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C. Das neue Christentum.

1. Die Reformation.

Innere Wandlungen hatte das Christentum bisher in Hülle und Fülle durchgemacht, ohne daß diese Wandlungen einen schroffen Bruch ergaben und den Zusammenhang der Bewegung zerstörten. Daß die Sache jetzt anders verlief, und daß eine neue Art des Christentums aufkam, erklärt sich schwerlich aus der Religion allein; eine Veränderung der gesamten geistigen Lage, des Lebensgehaltes, des Lebensgefühles war sicherlich dabei im Spiele. Das alte Christentum hatte seine Gestalt unter starken Einflüssen einer eigentümlichen Zeit erhalten. Die Menschheit war damals der Kultur satt und müde geworden, die Arbeit entbehrte großer Ziele, die Individuen fühlten sich schwach und überlegener Hilfe bedürftig, der massenhafte Zustrom ungeläuterter Elemente seit dem vierten Jahrhundert gefährdete die geistige und sittliche Höhe. Dazu bedrückte jene Zeit ein schroffer Gegensatz von Geist und Sinnlichkeit, ein Rückschlag gegen die lüsterne Sinnlichkeit, woran alternde Kulturen zu leiden pflegen. Ein solcher Stand der Dinge machte zum dringlichsten Anliegen, dem Menschen einen festen Halt in einer überlegenen Ordnung zu erringen und ihn dadurch allem Zweifel zu entziehen, aller Unzulänglichkeit zu entwinden, vor allen Stürmen in einen sicheren Hafen zu retten. Man sehnte sich nach unantastbarer Autorität und nach unbestreitbarem Abschluß, man wollte sich selbst entlasten, man brachte dem Geheimnisvollen, dem Magischen, dem Unbegreiflichen die bereiteste Stimmung entgegen. Wenn also damals die Glaubenslehren in ein geschlossenes System zusammenwuchsen und die Ordnung der Kirche den Anspruch erhob, den Individuen alles Heil zu vermitteln, sie aus Not und Nichtigkeit des nächsten Daseins in eine höhere Welt zu versetzen, so entsprach das den Bedürfnissen der Zeit und zog daraus eine unwiderstehliche Macht.

Diese Bewegung hatte das Mittelalter fortgesetzt und auf seiner Höhe in der römischen Kirche ein System geschaffen, das nicht nur innerhalb des Christentums und der Religion, sondern im Ganzen des menschlichen Lebens eine einzigartige Erscheinung bildet. Nicht nur die Individuen, sondern auch die Kulturarbeit mit aller ihrer Verzweigung war hier der Religion an- und eingefügt, die Religion aber sollte in der Gestaltung zur Kirche alle Dürftigkeit und Zufälligkeit der menschlichen Lage überwinden und ein selbständiges Reich göttlicher Kräfte und Wirkungen bilden. Dies Reich hielt dem Wandel des menschlichen Lebens eine ewige Wahrheit als unanfechtbar entgegen und gab sich als den alleinigen Vermittler des Menschen mit geistigen und göttlichen Dingen; in seinem eigenen Kreise aber vollzog es eine bewunderungswürdige Ausgleichung der Gegensätze, die das menschliche Leben bewegen und unablässig zu spalten drohen. Diesseits und Jenseits sowie Sinnliches und Geistiges waren einander hier eng verbunden und fest verschlungen, das Weltbild wurde von einer lebendigen Gemeinschaft getragen, diese aber durch die göttlichen Kräfte erhöht und veredelt, deren unablässiger Zustrom sie als den Mittelpunkt eines großen Weltzusammenhanges erscheinen ließ. Gedankenarbeit und Machtentwicklung gingen hier Hand in Hand; viel rationale Arbeit wurde mit eiserner Konsequenz verrichtet, aber sie ruhte auf einem überrationalen mystischen Grunde; die Strenge der ethischen Aufgabe wurde durch ein namentlich dem Griechentum entlehntes Element des Schönen gemildert, einem Sinken des Schönen in weichlichen Genuß widerstand aber der tiefe Ernst einer moralischen Ordnung. Was bei dem allen unausgeglichen blieb und Widersprüche enthielt, das vermochte der Weg der Abstufung geschickt auszugleichen und zusammenzufügen.

So eine Welt- und Lebensordnung, der kein Unbefangener eine überragende Größe absprechen kann. Aber wie dies System aus einer besonderen geschichtlichen Lage hervorgegangen war, so hatte es eigentümliche Voraussetzungen, und ob diese für alle Zeiten gelten und die Menschheit dauernd binden, das konnte gar wohl in Zweifel geraten. Ein solcher Abschluß kann endgültig nur sein, wo nicht nur an eine ewige Wahrheit, sondern auch an eine erfolgte Erschließung dieser Wahrheit innerhalb der Zeit geglaubt wird, wo daher die geschichtliche Bewegung keinerlei wesentliche Fortbildungen und Erneuerungen erwarten läßt, vielmehr der Grundstock des Lebens schlechthin unwandelbar dünkt; auch muß dann die dargebotene Art der Religion die Grundform aller Religion bedeuten und nirgends notwendigen Forderungen der Seele widersprechen. Ein Widerspruch droht aber namentlich daher, daß der Mensch, als lebendige und weltumspannende Persönlichkeit, nicht dauernd die hier auferlegte Abhängigkeit und Einengung ertragen kann. Denn jene mittelalterliche Ordnung läßt ihn seinen geistigen Schwerpunkt nicht in sich selbst, bei seiner eigenen Überzeugung und im eigenen Gewissen, sondern in der ihn umfangenden und beherrschenden Kirche finden, das Leben geht mehr an ihm vor als daß er selbst es hervorbringt, er hat sich willig unterzuordnen, eine unbedingte Devotion zu üben. Bei aller Innigkeit des Gefühls und aller Emsigkeit frommer Werke fehlt diesem Leben der Charakter der Freiheit, Freudigkeit und Mannhaftigkeit, es ist die Religion einer unmündigen und ihrer Ohnmacht bewußten Menschheit. Konnte diese Schwäche dauernd verbleiben, mußte nicht ein Wiedererstarken erfolgen und jenem Leben den Boden entziehen?

Ein derartiges Erstarken ist erfolgt: es war nicht eine kecke Überhebung Einzelner, es waren tiefgehende Veränderungen im Bestande des Lebens, welche der Menschheit wieder frische Kraft und freudigen Mut verliehen und zugleich ihre Stellung zu den letzten Fragen verschoben. Die trüben Eindrücke des ausgehenden Altertums verblichen, neue Völker waren herangewachsen, strotzend von Jugendkraft, die, zunächst mehr nach außen gekehrt, sich schließlich auch ins Innere wenden und einen neuen Welttag herbeiführen mußte. Die Kirche hatte mit ihrer handfesten Ordnung und ihrer strengen Zucht ein unverwerfliches Werk der Erziehung an den Völkern getan. Aber wie jede Erziehung, so ging auch diese zu Ende, die Unmündigkeit wurde deutlich empfunden und schien damit unerträglich; nun drohte zur starren Hemmung zu werden, was langen Jahrhunderten ein hoher Segen war.

Solche Regungen und Stimmungen erscheinen schon im Mittelalter, aber zur Bewußtheit gelangt der neue Lebenstrieb erst mit dem Aufstieg der Renaissance. Nun erwachen die Geister wie aus langem Schlummer, selbsttätiger wird das Leben, freiere Gedanken von Gott und Welt, Überzeugungen von einem geistigen und göttlichen Leben auch jenseit der kirchlichen Form entstehen und erzeugen die frohe Stimmung eines frischen Morgens. »Die Geister erwachen, es ist eine Lust zu leben« (Hutten). Zugleich wird das Auge für die Schönheit der Welt geöffnet sowie das Sinnen und Denken von ihrer Lebensfülle angezogen. Auch eingreifende soziale Wandlungen kommen in Fluß und treiben auf neue Bahnen. Das feudale System ist innerlich gebrochen, ein starkes Bürgertum ist erwachsen und hat die Macht wie die Ehre der bürgerlichen Arbeit gehoben; immer weitere Schichten drängen aufwärts, wollen mitbestimmen und fordern eine bessere Lebenshaltung. Das alles muß auch zu einer Umwandlung der letzten Überzeugungen wirken.

Aber alle solche Lebensfülle hätte von sich aus noch nicht eine Umwälzung der Religion herbeigeführt, mit ihrer Steigerung menschlicher Kraft und menschlichen Selbstgefühls widersprach sie eher der Religion. Es mußte daher auch diese selbst ein Verlangen nach neuer Gestalt erzeugen, nur das Zusammentreffen beider Bewegungen konnte ihr einen neuen Boden schaffen. Nun befand sich in Wahrheit beim Ausgang des Mittelalters das westliche Christentum in starker innerer Gärung, obschon keineswegs im Verfall. Viel Veräußerlichung und Verweltlichung war entstanden, ohne daß aber der religiöse Eifer darüber erkaltete; das fünfzehnte Jahrhundert war, wie seine großen Konzilien zeigen, voll des Verlangens nach einer Reform an Haupt und Gliedern, es hat tatsächlich manches in dieser Richtung erreicht. Energische Persönlichkeiten, wie Wiclef und Huß, drängen kühner vor und gerieten in schroffe Konflikte. Es muß bei aller äußeren Blüte des überkommenen Kirchentums und aller Opferwilligkeit für seine Zwecke viel Spannung und Widerspruch in den Gemütern geschlummert haben, sonst hätte Luthers Auftreten unmöglich so durchschlagen können. Aber um das Schlummernde zu wecken, bedurfte es einer überragenden Persönlichkeit, einer Persönlichkeit, die ganz und gar Wille war, und die in den kirchlichen Formen nicht den stürmisch ersehnten Frieden für die eigne Seele fand, einer Persönlichkeit, die stark genug war, um zur Erringung dieses Friedens neue Bahnen zu brechen, und tapfer genug, um die innere Notwendigkeit gegen eine übermächtige, durch die Überzeugung der Menschheit geheiligte Ordnung durchzusetzen.

Eine solche Persönlichkeit war es, die in Luther erschien; der tiefste Drang der Reformation ward in ihm zu Fleisch und Blut, seine ursprüngliche, kernhafte, anschauliche Art gab dem Unternehmen ein glutvolles Leben und eine hinreißende Überzeugungskraft.

»Ihn ergriff ein allmächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil, und dieser ward das Leben in seinem Leben, und setzte immerfort das Letzte in die Wage, und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert. Mögen andere bei der Reformation irdische Zwecke gehabt haben, sie hätten nie gesiegt, hätte nicht an ihrer Spitze ein Anführer gestanden, der durch das Ewige begeistert wurde; daß dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos entgegenging, ist natürlich und durchaus kein Wunder« (Fichte).

Wie unsere Darstellung vornehmlich das Grundmenschliche seiner Lebensanschauung zum Ausdruck zu bringen hat, so hält sie sich namentlich an die früheren Schriften, insbesondere an die Schrift von der Freiheit des Christenmenschen ( de libertate Christiana). Bisweilen sei auch Melanchthon herbeigezogen, wo er die leitenden Gedanken besonders deutlich ausgeprägt hat.

*

a. Luther.

Luther ist allen bekannt und in aller Munde, aber deshalb ist er uns keineswegs mit dem vollen Bilde seines Wesens und Wirkens gegenwärtig. Nicht nur haftet meist der Blick zu ausschließlich an der religiösen Bewegung, die von ihm ausging, es wird nicht genügend anerkannt, daß die Erneuerung der Religion ihre einzigartige Kraft und Wucht aus dem Ganzen eines eigentümlichen Lebens schöpfte, das in jenem Manne hervorbrach, und das in der Religion wohl seinen Höhepunkt fand, nicht aber sich darin ganz ausgab; auch kommen die inneren Bewegungen und feineren Züge des Mannes nicht zu ihrem vollen Recht, er erscheint zu derbe, zu sehr nach außen gekehrt, zu kampfeslustig; wir blicken nicht genügend in seine inneren Bewegungen hinein und erreichen daher nicht ein so innerliches Verhältnis zu ihm, wie es möglich wäre, und wie es unser eigenes Leben und Streben fördern könnte. Sehen wir nach dieser Richtung hin unsere frühere Darstellung weiterzuführen, so gewiß unsere summarische Behandlung der Sache nur einige Umrisse zu liefern vermag.

 

α. Luther als Reformator der Kirche.

Der Ausgangspunkt der religiösen Bewegung bei Luther war durchaus ethischer Art, es war die Entrüstung, der heilige Zorn über den Ablaßhandel, den er in seiner nächsten Nähe sich ausbreiten sah. Denn bei diesem schien, wenn auch nicht nach Absicht der Kirche, so doch in der Wirkung auf das Volk, eine materielle Leistung, schien bloßes Geld eine sittliche Wandlung ersetzen zu können; das dünkte Luther eine schmähliche Entstellung des Grundbestandes des Christentums, im besonderen ein schweres Unrecht gegen Christi Erlösungswerk; mit der ganzen Glut seiner feurigen Seele trieb es ihn, dagegen zu kämpfen und eine sittliche Wandlung, Reue und Lebenserneuerung, als das allein Entscheidende zu fordern. Zugleich aber dünkte ihm das überwiegende Verlangen nach bloßem Erlaß der Sündenstrafe eine unwürdige Fassung unseres Verhältnisses zu Gott. Denn ihm bereitete bei der Sünde nicht sowohl dieses Schmerz, daß Strafen für sie bestehen, als daß sie uns innerlich Gott entfremdet und aus der Gemeinschaft mit ihm herausfallen läßt; zugleich wurde ihm die Wiederherstellung dieser Gemeinschaft zur Hauptsorge; die Strafe konnte sogar zu einem Segen werden, wenn sie diesem Zweck diente. Indem sich aber damit das Verhältnis zu Gott ganz ins Innerliche und Persönliche wandte, verschob sich auch die Stellung der Kirche; sie kann die göttliche Gnade nur verkünden, nicht von sich aus Erlösung bringen, die vielmehr ganz und gar im Wirken Gottes zur Seele liegt. Wie sich damit das Leben ganz in die Innerlichkeit verlegt, das zeigen schon die wunderbaren Worte der 16. These: »Wie mich dünkt, unterscheiden sich Hölle, Fegefeuer, Himmel genau so wie verzweifeln, beinahe verzweifeln und des Heiles gewiß sein.«

So verwirft Luther alle bequeme Abmachung, er will den Kampf mit seiner ganzen Schwere auf sich nehmen, damit aber auch echten Frieden, nicht bloß einen Schein des Friedens gewinnen. Aus solcher Gesinnung heißt es am Schluß der Thesen: »Hinweg mit allen den Propheten, die dem Volke Christi sagen: Friede, Friede, und ist kein Friede. – Allen denen Propheten aber müsse es wohl ergehen, die Christi Volk sagen: Kreuz, Kreuz, und ist kein Kreuz. – Man ermahne die Christen, daß sie ihrem Haupte Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen sich mühen. – Und also mehr ihr Vertrauen darauf setzen, durch viele Trübsal ins Himmelreich einzugehen als durch die Vertröstung: Es hat keine Gefahr.«

Diese Gedanken waren zu Beginn keineswegs gegen die Kirche gerichtet, Luther wollte sie vielmehr innerhalb dieser zur Geltung bringen und sie damit vor schwerem Schaden bewahren; es war nicht sein eigener Wille, sondern die Konsequenz der Sache, welche ihn weiter und weiter trieb und schließlich in einen offenen Gegensatz brachte. Dann freilich konnte kein Zweifel daran sein, daß hier eine neue Art hervorbrach, daß eine Umwälzung, nicht eine bloße Reform erfolgte. Bei der Beurteilung dessen geschieht aber dem überkommenen Stande Unrecht, wenn die große Wendung schlechtweg als ein Sieg der Innerlichkeit über eine Veräußerlichung dargestellt wird. Denn an tiefer Innerlichkeit fehlte es wahrlich dem mittelalterlichen Christentum nicht, man muß nicht nur mit den Mystikern, man muß auch mit den Scholastikern unbekannt sein, um jenen eine solche absprechen zu können; auch bei dem Haupte der Scholastik, bei Thomas von Aquino, waltet eine tiefe Innerlichkeit und gibt sich an manchen Stellen einen ergreifenden Ausdruck. Aber es ist eine andere Art der Innerlichkeit, die sich nunmehr regt und durchsetzt, es ist eine Innerlichkeit mehr aktiver, selbständiger, aufrechter Art, wobei aber das Selbständigwerden nicht als ein Werk der Natur, sondern als eine göttliche Gabe und Gnade gilt. Mit dem Erwachen einer solchen männlichen Innerlichkeit verschob sich auch das Verhältnis des Einzelnen zur religiösen Gemeinschaft. Die ältere Art konnte ganz wohl mit schmiegsamer Unterordnung unter diese zusammengehen, es wurde an dieser Stelle noch kein Entweder-Oder empfunden. Die neue Art aber konnte einem solchen unmöglich entgehen, eine klare Entscheidung wurde unvermeidlich, und diese konnte nur zugunsten der in Gott gegründeten Persönlichkeit fallen. Nur in dieser neuen Gestalt konnte die Innerlichkeit sich für berechtigt und unter Umständen für verpflichtet halten, wie der ganzen Welt so auch der in der Überzeugung der Menschheit geheiligten kirchlichen Ordnung zu widersprechen, und allen Vorwürfen eines dadurch bewirkten Ärgernisses die Worte entgegenschleudern: »Ärgernis hin, Ärgernis her, Not. bricht Eisen und hat kein Ärgernis. Ich soll der schwachen Gewissen schonen, sofern es ohne Gefahr meiner Seele geschehen kann. Wo nicht, so soll ich meiner Seele raten, es ärgere sich daran die ganze oder halbe Welt.«

Was dabei an Theologie geboten wird, ist im begrifflichen Gehalt nicht neu, es schließt sich eng an die überkommene Denkweise an. Der Sündenfall des Menschen, die Verderbnis des Weltstandes, das Versagen alles eigenen Vermögens, die Rettung durch die Menschwerdung Gottes und den sühnenden Kreuzestod. Aber das Alte wirkt wie ein Neues durch die völlige Versetzung auf den Boden persönlichen Lebens: die Kontraste treten damit weit schärfer hervor, weiter erscheint die Entfernung, schmerzlicher der Widerspruch, umwälzender aber auch die Rettung. Der Gedanke der moralischen Verderbtheit des Menschen wird gewaltig gesteigert und alles Vertrauen auf das »natürliche Licht«, die Vernunft, den freien Willen, die natürlichen Kräfte gebrochen; desto wunderbarer stellt sich aber auch die Wendung dar, desto freudiger wird die Befreiung, die Wiedervereinigung mit Gott begrüßt.

Dabei steht außer Zweifel, daß die große Wendung ganz und gar an der Gnade Gottes hängt, sein Werk im besonderen ist die Weckung des Glaubens, des Einzigen, was auf der Seite des Menschen zur Aneignung des Heiles zu geschehen hat: »Der Glaube ist Gottes Werk und nicht des Menschen; die anderen Werke wirkt er mit uns und durch uns, dies allein wirkt er in uns und ohne uns.« Je mehr damit der Mensch ganz und gar auf Liebe und Gnade angewiesen wird, und je größer die Herrlichkeit erscheint, die er dadurch gewinnt, desto inniger wird seine Dankbarkeit, desto heißer auch das Verlangen, sie durch opferfreudiges Wirken gegenüber dem Nächsten zu bekunden. »Es fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott, und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen, ohne alle Rücksicht auf Dank oder Undank, auf Lob oder Tadel, auf Gewinn oder Verlust.« »Wie sich Christus mir dargeboten hat, so will ich mich als eine Art Christus ( quendam Christum) meinem Nächsten geben, um nichts in diesem Leben zu tun, als was ich meinem Nächsten notwendig, nützlich und heilsam sehe, da ich selbst durch den Glauben an allen Gütern in Christus im Überfluß teilhabe.«

Solche durchgreifende Verstärkung des Inneren hat sehr bedeutende Folgen. Sie verschiebt zunächst das Verhältnis von Innerem und Äußerem, macht jenes weit überlegen und vollzieht eine gründliche Befreiung von allen äußeren Werken und Satzungen. Hier heißt es: »Alle Werke und Dinge sind einem Christen frei durch seinen Glauben«, und es kann Melanchthon schlechtweg sagen: »Schließlich ist die Freiheit das Christentum.« Nun läßt sich eine Absonderung heiliger Werke und Lebensführungen nicht mehr aufrecht erhalten, sondern die rechte Gesinnung heiligt auch das Werk des Alltags, sie gibt jedem Beruf eine Weihe gemäß der Überzeugung: »Gottes Wort ist unser Heiligtum und macht alle Dinge heilig.« Zugleich erfolgen erhebliche Wandlungen im Verhältnis des Geistigen und Sinnlichen. Das Geistige hebt sich, hier freier über das Sinnliche hinaus und widersteht der Vermengung beider, die das sinkende Altertum mit seiner geistigen Mattheit dem Christentum zugeführt und das Mittelalter weiter befestigt hatte. Dabei erschien das Sinnliche auch den geistigen und religiösen Größen zu ihrer vollen Wirklichkeit unentbehrlich; darin aber lag eine Bindung, welche das religiöse Leben mit einer Veräußerlichung bedrohte und auch ein Verfallen in Aberglauben nahelegte. Luther dagegen stellte, wenigstens im Hauptzuge seines Strebens, das Geistige auf sich selbst und konnte daher das Sinnliche zu seinem bloßen Mittel und Werkzeug machen; auch von hier aus brauchte das religiöse Leben sich nicht, an äußere Formen und Formeln zu binden. Andererseits aber wurde für das praktische Leben eine unbefangene Würdigung des Sinnlichen möglich, dieses konnte nun nicht mehr als an sich verwerflich erscheinen, vollauf ließ sich nun anerkennen, daß »Fleisch und Blut Fleisch und Blut bleibt«. Die Unterdrückung der Sinnlichkeit konnte nun nicht mehr als ein besonderes Verdienst erscheinen, es fiel das asketische Lebensideal, damit freilich keineswegs alle Askese im Ganzen des Lebens, alle weltliche Askese, wie man sie wohl genannt hat.

Auch die innere Gestaltung des religiösen Lebens veränderte sich diesem Gedankenzuge: ein bloß passives Aufnehmen hat keinen Platz mehr, ebensowenig eine blinde Devotion, weit mehr wird der Mensch zu eigener Betätigung, zu eigenem Denken aufgerufen. Es vollzieht sich eine Wendung dahin, »daß die Gnade nicht mehr eine sakramental einzugießende Wundersubstanz, sondern eine von Glaube, Überzeugung, Gesinnung, Erkenntnis und Vertrauen anzueignende Gottesgesinnung, der im Evangelium und in Christi Liebe und Gesinnung zu den Menschen erkennbare sündenvergebende Liebeswille Gottes ist« (Tröltsch). Das bewirkt zugleich eine Verschiebung vom Kirchlichen ins Moralische innerhalb der Religion, der Vorrang des Moralischen wird von Luther mit aller Energie verfochten. So äußert er sich mit starkem Unwillen über das gegen Huß geübte Verfahren und die dabei geäußerte Meinung, Ketzern brauche man das Wort nicht zu halten. Schlicht und einfach heißt es dagegen: »Geleit halten hat Gott geboten. Das sollte man halten, ob gleich die Welt untergehen sollte, geschweige denn, einen Ketzer loszuwerden.« Unwillkürlich gedenkt man dabei des Kantischen Wortes: »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.« Auch das verwirft Luther entschieden, daß Menschen gelobte Treue wegen kirchlicher Gelübde gebrochen werde.

Alles miteinander erzeugt ein kräftiges, freies und frohes Leben, das aber durchaus als ein Werk Gottes, nicht als eine Leistung des Menschen erscheint. Von diesem Leben heißt es: »Gottes Wort ist das Allererste, darauf folgt der Glaube, dem Glauben die Liebe, die Liebe endlich tut alles gute Werk, weil sie nichts Böses tut, vielmehr des Gesetzes Erfüllung ist.« »Nichts Lieblicheres ist einem Christen, denn denken, daß er in Gott lebe, und will hier zu schaffen haben.« Denn hier treibt es zu unermüdlicher Tätigkeit, weil »das Wort Gottes kommt, die Welt zu verändern und zu erneuern, so oft es kommt«.

Aber wenn damit im tiefsten Grunde der Seele ein seliger Friede gewonnen wird, so verwandelt das keineswegs unser Leben in eitel Freude. Denn in dieser Welt bleibt nach Luthers Vorstellung auch der Teufel mächtig und führt einen unablässigen Kampf gegen Gott, er ringt namentlich mit ihm um die menschliche Seele. Daher kann es nicht anders sein, als daß auch viel Leid an den Menschen kommt, die Eröffnung des neuen Lebens läßt es nur noch stärker empfinden. »Wo Gottes Wort gepredigt, aufgenommen oder geglaubt wird und Frucht schafft, da soll das liebe heilige Kreuz auch nicht draußen bleiben.« »Gott hat uns in die Welt geworfen unter des Teufels Herrschaft, so daß wir hier kein Paradies haben, sondern alles Unglücks sollen gewarten, alle Stunde, an Leib, Weib, Gut und Ehren.« Ja es heißt: »Je christlicher einer ist, desto mehr ist er dem Übel, dem Leid, dem Tod unterworfen.«

Dabei kann es nach Luther nun und nimmer Aufgabe sein, sich gegen solches Leid abzustumpfen. Denn »Gott hat den Menschen nicht geschaffen, daß er ein Stein oder Holz sollte sein«; Gefühllosigkeit ist eine »heidnische Tugend«, eine »gemachte Tugend und erdichtete Stärke«. Vielmehr sollen wir das Leid empfinden, namentlich »wenn die rechten großen Stöße kommen, die das Herz treffen und stürmen, daß man nicht kann weinen und niemandem darf klagen«. Aber indem wir das Leid empfinden, sollen wir es zugleich überwinden. »Das Evangelium rüstet uns auch nicht anders denn mit göttlichen Waffen, das ist, es lehrt uns nicht, wie wir das Unglück loswerden und Friede haben, sondern wie wir darunter leiden und überwinden; daß es nicht durch unser Zutun und Widerstehen abgewandt werde, sondern daß sich's an uns matt und müde arbeite und so lang uns treibe, bis es nimmer kann und von sich selbst aufhöre und kraftlos abfalle, wie die Wellen auf dem Wasser am Rande sich stoßen und von sich selbst zurückfahren und verschwinden.« So bildet hier die Hauptlösung des Problems das innere Wachstum durch das Leid. »Dies ist eine geistliche Herrschaft, die da regiert in der leiblichen Unterdrückung, d. h. ich kann mich in allen Dingen bessern nach der Seele, auf daß der Tod und Leiden mir dienen müssen und nützlich sein zur Seligkeit.«

Aber so wenig der Widerstand der Welt die Freudigkeit im Grunde der Seele aufhebt, das Leben verwandelt sich in einen harten Kampf, dessen Bestehen unablässige Wachsamkeit und Tapferkeit fordert, es wird uns kein ruhiger Besitz und erreicht keinen fertigen Abschluß. Vielmehr bleibt es eine bloße Vorbereitung ( praecursus) oder vielmehr ein Anfang ( initium) des vollkommenen Lebens, das erst das Jenseits bringt. »Es ist ja dies Leben vergänglich und muß eine Fahrt und Wallen sein, bis wir zum rechten Vaterland kommen.« Aber bei aller Unvollkommenheit ist es nicht ohne große Bedeutung. »Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gange und Schwange; es ist nicht das Ende, sondern der Weg. Es glühet und glänzet nicht alles, es feget sich aber alles.« Denn über den schließlichen Sieg des Göttlichen waltet nicht der mindeste Zweifel; so kann es aus voller Überzeugung heißen: »Darum nur getrost und frisch dahingesetzt, was auch die Welt nehmen kann; die Wohnungen des Lebens sind viel weiter als die Wohnungen des Todes.« Eine derartige Lebensgestaltung liegt über dem Gegensatz von Optimismus und Pessimismus.

So bringt dies neue Leben eingreifende Wandlungen und Weiterbildungen, aber es begegnet auch großen Schwierigkeiten. Eine Hauptschwierigkeit ist, diesem Leben reinster Innerlichkeit einen aller Willkür des bloßen Subjekts überlegenen Tatbestand zu sichern. Die Grundtatsache, die hier alles beherrscht, ist die Menschwerdung Gottes, sie kann aber als solche nicht unmittelbar erlebt, sondern nur durch einen Bericht uns zugeführt werden. Das geschieht nun nach Luther durch die Bibel, von der Luther meint: »Es ist auf Erden kein klareres Buch geschrieben denn die Heilige Schrift; die ist gegen andere Bücher gleichwie die Sonne gegen alle Lichter«; es gilt nur, sie im einfachsten Buchstabensinn aufzunehmen und alle allegorische Umdeutung fernzuhalten. Die Verfolgung dieses Gedankenganges führt aber zu einer Schätzung des Äußeren und Sinnlichen, die mit der Hauptrichtung nicht vereinbar ist. Denn hier erscheint auch das Äußere als ein wesentliches Stück der christlichen Überzeugung. »Äußerliches Ding ohne Gottes Wort ist kein nütze, wie des Papstes Gesetze sind, aber äußerliches Ding mit Gottes Wort gefaßt ist Heil und Seligkeit.« Hier heißt es, daß das »Ding, daran der Glaube haftet«, äußerlich sein muß, »daß man's mit Sinnen fassen und begreifen und dadurch ins Herz bringen könne, wie denn das ganze Evangelium eine äußerliche, mündliche Predigt ist«. Weiter, »daß der Geist bei uns nicht anders sein kann, denn in leiblichen Dingen, als im Wort, Wasser und Christus' Leib und in seinen Heiligen auf Erden«. So die bekannte Sakramentenlehre, so eine verstandesmäßige Fassung des Glaubens, so eine Bindung des Lebens an ein nicht unmittelbar zu Erlebendes, damit aber unvermeidlich ein gesteigerter Druck nicht geringer Art. Von dieser Richtung aus wäre Luther schwerlich ein Reformator der Kirche von weltgeschichtlicher Bedeutung geworden. Hier liegt ein innerer Widerspruch im Protestantismus, an dem er bis zur Gegenwart leidet, und der irgendwie überwunden werden muß. Daß Luther mit diesem Widerspruch abschloß, erklärt sich zum guten Teil aus der besonderen Lage der Zeit und seinen persönlichen schweren Erfahrungen, aber solche Erklärung löst natürlich nicht das Problem.

Ein anderer schwieriger Punkt ist der schroffe Gegensatz wie zwischen Vernunft und Glauben so auch zwischen weltlicher und göttlicher Lebensordnung. Der Gegensatz zwischen dem Gottesreich und der schlechten Welt lag tief in der vornehmlich die Kontraste hervorkehrenden Denkweise Luthers begründet; er verschärfte sich durch die gewaltigen Wirren jener Zeit und durch trübe Erfahrungen des eigenen Lebens, sie ließen Luther einen baldigen Zusammenbruch und ein bevorstehendes Ende dieser Welt erwarten. Von solchen Eindrücken der Umgebung konnte kein Antrieb kommen, das im Innern vorhandene Leben auch in den Kampf gegen die Welt zu führen und es möglichst in ihren Bestand einzubilden. Vielmehr zieht das religiöse Leben sich in die Innerlichkeit der Seele zurück und entwickelt hier eben in dem Kontrast ein Gemütsleben reinster und weichster Art; die Welt aber überläßt sie den Gewalten, die von Gott eingesetzt sind, und denen sich unterzuordnen als eine heilige Pflicht erscheint. Jeder erfülle treu die Aufgabe seines besonderen Berufes, lasse im übrigen aber Gott walten. So hat das Luthertum wohl den Einzelnen zu innerer Selbständigkeit aufgerufen, nicht aber hat es die Massen zu gemeinsamem Kampfe für politische Freiheit verbunden, es hat auch in den Glaubenskämpfen jener Zeiten bei weitem nicht die Kraft des reformierten Zweiges der Bewegung erwiesen. Auch hier ist ein gewisser Widerspruch mit dem innersten Zuge des neuen Lebens nicht zu verkennen.

Diese und andere Schwierigkeiten mußten namentlich zur Wirkung kommen, sobald über die Einzelnen hinaus der Aufbau einer kirchlichen Gemeinschaft unternommen ward. Luthers Streben ging ja nicht auf eine Kirchenspaltung aus, aus voller Seele hoffte er, die ganze Kirche für die Reform zu gewinnen. Das Mißlingen dessen machte aber einen Kampf der Bekenntnisse unvermeidlich. In diesem Kampfe ist das ältere System in vielen Stücken im Vorteil: es bringt eine Ausgleichung der verschiedenen Lebensgebiete und Zwecke, es ruht in Ausbau und Abstufung auf reicher geschichtlicher Erfahrung und setzt in ihrer Verwertung eine ausgezeichnete Kenntnis des menschlichen Herzens ein, es entspricht dem Anlehnungsbedürfnis des Menschen und umfängt ihn mit starken Wirkungen, es hält die Menschen fester zusammen und hat doch Raum für verschiedene Lebensbahnen, auch vermag es den Kulturaufgaben weit entgegenzukommen. Indem aber das Neue diesem System des Sowohl-Als auch das Entweder-Oder der großen Kontraste entgegenhält, erzeugt es mehr ursprüngliche Bewegung und mehr selbständige Innerlichkeit, bohrt es tiefer in den Grundbestand des Lebens ein, gibt es der Frömmigkeit einen männlicheren Charakter, sowie der einzelnen Stelle mehr Selbständigkeit, steigert es unermeßlich den Wert der Einzelseele aus der Überzeugung, »daß für den Preis der ganzen Welt nicht eine einzige Seele erkauft werden kann«. Zugleich löst es in der Religion das Moralische freier vom Kirchlichen ab, und verstärkt es das unmittelbare Verhältnis der Seele zu Gott. Luther aber erscheint in dem allen als der weit überragende Führer. Vor allem ergreift er die Seelen mit der unvergleichlichen Wahrhaftigkeit, die bei jedem einzelnen Punkt aus ihm spricht, mit der Treue und Lauterkeit, womit er die schweren Lebenskämpfe durchficht. Er hat den denkbar größten Ernst an die ewigen Dinge gesetzt und mit seiner Aufbietung der ganzen Persönlichkeit Jahrhunderten einen festen Halt geboten; er steht mit seinem zugleich gewaltigen wie kindlich schlichten Wesen, er steht auch mit dem Eigensinnigen, Knorrigen und Derben seiner Art unvergeßlich besonders vor den Augen des deutschen Volkes, ein unbestechlicher und eindringlicher Mahner zu steter Wachsamkeit für die Seele. Auch die Gegenseite kann ihn insofern anerkennen, als der moralische Ernst, der aus Luther wirkte, den Hauptanstoß zur Gegenreformation, zu einer inneren Weiterbildung des Katholizismus geliefert hat; zeigt nicht diese Tatsache schon, daß auch von der Religion aus angesehen die Wirkung Luthers weit den besonderen Kreis seiner Anhänger überschreitet, daß sein Lebenswerk also doch wohl eine weltgeschichtliche Notwendigkeit war? Mehr noch vermag er zu allen zu sprechen und allen etwas zu sein in seiner Wirkung auf das Ganze des Lebens, die nunmehr zur Darlegung kommen soll.

 

β. Luther als Reformator des Lebens.

Luther als einen Reformator des Lebens zu betrachten, sind wir nicht gewohnt, und doch verdient er eine solche Schätzung; er hätte schwerlich als Reformator der Kirche so durchschlagend wirken können, wie er getan hat, wäre seine religiöse Betätigung nicht Offenbarung eines neuen Lebens gewesen. Die überkommene Lebensführung folgte, wenn auch in verschiedenen Weisen, der Leitung des Intellekts; es wurde vor allem eine dem Menschen jenseitige Welt, sei es als Kosmos, sei es als Gottesreich, zu ermitteln gesucht und von da aus dem menschlichen Leben und Handeln sein Inhalt zugeführt; auch bei streng religiöser Fassung blieb das ein Intellektualismus, der dem Inneren des Seelenlebens keine volle Selbständigkeit gewährte. Das fand schon im Mittelalter viel Widerspruch, einerseits in der Scholastik von Männern wie Duns Scotus und Wilhelm Occam, andererseits von der sich ins Praktische wendenden Mystik. Aber mochte diese Bewegung noch soviel Treffliches leisten und neue Ausblicke entwerfen, sie kam nicht zu einer vollgewachsenen Gegenleistung, weil ihr noch eine volle Aktivität des Inneren fehlte, weil dieses damit noch nicht zur Quelle einer selbständigen Innenwelt wurde. Eine Wendung dahin ist auf der Höhe der Neuzeit erfolgt, ihr sehr kräftiger und bedeutender Beginn liegt aber bei keinem anderen als bei Luther. Denn statt von der Welt zum Leben geht bei ihm die Bewegung vom Leben zur Welt; das aber kann nur geschehen, indem das Leben sich selbst zur Welt erweitert, einen reichen Tatbestand bei sich selber enthüllt, ja das Ganze einer Wirklichkeit aus sich hervortreibt.

Mit solchem Gewinn einer vollen Selbständigkeit vollzieht es zugleich eine durchgehende Befreiung von allem Äußeren und Fremden; als aus dem Inneren entsprungen, verschieben alle Größen sich ins Lebendige, ins Geistige, ins Persönliche. So zeigen es bei Luther alle Grundbegriffe der Religion, so vornehmlich der Gottesbegriff selbst. Er wird nicht durch spekulative Arbeit dem Menschen zugeführt, die hier als ein in den Himmel Kletternwollen ohne Leiter erscheint, sondern aus den Eröffnungen, die im Leben vorliegen, gewonnen, er verschiebt sich damit aus dem Ontologischen ins Ethische. Hier heißt es: »Einen Gott haben, heißt etwas haben, worauf das Herz gänzlich traut«, heißt es auch, daß »nichts Gegenwärtigeres und Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen, denn Gott selbst mit seiner Gewalt«. So verschiebt sich auch der Begriff des Glaubens aus dem Intellektuellen ins Persönliche, er wird zu einer inneren Aufbietung, einem Aufklimmen, einem Gehobenwerden des ganzen Wesens. »Das heißt nicht einen Gott haben, so du äußerlich mit dem Munde Gott nennest oder mit den Knien oder Gebärden anbetest, sondern so du ihm herzlich vertrauest und dich alles Guten, Gnade und Wohlgefallen von ihm versiehst, es sei in Werken oder Leiden, in Leben oder Sterben, in Lieb oder Leid.« »Du mußt ohne alles Wanken, ohne alles Zweifeln seinen Willen über dich dir vorbilden, daß du fest glaubst, er werde und wolle auch mit dir große Dinge tun. Derselbe Glaube lebt und webt, er dringt durch und ändert den ganzen Menschen.« Solcher Überzeugung wird das innere Geschehen eine sichere, allem anderen überlegene Tatsache; so kann es vom Wunder heißen: »Ob's nicht leiblich geschieht, so geschieht's doch geistlich in der Seele, da es viel größer ist.«

Diese Wendung zur Innenwelt ist zugleich eine Wendung ins Schlichtmenschliche, jedem Gemüte Nahe, jedem Einzelnen Zugängliche. Gewiß erfolgt diese zunächst auf dem Gebiete der Religion, aber sie erstreckt sich weit darüber aus und Wirkt durch alle Verzweigung des Lebens zur Vereinfachung und Ursprünglichkeit, zur Annäherung an das unmittelbare Seelenleben. Überall zeigt Luther die entschiedenste Abneigung gegen eine bloß schulmäßige, gelehrte Behandlung der großen Lebensfragen; so verwirft er die »wunderlichen, schwülstigen, hochtrabenden Worte der Philosophen« und meint in Beziehung auf die Gelehrten: »Es geht von Dünken und gespanntem Tuch viel ab.« Er selbst strebt dagegen nach möglichster Einfalt und Volkstümlichkeit. »Ich lehre aufs Allereinfältigste, als ich immer kann, daß der gemeine Mann, Kinder und Gesinde verstehen mögen. Denn die Gelehrten wissen's vorhin wohl; denselbigen predige ich nicht.«

Wie bei ihm das Schaffen aus tiefster Seele quillt und den ganzen Menschen bewegt, das zeigt vornehmlich sein Verhältnis zur Kunst. Er hat sie nicht nur grundsätzlich anerkannt mit der Verwahrung dagegen, »daß durch das Evangelium sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche Obergeistliche vorgeben, sondern ich wollte alle Künste, sonderlich die Musika, gern sehen im Dienste des, der sie gegeben und geschaffen hat«, er hat sein tiefstes Erleben und Streben künstlerisch gestaltet und gerade dadurch die weitesten Kreise des Volkes ergriffen. – Auch sein Verhältnis zur Natur sollte mehr beachtet werden, als zu geschehen pflegt. Mit lebhafter Zustimmung führt er das Wort des von ihm hochgeschätzten Bernhard von Clairvaux an, »er habe seinen Verstand gelernt von den Bäumen, als den Eichen und Tannen, sie seien seine Meister gewesen; er wolle lieber aus der Quelle trinken als aus dem Bächlein«. Seinerseits betrachtet Luther die Natur gern als ein Zeugnis göttlicher Macht und Herrlichkeit, und schöpft er besonders aus dem steten Neuerwachen des Lebens in ihr Hoffnungen für das Zukunftsgeschick der Welt. Derartige Zeugnisse werden ihm Morgenröte und Sonnenaufgang, das Erwachen des Frühlings, auch das Reifen der Saaten, das »Wunder des Kornwachsens« usw. Mit besonderer Wärme begrüßt er den Frühling, seine Wiederbelebung des scheinbar Erstorbenen wird ihm zu einem Hinweis auf die große Welterneuerung, welche der jüngste Tag bringen wird. Die Blümlein und die Vögel aber sind ihm Vorbilder frohen und unbefangenen Lebens. Für die inneren Kämpfe der Seele liefert ihm besonders das Wasser mit seinen Wogen, seinem Vordringen und Zurückfluten Bilder, deren eines wir schon oben sahen. Auch das ist bezeichnend für sein inniges Verhältnis zur Natur, daß er mit besonderem Eifer darauf drang, die Friedhöfe nicht in den Städten, sondern draußen, möglichst in der Stille der Wälder, anzulegen, wie denn tatsächlich der Protestantismus erheblich zur Herausverlegung jener aus den Städten beigetragen hat.

Denselben Zug zum Einfachen und Naturgemäßen zeigt Luthers Verhalten zum Menschen in allen Lebenslagen. Bekannt ist sein inniges Verhältnis zum Kind und Kindesleben; er wird zu einem großen Erzieher, indem er durch eigene Leistung die Forderung erfüllt: »Sollen wir Kinder ziehen, so müssen wir auch Kinder mit ihnen werden.« Er selbst fühlte sich namentlich Gott gegenüber wie ein Kind, ein kleines Kind: »Ich bin auch ein Doktor und Prediger, so gelehrt wie die anderen; dennoch tue ich wie ein Kind, das man den Katechismus lehrt – und muß ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben.« In verwandter Richtung besteht hier die entschiedenste Abneigung gegen alle Verkünstelung im menschlichen Zusammenleben, und wird aufs entschiedenste Schlichtheit und Volkstümlichkeit gefordert. Die eigene Zeit ließ diese Forderung besonders dringlich erscheinen. Denn es erfolgten damals gewaltige Umwälzungen in dem Übergang von einfacheren zu verwickelteren Lebensformen: mächtig begann sich auch in Deutschland der Kapitalismus zu regen, das römische Recht drang ein, ein Beamtenstand begann sich schärfer vom Volke abzuheben. Das alles erfüllte Luther mit bangen Sorgen und forderte ihn zu tapferer Aussprache auf. So widerstand er energisch dem Übergange zur Geldwirtschaft; was dabei in der wirtschaftlichen Theorie als rückständig erscheinen mag, das sollte das gute Recht mancher dabei geäußerten Gedanken und Mahnungen nicht übersehen lassen. Mit großem Bedenken erfüllte ihn die Einführung des fremden Rechts; so tadelt er die »weitläufigen und ferngesuchten Rechte«, die ihm »nur Beschwerung der Leute und mehr Hindernis denn Förderung der Sache« dünken. Ihm mißfällt auch sehr der Gedanke des römischen Rechtes, daß das Recht für Wachende geschrieben sei und Wachenden zu Hilfe komme. Denn das wirke leicht dahin, daß jeder nur für sich selber sorge, da wir doch vielmehr schuldig seien, für der Nächsten Sache zu wachen wie für die eigene. Auch die Absonderung eines Beamtenstandes ist ihm wenig sympathisch: »Es gefallen mir die Juristen und Schreiberlinge auch nicht, die sich also loben, daß sie andere Stände verachten oder spotten, als wären sie allein und taugte sonst niemand in der Welt denn sie«; er tadelt den Hochmut der Beamten, die meinen, »dieweil sie im Regimente sitzen, so müssen sie klug sein«. Demgegenüber vertritt er die Sache des einfachen Volkes, er tut es nicht nur lehrend, sondern das Wirken dafür wird ihm zu einer wichtigen Sache eigenen Lebens. So konnte er von sich sagen: »Doktor Martinus ist nicht Theologus und Verfechter des Glaubens allein, sondern auch Beistand des Rechts armer Leute, die von allen Orten und Enden zu ihm fliehen, Hilfe und Vorschrift an Obrigkeit von ihm zu erlangen, daß er genug damit zu tun hätte, wenn ihm sonst keine Arbeit mehr auf der Schulter drückte.«

Der helfenden Tat entsprechen prinzipielle Gedanken; Luther verwirft ein zu vieles Strafen und verlangt, daß man auch durch die Finger sehen könne; »man richtet mit Fingersehen oft mehr aus denn mit Schwertern«; er will die Persönlichkeit des Richters nicht durch starre Gesetze gebunden wissen; dem geschriebenen Gesetz gegenüber verteidigt er das gute Recht der Vernunft; »rechtes gutes Urteil, das muß und kann nicht aus Büchern gesprochen werden, sondern aus freiem Sinn –, als wäre kein Buch«; »darum soll man geschriebene Rechte unter der Vernunft halten, daraus sie doch gequollen sind als aus dem Rechtsbrunnen, und nicht den Brunnen an seine Flüßlein binden und die Vernunft mit Buchstaben gefangen führen«.

Daß solche volkstümliche Gesinnung bei Luther kein Verlangen nach einer Wandlung der politischen Verhältnisse im Sinne der Demokratie erzeugte, das wurde schon oben ersichtlich. Wer das Weltende nahe glaubt und zugleich so gering vom Stande der Menschen denkt, daß er des »weltlichen Regiments Werk und Ehre« darin finden kann, »daß es aus wilden Tieren Menschen macht und Menschen erhält, daß sie nicht wilde Tiere werden«, der kann sich nicht für eine Volksregierung erwärmen. So wird allerdings mit größtem Nachdruck eine Gleichheit aller Menschen vor Gott verfochten, »ob wir vor der Welt nie gleich sind, so sind wir doch vor Gott alle gleich, Adams Kinder, Gottes Kreatur, und ist je ein Mensch des anderen wert«, im Staatsleben aber eine Scheidung der Stände, eine Ungleichheit als unerläßlich erklärt. Dazu hatte Luther selbst viel zu sehr den Wandel der öffentlichen Meinung erfahren, und hatte er ihr zu oft widersprechen müssen, um sie als einen sicheren Wegweiser zur Wahrheit schätzen zu können.

Um so größer und eingreifender ist Luthers Wirken auf nationalem Gebiet, es ist um so höher zu erachten, da er hier ja nicht eine vorhandene Bewegung nur weiterführte, sondern selbst neue Bahnen brach. Er ging darin voran, auch für die höchsten religiösen Aufgaben eine nationale Gestaltung zu fordern; die Art aber, wie er selbst dafür wirkte, zeigt neben vollster Versenkung in das Wesen seines Volkes und dessen Sprache eine innige Liebe, ohne dabei je einem überspannten Nationalismus zu verfallen. Wohl hat er ein deutliches Bewußtsein davon, wie Großes jetzt eben in seinem Volke vorgeht, aber für ruhmredige Phrasen wie die, daß am deutschen Wesen die Welt genesen werde, ist hier nicht der mindeste Platz. Die Liebe zum deutschen Volke und das Streben, ihm zu helfen, »ich wollte dem deutschen Lande gern geraten und geholfen haben«, äußert sich mehr in herbem Tadel der Schwächen und Schäden als in Lobpreisungen; die Fragen des deutschen Lebens greifen ihm viel zu tief in die Seele, um eine bequeme Lösung finden zu können. So darf sein Verhalten zu seinem Volke als ein vorbildliches gelten, in Wahrheit hat niemand das deutsche Leben in seinen innersten Zügen so sehr gefördert, und schulden wir daher niemandem so viel Dank als Martin Luther.

Das wird namentlich gelten müssen, wenn voll anerkannt wird, daß, was wir deutschen Idealismus nennen, bei Luther zuerst in deutlicher Ausprägung erscheint. Das ist eine Lebensanschauung der Entwicklung starker Kontraste, aber auch der Überwindung dieser Kontraste. Jener Idealismus empfindet das Dunkel und die Schäden des unmittelbaren Daseins mit voller Stärke, er versucht nicht im mindesten, sie durch eine harmonisierende Deutung aus dem Wege zu räumen. Aber er setzt dem ganzen dunklen und wirren Getriebe eine neue Welt aus der Tiefe des Geisteslebens entgegen und verficht diese als den Kern der Wirklichkeit, er gibt dem Leben damit bei sich selbst eine Festigkeit, Freiheit und Freudigkeit. Diese neue Welt läßt aber jene niedere Sphäre nicht als gleichgültig liegen, sie kehrt zu ihr zurück und nimmt tapfer den Kampf mit ihr auf. Sie muß das tun, weil sie nur in solchem Kampf die eigene Vollendung erreicht. Ein derart zwischen den Gegensätzen schwebendes Leben wird nie zu einem fertigen Abschluß gelangen, aber es enthält einen gewaltigen Antrieb zur Bewegung, es bleibt immer frisch bei sich selbst, es kann immer neue Tiefen ergründen und neue Kräfte entbinden, es darf mit dem allen sich auch für das Ganze der Menschheit als wertvoll, ja unentbehrlich halten. Diesen Weg mit seiner im letzten Grunde ethischen Art haben die Höhen des deutschen Lebens weiter verfolgt, Luther aber hat ihm zuerst die Bahn gebrochen, und wenn es für alles Unternehmen geistiger Art von hoher Bedeutung ist, die Anfänge festzuhalten und das eigene Streben damit zu verketten, so sollte auch Luther, zum mindesten dem deutschen Volke, als Reformator des Lebens gegenwärtiger sein als er es heute in Wirklichkeit ist.

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b. Zwingli und Calvin.

So gewiß Luther das geistige Haupt der ganzen Reformation und das in seiner Person entwickelte Leben die Höhe der ganzen Bewegung bildet, die leitenden Männer der reformierten Kirche hatten auch in der Gestaltung des Lebens zu viel Selbständigkeit, um sich hier übergehen zu lassen. Unsere knappe Darstellung, die im wesentlichen Dilthey und Tröltsch folgt, hat für Zwingli auch das hervorragende Werk Stähelins verwertet.

Zwingli hängt weit mehr als Luther mit dem Humanismus und der allgemeinen Bildung seiner Zeit zusammen, auch drängt es ihn stärker zum Wirken und Schaffen innerhalb seiner Zeit; er hat nicht in der radikalen Weise Luthers mit der Welt gebrochen, er hat nicht dem religiösen Leben eine so trotzige Selbstgenügsamkeit und eine so weltüberlegene Hoheit gegeben. Aber wenn die Tiefe des Ganzen geringer ist, so entfallen auch manche Schroffheiten und Widersprüche, das Religiöse verflicht sich enger mit dem praktischen Leben, und die Gedankenwelt wird rationaler als bei dem begründenden Heros der Reformation.

»Was Zwingli in der Auffassung des Glaubens von Luther unterscheidet, ist die engere Verbindung, in der ihm das religiöse und das sittliche Moment desselben stehen, und die ihn infolgedessen auch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium mehr nach der Seite der Verwandtschaft als nach der des Gegensatzes betrachten läßt« (Stähelin); er wollte keine andere Reformation der Kirche anerkennen »als eine solche, durch die zugleich das sittliche und soziale Leben des Volkes von der erneuernden und heiligenden Kraft des Evangeliums durchdrungen und umgestaltet werden sollte« (Stähelin). »Das Ziel seines Lebens ist die christliche Ordnung eines in bestimmter Rechtsgestalt einmal gegebenen Gemeinwesens« (Tröltsch). Demgemäß hebt er auch beim Bilde Christi mehr das Ethische und menschlich Vorbildliche heraus, verweilt er nicht bloß bei seinen Leiden. Eine rationalere und freiere Denkart bekundet nicht nur seine Sakramentenlehre, sondern auch eine schärfere Scheidung der Erbsünde von der Tatsünde, das Zurücktreten des Bildes des Teufels wie auch der Vorstellungen vom Ende der Dinge, die Ausdehnung des Offenbarungsbegriffes über das Christentum hinaus auf das Ganze der Menschheit.

Aber wenn Zwingli überall eine Beziehung des Menschen zu Gott aufzuweisen strebt, er sieht in solcher Verbindung kein bloßes Stück der natürlichen Ausstattung des Menschen, sondern eine Offenbarung Gottes; ebenso entschieden wie Luther und Melanchthon verwirft er die scholastische Lehre von einer natürlichen Gotteserkenntnis, die dem Glauben vorangeht. Auch behält das Christentum eine zentrale Stellung und eine unvergleichliche Eigentümlichkeit. Denn das Erscheinen Christi war die letzte und tiefste Erschließung der vollkommenen Güte. Nunmehr wird klar sowohl das gänzliche Angewiesensein des Menschen auf Gott als auch, daß an diesem Verhältnis alle Seligkeit hängt. Nun ergibt sich als Hauptstück der Religion, daß der Mensch sich lediglich Gott unterwirft und allein seiner Güte vertraut. »Das ist die Quelle unserer Religion, daß wir Gott als den anerkennen, der unerschaffen der Schöpfer aller Dinge ist, der allein alles hat und umsonst mitteilt.«

Damit muß alles verschwinden, was sich zwischen Gott und uns stellte; zum Aberglauben wird es, seine Hoffnung auf etwas anderes zu setzen als auf Gott selbst; »eine so unerschütterliche und untrügliche Kraft, wie der Glaube sein soll, kann sich nie auf etwas Kreatürliches stützen. Denn wie könnte das, was einmal nicht gewesen ist, Grund unseres Vertrauens sein?« Das Wirken des Unsichtbaren und über alle Natur Erhabenen ist aber innerlich vollauf gegenwärtig; »das höchste Wunder Gottes ist, daß er sich mit unseren Herzen verbindet, so daß wir ihn als unseren Vater erkennen«. Eine solche Denkweise empfindet die alte Lehre von den Gnadenmitteln, von der Luthers Abendmahlslehre ein gutes Stück beibehielt, als bloße Magie, und muß sie damit verwerfen.

Die Abhängigkeit von Gott mindert aber keineswegs die eigene Tätigkeit des Menschen, vielmehr soll der Mensch sich mit ganzer Kraft zum Werkzeug des göttlichen Lebens und Wirkens machen, um so der unermüdlichen Tätigkeit Gottes zu entsprechen, durch den und in dem alles sich bewegt, enthalten ist, lebt. »Wirken, in dem universalen Zusammenhang mit der allumfassenden höchsten Wirkungskraft, ist die Seele dieses Systems.« »Gott will«, sagt Zwingli einmal, »da er eine Kraft ist, nicht leiden, daß einer, dessen Herz er an sich gezogen hat, untätig sei.« »Nur die Getreuen wissen, wie Christus den Seinigen keine Muße gewährt, und wie heiter und froh sie bei der Arbeit sind.« »Es ist nicht die Aufgabe eines Christen, großartig zu reden über Lehren, sondern immer mit Gott große und schwierige Dinge zu vollbringen« (nach Dilthey). Selbst die Lehre von der Gnadenwahl, die für den ersten Anblick die Selbständigkeit, des Handelnden gänzlich aufzuheben scheint, steigert in diesen Zusammenhängen die Bedeutung und die Tätigkeit der Persönlichkeit. Denn wo über Heil oder Verderben des Einzelnen unmittelbar Gott selbst entscheidet und alles am direkten Verhältnis zu ihm hängt, da ist der unermeßliche Wert des religiösen Vorgangs im Einzelnen augenscheinlich, da kann der Gläubige sich ohne alle menschliche Hilfe in Gott gesichert und als ein Werkzeug seines allgütigen und allmächtigen Willens fühlen. Auch tritt bei Zwingli »der Gedanke der Verwerfung hinter den der Erwählung zur Seligkeit auffallend zurück« (Stähelin).

So entfaltet sich hier besonders die reformatorische Idee eines tätigen und männlichen Christentums; die Religion wird fortwährend in sittliches Handeln umgesetzt und dadurch bekräftigt, alles übrige Leben schließt sich freundlich an sie an und ruft in der Gemeinde das Individuum zu selbständiger Arbeit auf; es wirkt aus Zwingli ein Geist der Frische und Fröhlichkeit, aber in Verbindung mit »pflichtmäßiger Strenge und verstandesmäßiger Klarheit« (Tröltsch). Mag sich bei ihm zum guten Teil nur deswegen alles so glatt zusammenfügen und so klar gestalten, weil er die Dunkelheiten und die Widersprüche des Lebens bei weitem nicht mit der Stärke empfindet und unter so tiefen Erschütterungen durchkämpft wie Luther, und konnte jene praktische Richtung leicht eine Vermeidung von Religion und Politik, ja Polizei ergeben, dies einfache und gesunde, frische und tatenfrohe Christentum behält einen eigentümlichen Wert.

 

In anderer Färbung erscheint die Grundidee des reformierten Christentums bei Calvin. Bei dieser zur Herrschaft und Organisation berufenen Natur waltet eine strenge Systematik und eine eiserne Konsequenz, alle Mannigfaltigkeit dient einem einzigen Grundgedanken. Aber nicht nur die Form, auch die Grundempfindung ist eine andere. Die Denkweise wird theozentrisch in der Weise Augustins, die Ehre Gottes ist die Zentralidee, der Herrlichkeit Gottes soll alle Kreatur bereitwillig dienen, es ist der absolute Wille Gottes, der über alles, in einer dem Menschen rätselhaften Weise, entscheidet. Aller Zweifel wie auch alles natürliche Selbstvertrauen wird hier zu einem Frevel gegen Gottes Majestät; alles Leben des Menschen sei allein Gott geweiht, dem es von Haus aus gehört; Gott wirkt überall direkt, so daß alle Zwischenursachen und menschlichen Vermittlungen fallen; aus dem Kultus sei alles verbannt, was das reingeistige Wesen ins Sichtbare und Bildliche herabzieht.

Dabei wird auch hier die Tätigkeit der Einzelpersönlichkeit vollauf gewahrt, ja womöglich noch verstärkt; wie Gott selbst als die höchste, unablässig wirksame Aktivität verstanden wird, so muß auch der Gottesdienst der eines tätigen Lebens sein. Aber die Tätigkeit verliert den Zug der sonnigen Fröhlichkeit, den sie bei Zwingli besaß, sie erhält einen ernsten und strengen, ja herben Charakter, das Leben wird ein harter und rastloser Kampf für die überlegenen Zwecke Gottes. Was irgend daneben liegt, wird ein Raub am Höchsten, wenn es nicht seinen Aufgaben dient. »Diese Religiosität unterscheidet sich von der Luthers durch die rauhen Pflichten des in einem strengen Dienst stehenden Kriegers Gottes, welche jeden Lebensmoment ausfüllen. Sie unterscheidet sich von der katholischen Frömmigkeit durch die in ihr entbundene Kraft der selbständigen Aktion. Das aber macht ihren Charakter aus, wie aus dem Prinzip der Gottesherrschaft und Gnadenwahl die religiöse Erfüllung des ganzen Lebens sich ergibt, wie in dieser Gottesherrschaft nun auch jedes weitere und nähere Verhältnis zu den anderen Menschen sein Motiv hat und schließlich selbst eine stolze Härte gegen die Feinde Gottes hier religiös begründet wird« (Dilthey).

Von besonderer Bedeutung nicht nur für die Gestaltung des religiösen Lebens, sondern auch für die allgemeine Kultur ist, daß hier das Gemeindeleben und der Gesamtstand der christlichen Gemeinschaft eine weit größere Bedeutung gewinnt als im lutherischen Zweige der Reformation, daß hier weit mehr organisierendes Wirken aufkommt und auch die Einzelnen zu eifriger Mitwirkung beruft. »Die Heilanstalt soll zugleich eine Heiligungsanstalt sein, sich in der Verchristlichung des Lebens der Gemeinde wirksam zeigen, indem sie den ganzen Umfang des Lebens unter die christlichen Gebote und Abzweckungen stellt« (Tröltsch). So erscheint hier weit mehr soziale Ethik, mehr Sorge um den Stand des Ganzen, alles natürlich auf religiösem Grunde. Unter den mannigfachen Folgen dessen ist namentlich die von Bedeutung, daß die Arbeit der bürgerlichen Berufe durch die Beziehung auf die Gemeinde und als ein Mittel zur Förderung des Gottesreiches sich innerlich hebt und veredelt, daß auch die wirtschaftlichen Güter damit auf dem Boden der Religion zuerst einen Wert gewinnen. Zusammen mit starkem Gemeinsinn entwickelt sich hier eine gewaltige Arbeitsenergie, die weit über die kirchlichen Formen hinaus bis in die Gegenwart fortwirkt. Hier vornehmlich hat der Protestantismus sich als eine Kraft des Handelns erwiesen, von hier aus ist er auch in den politischen Verhältnissen eine Weltmacht geworden, nirgends mehr als hier ist trotz aller Bekenntnisstrenge die bürgerliche und geistige Freiheit der Neuzeit angebahnt worden.


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