. Er erinnerte sich nicht, jemals eins gesehen zu haben, das sich an Schönheit mit ihm vergleichen ließ.

Die Klientin ließ ihm indessen keine Zeit zur Bewunderung. Sobald er hereinkam, stand sie rasch auf und kam ihm einige Schritte entgegen.

»Habe ich das Vergnügen, mit Herrn Rechtsanwalt Sterling ...?« fragte sie mit einer Stimme, die wie Musik an Sterlings Ohren schlug.

»Ich stehe zu Diensten,« erwiderte er und forderte sie durch eine Handbewegung auf, wieder Platz zu nehmen.

»Mein Name ist Faxe,« fuhr sie hastig fort, »Marianne Faxe.«

»Marianne Faxe!« wiederholte Sterling und suchte in seinem Gedächtnis. «Doch wohl nicht Stellan ...«

»Jawohl, Stellan Röders Braut,« vollendete die junge Dame.

»Ich hätte es mir nach Stellans Beschreibung denken können,« murmelte Sterling. »Indessen ... Ihre sichtliche Erregung läßt darauf schließen, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat, mein gnädiges Fräulein ...?«

»Ach, ja, etwas ganz Entsetzliches!« rief Fräulein Faxe aus und begann heftig zu weinen.

Die Gemütsbewegung hatte sie übermannt, und eine ganze Weile wurde sie von fast krampfhaftem Schluchzen geschüttelt, so daß sie nicht imstande war, ihm den Grund ihrer Verzweiflung mitzuteilen.

Sterling saß ihr hilflos gegenüber. Es ist nicht jedem gegeben, zu wissen, wie man mit weinenden Frauen umgehen muß, zumal wenn sie jung und schön sind.

Nach einiger Zeit schien Fräulein Faxe sich jedoch ein wenig zu beruhigen. Sie zog einen kleinen, spitzenbesetzten Fetzen hervor, der ein Taschentuch vorstellen sollte, und begann sich die Augen zu trocknen. Darauf wandte sie sich an Sterling.

»Es ist etwas Furchtbares geschehen,« stammelte sie. »Stellan ist verhaftet worden ... wegen Mord ...«

Sterling sprang vom Stuhl auf.

»Mord!« rief er aus. »Der brave alte Stellan ein Mörder! Unmöglich!«

»Ach, er ist natürlich unschuldig,« beteuerte Marianne. »Aber die Polizei will es nicht glauben. Es ist entsetzlich!«

»Erzählen Sie mir, was geschehen ist!« gebot Sterling in energischem Ton und ließ sich ihr gegenüber nieder.

»Mein Onkel ist diese Nacht erschossen worden,« begann das junge Mädchen gehorsam.

Dabei brach sie wieder in fassungsloses Weinen aus und überließ es Sterling, darüber nachzugrübeln, auf welche Weise sein alter Freund und Studiengenosse Stellan Röder in eine Sache verwickelt sein konnte, bei der es sich um Mord handelte.

Sterling wußte, daß Röder entfernt mit dem Gutsbesitzer Thord Faxe aus Edeby in Uppland verwandt war und seine Sommerferien bei ihm zu verleben pflegte. Er wußte auch, daß es auf Edeby einen Magneten gab, der stärkere Anziehungskraft als der alte Herr Faxe besaß, und vor kurzem hatte Röder seinem alten Freund im Vertrauen mitgeteilt, daß er sich im Herbst mit Marianne Faxe verloben werde. Fräulein Faxe war eine Bruderstochter des Gutsbesitzers und als nächste Verwandte dazu bestimmt, die großen Besitzungen und das riesige Vermögen ihres Onkels zu erben. Irgendwelcher Beweggrund von der Art, die hier in Frage kam, war also nicht vorhanden. Der ganze Besitz würde ja seiner Zeit Stellan Röder zufallen. Höchstens hätte dieser sich durch den Wunsch, diesen Übergang zu beschleunigen, zu der Tat verleiten ... Aber nein! Eine solche Möglichkeit war für einen Mann von Röders Art vollkommen ausgeschlossen.

So wartete Sterling denn ziemlich ungeduldig ab, daß Fräulein Faxe ihre Selbstbeherrschung so weit zurückgewann, um ihm ruhig nähere Auskunft geben zu können. Schließlich gelang es ihr denn auch, sich einigermaßen zu fassen und in abgerissenen Sätzen über das traurige Ereignis zu berichten.

Stellan Röder hatte sich seit Wochen in Edeby aufgehalten, und nichts war zwischen ihm und dem Gutsherrn vorgefallen, das irgendwie auf eine solche Katastrophe hingedeutet hätte. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern war im Gegenteil äußerst herzlich gewesen, so daß jeder Gedanke an einen solchen Anschlag Stellan Röders gegen seinen väterlichen Freund vollkommen ausgeschlossen erschien.

»Diese Nacht wurde nun das ganze Haus durch einen Schuß aus dem Schlaf aufgeschreckt,« erzählte Marianne weiter. »Wir rannten alle entsetzt auf den Flur hinaus. Ein Diener behauptete, der Schuß wäre in dem Zimmer gefallen, wo Onkel Thord und Stellan zusammen schliefen. Voll banger Ahnung stürzte ich nach dem im zweiten Stock gelegenen Schlafzimmer, und als ich die Treppe hinaufkam, ging die Tür auf, und Stellan kam blaß wie der Tod heraus.

›Was ist geschehen?‹ rief ich ihm entgegen.

›Onkel‹ ... stammelte er ... ›Onkel Shord ...‹

›Was ist mit ihm?‹ schrie ich auf. ›Ist ihm etwas zugestoßen?‹

›Wir müssen sofort nach dem Doktor schicken,‹ keuchte Stellan. ›Onkel Shord ist ... erschossen.‹

Was in den nächsten Stunden geschehen ist, weiß ich nicht, denn ich fiel in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, wimmelte das ganze Haus von fremden Menschen, und Stellan teilte mir zu meinem Entsetzen mit, daß man ihn im Verdacht habe, Onkel Thord ermordet zu haben, und daß er dem Polizeibeamten nach Stockholm folgen müsse.«

Ihre großen Augen blickten ihn verzweiflungsvoll an und füllten sich von neuem mit Tränen.

»Na, na, nur ruhig, gnädiges Fräulein!« suchte Sterling sie zu beschwichtigen. »Sagte Stellan, aus welchem Grunde er verdächtigt werde?«

»Er schlief ja doch mit Onkel Thord zusammen im Zimmer,« erwiderte Marianne mit zitternder Stimme, »und man hatte eine Pistole gefunden, die unweit des Bettes auf dem Fußboden lag.«

»Und das ist alles, worauf der Verdacht sich gründet?«

»Ja, ich glaube ... Ich weiß nicht!« rief sie händeringend aus.

»Wie kommen Sie dazu, mich aufzusuchen?« fragte Sterling.

»Stellan bat mich, eh' er fortgebracht wurde, sofort mit Ihnen in Verbindung zu treten,« lautete die Antwort.

»Wissen Sie, wo er sich zur Zeit befindet?«

»Ich glaube, daß man ihn hierhergebracht hat, nach der Stockholmer Detektivabteilung, aber genau weiß ich es nicht.«

»Gut,« sagte Sterling, indem er sich erhob. »Fahren Sie nun nach Hause und machen Sie sich keine Sorgen, Fräulein Faxe. Die Sache wird sich auf befriedigende Weise aufklären, verlassen Sie sich daraus!«

»Stellan ist unschuldig, Herr Sterling! Er ist ganz gewiß unschuldig!« beteuerte das junge Mädchen mit flehend erhobenen Händen.

»Ich weiß es,« erwiderte Sterling weich, »und ich werde ihn von dieser furchtbaren Anklage reinwaschen.«

Sobald die junge Dame das Zimmer verlassen hatte, griff Sterling nach einem Hut, vertauschte die Kontorjacke mit einem Jackett und eilte von dannen.


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