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6. Schlußbetrachtungen.

a. Eindrücke und Erfahrungen des Weltkriegs.

Die geschichtliche Bewegung der Lebensanschauungen behandelten wir nicht vom Standpunkt eines einzelnen Volkes, sondern vom Ganzen der Menschheit aus, wir wollen solches Streben möglichst auch gegenüber der neuen Lage bewahren, welche die gegenwärtige Entzweiung der Völker herbeigeführt hat. Es muß aber ein Weltkrieg wie dieser stark auf das Gesamtbild menschlicher Dinge wirken, da er weit größere Völkermassen in Bewegung setzt, Weit tiefer in den Lebensstand eingreift, weit mehr die elementarsten Gefühle aufregt, als je zuvor im Gesamtverlauf der Menschengeschichte geschehen war. Mag eine Erschütterung des Gleichgewichts, die nur den Wirren der Völkerwanderung vergleichbar ist, zunächst nur der besonderen Zeit und ihrer Lage angehören, sie greift zu tief ein, um nicht auch Züge allgemeiner und bleibender Art aufzudecken; diese aber Werden notwendig auch zur Lebensanschauung wirken. Sehen wir also, in welcher Richtung das vornehmlich geschieht.

Indem bei solchem Kriegsstand der Kampf für das Vaterland alle anderen Aufgaben zurückdrängt, beherrschen seine Erfahrungen und Forderungen die Gesamtgestalt des Lebens und prägen ihr eigentümliche Züge auf. Unter diesen Zügen ist besonders greifbar, die strenge Bindung des Einzelnen an das Ganze seines Volkes; dieses ist es, das nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Denken und Fühlen bestimmt; auch die sonst mehr versteckte Abhängigkeit seines Ergehens von dem des Ganzen tritt mit voller Deutlichkeit hervor; gewaltige Lebenswogen ballen sich zusammen und reißen den Einzelnen unwiderstehlich mit sich fort, eine Bedeutung gibt ihm nunmehr nur die Leistung, zu der ihn das Ganze beruft, immer mehr verengt sich ihm der Raum eigner Wahl und Entscheidung. Ward im Friedensstande das Individuum sorgsam gepflegt und behütet, und wandte es selbst höchste Sorge und Umsicht an die Gestaltung seiner Lebensbahn, so sinkt es jetzt in seiner Sonderexistenz zu völliger Gleichgültigkeit herab, undurchsichtige Mächte, scheinbare Zufälle entscheiden über sein Los, über seinen Fortbestand oder seinen Untergang, kleinste Dinge üben dabei oft eine unheimliche Macht, während umgekehrt oft größte Gefahren schadlos vorüberziehen. Willkürlich scheint das Schicksal über den Einzelnen das Los zu werfen.

Solche Einschränkung freien Handelns, solche Abhängigkeit vom Geschick erstreckt sich auch auf die gesamten Völker; wohl erscheint hier mehr Selbsttätigkeit, und es sucht planmäßige Überlegung alles Geschehen zu lenken, aber das Gelingen hängt oft an Bedingungen, die dem menschlichen Ermessen und Entscheiden entzogen sind, zufällige Umstände durchkreuzen leicht die bestdurchdachten Pläne, äußere Ereignisse können einen überwiegenden Einfluß erlangen, denken wir nur an Wetter und Ernte. Bildet überhaupt das menschliche Leben einen Kampf zwischen Freiheit und Schicksal, so gewährt die gegenwärtige Lage dem Schicksal unheimlichste Übermacht; elementare Lebensbedingungen fallen weit stärker in die Wage, undurchsichtige Mächte verengen der Vernunft den Raum, von der wir die Leitung des Lebens erhofften.

Noch grellere Lichter wirft die gegenwärtige Lage auf das moralische Verhalten und überhaupt auf das seelische Vermögen des Menschen. Der Krieg bildet mit seinem Zwange zum Handeln einen ausgezeichneten Prüfstein dessen, was in unserem Lebensbereiche echt oder unecht ist, er zeigt mit unbarmherziger Klarheit, wo die uns bewegenden Kräfte liegen, wie viel sie vermögen und nicht vermögen. Zunächst zerstört er manche vom Friedensstand genährte Illusion. So die Meinung, als ob die gegenseitige Achtung und Schätzung der Völker, die auf der Höhe geistiger Arbeit verkündet wurde, die Gesamtheit der Völker hinter sich habe und damit einen friedlichen Austrag aller Streitigkeiten verbürge; es hat sich gezeigt, daß nicht die Ideen, sondern die Interessen das gegenseitige Verhältnis der Völker beherrschen, und daß die scheidenden Kräfte die verbindenden weit überwiegen. War früher viel Mühe daran gewandt, die Völker einander innerlich näher zu rücken, so pflegt jetzt der Blick nur an den unerfreulichen Seiten des Gegners zu haften und in ihm nur ein Zerrbild zu sehen; auch der geistige Besitz der Völker, ihr Schaffen, ihre Bedeutung für die Gesamtkultur wird von den Gegnern möglichst herabgesetzt, ja ganz und gar geleugnet. Die Beurteilung des Gegners entbehrt oft der elementarsten Gerechtigkeit, sie mißt nach doppeltem Maß und Gewicht, sie erklärt für gut, was den eignen Zwecken dient, für schlecht, was den anderen nützt, der nationale Egoismus wird für heilig erklärt ( sacro egoismo). Auch das Handeln der Staaten zeigt oft eine empörende Gleichgültigkeit gegen Recht und Moral, einen völligen Mangel an moralischer Scham und an einfachstem Ehrgefühl, ein so leichtherziges, ja vergnügliches Brechen von Treu und Glauben, daß im Privatleben der Träger einer solchen Gesinnung der Verachtung anheimfallen würde. Eine solche Verwirrung der politischen Moralbegriffe aber in einer Zeit, die im privaten Leben eine überreiche Humanität übt und in Technik und Wissenschaft Staunenswertestes leistet! Auch haben die Kämpfe neben dem Großen, das uns gleich beschäftigen soll, so viel Wildheit, Roheit, ja Grausamkeit aufgewühlt, und es bietet das Ganze eine so widerwärtige Verquickung von raffinierter Intelligenz und Tiefstand moralischer Gesinnung, daß das Idealbild der Menschheit, wofür das 18. Jahrhundert gefühlvoll schwärmte, uns vollständig verblaßt und verflüchtigt ist. Nach solchen Erfahrungen müssen wir die Macht des Bösen im menschlichen Leben weit höher anschlagen als vorher und auf manchen gefälligen Schein verzichten.

Viel Enttäuschung bereiteten auch Erfahrungen innerhalb der einzelnen Völker. Weithin bestand die Hoffnung, die wachsende Teilnahme breiter Kreise am politischen Leben, eine mehr demokratische Art der Verfassung werde das Entstehen von Kriegen verhüten; nun hat sich im Gegenteil oft gezeigt, daß gerade die großen Massen leidenschaftlich zum Kriege drängten, auch daß eine zielbewußte Minderheit der Mehrheit ihr Wollen aufzwingen konnte. Die sogenannte öffentliche Meinung, früher wohl als ein unbestechlicher Richter, ja als ein untrügliches Gottesurteil gefeiert, hat sich höchst abhängig von oft recht unlauteren Mächten gezeigt; pries man früher wohl eine Summierung der Vernunft im menschlichen Zusammenleben, so erwies sich uns eine starke Summierung der Unvernunft, die Wahrheit scheint oft wie eine verlassene Waise.

Ein Prüfstein war ferner der Krieg für die Macht der Ideen und Gedankenmassen über die moderne Menschheit. Verschiedene Mächte wirkten zu ihr: von alter wie neuer Geschichte her Religion sowohl als Geisteskultur, aus den eignen Erfahrungen der Zeit namentlich politische, nationale und soziale Ziele. Nun hat sich heute die nationale Idee als weitaus überlegen gezeigt. Mögen die Religionen auch heute dem Einzelnen Trost und Hilfe bringen, gegenüber den Problemen des Völkerlebens haben sie, hat im besonderen auch das Christentum versagt; die Gemeinsamkeit des religiösen Bekenntnisses verhindert nicht schroffste Spaltung der Völker, die Verschiedenheit jenes Bekenntnisses nicht ein völliges Zusammengehen in nationalen Dingen; deutlicher war kaum zu erweisen, daß die Religion heute nicht mehr das öffentliche Leben beherrscht. Noch weniger als die Religion, der es wenigstens an ernster Bemühung nicht fehlte, hat die Geisteskultur zur Völkerverbindung gewirkt, fast durchgängig führen und verschärfen die Intellektuellen die nationale Bewegung, und sind sie daher untereinander nach den verschiedenen Völkergruppen gänzlich zerfallen. Endlich kommt auch die soziale Bewegung, die am direktesten eine Völkerverbrüderung erstrebte, gegen den nationalen Strom nicht auf, ihre Bemühungen, seine Leidenschaft zu mildern, vermindern nicht wesentlich seine Macht.

Wie aber die nationale Idee als die stärkste Macht im Leben der Gegenwart befunden wird, so hat sie auch am meisten aus dem Menschen gemacht, seine Gesinnung wie sein Vermögen in großartiger, oft überraschender Weise erwiesen. Der Kampf für das Vaterland hat durchgängig die Menschen, und zwar gleichmäßig durch alle Völker und Klassen, fähig gezeigt, das eigne Wohl dem des Ganzen unterzuordnen, unermüdliche Arbeit aufzubieten, herbste Verluste und schwerste Entbehrungen tapfer zu tragen; er hat sie aufs kräftigste aufgerüttelt und die moderne Menschheit als keineswegs welk, keineswegs der befürchteten Verweichlichung verfallen gezeigt; er hat alle Unterschiede der Partei, des Bekenntnisses, der Weltanschauung durch die gemeinsame Aufgabe ausgelöscht und damit eine Solidarität aller Glieder der einzelnen Völker bekundet. Wohl fehlte es nicht an Versuchen gemeiner Naturen, die gespannte Lage krämerisch zu selbstischem Vorteil auszunutzen, aber das Ganze des Volkes wies entrüstet solche Versuche als unwürdig ab, die Größe des Aufschwungs vermögen jene elenden Gesellen nicht anzutasten. So hat sich auf nationalem Gebiet oft ein Heldentum entwickelt, das sich mit dem aller Zeiten messen kann.

Widerspruchsvoll wie das moralische Verhalten des Menschen zeigt die Gegenwart auch sein geistiges Vermögen: staunenswert nach der technischen Seite hin, versagt es oft gegenüber der Wahrheitsfrage. Dort eine großartige Kraft und Kunst des Erfindens, die geschickteste Anpassung an die wesentlich veränderte Lage, ein überlegenes Organisationsvermögen, der Mensch ein Gebieter der Dinge; hier dagegen oft eine merkwürdige Ohnmacht, ein Mangel selbständigen Urteils, eine Abhängigkeit von einzelnen Eindrücken, ein Unvermögen, den Nebel der Lüge und Heuchelei zu durchdringen, der Mensch in dem allen ein Herdentier, ein Phrasengeschöpf, bei solcher Nichtigkeit aber vielfach eitel und selbstbewußt. So namentlich viele Amerikaner.

In dem Näheren des Verhaltens gehen hier freilich die einzelnen Völker weit auseinander, und wir Deutsche lassen uns den Glauben an unser treues und tapferes Volk nicht verkümmern, aber wer als Denker die Menschheit überschaut und ihren heutigen Stand in ein Ganzes faßt, der wird unmöglich zufrieden sein können. Eine schroffe Spaltung nicht nur der kämpfenden Völkergruppen, sondern auch im eignen und innern Verhalten des Menschen: Großes und Kleines, Edles und Gemeines nicht nur unausgeglichen nebeneinander, sondern oft ineinander geschoben und untrennbar miteinander vermengt; damit die Gefahr, daß das Böse die Kraft des Guten an sich ziehe und für seine Zwecke verwerte. In allem zusammen ein ungeheures Chaos, das aller Entwirrung spottet, ein Gebundensein des Menschen an eine Lage, die er unmöglich als endgültig hinnehmen darf, und aus der er doch nicht herauskommt; zugleich ist der gemeinsame Kulturbesitz, wenn nicht zerstört, so doch arg verdunkelt, die verbindenden Fäden sind zerrissen, unsäglicher Haß ist entzündet, es sind dämonische Mächte aufgestiegen, denen Vernunft und Geist zu unterliegen scheinen. Solche Erfahrung muß alle Ideale schwächen, die uns beherrschten und weiterzubilden versuchten. Ein sozialer Humanismus konnte die Menschheit nicht zum Ziel alles Strebens machen ohne einen festen Glauben an eine Güte des Menschen und einen inneren Zusammenhang der Menschheit, diesen Glauben haben aber die neuen Erfahrungen aufs stärkste erschüttert; die religiöse Überzeugung hat schwer an dem Eindruck der Übermacht eines dunklen Schicksals, der Gleichgültigkeit des individuellen Lebens, der Ohnmacht der moralischen Mächte zu tragen; der dem Hauptzuge der Neuzeit am meisten entsprechende immanente Idealismus aber droht mit seinem Glauben an eine Harmonie der Wirklichkeit und einen sicheren Aufstieg der Menschheit den erschütternden Erfahrungen gegenüber eine leere Phrase zu werden. Wie steht es nun mit diesen Dingen? Sind alle jene Ideale endgültig entwertet, ist alles hinfällig geworden, was die Arbeit der Jahrtausende uns an Glauben und Hoffnung gewinnen ließ, oder besteht eine Möglichkeit, den Verwicklungen entgegenzuwirken, und kann dafür auch die Vergegenwärtigung der Lebensanschauungen einiges leisten?

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b. Rückblick und Ausblick.

Die Aufrollung der Lebensanschauungen scheint auf den ersten Anblick die Verwicklung der gegenwärtigen Lage eher zu steigern als zu verringern. Denn sie führt uns in überströmender Fülle Antworten zu, die sich keineswegs freundlich zusammenfügen, sondern weit auseinandergehen und nicht selten einander schroff widersprechen. Auch enthält die Versenkung in frühere Lebensbilder die Gefahr, bloßes Wissen für eigne Überzeugung einzusetzen und sich durch den bequemen Anschluß an Fremdes der Notwendigkeit eigner Entscheidung zu entziehen. Aber derartige Gefahren bestehen nur so lange, als jene Lebensbilder als bloße Erzeugnisse, ja Einfälle zufälliger Individuen gelten; die Sache gewinnt ein anderes Ansehen, Wenn wir in ihnen Entfaltungen und Offenbarungen eines Lebens erkennen, das mit überlegener Macht uns umfängt und in ihm unsere Stellung suchen heißt. Damit hören jene Leistungen auf, uns etwas Fremdes zu sein, damit wird ihre Bewegung unser eigner Kampf und Sieg. Dies war aber die Grundüberzeugung, welche unsere Darlegung trug und durchdrang; bietet so das Leben einen den bloßen Individuen überlegenen Standort, so läßt sich ganz wohl ein Zusammenschluß oder doch eine Verständigung der verschiedenen Leistungen erstreben, so lassen sich Erfahrungen und auch Stufen der Gesamtbewegung ermitteln, so führt die Geschichte uns wertvolle Tatsachen, Aufgaben, Forderungen zu, so vermag sie ein klärendes Licht auch auf die eigne Zeit zu werfen. Zugleich werden Wir angehalten, von bloßer Betrachtung in den Stand der Tätigkeit zu treten, im Ja wie im Nein eine eigne Entscheidung zu treffen. Selbst was an Gegensätzen verbleibt, das entwächst damit der Zufälligkeit der bloßen Individuen und Augenblicke, es läßt verschiedene Seiten, vielleicht notwendige Ergänzungen eines durchgehenden Geschehens erkennen, die Verbindung mit dem allen kann die Arbeit der Gegenwart bereichern und vertiefen, ihr auch die Richtung auf notwendige Ziele weisen.

Vor allem zeigte die Bewegung der Geschichte beim Gestalten der Lebensbilder zwei Faktoren am Werk: den vorgefundenen Stand der Dinge und eine ihm entgegengehaltene Tätigkeit, Dasein und Tatwelt, um es kurz zu sagen, Schicksal und Freiheit, wie es auch heißen könnte; wir stehen einmal in einer gegebenen Welt, wir setzen andererseits ihr eine neue Welt aus unserem eignen Wirken entgegen. Das Verhältnis beider Welten rief besonders viel Bewegung und Kampf hervor und gestaltete sich sehr verschieden, bald war das eine, bald das andere obenan, ja es fehlte nicht an Bemühung, das eine ganz in das andere aufzunehmen. Das aber litt in allem Streit keinen Zweifel, daß das menschliche Leben sich zwischen diesen beiden Seiten bewegt, und daß seine Beschaffenheit Wesentlich durch ihr Verhältnis bestimmt wird.

Weiter aber erwies sich, daß die einzelnen Lebensanschauungen der Denker weder auf demselben Boden nebeneinander stehen, noch auch eine in Einem Zuge fortlaufende Kette bilden; vielmehr fanden Wir umfassende Zusammenhänge, große Lebenskomplexe, aus denen die einzelnen Leistungen schöpften, und die ihnen erst eine sichere Richtung des Weges und die Kraft zu voller Durchbildung gaben. Solche Zusammenhänge waren das klassische Altertum, die christliche Welt, die moderne Kultur. Diese Lebenskomplexe erstrebten durchgängig den Aufbau einer selbstgenugsamen Wirklichkeit, sie konnten das nicht ohne dem Leben einen festen Standort und eine eigentümliche Grundbeziehung zu geben, sie konnten es auch nicht ohne eine Haupt- und Grundfunktion hervorzubringen und sie den Gesamtumfang des Lebens bis in alle Verzweigung beherrschen zu lassen; das Altertum fand jene Grundbeziehung und zugleich einen festen Standort in dem Verhältnis zu dem als vollendetes Kunstwerk gedachten Weltall, das Christentum in dem zur weltüberlegenen Gottheit als einer Macht der Weisheit und Liebe, die Neuzeit in der die Welt durchdringenden und in ihrem Aufbau sich selbst entfaltenden Vernunft; das Griechentum ergriff alle Weite mit einer begrenzenden und belebenden Form, das Christentum mit einer seelischen Verinnerlichung und Erneuerung, die Neuzeit mit einer unbegrenzten Kraftentfaltung und Kraftsteigerung; überall galt dabei das menschliche Leben als einem Weltgeschehen angehörig und dadurch mit einer aller menschlichen Willkür überlegenen Wahrheit versehen. Das gegenseitige Verhältnis dieser Lebenskomplexe mit ihren Wirklichkeiten ist voller Verwicklung; augenscheinlich sind sie im Ausgangspunkt wie im Wirken viel zu verschieden, um sich einfach zusammenzufügen, aber zugleich scheint jedem ein Wahrheitsgehalt innezuwohnen, der seine Preisgebung zwingend verbietet; so sahen wir denn, daß wohl der eine Komplex durch einen folgenden zurückgedrängt wurde, daß es aber immer wieder zu jenem zurücktrieb und eine gewisse Wiederaufnahme fordern ließ. So suchte die christliche Welt, sobald sie sich selbst befestigt hatte, ein Verständigung mit dem Altertum, so hat auch die Neuzeit immer wieder sowohl das Altertum als das Christentum auf den eignen Boden zu versetzen gesucht. So eine fortschreitende Bereicherung, ja eine Bildung verschiedener Schichten des Lebens, zugleich freilich eine arge Gefährdung seiner inneren Einheit.

Das um so mehr, da durch die verschiedenen hier entstehenden Wirklichkeiten ein großer Gegensatz geht, der sich in Kürze etwa als der von Kultur und Religion bezeichnen läßt. Einerseits ein kühner Weltaufbau, ein Hervortreiben alles Vermögens zu voller Betätigung, ein Ergreifen und Durchbilden der Welt um uns, dabei ein stolzes Bewußtsein menschlicher Kraft und Größe; andererseits ein Erkennen und Empfinden schroffer Konflikte in der eignen Seele, die Hauptsorge auf ihre Rettung gerichtet, die Notwendigkeit einer Umbildung, ja inneren Erneuerung, dabei die Schwäche und Hilflosigkeit des Menschen vollauf anerkannt und alle Hoffnung wesentlichen Vorwärtskommens auf ein Gehobenwerden durch übermenschliche Macht gestellt. So in unserem westlichen Lebenskreise einerseits Altertum und Neuzeit, andererseits die christliche Welt. Danach hier und dort eine grundverschiedene Bewertung des menschlichen Lebenskreises: dort findet er seine Vollendung und Befriedigung in sich selbst, hier weist er über sich selbst hinaus auf weitere Zusammenhänge. So führt die Geschichte uns auch diesen Gegensatz zu und zwingt uns über ihn zu entscheiden.

Zu allen diesen Fragen nun nimmt die Gegenwart eine eigentümliche Stellung ein. Zunächst hat im Verlauf der modernen Bewegung die Daseinswelt die Tatwelt immer weiter zurückgedrängt, ist der Realismus immer mächtiger gegen den Idealismus geworden. Das nächste Dasein nimmt heute den Menschen so sehr in Anspruch, es umfängt ihn mit so bedeutenden Aufgaben und führt ihn zu so wunderbaren Leistungen, daß eine Welt der Tat und zugleich der Innerlichkeit dagegen nicht aufkommen kann und uns daher mehr und mehr verblaßt. Wohl erhalten sich aus den früheren Lebensordnungen Größen und Güter innerer Art, aber sie entbehren eines festen Zusammenhanges und zugleich einer sicheren Begründung auf dem eignen Boden der Zeit, sie gehen nicht aus ursprünglichem Schaffen hervor und geraten damit in die Gefahr eines Halbwahr-, ja Unwahrwerdens. Das aber kann der durch die Arbeit der Jahrtausende seelisch vertiefte und zu geistigen Ansprüchen geweckte Mensch unmöglich als letzten Abschluß ertragen. Er kann nicht verkennen, daß alle Befassung mit der Daseinswelt wohl die Bedingungen des Lebens verbessert, wohl die Mittel zu seiner Erhaltung liefert, daß sie ihm aber nie von sich aus irgendwelchen Gehalt und Wert verleiht, daß somit alle unsägliche Mühe und Arbeit schließlich vergeblich ist und ins Leere fällt; denn was hilft alle Verstärkung der Mittel, wenn es einem beherrschenden Ziele gebricht. Der Alltag mit seinem Hangen am bloßen Augenblick mag diesen Widerspruch übersehen, jedes überschauende Denken muß ihn empfinden, und zwar als unerträglich empfinden, zugleich aber die Frage stellen, ob solchem zerstörenden Widerspruch nicht irgendwie zu entgehen sei. Die erste Forderung dafür wäre jedenfalls, daß die einzelnen Züge der Innerlichkeit sich zu einer Innenwelt zusammenschlössen und damit dem Dasein eine Tatwelt mit überlegener Macht entgegenhielten. Aber wird das geschehen können, und kann es bei uns geschehen?

Jedenfalls treibt diese Lage dazu, unser Verhältnis zu den überkommenen Lebenszusammenhängen gewissenhaft zu prüfen. Aber diese Prüfung steigert zunächst nur die Verwicklung. Das Leben hat durch seine eigne Bewegung so viel Altes entwertet, so viel Neues hervorgetrieben, so vieles unzulänglich gemacht, Was früher vollauf genügte, daß wir unmöglich eine besondere der überkommenen Gestaltungen zur unsrigen machen können, so sehr wir aus jeder wesentliche Züge festhalten möchten, ja müssen. Sie miteinander aber unmittelbar zu einem Ganzen verbinden können wir um so weniger, als die kritische und historische Denkweise der Neuzeit uns ihre Unterschiede und Gegensätze mit voller Klarheit vorhält. Solche Erkenntnis stellt uns vor ein unabweisbares Entweder-Oder. Entweder müssen wir uns jener widerspruchsvollen Lage ergeben, damit aber auf einen weiteren Aufstieg und auf ein selbständiges geistiges Schaffen verzichten, oder es gilt zu einem neuen Lebenszusammenhange vorzudringen, der Eigentümliches bringt und aus voller Ursprünglichkeit schafft, der aber den Wahrheitsgehalt der älteren Ordnungen dabei in sich aufzunehmen vermag. Das würde nur möglich sein, wenn ein noch ursprünglicheres Grundverhältnis, ein noch weiter zurückliegender Standort erreichbar wäre, und wenn sich von da aus eine eigentümliche Grundfunktion entwickeln ließe, die mit wesenbildendem Wirken das ganze Weite des Lebens durchdränge. Das ist eine Frage der Tatsächlichkeit, nicht grübelnder Reflexion. Wir sind in anderen Schriften für eine Bejahung dieser Frage eingetreten, freilich bei voller Klarheit darüber, daß es sich für die Gegenwart nur um Entwerfung von Umrissen handelt, und daß nur gemeinsame Arbeit diese zu weiterer Durchbildung bringen kann.

Soviel aber ist gewiß: es stehen bei unserer geistigen Lage nicht bloße Einzelreformen, sondern es steht eine Wendung des Ganzen in Frage; wir bedürfen eines neuen Lebens und einer neuen geistigen Welt. Eine neue Zeit bereitet sich vor, nur sie kann uns vor weiterem Sinken behüten.

Die Notwendigkeit einer Umwandlung gilt namentlich gegenüber der Denkart, welche dem modernen Leben eigentümlich ist. Diese sahen wir von der Größe und Kraft des Menschen berauscht, sie traute ihm zu, in die letzten Tiefen der Wirklichkeit einzudringen, die Welt auch innerlich zu gewinnen, sein eignes Zusammensein aber in ein Reich der Vernunft zu verwandeln. Solches Streben hat Großes geleistet, seine letzten Ziele aber nicht erreicht. Die Welt ist innerlich vor dem Menschen immer weiter zurückgewichen und steht jetzt vor uns wie ein dunkles Geheimnis, im eignen Bereich aber ist uns so viel Niedriges, Unlauteres, Scheinhaftes entgegengetreten, ja das ganze nächste Dasein stellt sich so sehr als eine Entstellung, ja Verkehrung echten Lebens dar, daß nicht nur die Hoffnung, von hier aus dem Leben einen wertvollen Inhalt zu geben, immer schwächer wird, sondern daß ein heftiger Überdruß, ein starker Widerwille gegen dies ganze nichtige und unwahre, dabei in seiner Nichtigkeit selbstbewußte Treiben immer zahlreichere Gemüter erfaßt ( taedium generis humani).

Aber wie kommen wir darüber hinaus? Die Religion, für uns zunächst das Christentum, hat es unternommen, Dunkel, Leid und Böses in vollem Umfang anzuerkennen und zugleich darüber hinauszuführen, aber nicht nur erheben sich gegen seine überkommene Form gewichtigste Bedenken und Zweifel, wir müssen auch dem Ganzen der Kultur mehr Selbständigkeit und Selbstwert zuerkennen als dort geschehen ist. Eine einfache Wiederaufnahme einer spezifisch religiösen Lebensführung ist uns daher schlechterdings unmöglich, vielmehr gilt es Religion und Kultur, Seelenwandlung und Weltaufbau in einem umfassenden Leben miteinander festzuhalten und in fruchtbare Beziehung zueinander zu setzen; das aber weist wiederum auf die Notwendigkeit hin, noch ursprünglichere Tiefen, noch wesenhaftere Tatsachen zu erreichen, als bisher unser Tun beherrschten.

An dieser Stelle entbrennt aber mit neuer Stärke der alte Kampf zwischen Bejahung und Verneinung, zwischen Zuversicht und Zweifel, zwischen Glauben und Unglauben. Manche Hilfen und Stützen, welche früher den Menschen der Unsicherheit seiner Lage zu entwinden schienen, sind hinfällig geworden, mit greller Klarheit steht uns jetzt ein Zwiespalt vor Augen, der das ganze menschliche Leben durchdringt. Einerseits bricht hier in der Entfaltung der Geistigkeit gegenüber der Natur eine neue Stufe der Wirklichkeit durch, führt wesentlich neue Größen und Güter ein, stellt an den Menschen schwerste Forderungen und will aus ihm etwas wesentlich Neues machen, ihm zugleich aber eine Größe und Würde verleihen; diese neue Wirklichkeit gibt sich mit ihrem unvergleichlichen Gehalt und Wert als den tiefsten Kern und die Beherrscherin aller Dinge. Andererseits aber behauptet sich das Außergeistige mit zäher Kraft, es erfüllt nicht nur die große Natur, es erstreckt sich weit auch in den menschlichen Bereich; der Mensch ist nicht nur äußerlich an diese fremde Ordnung gebunden, sie wirkt auch in sein Inneres hinein, ja es wird hier ein schroffer Widerstand gegen eben das geübt, was dem Menschen seine Größe und Würde verlieh, das Höhere wird zu völliger Verkehrung in den Dienst des Niederen gezogen, so vom Menschen seiner eigenen Größe entgegengewirkt und der Gesamtstand seines Lebens zerrüttet. Damit ein schroffer Widerspruch zwischen dem eignen Gehalt des Geisteslebens und der Art seiner Verwirklichung bei uns, seiner Existenzform im Kreise des Menschen; kein Wunder, daß die Entscheidungen und Überzeugungen hier schroff auseinandergehen. Der eine hält sich an die Tatsache des starren Widerstandes und erklärt von ihr aus alle Geistigkeit als einen nebensächlichen Vorgang, er gibt damit freilich auch alles den Menschen Auszeichnende auf; der andere dagegen ergreift als entscheidende Tatsache das Aufsteigen einer neuen Welt, verschanzt sich fest in dieser, und behauptet sie unerschrocken und tapfer gegen allen Widerspruch und alle Hemmung. Ohne einen Heroismus der Gesinnung wird das nicht möglich sein. Wachsendem Zweifel gegenüber, der auf das Ganze geht, wird aber letzthin nur eine weitere Gesamterschließung des Lebens helfen können. Ob eine solche möglich und auch schon im Werden begriffen ist, das ist der entscheidende Punkt, an dem alle Hauptfragen zusammenlaufen: nur eine tatsächliche Weiterbewegung, die Eröffnung weiterer Tiefen, kann die Tatwelt dem Dasein gewachsen machen, nur eine solche kann einen neuen überlegenen Lebenszusammenhang ergeben, nur eine solche den schroffen Gegensatz zwischen Gehalt und Existenz überwinden. Immer kommen wir auf die Notwendigkeit der Eröffnung und der Ergreifung einer neuen Tatsächlichkeit; das aber führt über die Gegenwart hinaus in die Zukunft.

Aber so gewiß alles, was heute in dieser Richtung geschehen kann, nur vorbereitender und einleitender Art ist, auch die Vorbereitung ist unentbehrlich, wir dürfen nicht müßig hoffen und harren, bis uns von irgendwoher eine Erleuchtung und Stärkung komme. Es gilt zunächst das Problem oder sagen wir einfach den geistigen Notstand der Menschheit vollauf anzuerkennen und das Denken damit zu befassen, es gilt weiter die Geister nach der Stellung zu diesem Problem sowohl zu scheiden als auch zu sammeln, es gilt bei der Sammlung feste Zusammenhänge des Strebens zu bilden zum Kampf gegen die Scheinkultur, die unser Leben mehr und mehr umspinnt, zur ethischen Aufrüttelung der Menschheit, zur Richtung des Strebens auf das Wesenhafte, Erhöhende, Ewige.

Es läßt sich hoffen, daß die gewaltige Erschütterung, welche der Weltkrieg hervorgebracht hat, viele tiefere Seelen nach dieser Richtung treiben wird. Die unermeßliche Zerstörung von persönlichem Glück erweckt notwendig die Frage, ob kein diesem Glück überlegenes Lebensziel besteht und den Menschen aufrechtzuhalten vermag, ob nicht auch Verlust und Schmerz dieses Ziel irgendwie fördern können. Mit solcher Wendung heben die Gedanken sich weit über das hinaus, Woran sonst alles Gelingen zu liegen schien, ja über das ganze menschliche Durchschnittstreiben; neue Fragen, aber auch neue Tiefen und Kräfte steigen dann auf, neue Zusammenhänge lassen sich ahnen. Gegenüber der nunmehr erwachenden Frage einer geistigen Selbsterhaltung nicht nur des einzelnen Menschen, sondern der gesamten Menschheit, muß manches als unsäglich klein erscheinen, was sonst das Streben einnahm, andere Maße kommen auf und stellen zwingende Forderungen. Der daraus quellende Ernst macht uns auch selbständiger gegenüber dem Befunde menschlicher Dinge, er zwingt uns, ihm unbefangener und gerader ins Auge zu sehen, nichts zu verdecken und nichts zu beschönigen, im besonderen der üblichen Verwischung der Unterschiede und Verschleierung der Gegensätze zu widerstehen. Wir dürfen nicht weiter Gutes und Böses, Wahrheit und Schein, Wesenhaftes und Wesenloses in eins zusammenrinnen lassen, die täuschenden Mittelgebilde seien abgewiesen, welche den Problemen alle Schärfe nehmen und über schroffste Abgründe mit gefälligem Lächeln hinwegtäuschen möchten; wir müssen das Entweder – Oder, das nun einmal durch das menschliche Leben geht, klar herausarbeiten und deutlich vor Augen stellen. Die stärkere Sorge um uns selbst und unsere Seele, um die innere Notwendigkeit unseres eignen Wesens, Wird uns auch von der elenden Menschenfurcht befreien, die auf dem modernen Menschen mit besonderer Schwere lastet und ihn namentlich da zu einem bloßen Herdentier macht, wo er besonders frei zu sein glaubt. Nur ist der Gebieter kein Individuum, sondern das Zusammengerinnsel der sogenannten öffentlichen Meinung, der geringe Durchschnitt der Masse. – Welche unheimliche Macht das Schicksal über uns hat, das hat der Krieg uns vollauf ersehen lassen; wollen wir jenem nicht ganz unterliegen, so gilt es gegenüber seinem Bereich ein Reich freier Tat aufzubringen, die Dinge nicht gehen zu lassen wie sie gehen, sondern sie an den Zielen des Geisteslebens zu messen und sie seinen Forderungen gemäß zu gestalten; mögen wir dabei viel oder Wenig erreichen, schon das besagt nichts Geringes, daß wir der gebundenen Welt gegenüber in den Stand der Selbständigkeit kommen und Verantwortung auf uns nehmen. So überall Fragen und Aufgaben.

Wenn solche innere Spannung der Gegenwart, solche Notwendigkeit großer Wendungen im Ganzen des Lebens unsere Gedanken auf die Zukunft lenkt, so könnte wohl alle Befassung mit der Geschichte, sofern sie die gelehrte Forschung überschreitet, Wertlos zu werden scheinen, mit ihr auch die Betrachtung der Lebensanschauungen, wie unser Werk sie unternahm. Aber so steht die Sache keineswegs. Denn wenn wir uns heute an einem großen Wendepunkt befinden, so ist damit nicht im mindesten alles, was vor ihm liegt, bloße und tote Vergangenheit geworden. So die Geschichte mißachten könnte nur, wer mit der Aufklärung aus einer geschichtslosen Vernunft glaubte das Leben gänzlich erfüllen zu können; wer hingegen davon überzeugt ist, daß das seinem Wesen nach zeitüberlegene Geistesleben uns Menschen seinen Gehalt erst durch die Erfahrungen und die Kämpfe der Geschichte hindurch erschließt, der wird auch im Streben nach einem ursprünglichen und selbsteignen Leben die Arbeit der Geschichte gegenwärtig zu halten haben, dabei freilich bestrebt sein, in ihrem Befunde zwischen Ewigem und Vergänglichem, zwischen geistigem Gehalt und bloßmenschlicher Zurechtmachung deutlich zu unterscheiden, dieses fallen zu lassen, jenes aber möglichst in die eigne Arbeit überzuführen. Nicht aus der Geschichte, wohl aber an der Geschichte haben wir uns selbst, unser geistiges Selbst zu finden; sie bildet einen unentbehrlichen Weg, uns aus der Gegenwart des bloßen Augenblicks in eine zeitüberlegene Gegenwart und von der Dürftigkeit der Sonderexistenz in ein Leben aus dem Ganzen des Menschenwesens zu versetzen.

Von einer solchen Überzeugung aus können ganz wohl die großen Denker, jene Helden des Geistes, wertvolle Genossen im Kampf um eine geistige Selbsterhaltung werden, und wird die Befassung mit ihnen keine Flucht aus der eignen Zeit, sondern eine Vertiefung dieser Zeit.

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