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2. Die Aufklärung.

a. Die allgemeine Art der Aufklärung.

Wie die Aufklärung zusammen mit der Renaissance den Aufbau der Neuzeit vollzogen hat, so verbindet ein gemeinsamer Charakter beide Epochen. Hier wie da ein Zug zum All, eine Lust und Freude am Leben, ein Trieb zum Wirken und Schaffen, eine Versetzung des Daseins in Tätigkeit, ein Verlangen nach Beherrschung der Dinge. Zusammen mit solchem Lebensdrange ein fester Glaube an das Vermögen geistiger Kraft, ein Glaube, der selbst im Widerstand mehr einen willkommenen Reiz als eine lähmende Hemmung findet.

Aber innerhalb dieser Gemeinschaft scheiden sich die Epochen bis zu völligem Gegensatz. Die Renaissance ist die Jugend der Neuzeit, mit der Aufklärung beginnt ihre Reife. Dort mehr Einsatz des ganzen Wesens in ungeschiedener Einheit, ein kühnes Walten und Wagen der Phantasie, ein Zug ins Große und Heldenhafte; hier mehr Sonderung und Klärung gegenüber der Außenwelt wie in der Seele, mehr zielbewußtes Wollen, umsichtiges Abwägen, eindringende und fruchtbare Arbeit. Dort die volle Frische des ersten Eindrucks, mehr unmittelbares Handeln, oft auch ein wirres Durcheinander; hier ein Verlangen nach regelrechter Begründung, strenger Ordnung, fester Verkettung. Dort der Mensch die Welt kühn ergreifend und in ständiger Wechselwirkung mit ihr, ein leichtes Überströmen des Lebens von hier nach dort, ein Überwiegen des Einheitsverlangens; hier ein schärferes Auseinanderhalten, ein Aufdecken von Unterschieden, ein Herausarbeiten von Gegensätzen. Dort ein Streben nach großen Zusammenhängen, hier ein Zerlegen in kleinste Elemente; dort die Synthese, hier die Analyse voran. Dort die Natur vom Größten bis ins Kleinste beseelt und voller Geister, die nicht bloß als schöne Gestalten entzücken, sondern auch als düstere Unholde quälen; hier die Natur entseelt, in kleinste Elemente zerlegt und unwandelbaren Gesetzen unterworfen, damit in einen Mechanismus verwandelt, dessen durchsichtiges Räderwerk keine Magie und keinen Zauberspuk duldet, den menschlichen Zwecken aber willige Dienste leistet. Das ist überhaupt die Art des neuen Verfahrens, vom Kleinsten zu beginnen und von ihm aus alle Zusammenhänge aufzubauen, so auch in den menschlichen Verhältnissen, bei der Seele wie bei der Gesellschaft.

Der tiefe Unterschied beherrscht auch die Verzweigung des Tuns. Dort erscheint die Moral als von draußen auferlegt und leicht als eine lästige Fessel des ungestümen Lebensdranges; hier wird sie in das eigene Wesen des Menschen aufgenommen und in ein Mittel der Lebenserhöhung verwandelt, ja gilt sie als der Kern und der Halt des Lebens. Dort lenkt den Staat das überragende Individuum mit seinem Verlangen nach Herrschaft und Macht; hier gewährt die Aufdeckung ein und derselben Vernunft im Menschenwesen allen eine Selbständigkeit und ein gleiches Recht; hier wurzelt die Macht, welche der Gleichheitsgedanke im modernen Leben erlangt hat. Die philosophische Überzeugung folgt dort am meisten dem Neuplatonismus, hier dagegen dem Stoizismus. Grundverschieden ist endlich das Verhältnis zur Geschichte. Die Renaissance gibt sich als eine Wiedererneuerung älterer Lebensformen und verschlingt aufs engste Altes und Neues; die Aufklärung stellt das Leben in eine zeitlose Gegenwart der Vernunft und widerspricht damit schroff aller geschichtlichen Überlieferung und auf Autorität gegründeten Lebensführung; erst in der Aufklärung hat die Neuzeit das Bewußtsein einer selbständigen Art gefunden.

Im Gesamteindruck erscheint die Renaissance als lebensvoller, in den Sachbestand greift weit mehr die Leistung der Aufklärung ein. Hier wie da ist das Leben auf die Welt gerichtet und will alle Weite des Daseins dem Menschen unterwerfen; hier wie da sind gegen das Mittelalter Mensch und Welt auseinandergetreten. Aber in der Renaissance bleiben beide einander noch nahe genug, um bald wieder zusammenzukommen: im künstlerischen Schaffen scheint aller Gegensatz ausgeglichen und die Wirklichkeit dem Menschen voll angeeignet; so wird überhaupt die Kunst zur Seele des Lebens. Die Aufklärung dagegen steigert den Gegensatz zu scheinbar unüberwindlicher Schroffheit: die Natur scheidet alle inneren Kräfte aus und gewinnt volle Selbständigkeit, zugleich befreit sich die Seele von aller Bindung nach außen und befestigt sich in sich selbst; so stehen die beiden Reiche der Wirklichkeit scheinbar unversöhnlich gegeneinander. Wenn trotzdem der Mensch die Welt nicht aufgeben kann, sondern in ihrer Aneignung den Kern seiner Arbeit und die Freude seines Lebens sieht, so entsteht eine schwere Verwicklung; sollen Welt und Seele sich wiederfinden, so ist das erste Bild völlig umzuwandeln, und das Hauptmittel dafür wird die Wissenschaft. Das erzeugt weit mehr Mühe und Sorge, es fordert mehr Selbstbesinnung und Prüfung, als der naivere Lebensstand der Renaissance sie übte. Alles in allem gibt diese dem Leben mehr Frische und Glanz, die Aufklärung aber mehr Ernst und Gehalt.

Wenn schon danach der erste Eindruck leicht der Aufklärung ungünstig ist, so war besonders das 19. Jahrhundert gegen sie ungerecht, weil es seine eigene Art im Widerspruch zu ihr errungen hat. Auch sah es sie gewöhnlich nicht in der Schaffenskraft ihrer Jugendzeit, sondern in der Verflachung, welche die Ausdehnung über die Breite des Lebens zu bringen pflegt. Richtig würdigen läßt sich auch die geschichtsfeindliche Aufklärung nur aus den geschichtlichen Zusammenhängen. Von hier aus erscheint sie nicht als ein verstandesmäßiges, kleinkluges Räsonnement, sondern als ein ernsthaftes Ringen des ganzen Menschen um eine Wahrhaftigkeit seines Lebens; gegenüber dem Mittelalter wird hier mehr Freiheit, gegenüber der Renaissance mehr Klarheit gefordert; in Erfüllung beider Forderungen bemächtigt der Mensch sich der Welt und fühlt sich als ihren Gebieter.

Eine derartige Bewältigung der Dinge war nicht erreichbar ohne ein Eigenleben und einen festen Stammbesitz des Geistes; so war die Aufklärung eifrig bemüht, ihm das durch den Nachweis zu sichern, daß er kein leeres Gefäß, keine tabula rasa ist, sondern daß er eine selbständige geistige Art, einen sicheren Schatz von Wahrheiten und zugleich einen Prüfstein der Dinge in sich trägt; diese Natur braucht er nur aufzusuchen und vollauf zu entfalten, um der Welt überlegen zu werden. Aus der Vernunft, die ihm innewohnt, kann er ein »natürliches« Recht, eine »natürliche« Moral, eine »natürliche« Religion unabhängig von aller Überlieferung erzeugen, aus ihr eine Kritik an dem überkommenen Stande der Dinge üben, alles Vorhandene zur Rechenschaft ziehen, ausscheiden, was ihr widerspricht, verbinden und erhöhen, was zu ihr stimmt. So wird alle Kraft zu männlicher Arbeit aufgeboten, der Menschengeist scheint nun erst den Stand der Mündigkeit zu erreichen, er unternimmt einen energischen Kampf mit dem nächsten Dasein und seinen Mängeln, er entwickelt aus jener vernünftigen Natur gegenüber dem kirchlichreligiösen ein universales Lebenssystem und verändert damit den Stand der Dinge bis in alle Verzweigung hinein. Allerdings ist solche Schätzung der Vernunft hier nicht unvermittelt erfolgt. Auch die Scholastik lehrte eine allgemeine Vernunft und entwickelte aus ihr ein Naturrecht. Aber ihr war das eine niedere Stufe, über welche die Religion hinausführt. Die Aufklärung aber vollzieht eine Wendung dahin, daß, was früher den zweiten Platz einnahm, nun zur maßgebenden Hauptsache wird. Das ergibt eine eingreifende Umwandlung des Lebens und Strebens. Es erhebt sich nunmehr selbstbewußt eine absolute Betrachtungsweise und glaubt sich aller geschichtlichen Lage und Bindung überlegen. Sie gewinnt besondere Macht auf dem Gebiet von Recht und Staat, sie verkündigt bestimmte Verfassungsformen als für alle Verhältnisse gültig und erwartet von ihrer Einführung volles Heil für Völker und Menschen; von hier ist überhaupt eine abstrakte, schablonenartige Behandlung politischer Fragen ausgegangen.

Blicken wir ferner auf einzelnes, so berührt wohltuend der Ernst der Arbeit, die unbedingte Hochhaltung der Moral, der freudige Glaube an die Macht des Guten, der Enthusiasmus für die Menschheit, die aus der Aufklärung entgegenscheinen. Wieviel verdanken wir ihrem unermüdlichen Eifer für die Humanisierung der allgemeinen Verhältnisse, die Milderung harter Gesetze, die Hebung der Bildung und Erziehung usw., wieviel ihrem durchdringenden Verstände für die Befreiung von wüstem Aberglauben, der auch die geistvolle Renaissance entstellt! Nur deshalb urteilen wir oft über die Aufklärung ungünstig, weil unser Leben den besten Teil ihrer Arbeit in sich aufnahm.

Die Schranken und Irrungen der Aufklärung seien darüber nicht vergessen. Auch wer gegen das Streben, das Leben des Menschen zunächst bei sich selbst zu befestigen und dann erst gegen die Welt in den Kampf zu führen, nichts einzuwenden hat, muß zugestehen, daß die Ausführung viel zu leicht und rasch genommen ward; das Leben geriet damit in Verengungen und Verneinungen, die schließlich zu Starrheit und Flachheit führten. Eine Vernunft schien dem Kraftgefühl und der weltfreudigen Stimmung der Aufklärung im Grunde jeder Seele vorhanden, eine tüchtige, in jedem Menschenwesen unmittelbar wirksame Natur bedurfte nur der Freilegung, um sich vollauf zu entfalten und auch die umgebenden Verhältnisse wunschgemäß zu gestalten, schwere innere Verwicklungen kannte der Hauptzug der Aufklärung nicht. Damit ward manches überflüssig, was bis dahin unentbehrlich schien. War jeden Augenblick in jedem Individuum die Wahrheit leicht erreichbar, so bedurfte es keiner mühsamen Erziehung durch die Geschichte, auch keiner inneren Bindung des Einzelnen an die menschliche Gemeinschaft, alles Geistesleben ließ sich unmittelbar auf die Individuen stellen, alle politische Ordnung von ihnen her entwickeln. Auch verhinderte jener Optimismus jedes tiefere Verständnis der überkommenen religiösen Lebensordnung; in allen diesen Punkten mußte die Aufklärung sich um so mehr verengen, je ausschließlicher sie aus sich selber schöpfte. Für die nüchterne, kühlrationale Lebensstimmung der Aufklärung ist bezeichnend, daß China mit seiner Religion und Moral ihr vielfach als Vorbild erschien, daß es namentlich im 18. Jahrhundert einen nicht geringen Einfluß auf Europa ausgeübt hat, wie das neuerdings namentlich Söderblom zusammenfassend dargestellt hat.

Die Verengung erstreckt sich selbst in das innerste Gewebe des Lebens. Die Aufklärung sucht den festen und letzten Punkt, den Grundbestand der Wirklichkeit, in dem, was die bewußte Tätigkeit unmittelbar ergreift; so wird ihr zum Ganzen der Seele das Denken und Erkennen, zum Ganzen der Welt das Nebeneinander kleiner Elemente. Das Vorstellungsreich und die räumliche Welt bilden das Ganze der Wirklichkeit, auch miteinander ergeben sie kein Beisichselbstsein des Lebens.

Solche Verneinungen und Verengungen mußten sich in der Durchbildung und Ausbreitung steigern und schließlich einen schroffen Rückschlag erzeugen. Aber alles Problematische und Verfehlte der Ausführung zerstört nicht eine große und bleibende Bedeutung des Ganzen; auch die schärfste Kritik sollte nicht vergessen, wieviel die Aufklärung zur Befreiung, Erweiterung, Durchleuchtung des menschlichen Daseins gewirkt hat.

 

Der Übergang von der Renaissance zur Aufklärung erfolgt nicht plötzlich und stoßweise, es fehlt nicht an bedeutenden und merkwürdigen Übergängen, die Altes und Neues verbinden und große Leistungen eng mit phantastischen Gebilden verschlingen. Unter diesen Erscheinungen steht Kepler (1571-1630) obenan. Noch beharrt die jugendliche Stimmung der Renaissance samt der Hoffnung, mit Einer kühnen Tat das Geheimnis der Dinge zu enthüllen und den Zugang in das Innerste der Natur ( penetralia naturae) zu erzwingen, eine hochgespannte Phantasie treibt das Lebenswerk des Mannes und macht die Schönheit zum allbeherrschenden Weltbegriff. Aber zugleich erscheint ein unermüdliches Streben nach Klarheit: alle inneren Kräfte werden mehr und mehr aus der Natur entfernt, die Unterschiede der Dinge gestalten sich quantitativ, die Mathematik soll die Natur nicht in bloßen Symbolen ahnen, sondern sie präzis erkennen lassen; auch verhindert alle Schätzung der Vernunft als des Urquells des Erkennens nicht eine unbefangene Würdigung der Erfahrung und eine peinliche Beachtung des Kleinen; stolz darf der Forscher rühmen, das Nichtverachten von nur acht Längeminuten habe ihm den Weg zur Reform der ganzen Astronomie gezeigt. Phantasie und Forschung, künstlerische und mathematische Denkweise reichen sich hier die Hand im Begriffe der Weltharmonie; diese Idee vornehmlich hat die Entdeckungen angeregt, die seinen Namen unsterblich machen.

Galilei (1564-1641) dagegen versetzt uns schon auf den Boden der Aufklärung; die Phantasie räumt hier das wissenschaftliche Gebiet der exakten Forschung völlig ein, und es weichen aus der Natur alle seelischen Elemente. Der Begriff der Bewegung vollzieht den Übergang von der alten zur neuen Fassung, und es tritt zugleich die Naturforschung in engste Beziehung zur Mathematik, es kann nunmehr heißen, daß »das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben« sei. Die scholastische Naturauffassung wird aufs gründlichste durch ein Verfahren überwunden, das mathematisches Denken und induktive Behandlung der Erfahrung eng miteinander verbindet, jenes entwerfen, diese bestätigen läßt, durch ihr Zusammenwirken von verschiedenen Ausgangspunkten her nicht nur einzelne wichtige Wahrheiten aufdeckt, sondern überhaupt die mathematisch-exakte Naturwissenschaft mit ihrer Klarheit und Sicherheit zum Siege führt. Im allgemeinen gewinnt im zweiten und dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts die neue Richtung zusehends an Kraft und Selbständigkeit; das Jahr 1624 bringt das Werk von Herbert Cherbury und mit ihm eine Wendung zur natürlichen Religion, 1625 das Hauptwerk von Hugo Grotius, das nicht nur das Naturrecht selbständig macht, sondern überhaupt mit überlegener Klarheit eine neue Denkart verkörpert; das miteinander ein deutliches Beispiel dessen, daß ein gemeinsames Verlangen der Zeit voneinander unabhängige Erscheinungen hervorzurufen vermag. Ein neuer Geist ist jetzt im Erwachen, es bedarf nur noch eines großen Denkers, um ihn zu vollem Selbstbewußtsein und zum Siege für das Ganze des Lebens zu führen. Ein solcher Denker erschien in Descartes.

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b. Die Führer der Aufklärung.

α. Descartes.

Descartes (1596-1650) äußert sich, nur hie und da über die Aufgaben und das Befinden des Menschen, trotzdem gehört auch er in unsere Betrachtung. Denn seine Philosophie ist nicht bloß gelehrte Forschung und technische Leistung, sie entwickelt durch ihre Arbeit eine durchgehende Denkart und vollzieht eine Umbildung des geistigen Lebens; mit der Kraft und Klarheit eines siegreichen Durchbruches steigt hier auf, was Jahrhunderte beherrschen und dem Geistesleben bleibende Züge einprägen sollte.

Von Jugend auf erfüllt Descartes ein glühendes Verlangen nach Klarheit, es macht ihn zum eifrigen Jünger der Mathematik, es läßt ihn zugleich den von der Scholastik überkommenen Stand der Wissenschaft unzulänglich, ja unerträglich finden. Ein chaotisches Durcheinander, ein Sichbewegen im Kreise, statt fruchtbarer Lösungen künstliche Scheidungen, vor allem ein peinlicher Mangel an Sicherheit. So entsteht ein radikaler Zweifel; was immer die überkommene Lage an Mitteln zu seiner Beschwichtigung bietet, das befriedigt ein schärferes Denken bei weitem nicht. Es genügt, nicht, die Autorität der geschichtlichen Überlieferung, schon weil die Autoritäten einander oft widersprechen; daß die Sinne, die scheinbar sichersten Zeugen der Wirklichkeit, uns täuschen können, täuschen nicht nur hier und da, sondern im Gesamtbild, das zeigt der Traum, das zeigen noch greller die Phantasien der Fieberkranken; den logischen Verkettungen des Denkens pflegen wir fest zu vertrauen, aber ist dies Vertrauen begründet, könnte nicht eine dunkle Macht uns so bereitet haben, daß eben die Befolgung der Denkgesetze uns irregehen ließe? So gerät alles ins Wanken, was bisher als sicher galt, der Zweifel scheint Sieger auf dem ganzen Felde. Einer so peinlichen Lage entwinden könnten wir uns nur auf Eine Weise: durch Ermittlung eines unbedingt festen Punktes, eines Punktes, wie ihn Archimedes verlangte, um von da aus die Erde bewegen zu können; nur von einem solchen Punkt aus wäre in die Erkenntnis Gewißheit zu bringen. Aber wo ist ein solcher Punkt, wo bietet ihn unser Lebenskreis? Wir finden ihn nirgends draußen, wir können ihn nur in uns selber suchen, wir finden ihn hier im Denken, in der Denktätigkeit. Alle besondere Behauptung, aller Inhalt des Denkens kann irrig sein, aber daß wir denken, bleibt auch in dem Irrtum sicher; auch im Zweifeln denken wir, so bestätigt der Zweifel selbst die Grundtatsache des Denkens. Im Denken aber steckt das denkende Subjekt, das Ich; es wird aus ihm nicht erst mühsam erschlossen, es ist in ihm unmittelbar gegenwärtig. So wird der Satz »Ich denke, darum bin ich« ( cogito, ergo sum) zum Träger der gesamten Philosophie, der gesuchte archimedische Punkt ist nichts anderes als das denkende Subjekt selbst. Bei ihm hat demnach die Forschung ihren Standort zu nehmen und von ihm alles Weitere zu entwickeln.

Das ist eine Wendung scheinbar einfacher Art, aber in der Energie ihrer Durchführung besagt sie eine völlige Umwälzung, und bei ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit ist sie voll schwerer Probleme. Bis dahin erschien als das Feste die Welt, und von ihr ging die Bewegung zum Menschen, jetzt wird die Welt zum Problem, und von seinem Ich hat sich der Mensch einen Weg zu ihr erst zu bahnen. Es wagt aber Descartes einen Aufbau der Welt vom Ich her nicht, ohne zuvor das Vertrauen auf dessen Vermögen zu stärken. Es muß, so meint er, eine Gottheit, eine absolute Vernunft bestehen; nur wenn diese unsere Vernunft glaubwürdig macht, dürfen wir ihr Vertrauen schenken. So sucht er das Dasein eines göttlichen Wesens, einer unendlichen und allmächtigen Intelligenz, mit Gründen darzutun und glaubt es dargetan zu haben; zur Natur eines solchen Wesens aber gehört die Wahrhaftigkeit, es kann unsere Vernunft nicht irren lassen, wenn sie mit voller Gewissenhaftigkeit die Gesetze ihrer eigenen Natur befolgt. Das aber tut sie, wenn sie als wahr nur gelten läßt, was ebenso einleuchtend, ebenso klar und deutlich erkannt wird wie unsere eigene Existenz aus der Grundtatsache des Denkens. Damit gewinnen wir einen sicheren Prüfstein und werden zugleich zu strenger Sichtung des überkommenen Bestandes aufgefordert. Das Irren erscheint jetzt nicht als eine Notwendigkeit unserer Natur, sondern es erklärt sich aus einem Ungestüm des Erkenntnisverlangens, das uns abschließen heißt vor Erreichung der erforderlichen Klarheit und Deutlichkeit. So aber steht es bei uns selbst, durch Zügelung jenes Ungestüms und Übung strenger Selbstzucht allen Irrtum zu vermeiden; mögen wir nicht alle Wahrheit erreichen: was wir erreichen, kann wahr sein. So wird von Anfang an, nicht erst durch Kant, die Selbstkritik, die Prüfung der Rechtsfrage, ein Hauptstück der modernen Forschung und Aufklärung; nur die Art der Kritik verändert sich später.

Die Beweisführung des Philosophen bei diesen Darlegungen ist angreifbar, vor allem seine Begründung des Daseins Gottes. Aber wenn ein großer Denker Beweise bringt, deren Ungenügen jeder Durchschnittskopf sofort durchschaut, so ist zu vermuten, daß hinter jenen Beweisen etwas Ursprüngliches, Axiomatisches, unmittelbar Gewisses liegt, zu dem eine innere Notwendigkeit drängt, das nur nicht den rechten Ausdruck findet. Bei Descartes wirkt hier mit zwingender Kraft das Verlangen, die menschliche Vernunft, bevor er sie zur Trägerin aller Erkenntnis macht, in einer Weltvernunft fest zu verankern. Das ergab unvermeidlich einen Zirkel in der Beweisführung, und dieser verrät eine Unausgeglichenheit der Grundgedanken, aber der nächste Zweck, die Befestigung der eigenen Überzeugung, wurde erreicht, und vertrauensvoll konnte der Denker nunmehr sein Werk beginnen.

Diese Aufgabe erscheint zunächst als eine durchgreifende Klärung des Erkenntnisstandes; aus ihm sei alles verbannt, was jene Forderung der Klarheit und Deutlichkeit nicht erfüllt; was aber vor ihr besteht, das gewinnt unermeßlich an Durchsichtigkeit, an Ursprünglichkeit und an Zusammenhang. Das Verfahren der Mathematik wird zum Vorbilde aller Forschung. Wie jene von einleuchtenden Anfängen her in sicherer Verkettung vordringt und nirgends ins Unbestimmte verläuft, vielmehr alle Mannigfaltigkeit in systematischer Ordnung zusammenhält, so erstrebe es nun die Philosophie und alle Arbeit der Wissenschaft. Damit wird sie in einen sicheren Fortgang kommen, nicht sich im Kreise bewegen wie oft das scholastische Schlußverfahren.

Aber Descartes vollzieht nicht nur eine Reform oder besser eine Revolution des Wissens, in ihm beginnt eine Erneuerung der gesamten Kultur. Im Mittelalter schöpfte die Kultur ihren Inhalt vornehmlich aus der Geschichte, die Arbeit der Vernunft ward von Tradition und Autorität gestützt, begrenzt und vor Irrtum behütet. Nun aber wird das geistige Leben allein auf die eigene Einsicht, auf die jedem Menschen innewohnende Vernunft gegründet. Wenn damit als wahr und gut nur gelten darf, was unsere Vernunft beweisen kann, so fällt vieles, was bis dahin als zweifellose Wahrheit galt; es drohen hastige Verneinungen und ein schroffer Radikalismus. Aber der Kritik entspricht ein Aufbau, eine Entdeckung neuer Größen und Güter, eine kräftigere Durchleuchtung und selbständigere Gestaltung des gesamten menschlichen Daseins.

Das Verlangen nach Klärung verändert vor allem das Bild des Menschen selbst, sowie das Verhältnis von Seelenleben und Natur. Vor den gesteigerten Ansprüchen des Denkens fällt das bisherige Ineinander von Körper und Seele, das jenem innere Kräfte und Triebe lieh, das Seelische aber höchst unbestimmt ließ und gegen das Eindringen sinnlicher Bilder wenig schützte; indem nunmehr jedes genau gefaßt und auf eine einzige Grundkraft zurückgeführt wird, erhellt deutlich die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Verbindung. Das Wesen der Seele bildet die bewußte Tätigkeit, das Denken im weiteren Sinne, das Wesen des Körpers die räumliche Ausdehnung und Bewegung; dort kehrt die Tätigkeit immer wieder zu sich selbst zurück, oder vielmehr sie verbleibt auch in scheinbarem Hinausstreben immerfort bei sich selbst, hier verläuft alles Geschehen in den Beziehungen und Berührungen der Dinge; die Seele hat eine strenge Einheit, der Körper, als räumliche Ausdehnung, läßt sich ins Endlose teilen. So entsteht ein schroffer Dualismus: so wenig er die Menschheit dauernd festhalten konnte, er war ein unerläßlicher Durchgang und Antrieb zu weiterer Arbeit, er hat namentlich dadurch nützlich gewirkt, daß seine Scheidung der beiden Gebiete jedwedes seine Eigentümlichkeit kräftig und deutlich entfalten hieß. Nun erst ließ sich der Befund eines jeden aus den eigenen Zusammenhängen verstehen, das Seelische psychologisch, die Natur physikalisch erklären. Das hat eine exakte Naturwissenschaft und eine selbständige Psychologie erst möglich gemacht. Im Kulturleben aber ward die Scheidung beider Welten die Hauptwaffe gegen den entsetzlichen Hexenwahn, den die Anhänger aller religiösen Bekenntnisse zähe aufrechthielten; sein Hauptgegner Balthasar Bekker war ein eifriger Cartesianer, bis in einzelne Kriminalprozesse hinein läßt sich eine direkte Wirkung der cartesianischen Aufklärung verfolgen.

Jene Abgrenzung der beiden Gebiete erfolgt aber nicht ohne eine wichtige Grenzberichtigung, die freilich auch schon Galilei vollzogen hatte. Die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, der Reichtum der Farben, Töne usw., die bis dahin ihnen selber anzugehören schienen, erweisen sich jetzt einer schärferen Prüfung als Leistungen der Seele, als Betätigungen, mit denen sie aus ihrem eigenen Grunde heraus einen von draußen kommenden Reiz beantwortet; der wundervolle Zauber, durch den die Natur uns entzückt, ist ihr von der Seele geborgt, diese hat der seelenlosen Welt der Massen und Bewegungen jenes prächtige Gewand geliehen. So verliert die Natur alle Seele und seelische Eigenschaft, fremd steht sie dem Menschen gegenüber, ihre Unendlichkeit scheint das seelische Gebiet zu winziger Kleinheit herabzudrücken. Aber der Denker selbst sieht in jener Wendung nicht sowohl Verlust als Gewinn. Von allen seelischen Elementen befreit, kann die Natur dem Denken vollauf durchsichtig werden; nun erscheint sie als eine Zusammensetzung kleinster, von Haus aus bewegter Elemente, sie wird ein Gewebe einfacher Kräfte und Gesetze, ein großes Räderwerk, dessen unbegrenzte Feinheit alle menschliche Kunst weit überragt, sich aber von ihr nur im Mehr oder Minder unterscheidet. Auch der kunstvollste Organismus ist nichts anderes als eine Maschine höchster Vollendung; hatte die alte Physik die ganze Natur vom organischen Leben aus verstanden, so wird nunmehr das Organische selbst einem geschärften Begriff des Mechanischen eingefügt. Das Wirken der Naturkörper erfolgt nie von innen heraus, sondern nur auf eine Anregung von außen her, die Natur wird ein unermeßliches Gewebe gegenseitiger Beziehungen. Solche Verwandlung der Natur in einen bloßen Mechanismus mochte späteren Geschlechtern künstlich und seelenlos scheinen, beim Ursprung überwog das stolze Gefühl der Bewältigung der Natur durch unsere Begriffe und zugleich – an zweiter Stelle – der Unterwerfung unter unsere Zwecke. Denn erst die Zerlegung der Natur in einfache Größen gestattet es, das von Bacon gesteckte Ziel einer Beherrschung der Natur durch Einsicht und Geschick erfolgreich auszuführen. Descartes hat diese technische Aufgabe nicht außer acht gelassen, namentlich sein Briefwechsel zeigt ihn unablässig mit technischen Fragen beschäftigt. Aber letzthin trat ihm aller Nutzen zurück vor dem Selbstwert des Wissens, vor der Freude an der Durchleuchtung des bisher dunklen Reiches der Natur.

Der Autonomie der Natur entspricht eine Autonomie der Seele. Mag sie bei Descartes an Ausdehnung im Weltall verlieren und im strengen Sinne lediglich dem Menschen zuzukommen scheinen, sie gewinnt dafür an Ursprünglichkeit und an Selbständigkeit. Nichts fließt ihr von draußen her zu, ohne daß sie sich selbst betätigt, alle Lebensäußerung entspringt aus ihr, selbst. Das könnte nicht sein, wäre sie von Haus aus leer; zu ihrer Selbständigkeit gehört notwendig ein ursprünglicher Stammbesitz, ein fester Stock von unzweifelhaften Wahrheiten, von »eingeborenen Ideen«. Mag erst eine gewisse Höhe der Entwicklung diese zu klarem Bewußtsein bringen, von Anfang an sind sie vorhanden und beherrschen alle Arbeit. So ist die Lehre von den eingeborenen Ideen unerläßlich für das Beisichselbstsein der Seele und die Selbständigkeit des Denkens, mit ihrer späteren Leugnung ward die Grundlage der Aufklärung verlassen.

Schon diese Lehre von den Ideen zeigt, wie im cartesianischen Bilde der Seele der Intellekt voransteht. Er erlangt diese Stellung, indem das Denken, das zu Beginn als bewußte Tätigkeit alles umfassen soll, sich unvermerkt zum gegenständlichen Denken, zum Erkennen verengt. Der Intellekt ist der sinnlichen Wahrnehmung überlegen, da bei dieser das Denken sich nicht rein bei sich selbst befindet, sondern an etwas Äußeres gebunden wird; er steht auch dem Wollen voran, da alles Wollen ein Denken und Erkennen einschließt. So wird das Erkennen zum Kern alles Seelenlebens, an ihm liegt die Erhebung unseres ganzen Daseins zur Selbsttätigkeit. Auch unser Glück scheint gänzlich am Denken zu liegen. Die wissenschaftliche Einsicht gibt uns Macht über unsere eigenen Affekte und vermag alle Sorgen und Schmerzen zu heilen. Sie zeigt nämlich, daß, was draußen liegt, unserer Macht entzogen ist; was wir aber als unmöglich erkennen, das vermag uns nicht aufzuregen. In unserer Gewalt sind hingegen die Gedanken, wir können sie auf das unendliche Weltall richten und durch das Erkennen seiner Größe bei uns selber wachsen. »Wenn wir Gott lieben und durch ihn uns in der Gesinnung ( voluntate) mit allen geschaffenen Dingen verbinden, so schätzen wir auch uns um so mehr, je größer, edler, vollkommener wir jene fassen, weil wir Teile der ganzen Vollkommenheit sind.« Das sind, äußerlich angesehen, nur hingeworfene Bemerkungen, aber sie entsprechen dem Geist des Ganzen, und sie bezeichnen schon deutlich die Richtung, welche ein großartiges Lebensbild bei Spinoza erzeugte.

Unfertig bleibt überhaupt bei Descartes gar vieles; wer möchte das dem bahnbrechenden Denker zum Vorwurf machen? Er hat an entscheidenden Stellen durchgreifende Bewegungen hervorgerufen. Das moderne Ausgehen vom denkenden Ich wie der Aufbau eines rationalen Kultursystems, die exakte Naturbegreifung mit ihrem Zuge zum Mechanismus, das Beisichselbstsein des Seelenlebens mit seiner Überschätzung, des Intellektes, alles das hat hier seinen Ursprung. Manches davon scheint heute nur deswegen minder eigentümlich und groß, weil es ein selbstverständlicher Bestandteil unseres eigenen Lebens geworden ist, auch weil die schlichte Klarheit der Darstellung oft die Tiefe und Neuheit des Inhalts vergessen läßt. Ob dabei nicht notwendige Probleme unerledigt blieben, ob nicht das Streben nach Einfachheit auch viel Verengung erzeugte, das ist eine andere Frage. Die geniale Klarheit und Einfachheit des Descartes orientiert jedenfalls am besten über den eigentümlichen Charakter der Aufklärung, sie enthüllt sowohl die Antriebe ihres Werdens und die Gründe ihres Sieges als das Angreifbare, das ihr Unternehmen von Haus aus in sich trug. Wie die Größe, so ist auch die Grenze der Aufklärung nirgends besser zu ermessen als von diesem größten französischen Denker aus.

 

Von Descartes zu Spinoza fortschreiten können wir nicht, ohne von den Zeitgenossen einiger unter sich höchst verschiedener Männer zu gedenken. – Thomas Hobbes (1588-1679), einer der konsequentesten Denker aller Zeiten, hat den Kern seiner Leistung darin, die mechanische Naturbegreifung, die er selbst mit begründen half, über das Ganze unserer Wirklichkeit auszudehnen; er hat in solcher Richtung aus der Seele wie dem Staate alle inneren Kräfte und Gesamtgebilde als bloße Einbildungen verbannt und jene beiden durch die Verwandlung in ein mechanisches Getriebe vielfach aufgehellt. Ein strenger Naturalismus geht hier mit einer eminenten logischen Kraft zusammen, zugleich verbindet die Darstellung mit durchsichtiger Klarheit einen Reichtum treffender Gedanken und packender Bilder. Aber wenn innerhalb des durch die Grundrichtung abgesteckten Raumes Hervorragendes geleistet wird, wenn der Determinismus kaum irgendwo eine wuchtigere Vertretung findet, wenn hier schon die Lehre von den Ideenassoziationen auf modernem Boden erscheint, so machen auch Grenzen sich stark bemerklich: es fehlt alles Verständnis für das, was den bloßen Verstand überschreitet. So kann die Religion hier nicht mehr als einen staatlich privilegierten Aberglauben bedeuten. Denker, die in solcher Weise alle Kraft an Eine Grundidee setzen, pflegen wenig unbedingte Gefolgschaft zu finden und keine Schule zu machen. Aber sie wirken mit der Ausprägung eines reinen Typus wie ein Stachel auf das Ganze der Arbeit, sie bleiben mit Frage und Antwort gegenwärtig, wo immer ihre Probleme anerkannt werden. So hat Hobbes auf Spinoza und Leibniz Einfluß geübt, so ward er im 18. Jahrhundert von der französischen Aufklärung und im 19. von Comte hochgehalten, so wirkt er noch in das 20. Jahrhundert hinein.

Fruchtbarer für das Lebensproblem sind die Bewegungen auf religiösem Gebiet, die der Sieg der modernen Denkweise durch Descartes hervorrief. Den neuen Forderungen mathematischer Klarheit und Deutlichkeit vermag der überkommene Stand der Religion nicht zu entsprechen; muß sie nun gänzlich fallen, oder findet sie neue Wege zum Erweise ihrer Wahrheit? Pascal (1623 bis 1662) sucht solchen Erweis im Gefühl als der Wurzel des Lebens und dem Quell aller unmittelbaren Gewißheit; hier hat die Religion einen sicheren Grund, so kann alles Bedenken der Wissenschaft, aller Widerstand der Erfahrung ihr nicht im mindesten schaden. Das religiöse Leben erlangt hier eine große Zartheit und Innigkeit, aber bei aller Weichheit bleibt es gesund und kräftig, weil es seinen Kern in der moralischen Gesinnung findet; diesen Kern verficht der Denker mit männlichem Mute gegen jesuitische Künstelei und Verflachung. Die Religion versetzt hier das Leben in die merkwürdigste Spannung und in eine unablässige Bewegung, indem sie sowohl das tiefe Elend des menschlichen Daseins voll zur Empfindung bringt, als auch durch die Eröffnung unendlicher Liebe sicher darüber hinaushebt. Die Größe des Menschen, die sie zeigt, läßt erst recht seine Kleinheit, andererseits aber auch seine Kleinheit erst recht seine Größe empfinden, »wer anders empfindet darüber Schmerz nicht König zu sein als ein entthronter König?« Solche Denkweise erzeugt ein wunderbares Schweben der Stimmung zwischen schroffen Gegensätzen, ein unablässiges Hin- und Hergehen von der einen Seite zur anderen, eine Gewißheit im Zweifel, ein Besitzen im Suchen; »du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest«. – So eine Religion persönlicher Gesinnung und reiner Innerlichkeit, aber in der Richtung und Einschränkung auf das Individuum, nicht als Quell einer neuen geistigen Ordnung, daher auch nicht in Widerspruch mit der Kirche, sondern in Anschmiegung an sie und im Wirken für sie. Eine solche Denkweise konnte nicht wie die Reformation die Welt erschüttern und der Menschheit neue Bahnen brechen, aber zur Erhaltung der Seele der Religion gegenüber der Äußerlichkeit eines kirchlichen Machtsystems hat sie segensreich gewirkt und wirkt sie fort bis zur Gegenwart.

Ein völlig anderes Gesicht gegenüber verwandten Problemen zeigt Pierre Bayle (1647-1706), der reformierte Denker. Christentum und Vernunft scheinen ihm unversöhnliche Gegner, keine Religion geht so wenig in reine Vernunftsätze auf wie die christliche. Im besonderen ist es das Problem des Bösen, die Vereinbarkeit des unsäglichen Elends der Welt mit dem Glauben an einen allmächtigen und allgütigen Gott, was ihn unablässig beschäftigt und allem dogmatischen Glauben entfremdet. Aber da ihn zugleich ein tiefes Mißtrauen gegen das eigene Vermögen der Erkenntnis und auch gegen die moralische Beschaffenheit des Menschen erfüllt, so möchte er den Halt der Religion nicht missen, nur sei sie einfach und duldsam und suche ihr Hauptziel in der Läuterung des Herzens: Das Moralische wird hier zum Kern des Lebens, das Gewissen zum Prüfstein alles Handelns, in der dunklen und trüben Welt gibt es allein dem Menschen einen festen Halt und seinem Leben einen Wert. So entspringt auch hier ein eigentümlicher Typus des Denkens und erhält sich durch das 18. Jahrhundert, wie denn z. B. Friedrich II. ein eifriger und treuer Anhänger Bayles war, aus dessen Hauptwerk er selbst einen Auszug verfertigte und herausgab; dieser Typus mahnt uns daran, die Aufklärung nicht allein rationalistisch und optimistisch gesinnt zu denken. Eben der Rationalismus trieb auch eine starke Skepsis hervor.

Diese Männer und Probleme führen uns schon in das Zeitalter Ludwigs XIV., das freilich von der religiösen Seite aus sich wenig erfreulich ausnimmt. Denn daß die Religion hier eng mit politischen Zwecken verquickt wird und auch zum Glanze höfischen Lebens beitragen muß, das ergibt viel Unwahrheit und auch viel ungerechten Druck, die ihrerseits wieder einen Bruch mit der Religion, wenn nicht herbeiführen, so doch vorbereiten. Aber es sei nicht vergessen, daß diese Zeit auch im Gegensatz zum Schein viel echtreligiöses Leben und Wirken erzeugt, es sei z. B. nur der Schulbrüder gedacht (La Salle), wie wir überhaupt nicht wegen der vielfachen schroffen Verneinung der Religion auf französischem Boden den Franzosen schlechtweg Flachheit und Gleichgültigkeit in religiösen Dingen vorwerfen dürfen. In Wahrheit waren sie innerhalb des Katholizismus das religiös produktivste Volk der Neuzeit, im besonderen haben strenges Ordenswesen, gänzliche Weltflucht, härteste Selbstpeinigung sich während der Neuzeit nirgends mehr als in Frankreich entfaltet. Ferner aber sei jene Zeit nicht überwiegend nach ihrem Verhältnis zur Religion beurteilt. Sie nimmt eine bedeutende Stellung in der modernen Kulturbewegung ein. Hier zuerst hat sich, wenn auch in mannigfacher Anlehnung an die Antike, ein Ganzes moderner Kultur ausgebildet und alle Verzweigung des Daseins ergriffen, hier zuerst hat ein großer Staat die Kulturaufgabe als Ganzes anerkannt und gefordert, hier zuerst hat die Neuzeit das Bewußtsein einer eigentümlichen Art gegenüber dem Altertum gefunden, so daß erst von hier aus es üblich wurde, die Alten und die Neuen einander entgegenzustellen und miteinander zu vergleichen. Allerdings hat die nähere Ausführung des Strebens sehr bemessene Schranken. Alles rhetorische Pathos und aller glänzender Pomp kann nicht den Charakter einer Formen- und Verstandeskultur verdecken; diese Formalkultur hat freilich einer Verwilderung entgegengewirkt und mehr Ordnung und Eleganz in das moderne Leben gebracht, aber es ist begreiflich, daß ihr vielfaches Scheinwesen schließlich schroffen Widerspruch fand, und daß ein Bruch mit ihr nötig wurde. Aber wenn hier viel Flittergold war, es war nicht alles Flittergold; sonst hätte diese Bewegung nicht so stark ganz Europa ergriffen. Eine Betrachtung der Lebensanschauungen hat auch das anzuerkennen, daß dieser Boden mannigfachste Durchleuchtung menschlicher Seelenlagen gebracht, daß er viel feine Beobachtung und viel kluge Lebensweisheit erzeugt hat.

 

β. Spinoza.

aa. Einleitung.

Eigentümliche Verwicklungen in Spinozas Lehre verrät schon ihr eigentümliches Schicksal. Sie entspringt aus der Aufklärung und schließt Bewegungen der Aufklärung ab: erst hier erzeugt diese ein einheitliches Bild vom All, erst hier findet sie den Weg ins Innerste und Reinmenschliche. Aber trotzdem hat die Aufklärungszeit jene Lehre nicht anerkannt und zu breiterer Wirkung gebracht, nicht nur die Kirchlichgesinnten, auch Denker freiester Art, wie ein Bayle, haben sie schroff abgelehnt. Dagegen begann ihre Zeit, als man der Aufklärung müde wurde und ihre Denkweise als zu eng empfand; nun schlug eine Begeisterung für Spinoza zu heller Flamme empor, nun fand ein neues Geschlecht in ihm den klassischen Ausdruck seiner Überzeugung, im besonderen seines Einheitsverlangens. Dabei ist Spinoza oft umgedeutet, und er ward sicherlich oft überschätzt, aber es muß in ihm viel, es muß in ihm mehr als bloße Aufklärung stecken, wenn der größte deutsche Dichter ihm so tiefe Verehrung zollen konnte.

Merkwürdig ist auch, daß Spinoza von sehr verschiedener, ja entgegengesetzter Seite Zustimmung fand. Religiöse und künstlerische Naturen, spekulative Philosophen und große Naturforscher, Idealisten und Realisten, ja Materialisten, sie waren einig in der Schätzung des Mannes. Sie konnten das wohl nur, weil jeder verschiedenes in ihm sah; aber daß man so verschiedenes in ihm sehen konnte, muß doch an ihm selber liegen; wie erklärt sich das, da er vor allem Einheit erstrebt und seine Welt in Wahrheit den Eindruck voller Geschlossenheit macht? Sehen wir, ob eine nähere Betrachtung diese Rätsel des ersten Anblicks lösen oder doch mildern kann.

 

bb. Die Welt und der Mensch.

Es ist das Verhältnis von Welt und Mensch, was den Mittelpunkt der Arbeit Spinozas bildet; zur geschlossenen Darlegung ist es namentlich in dem großen Werke der »Ethik« gelangt. Diese Darlegung verläuft in der strengen Form einer mathematischen Beweisführung, die Sache aber ist voller Bewegung und Aufregung, wie ein Drama größten Stiles stellt sich hier das Geschick des Menschen dar. Zunächst wird ein energischer Kampf gegen die Überhebung nicht sowohl des einzelnen Menschen als der gesamten Menschheit aufgenommen. Das Weltbild kann seine Wahrheit nicht erschließen, ohne eine Ausscheidung dessen, was ihm an menschlichen Zügen beigemengt war; was aber nach solcher Läuterung verbleibt, das wirkt auf das Bild des Menschen zurück und macht ihn zu einem verschwindenden Punkt des unermeßlichen Getriebes. Aber solche Demütigung bildet nicht den letzten Abschluß. Es eröffnet sich aus ihr dem Menschen ein Weg zu einer neuen Höhe, indem er als Vernunftwesen die Welt als Ganzes denken und mit ihr innerlich einigen kann; ihre Größe, Ewigkeit, Unendlichkeit wird damit sein eigener Besitz. Das aber nur, wenn er alle Besonderheit und allen Willen zur Besonderheit aufgibt, wenn er sich dem Alleben gänzlich einfügt. So trägt das schließliche Ja in sich ein starkes Nein, und die Lebensbejahung, in die das Ganze ausklingt, liegt weitab von allem bloßen Naturtrieb.

Indem Spinoza aus den Grundlinien des Weltbildes alle menschliche Zutat als eine Verfälschung austreibt und das All allein aus sich selbst zu begreifen sucht, vermag ein einziger Zusammenhang ihm alle überkommenen Gegensätze zu umspannen. – Vor allem verschwindet der Gegensatz von Gott und Welt. Sie bilden nicht verschiedene Wirklichkeiten, sondern sie verhalten sich innerhalb der einen und alleinigen Wirklichkeit wie Dasein und Wesen, Erscheinung und Grundkraft, gewirkte und wirkende Natur ( natura naturata und natura naturans). Gott ist das reine Sein, das Alleben, das aller besonderen Gestaltung zugrunde liegt und ihre ganze Fülle umfaßt; er ist eben deshalb das Allergewisseste, dessen Erkenntnis aller übrigen Einsicht vorangeht. So verstanden, braucht Gott nicht aus sich selbst herauszutreten, um auf die Dinge zu wirken, sondern alles Wirken liegt innerhalb seines Lebens und Wesens; er bildet, nach der Schulsprache der Scholastik, die immanente Ursache aller Dinge. Demnach ist nicht sowohl Gott in der Welt als die Welt in Gott.

Ein solcher Gott, der die ganze Unendlichkeit in sich faßt, sei nicht nach dem Bilde des Menschen gedacht. Auch unsere höchsten geistigen Eigenschaften wie Denken und Wollen gehören zur Welt der Erscheinung und können daher das Unendliche und Allumfassende nicht angemessen bezeichnen. Auch kann Gott nicht vornehmlich für das Wohl des Menschen sorgen, dafür alles gestalten, auch nicht den Menschen nach seinem Verdienste lohnen und strafen. Das ergäbe nicht nur ein zu kleines, menschenartiges Bild, auch die Erfahrung widerspricht solcher Annahme schroff. Denn sie zeigt eine völlige Gleichgültigkeit des Weltlaufs gegen die menschlichen Wünsche und Zwecke, sie zeigt ferner, daß Glück und Unglück unterschiedslos Gerechte und Ungerechte treffen, daß Stürme, Erdbeben, Krankheiten auch die Besten nicht verschonen. Wie das alles keine besondere Fürsorge für den Menschen zeigt, so widerspricht ein Handeln nach Zwecken überhaupt der Allnatur. Das eben bildet ihre Größe, nichts anderes zu wollen als sich selbst, ihr eigenes unendliches Sein, das inmitten alles Wirkens wandellos von Ewigkeit zu Ewigkeit in sich selber ruht.

Das Bild der Welt blieb bis dahin zerrissen und gespalten, weil der Mensch die Gegensätze seiner Schätzung: gut und böse, geordnet und ungeordnet, schön und häßlich in die Dinge hineintrug: das war ein Verfälschen der Wirklichkeit, ein Auseinanderreißen dessen, was in Wahrheit eine fortlaufende Kette bildet. Werden die Dinge von solcher Irrung befreit und unter Fernhaltung aller Bewertung rein bei sich selbst betrachtet, so fügt sich alles zusammen, und aus der Mannigfaltigkeit wird ein einziges Leben der ewigen Wesenheit. Wohl verläuft die Entfaltung dieses Lebens, bei der Natur wie bei der Seele, in lauter einzelnen Vorgängen, aber diese Vorgänge bilden ein zusammenhängendes Gewebe: nicht nur verbindet sie lückenlos eine kausale Verkettung, nicht nur untersteht alle ihre Fülle einfachen und wandellosen Gesetzen, sie sind im Grunde gar nichts anderes als Entfaltungen des göttlichen Wesens, zeitliche Gestaltungen des ewigen Seins, Wellen über Wellen im Meere der Unendlichkeit.

Solcher Zusammenschluß der Wirklichkeit läßt auch eine Überwindung des Gegensatzes von Körperlichem und Geistigem hoffen, der durch Descartes unerträglich verschärft war. Zugleich muß das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, das Wahrheitsproblem, sich klären. Die ältere Denkweise hatte unbedenklich die Wahrheit als eine Übereinstimmung unseres Vorstellens mit einem draußen befindlichen Gegenstande gefaßt. Denn die Welt um uns und das Sein in uns schienen ihr wesensverwandt, so konnte im Aufnehmen des anderen sich zugleich das eigene Wesen entfalten. Die moderne Scheidung des Subjekts von der Welt verbietet ein solches Überströmen der Kräfte und zerstört den alten Wahrheitsbegriff; wird es gelingen, eine neue Art der Verbindung zu erreichen, sie zu erreichen nicht auf den künstlichen Umwegen des Descartes, sondern auf geradem und natürlichem Wege?

Spinoza glaubt dies in Wahrheit leisten zu können. Körper und Geist gelten ihm nicht als verschiedene Dinge, sondern nur als verschiedene Seiten ein und desselben Seins, nur als Entfaltungen, Darstellungen; Daseinsformen desselben Grundgeschehens; jede Reihe verläuft sich bei selbst, unberührt von der anderen, ohne alle gegen. seitige Störung und Wechselwirkung. Trotzdem stimmen sie gänzlich zueinander, da, was hier und dort vorgeht, im Wesen ein und dasselbe ist. Solche Verlegung der Spaltung aus dem Grunde in die Erscheinung scheint das schwere Problem in einfachster Weise zu lösen und zugleich den Vorteil zu gewähren, daß keine der Seiten sich der anderen unterzuordnen braucht, sondern jede sich selbständig entwickeln kann.

Zugleich erfolgt eine Einigung von Denken und Sein. Von außen her ist beides unmöglich zusammenzubringen, aber es stimmt, kraft beider Begründung in dem einen unendlichen Sein, vollständig zueinander; um Wahrheit, volle Wahrheit zu finden, hat das Denken sich nur mit ganzer Kraft auf sich selbst zu besinnen, alle fremde Zutat abzustreifen, alle verworrene Vorstellung auszutreiben, lediglich seinem eigenen Zwange zu vertrauen; aus subjektivmenschlicher Vorstellung muß es sachlichgebundenes Denken werden. Das aber kann es erst jetzt nach Entfernung aller menschlichen Werte und Zwecke. Nunmehr wird die Ordnung und Verbindung der Begriffe dieselbe wie die Ordnung und Verbindung der Dinge, die logische Verkettung der Einsichten entspricht genau der realen Verkettung der Ereignisse; was in der Körperwelt draußen vorgeht, dessen treue Spieglung bildet das Reich der Gedanken. So eine Übereinstimmung nicht durch eine äußere Berührung, sondern durch die Begründung beider Reihen in ein und demselben Sein. Denkprozeß und Naturprozeß miteinander bilden hier das Ganze der Wirklichkeit, alles verläuft dabei mit innerer und sicherer Notwendigkeit, kein dunkler Rest ist verblieben, sondern das Ganze, so scheint es, bis zur letzten Tiefe durchleuchtet.

 

cc. Der Mensch und seine Kleinheit.

Diese Größe erreichte das Bild des Weltalls nur bei völliger Befreiung vom Menschen, bei sicherer Erhebung über seine Vorstellungen und Zwecke. Ganz und gar ist jetzt der Mensch ein bloßes Stück des Alls geworden, er hat keine Ausnahmsstellung mehr, er bildet keinen »Staat im Staate« ( imperium in imperio). Wie sein ganzes Dasein nur einen Einzelvorgang, einen »Modus«, im unendlichen All bedeutet, so ist sein Körper nur ein Teil der unendlichen Ausdehnung, sein Geist nur ein Teil des unendlichen Denkens; wie jener, gemäß der Lehre des Mechanismus, nur eine Zusammenfügung kleiner Teilchen, so ist auch der Geist nur ein Gefüge von einzelnen Ideen, keine innere Einheit; der Wille und der Verstand sind nichts außer den einzelnen Wollungen und Gedanken. Da weiter auch das Wollen nicht etwas Besonderes neben dem Denken, sondern nur etwas innerhalb des Denkens ist, nämlich die Behauptung, wahr zu sein, die in jedem Begriffe liegt, so verwandelt sich der ganze Mensch in ein Triebwerk einzelner Vorstellungen, er wird, nach des Denkers eigenem Ausdruck, eine »geistige Maschine« ( automaton spirituale). Das ist ein großer Gewinn an Klarheit. Aber er wird erkauft durch die Preisgebung aller und jeder Freiheit des Handelns; was unsere eigene Entscheidung dünkt, wird ein bloßes Erzeugnis jenes Mechanismus; nur deshalb fühlen wir uns frei, weil wir uns wohl unserer Handlungen bewußt sind, oft aber nicht ihrer Ursachen, und jene daher als ursachlos betrachten. Demnach seien die Handlungen und Begehrungen des Menschen nicht anders behandelt wie Punkte, Flächen und Körper; wir haben sie weder zu beklagen noch zu verspotten, sondern sie zu verstehen.

Solche Einordnung des Menschen in die Natur macht ihre Gesetze unmittelbar auch zu Gesetzen seines Strebens. Derselbe Trieb, der draußen alles bewegt, bewegt auch unser Handeln: der Selbsterhaltungstrieb. Er gehört nicht nur zu unserem Wesen, er bildet unser Wesen; nie können wir von unserem Selbst absehen, nie um eines anderen, sondern immer nur um unser selbst willen handeln. Was aber der Erhaltung oder Steigerung des Selbst dient, das nennen wir nützlich; so geht auf das Nützliche all unser Tun; je tüchtiger einer ist, desto kräftiger wird er nach jenem streben.

Indem aber im Reich der Erfahrung die einzelnen Wesen zusammentreffen, sich durchkreuzen, hemmen und fördern, entstehen mannigfachste Verwicklungen, ein Getriebe rastloser Bewegung. Hier ist das Reich der Affekte (Gefühle), hier wird um Glück gekämpft, hier entstehen Liebe und Haß. Alles subjektive Befinden hängt dabei an dem Grade der Kraftentfaltung, und alles Verhältnis zu Menschen und Dingen bemißt sich nach der Leistung für die Steigerung unseres Lebens. Die verwickelten Verschlingungen der Wirklichkeit lassen solche Abhängigkeit leicht übersehen, die philosophische Betrachtung aber entdeckt auch in der scheinbaren Willkür ein gesetzliches Wirken und bestätigt damit die naturwissenschaftliche Behandlung des Menschenlebens.

Unser Dasein bewegt sich zwischen Lust und Leid; wie aber sind diese selbst zu verstehen? Die Lust ist der Zustand, worin der Geist zu einer größeren, das Leid, worin er zu einer geringeren Vollkommenheit übergeht, d. h. zu größerer oder geringerer Stärke des Lebens. Lust und Schmerz aber erzeugen Liebe und Haß; denn wo bei der Lust ein äußeres Ding als ihre Ursache vorgestellt wird, da entsteht Liebe, Haß dagegen, wo dies beim Schmerz geschieht; je nachdem uns das Erlebnis freut oder schmerzt, wird sein Urheber uns Freund oder Feind. So kennen auch Liebe und Haß keine Willkür; was uns fördert, das müssen wir lieben, was uns schädigt, das müssen wir hassen und können an solchem Lieben und Hassen nicht das mindeste beliebig verändern. Liebe und Haß beschränken sich dabei nicht auf die Dinge, die uns direkt berühren. Denn dieser Dinge Ergehen hängt wieder an anderen; so wirken durch jene hindurch auch diese sonst fremden Dinge zu uns. Daher überträgt sich auch auf sie, wenn auch abgeschwächt, unser Affekt: wir lieben die Freunde unserer Freunde, weil sie fördern, was uns fördert, und wir lieben die Feinde unserer Feinde, weil sie schwächen, was uns schädigt; umgekehrt hassen wir die Feinde der Freunde und die Freunde der Feinde. Das erstreckt sich weiter und weiter auf alle Verwandtschaften, Beziehungen und Nebenumstände der Erlebnisse. Alles, was irgendwie, wenn auch äußerlich und zufällig, mit angenehmen Erfahrungen zusammenhängt, an sie erinnert usw., bewirkt Lust, das Gegenteil Schmerz. Auf solchem Umwege kann auch die entfernteste Sache Lust oder Schmerz, Liebe oder Haß erzeugen; die uns selbst oft rätselhaften Sympathien und Antipathien erklären sich einfach daraus, daß sich hier unserem Bewußtsein der Grund verbirgt, der uns etwas lieben oder hassen läßt. Jene Affekte aber treiben zwingend zum Handeln, wir müssen fördern, was uns nützt, unterdrücken und zerstören, was uns schädigt. Alle Mahnung der Moralisten ändert nichts an solcher Notwendigkeit, einen Affekt bezwingen kann nur ein stärkerer Affekt, nicht bloße Wünsche und Entschlüsse. So eine gründliche Durchleuchtung des Getriebes der Affekte, eine Auflösung ihres verschlungenen Gewebes, eine Fundgrube praktischer Menschenkunde.

Spinoza will bei dem allen lediglich schildern, keine aufdringliche Beurteilung stört die reine Entfaltung des Tatbestandes. Aber der Rückblick auf das Ganze treibt notwendig zu einer Schätzung; diese läßt aber ersehen, wie wenig dem Denker jener Stand des Menschen genügt. Denn mag im Getriebe des Lebens der Einzelne hie und da etwas gewinnen, im großen und ganzen bleibt er an eine fremde und dunkle Welt gebunden; von äußeren Ursachen werden wir ruhelos hin und her geworfen, wie von entgegengesetzten Winden bewegte Meereswogen, unkundig unseres Ausgangs und Schicksals, Sklaven der Affekte, auch untereinander in stetem Zwiespalt und Streit; alles in allem ein Stand von Knechtschaft und Leid. Ist das der letzte Abschluß, oder führt ein Weg aus der Knechtschaft zur Freiheit?

 

dd. Der Mensch und seine Größe.

In Wahrheit vollzieht Spinoza hier eine große Wendung, die er freilich mehr verdeckt als herausgearbeitet hat; er hätte sie nicht herausarbeiten können, ohne einen klaffenden Spalt in seiner eigenen Gedankenwelt aufzudecken. Der Denker gibt jene Wendung als eine bloße Fortführung des anfänglichen Strebens, als ein Zuendegehen des Weges der Natur, während in Wahrheit eine völlige Umwälzung erfolgt und gegenüber der Natur eine neue Wirklichkeit einführt. Das Ziel der Selbsterhaltung und des Nutzens soll bleiben, nur müßten wir ein in Wahrheit ( re vera), ein von Grund aus ( ex fundamento) Nützliches erreichen, wie es die gewöhnliche Lebensführung nicht kennt. Ein solches Nützliche gewährt allein die Erkenntnis, das Werk echter Wissenschaft. Denn indem sie alles sonst Äußere und Fremde von innen her aufklärt und bis zum Grunde durchleuchtet, verwandelt sie es in unseren Besitz, und versetzt sie uns ihm gegenüber in den Stand der Tätigkeit; kann unser Denken von sich aus die Dinge entwickeln, so verschwindet ihr Druck, so werden wir ihre Herren, vollauf tätig und damit selig. Das Denken kann dies aber nur, sofern es uns als Glieder der Weltverkettung betrachtet, unseren Zustand aus der notwendigen und ewigen Ordnung der Dinge versteht. Seine Vollendung erreicht dies Werk erst durch eine Anknüpfung an Gott, das alles begründende Wesen; indem das Denken aber von hier aus alle Mannigfaltigkeit als die Entfaltung der unendlichen Substanz versteht, sie unmittelbar in ihrem belebenden Grunde sieht, ist es nicht mehr logisch verkettendes, sondern anschauendes Wissen ( scientia intuitiva). Solche anschauliche Erkenntnis Gottes ist das unvergleichlich höchste Gut und das Endziel alles Strebens. Indem sie unser ganzes Dasein in Erkennen verwandelt, führt sie es zu voller Freiheit und Tätigkeit und vertreibt sie zugleich alles Leid. Auch die Affekte legen alles ab, was an ihnen Leiden ist, sobald wir sie klar und deutlich durchschauen; sie enthalten dann nicht mehr Schmerz und Entsagung, sondern nur noch Streben und Lust. So gestaltet sich nunmehr das ganze Leben zu tätiger Kraft und entschiedener Bejahung, es erwächst das Ideal eines »freien Menschen«, der alle schmerzvollen Zustände als ein Übel abweist; Mitleid, Demut, Reue usw. mögen der niederen Lebensstufe frommen, der höheren taugen sie nicht; hier heißt es: »wer eine Tat bereut, der ist doppelt unglücklich oder ohnmächtig«.

Das ist ein hohes Ideal, dem der Mensch nur allmählich sich nähern kann. Aber mag ihn die wahre Erkenntnis nicht leicht ganz erfüllen, immer haben wir gegen die Affekte das Heilmittel klarer und deutlicher Einsicht; je mehr wir die Ereignisse, die uns treffen, in ihren notwendigen Zusammenhängen durchschauen, desto weniger können sie uns erregen, desto völliger wird uns ihr Denken einnehmen, wird es auflösen, was an Liebe und Haß aus ihnen entsprang, und den Geist zur Ruhe reiner Betrachtung führen. So wird die wunsch- und willenlose Anschauung das Mittel zur Befreiung von aller Aufregung und allem Schmerz, zur Versetzung unseres ganzen Wesens in Frieden und Seligkeit.

Dies alles gewinnt aber den Zusammenhang eines Alllebens und zugleich die1 volle seelische Vertiefung erst durch die Anknüpfung an jene anschauende Erkenntnis Gottes, des ewigen und unendlichen Seins, in ihr erst vollendet sich unser Denken und Leben. Nun sahen wir, daß, was unser Wohlsein erhöht, notwendig unsere Liebe erweckt; so wird gegen Gott eine unermeßliche Liebe entstehen. Diese Liebe ist allem weit überlegen, was irgend sonst Liebe heißt; sie ist kein gewöhnlicher Affekt mit seiner verworrenen Leidenschaft, sondern sie entspringt aus dem Erkennen, ist »intellektuelle Liebe« ( amor intellectualis). Solche echte Liebe zu Gott enthält kein Verlangen nach einer Erwiderung von seiten Gottes. Denn Gott kann seiner Natur nach nichts Besonderes im menschlichen Sinne lieben; das wäre zu niedrig für ihn. Darum heißt es: »wer Gott wahrhaft liebt, kann nicht versuchen, daß Gott ihn wieder liebe«. So gibt es ohne ein völliges Aufgeben des kleinen Ich keine Befreiung und Erhöhung. Gott aber liebt sich selbst, die ganze Ewigkeit und Unendlichkeit, mit intellektueller Liebe, und es ist die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ein Teil der unendlichen Liebe, Womit Gott sich selber liebt. Damit empfängt das Weltall eine geistige Tiefe und ein inneres Leben, immer freilich in weitem Abstand vom menschlichen Seelenleben.

Solche Einigung mit dem Allwesen gewährt dem Menschen auch eine Ewigkeit. Für eine Unsterblichkeit als eine unbegrenzte Fortführung der besonderen Existenz hat Spinoza weder Sinn noch Platz. Nur solange der Körper dauert, kann der Geist vorstellen und sich vergangener Dinge erinnern; die Auflösung des Körpers also ist auch das Ende dieses gesonderten und gebundenen Seelenlebens. Aber als in Gott gegründet kann unser Geist mit dem Untergang des Körpers nicht ganz erlöschen, in Gott bleibt notwendig eine Idee, welche sein Wesen unter der Form der Ewigkeit ausdrückt, als ein ewiger Denkakt Gottes ist er unvergänglich. Er ist es um so mehr, je mehr ihn die rechte Einsicht aus der Welt der Wirkungen in die des ewigen Grundes versetzt; je stärker damit sein unvergänglicher Teil wird, desto weniger kann ihm der Tod anhaben. In dieser Gedankenrichtung erscheint wohl gar der Untergang des Körpers als ein Abstreifen aller Vergänglichkeit, als eine Befreiung von der niederen Lebensform: »nur solange der Körper dauert, unterliegt der Geist Affekten leidender Art«.

Aber dem Philosophen besagt die Unsterblichkeit nicht vornehmlich die Hoffnung einer besseren Zukunft, sondern eine unmittelbare Erhebung über alles zeitliche Sein, ein Erfassen der Ewigkeit inmitten der Gegenwart; aus solcher Gesinnung heißt es: »der freie Mensch denkt über nichts weniger als über den Tod, und seine Weisheit ist ein Sorgen nicht für den Tod, sondern für das Leben«. Um gemäß der Vernunft zu handeln, bedürfen wir nicht des Gedankens der Unsterblichkeit und einer Vergeltung. Auch wenn wir nicht wüßten, daß unser Geist ewig ist, würden wir Wohltun und Frömmigkeit, Mannhaftigkeit und Edelsinn für das Höchste halten; denn der wahrhaft Freie handelt nicht eines Lohnes halber, sondern aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur, und es ist die Seligkeit nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Darin besteht die Seligkeit, daß der Geist seine höchste Vollkommenheit erreicht hat; das aber geschieht durch jene Erkenntnis Gottes. »So ist der Weise seiner und Gottes und der Dinge mit ewiger Notwendigkeit bewußt, er hört nie auf zu sein, sondern er hat immer die wahre Befriedigung des Geistes.«

Das Leben, das in eine so volle und freudige Zuversicht ausklingt, gibt der Ethik wie der Religion eine neue Grundlage und eine eigentümliche Gestalt. Es mag befremden, daß das Hauptwerk eines Denkers »Ethik« heißt, der soviel Mühe darauf verwandt hat, die ethische Schätzung auszutreiben und alle Wirklichkeit in die bloße Tatsächlichkeit eines Naturprozesses zu verwandeln. Aber bei Spinoza ist für den Menschen jene im absoluten Sein begründete Tatsächlichkeit selbst ein hohes Ziel; wir befinden uns nicht schon in der echten Wirklichkeit, sondern wir müssen uns zu ihr erst erheben; so tritt unser Leben unter den Gegensatz einer Hingebung an die Welt der Erscheinung und eines Aufsteigens zur Welt des Wesens, einer eigensinnigen Festhaltung kleiner Sonderart und eines willigen Eingehens in das unendliche Sein, so trägt es in sich eine große Entscheidung und eine durchgehende Aufforderung zu erhöhender Tat. Die Wendung zum echten Erkennen ist selbst eine Tat, eine Tat des ganzen Wesens. Damit aber wird sie eine ethische Handlung. Nur betrifft dann das Ethische nicht sowohl einzelne Leistungen als die Gesamtart des Lebens und Seins. In geradem Widerspruch zu dem, was sein Bewußtsein erfüllt, gehört Spinoza zu den Denkern, die den Menschen mit der Religion und dem Christentum vor ein Entweder – Oder stellen und nicht so sehr einen allmählichen Fortschritt als eine völlige Umwälzung fordern.

Auch im Grundzuge seiner religiösen Überzeugung ist er dem Christentum verwandter, als sein schroffer Zusammenstoß mit der kirchlichen Form zum Ausdruck bringt. Bei Spinoza zuerst kommt der Konflikt der neueren universalen und rationalen Denkart mit der überlieferten historischen und vielfach anthropomorphen zu vollem Ausbruch. Das Göttliche ist hier nicht ein besonderes Sein neben anderem, eine Persönlichkeit menschlicher Art, sondern es umfaßt und durchdringt die ganze Welt und wirkt an jeder Stelle aus den Dingen selbst heraus, es begünstigt auch unter den Menschen nicht die einen vor den anderen durch besondere Mitteilungen, sondern es offenbart sich in der gemeinsamen Vernunft und Natur gleichmäßig zu allen Zeiten und Orten; demnach bedarf es zur Religion keiner geschichtlichen Tatsachen und keines geschichtlichen Glaubens. Besonders hart wird der Zusammenstoß bei der Lehre von den sinnlichen Wundern; Spinoza verwirft sie nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Naturgesetze, sondern auch aus seiner religiösen Überzeugung, welche diese Ausnahmslosigkeit als einen Ausdruck der Unwandelbarkeit des göttlichen Wirkens versteht und verehrt. Mag das Volk Gott der Natur entgegensetzen und seine Macht besonders durch außergewöhnliche, der Natur scheinbar widersprechende Ereignisse bekundet finden, dem Denker bedeutet eben das Alltägliche und Durchgängige das Große und Göttliche; auch verwirft er die von alters her zur Verteidigung der Wunder aufgebotene Unterscheidung eines Übernatürlichen und eines Widernatürlichen. Denn ein Übernatürliches, das in den eigenen Bereich der Natur hineinfällt, ist eben deshalb widernatürlich, die behaupteten sinnlichen Wunder aber liegen nicht jenseits, sondern innerhalb der Natur. So beginnt nunmehr die Erschütterung der sinnlichen Wunder in der Überzeugung der Menschheit; bevor der Natur eine innere Gesetzlichkeit zuerkannt war, hatten sie nicht den mindesten Anstoß erregt, auch die radikalsten Bewegungen der Reformationszeit ließen sie unangetastet. Descartes hatte jene Gesetzlichkeit erkannt, aber entweder sah er nicht ihre Konsequenz, oder er sprach sie aus Vorsicht nicht aus.

Aber bei allem Abstand von der kirchlichen Form des Christentums fühlt Spinoza sich ihm in eben dem Punkte verwandt, der ihm selbst als der Mittelpunkt seiner Gedankenwelt gilt, in der Lehre von dem Eingehen Gottes in die Welt und der lebendigen Gegenwart des göttlichen Geistes an jeder Stelle. Wohl findet er es unverständlich, daß Gott, das ewige und unendliche Sein, menschliche Natur sollte angenommen haben, und er hält es nicht für nötig, Christus »nach dem Fleisch«, d. h. nach der geschichtlichen Erscheinung zu kennen; aber »über jenen ewigen Sohn Gottes, d. h. die ewige Weisheit Gottes, welche sich in allen Dingen, und am meisten im Menschengeist, und am allermeisten in Jesus Christus geoffenbart hat, ist ganz anders zu urteilen. Denn ohne sie kann niemand zum Stand der Seligkeit kommen, da sie allein lehrt, was wahr und falsch, gut und böse sei«. In sehr bemerkenswerter Weise wird an dieser Stelle der Menschengeist über alles andere Sein, und wird zugleich Jesus über alle anderen Menschen erhoben, während sonst der Denker ein gleichmäßiges Wirken der Gottheit im Weltall verficht. Aber Spinoza ist mehr als seine Lehren, und seine Welt ist reicher als das Netzwerk seiner Begriffe; ja vielleicht ist er nirgends größer, als wo er sich selbst widerspricht, d. h. wo die innere Notwendigkeit seines Wesens ihn über seine Lehre hinaustreibt.

 

ee. Würdigung.

Daß Spinoza einen tiefen Eindruck machte, und daß er noch immer manche Geister gewinnt, das erklärt sich zum Teil schon aus der Art, in der er seine Gedanken vorträgt. Die Darstellung hat einen sicheren Zug ins Große und Wesenhafte, ins Einfache und Schlichtmenschliche. Alle Arbeit wird von sachlicher Notwendigkeit getragen und getrieben; so sehr bindet diese die Kraft des Denkers, daß der subjektiven Stimmung und Erwägung kaum irgendwelcher Raum verbleibt, und daß auch die gewaltigsten Umwälzungen sich hier mit der Ruhe eines Naturprozesses vollziehen. Aber deshalb fehlt dem Ganzen keineswegs eine Seele, in ihm wirkt eine ausgeprägte Persönlichkeit und erwärmt durch ihre stille Gegenwart alle Begriffe und Lehren. Wohl trägt die Begriffsarbeit das schwere Rüstzeug der Wissenschaft und die Gedanken bilden geschlossene Ketten, nichts tritt hier plötzlich und unvermittelt ein, der eine Stein scheint sich sicher zum anderen zu fügen. Auf der Höhe der Arbeit aber ergeben sich große Überblicke, intuitiv erfaßte Wahrheiten, sie sind nicht nur das Beste des Ganzen, sie überzeugen zugleich am meisten. Nirgends mehr als in ihnen erscheint der Denker als ein Weiser, ein Weiser auf modernem Boden und mit modernen Mitteln. Diesem Weisen aber war ein schlichtes und stilles Heldentum beschieden, in einem entsagungsvollen Leben hatte er die Ruhe und Überlegenheit des Geistes zu bewähren, die seine wissenschaftliche Überzeugung fordert. Und er hat sie bewährt. Ein gänzliches Einswerden von Leben und Lehre gibt seinem Dasein die volle Wahrhaftigkeit, die wir ebenso freudig bei den Alten bewundern, wie bei vielen Neueren schmerzlich vermissen.

Aber Spinozas Größe ehren heißt nicht seinen Gedankengängen sklavisch folgen, ist doch bei ihm selbst das Große oft dem lehrhaften Vortrag erst abzuringen. Er verfährt mit den Problemen oft viel zu summarisch, und er schiebt bei ihrer Behandlung nicht selten unabweisbare Wahrheiten und problematische, ja falsche Behauptungen durch- und ineinander. Nur Wer von seiner Leistung zu den treibenden Kräften vordringt, kann durch alle Kritik der Lehren Spinozas hindurch in ihm einen großen Meister verehren.

Von der Größe des Weltgedankens ergriffen, sucht Spinoza alle Spaltung ihm fernzuhalten und alle Mannigfaltigkeit in ein Gesamtbild einfachster Art zu verwandeln. Gott und Welt, Seele und Körper, Denken und Wollen, sie sollen völlig geeinigt oder doch miteinander ausgeglichen werden. Hat Spinozas System solche Einigung erreicht? Etwa für den ersten Eindruck, nicht aber für eine genauere Prüfung. Welt und Gott bilden keine völlige Einheit, wenn auch nur der Schein einer Selbständigkeit der Einzelwesen gegenüber dem Alleben aufkommen kann. Dieser Schein aber beherrscht nach Spinoza den Durchschnitt der menschlichen Lage; zur Befreiung von ihm bedurfte es der Aufbietung aller Kraft des Denkens. Woher solche Macht des Scheins, wenn alle Mannigfaltigkeit innerhalb des Alllebens liegt?

Seele und Körper besagten verschiedene Seiten desselben Seins. Geistesleben und Naturprozeß sollten in vollem Gleichgewicht nebeneinander verlaufen. In Wahrheit hat Spinoza dieses Gleichgewicht nirgends erreicht, er hat entweder das Geistesleben der Natur oder die Natur dem Geistesleben untergeordnet, jenes in der Grundlegung, dieses beim Abschluß seiner Gedankenwelt. Denn dort erscheint als der Grundbestand der Wirklichkeit die Natur, die Gesetze ihres Mechanismus erweitern sich zu Gesetzen des Alls und beherrschen auch die menschliche Seele; diese bildet nur ein Bewußtwerden des körperlichen Geschehens, eine Spiegelung des Naturprozesses; das muß zum Naturalismus, ja Materialismus führen. Ganz anders beim weiteren Verlauf und im Abschluß der Ethik. Denn nur dadurch erfolgt die entscheidende Wendung und Befreiung, daß das Denken sich zu völliger Selbständigkeit über alle Natur hinaushebt und ein reines Beisichselbstsein gewinnt, von dem aus angesehen die Natur zu einer bloßen Erscheinung des Weltgrundes wird. Wo das Leben in der Anschauung Gottes seine Höhe findet, das All sich selbst erlebt, und die göttliche Liebe dem Weltprozeß eine Seele gibt, da überwiegt offenbar eine spiritualistische Denkart. So gerät dieser Versuch des Monismus bei seiner Ausführung in einen Dualismus, wie er schroffer kaum denkbar ist. Mechanismus und Mystik ineinanderschieben heißt keineswegs eine Einheit gewinnen.

Erkennen und Wollen sollten in Eins zusammengehen, indem der Willensakt gänzlich dem Erkenntnisprozeß eingefügt wird. Aber im Ansichziehen alles Lebens wird das Erkennen mehr als bloßes Erkennen. Wo die Erkenntnis die echte Selbsterhaltung des Menschen bedeutet, wo sie das ganze Sein in Tätigkeit, Freude, Liebe verwandelt, da ist sie mehr als ein bloßes Verstandeswerk, da wird sie zur Entfaltung eines tiefer gegründeten Lebens, zum Ausdruck eines reinen Beisichselbstseins des Geistes. So aber wächst aus der versuchten Lösung des Problems ein neues, schwereres Problem hervor.

Trotz solcher Unzulänglichkeit behält Spinozas Streben nach mehr Einheit und mehr Zusammenhang der Welt ein gutes Recht. Es bildet die entschiedenste Abkehr von dem scholastischen Unternehmen, die Probleme vornehmlich durch ein Abstufen und Scheiden der Begriffe zu lösen; es wirkt wie eine Rückkehr zur Wahrheit der Natur, wie ein Überwinden toter Erstarrung, wenn mehr Einheitsverlangen sich regt, wenn die verschiedenen Seiten der Wirklichkeit wieder zueinander streben, ja sich zu einem einzigen Leben zu verbinden suchen. Auch wer die besondere Lösung ablehnt, kann sich der Anregung freuen, die aus solchem Streben hervorging.

Wie sich das Weltbild nicht so glatt und einfach zusammenschließt, so ist auch die Verwandlung unseres Lebens in reine Anschauung weder so rasch erreichbar, noch allen Aufgaben unseres Daseins, gewachsen. Aber in dem Verlangen eines affektlosen Erkennens wirkt bei Spinoza ein Streben nach einem neuen Grundverhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, nach einer neuen Gestaltung des Lebens. Der Denker verwirft die überkommene Lebensführung, weil sie auch in scheinbarer Erweiterung den Menschen immer bei sich selbst, im Kreise seiner eigenen Vorstellungen, Zwecke, Gefühle beläßt; eine Versetzung in das Ganze des Alls durch echte Erkenntnis soll davon befreien, ein energischer Kampf gegen die Selbstsucht der Individuen nicht nur, sondern der gesamten Menschheit wird aufgenommen.

In solchem Streben erscheint eine neue Woge weltgeschichtlichen Lebens, ein Rückschlag gegen eine Bewegung, die bis in den Ausgang des Altertums zurückreicht und in Augustin philosophisch gipfelt. Von verzehrendem Glücksdurst getrieben und zugleich durch seine gewaltige Natur auf das Ganze der Welt gewiesen, hatte dieser alle Weite und Fülle des Daseins der Rettung und Seligkeit des Menschen untergeordnet, er hatte in Ausführung dessen allen Lebensgebieten einen leidenschaftlichen Affekt eingeflößt, alles Sein in glutvolles Wollen und Streben verwandelt. Wohl waltete dabei im tiefsten Grunde die Überzeugung, daß der Mensch nicht um sein selber willen, sondern als Glied einer geistigen und göttlichen Ordnung gehoben und erhalten werde, aber schon Augustins eigenes Ungestüm führte viel Bloßmenschliches dabei ein, und dieses hatte im Lauf der Zeit das Leben immer enger umsponnen. Die Neuzeit hat von Anfang an jene Art als ungenügend, als klein und unwahr empfunden, aber ihr Streben nach größerer Weite klärt und befestigt sich erst bei Spinoza. Nun erhellt, daß es zu einer Befreiung nicht genügt, mit der Renaissance stürmisch ins Große und Weite zu streben, sondern daß es dazu einer inneren Wandlung, der Herausarbeitung eines Weltlebens innerhalb der menschlichen Seele bedarf. Dieses Weltleben glaubt Spinoza aber im Erkennen zu finden, das bei selbständiger Entwicklung dem Menschen den Sachgehalt der Dinge zuführt und alle Selbstheit in die Unendlichkeit und Ewigkeit des Alls erlöschen läßt. Das erscheint als eine gründliche Erlösung von einengender Subjektivität und dem wirren Getriebe menschlicher Affekte und Zwecke.

Wo aber das All, das All als eine feststehende und unwandelbare Natur, so ausschließlich unser Leben erfüllt, da verschwindet nicht nur alle Willkür, sondern auch alle Freiheit, da erhebt sich zu überwältigender Größe die Macht der reinen Tatsächlichkeit, der Naturnotwendigkeit, des Schicksals. Das Altertum hatte diese Macht vollauf gewürdigt, das Christentum unternahm es getrosten Muts, die Menschheit über sie hinaus in ein Reich der Freiheit zu heben. Seine geschichtlichen Gestaltungen nahmen aber meist das Problem zu leicht, sie überflogen den Widerstand mehr als sie ihn überwanden. So dient es der Wahrheit des Lebens, wenn Spinoza wieder vollauf anerkennt, was unser Dasein an Natur und Schicksal enthält.

Dazu will auch bei dieser Wendung zur Natur Spinoza im Grunde mehr, als seine Begriffe zum Ausdruck bringen. Er sucht nicht die bloße Natur, er sucht in der Natur und hinter der Natur ein tieferes Wesen, ein wesenhaftes Leben und Sein. Nach seiner Überzeugung hat unser Handeln nur insofern Wahrheit, als wir in ihm unser Sein und Selbst erhalten; wollen wir also ein echtes Handeln, so gilt es ein Erringen eines echten Seins. Dafür aber fordert er eine Umwälzung der vorgefundenen Lage, eine Aneignung der Ewigkeit und Unendlichkeit des Alls. So macht Spinoza nicht dieses oder jenes am menschlichen Leben, sondern das Ganze dieses Lebens, den Menschen selbst zum Problem; dessen Lösung fordert einen unerbittlichen Kampf gegen alle Enge des kleinen Ich, alles gemeine Glück, das ganze Gebiet des Nutzens und der Zwecke. Durch allen Intellektualismus scheint damit eine tiefere Welt hindurch.

So wirkt Spinoza zu uns mit starken Anregungen. Aus seinem umständlichen Gedankengerüst sind sie oft aber erst herauszuheben; schon das erklärt, daß des Denkers Größe erst voll zur Geltung kam, als man ihn aus weiterer Ferne sah und ihn daher freier behandeln konnte. Dabei mußte aber die Deutung um so mehr auseinandergehen, als in Spinoza widerstreitende Gedankenreihen zusammentreffen, die eine Einheit wohl erstreben, nicht aber sie erreichen. Vielleicht enthält kein großer Denker im Grunde so schroffe Widersprüche. So kann Spinoza nur der recht schätzen, der in der Philosophie weniger ein geschlossenes Lehrsystem als eine Weiterbildung menschlichen Wesens, ein Eröffnen neuer Lebenstiefen sucht. Denn darauf angesehen, gehört Spinoza unstreitig in die Reihe der Großen.

 

γ. Locke.

Locke (1632-1704) wirkt aus völlig anderen Zusammenhängen als die übrigen Führer der Aufklärung. Ihn umwogt mit leidenschaftlicher Bewegung das Ringen seines Volkes um politische und religiöse Freiheit, er selbst nimmt dabei entschiedene Stellung und wird auch in seinem persönlichen Ergehen davon betroffen. Auch sein Denken zeigt einen starken Einfluß der gesellschaftlichen Umgebung, deren geistige Eigentümlichkeit er selbst befestigen und ausbilden hilft.

Es ist keineswegs der ganze Umfang des englischen Strebens – wie jedes große Kulturvolk, so trägt auch das englische in sich selbst eine Gegenwirkung gegen seine Durchschnittsart –, aber es ist doch die überwiegende Richtung, der Locke einen klassischen Ausdruck gibt. Diese Denkweise widerstrebt allem Hochflug der Spekulation, sie entwirft nicht eine neue Welt, sondern sie verbleibt auf dem Boden des gegebenen Daseins, über dieses will sie genau orientieren, innerhalb seiner das Leben vernünftig und glücklich gestalten. Das Augenmerk ist dabei namentlich dem Menschen und seinem Befinden zugewandt; es entspricht einer durchgängigen Überzeugung, wenn ein englischer Dichter (Pope) als das eigentliche Studium des Menschen den Menschen bezeichnet. Dabei wird das Individuum sowohl bei sich selbst als im Zusammensein mit anderen, im Aufbau der Gesellschaft betrachtet; die Seele wie die Gesellschaft von den einfachsten Elementen her zu verstehen und sie damit voll zu durchleuchten, das ist das eigentümliche Verdienst der englischen Aufklärung, ihre wissenschaftliche Stärke liegt in der Psychologie und in der Gesellschaftslehre. Die schärfere Begrenzung und genauere Durchmusterung der Erfahrung zwingt zu vielfachem Verzicht; was aber die Prüfung besteht, das wird aufgehellt und verstärkt; der Theorie schließt sich eng die Praxis an, indem die Aufklärung über unseren wahren Besitz und über unser wahres Vermögen unmittelbar zu entsprechender Gestaltung des Lebens treibt. Wohl zieht das alles dem menschlichen Leben und Wirken engere Grenzen, aber es läßt zugleich ersehen, daß innerhalb dieser Grenzen weit mehr liegt und weit mehr erreichbar ist, als bis dahin angenommen ward; recht verstanden scheint die Erfahrungswelt reich genug, um alle berechtigten Wünsche zu erfüllen. So entsteht eine eigentümliche Denkart und Lebensführung, die sich in die verschiedenen Gebiete hineinarbeitet und nicht bloß einzelne Individuen, sondern ganze Kreise gewinnt. Erst in England wurde die Aufklärung eine Macht des gemeinsamen Lebens, auch ihre weitere Entwicklung folgt dem Vorgange Englands.

Diese englische Denkweise hat aber ihren deutlichsten und wirksamsten Ausdruck in Locke gefunden. Er beginnt vom Erkenntnisproblem. Ein Streit über philosophische Fragen läßt ihn eine arge Verworrenheit unseres Wissensstandes empfinden, dieser Eindruck treibt ihn, den Ursprung, die Gewißheit, den Umfang des Erkennens von Grund aus zu untersuchen; das Werk, das daraus hervorgeht, ist der erste systematische Aufbau der Erkenntnis von der Einzelseele her. Denn den Ursprung des Erkennens untersuchen, das heißt für Locke sein Werden und Wachsen in dieser verfolgen; die Seele wiederum bedeutet nicht mehr als Bewußtsein, bewußtes Leben. So die Aufgabe verstehen – und es kommt Locke nicht in den Sinn, daß sie sich anders verstehen ließe –, das heißt zugleich über die Anlage wie über das Ergebnis der Arbeit entscheiden: es gilt hier, die einfachsten Elemente des Erkennens im Bewußtsein aufzusuchen und den allmählichen Aufbau von ihnen her Schritt für Schritt zu verfolgen, bis das Ganze durchsichtig geworden und zugleich die Grenze des menschlichen Vermögens bezeichnet ist. Das Bewußtsein bringt augenscheinlich seinen Inhalt in das Leben nicht mit, sondern es empfängt ihn erst aus der Berührung mit den Dingen; so fällt die Lehre von einem festen Stammbesitz der Vernunft, von eingeborenen Ideen; keine andere Quelle der Erkenntnis gibt es als die Erfahrung, die Erfahrung durch die Wahrnehmung äußerer Dinge oder unseres eigenen Befindens; der Geist gleicht einem weißen Blatt Papier, das erst zu beschreiben ist, oder auch einem dunklen Zimmer, in das erst durch die Sinne Licht fällt. Als Grundelement erscheinen dabei die einfachen Vorstellungen, ihre Verbindungen und Beziehungen erzeugen nach und nach verwickeltere Gebilde, auch die höchsten Leistungen des Erkennens scheinen von hier aus ableitbar. Nichts sei zugelassen, was nicht in diesem Gewebe seinen Platz aufzuweisen vermag, als ein Trugbild sei alles entfernt, was die der Arbeit durch jene Fassung gesetzte Grenze überschreitet. Ob Locke seinen Grundgedanken ohne Beimischung fremder Zutat durchgeführt habe, auch ob dieser Weg überhaupt zu einer Wahrheitserkenntnis führe, darüber läßt sich streiten; aber auch wer es bestreitet, muß anerkennen, daß diese empirisch-psychologische Behandlung mit ihrer klaren und umsichtigen Art einen neuen fruchtbaren Durchblick des Seelenlebens und des gesamten menschlichen Daseins eröffnet. Die Entwicklung des Seelenlebens vor unseren Augen lehrt besser uns selbst verstehen und unser Vermögen ermessen, das Wachstum der Einsicht aber steigert die Macht des Menschen über sich selbst und seine Umgebung.

Daß ein derartiges Wissen nicht ein Wesen der Dinge zu ergründen vermag, steht für Locke außer Frage; was die Dinge jenseits ihrer Mitteilung sind, das bleibt uns allezeit verschlossen. Aber diese Einschränkung bereitet keinen Schmerz, da den Hauptzweck des Lebens unser praktisches Ergehen und Benehmen bildet, dafür aber jenes Erkennen völlig auslangt. Wir brauchen nicht alle Dinge zu erkennen, sondern nur die, welche unser Benehmen angehen, »die eigentümliche Wissenschaft und Aufgabe des Menschen ist Moralität«; nur ein Tor wird das uns zugewiesene Kerzenlicht verachten und auf hellem Sonnenschein bestehen, wenn jenes unseren Weg zur Genüge beleuchtet.

Darin aber erscheint hier ein Widerspruch, daß grundsätzlich das Leben allen Inhalt aus der Erfahrung schöpfen soll, daß die Durchführung aber eine selbständige, aller Erfahrung überlegene Vernunft verwendet und sie mehr und mehr Boden gewinnen läßt. Zunächst gilt als das höchste Gut und Ziel das Glück im Sinne des subjektiven Wohlbefindens; so entscheidet dieses über den Wert alles Erlebens, »die Dinge sind gut oder schlecht lediglich in Beziehung auf Lust und Schmerz«. Das müßte einen gröberen oder feineren Epikureismus ergeben. Aber zugleich sieht Locke im Menschen ein Vernunftwesen, das zu innerer Selbständigkeit des Lebens berufen ist und dadurch neue Ziele und Maße empfängt; zu seiner wahren Größe wird damit das Vermögen, zugunsten der Vernunft allen bloßen Neigungen zu widerstehen; »das große Prinzip und die Begründung aller Tugend und alles Wertes liegt darin, daß der Mensch imstande ist, sich seine eigenen Wünsche zu versagen, seinen eigenen Neigungen zuwiderzuhandeln und dem allein zu folgen, was die Vernunft als das Beste vorschreibt«. Hätte nicht so in der Regel bei den englischen Denkern eine überlegene Vernunft die Erfahrung ergänzt, so hätten sie schwerlich den Abschluß und die Wirkung erreicht, womit sie uns vor Augen stehen.

Lockes Überzeugungen vom menschlichen Leben verkörpern sich aber weniger in seinen zerstreuten Äußerungen zur Moral als in seiner Gesellschaftslehre. Auch hier besitzen wir nur kleinere Abhandlungen, keine Durchbildung zum System. Aber alle Mannigfaltigkeit der Gedanken ruht auf einer eigentümlichen Grundüberzeugung, die nach der Seite der Theorie die Wurzel des modernen Liberalismus bildet.

Locke entwickelt die politische und soziale Gemeinschaft gänzlich vom Individuum her, als dem unmittelbar gegebenen und deutlich faßbaren Elemente; so den Stand der Gesellschaft vom Individuum ableiten und unablässig auf das Individuum beziehen, das heißt nach seiner Überzeugung ihn in der Sache vernünftig, in der Form aber durchsichtig machen. Die eingewurzelte Vorstellung vom Staate als einem die Individuen von vornherein umfassenden und bindenden Organismus wird als verworren und irreleitend abgelehnt. Aber das Individuum, das jetzt alle Gemeinschaft tragen soll, ist nicht das bloße Naturwesen des Hobbes, sondern die vernunftbegabte Persönlichkeit; als der Grundcharakter der Vernunft erscheint dabei ihr Vermögen, zu überlegen, selbständig zu entscheiden und der getroffenen Entscheidung treu zu bleiben. Der Begriff der Vernunft verschiebt sich damit gegen die antike Fassung. Denn dieser galt als ihr Wesen das Vermögen, allgemeine Begriffe zu bilden und ihnen gemäß zu handeln; daß jetzt an die Stelle dessen die Selbständigkeit, die Fähigkeit zu eigener Entscheidung, die Selbstregierung tritt, das bekundet den Geist einer neuen Welt.

Bei solchem Aufbau der Gemeinschaft vom Individuum her entwickelt sich mit besonderer Klarheit der moderne Begriff der Gesellschaft als einer freien Vereinigung, einer Assoziation; auch der Staat ist nicht mehr als eine Art der Gesellschaft mit übersehbaren Zwecken und scharf gezogenen Grenzen. Es hat aber der Staat zur Hauptaufgabe den Rechtsschutz der individuellen Kreise, die Sicherung ihrer Freiheit gegen alle Störung von außen her; da nun die bürgerliche Selbständigkeit namentlich an das Eigentum geknüpft scheint, so gilt bei Locke auch einfach die Sicherung des Eigentums als der Hauptzweck des Staates. Seine Aufgabe scheint damit gegen die ältere Fassung stark herabgesetzt, und man möchte schon hier jene Selbstsucht der besitzenden Klassen angebahnt finden, die später oft den Liberalismus zum Vorwand ihrer selbstischen Zwecke nahm. Aber vergessen sei nicht, daß bei dem alten und echten Liberalismus hinter dem Besitz die selbständige und tatfrohe Persönlichkeit steht und in ihm ihre Unabhängigkeit verficht. Zur vollen Kraft und Wahrheit des Lebens scheint es hier nötig, die Grenzen des Staates eng zu ziehen und möglichst viel der Freiheit des Einzelnen zu überlassen. So der mit Hilfe angelsächsischer Volksart zu voller Bewußtheit gelangte Rechts- und Freiheitsstaat der Aufklärung, sehr verschieden von dem Macht- und Kulturstaat der Renaissance, ein Staat vornehmlich des aufsteigenden Mittelstandes.

Ein solcher Rechts- und Freiheitsstaat hat sich gegenüber dem vorgefundenen Stande freie Bahn erst zu schaffen, die politische Lehre hilft dabei durch ein Prüfen und Sichten der überkommenen Lage. Sie beugt sich nicht dem bloßen Tatbestand, sie anerkennt nicht eine Gewalt, bloß weil sie die Macht besitzt, sondern sie verlangt eine Begründung vor der Vernunft; nur was hier sein Recht erwiesen hat und zugleich vom Menschen anerkannt ist, darf ihn innerlich binden. Ein Recht aber läßt sich nicht anders begründen als durch die Leistung in der lebendigen Gegenwart; so bemesse sich nach dem Grade der Leistung die Stellung der Individuen in der Gemeinschaft. Demnach kann keine Autorität gegenüber der Vernunft bestehen; selbst die väterliche Gewalt stammt nicht aus einer dunklen Naturordnung, sondern aus dem tatsächlichen Wirken für das noch hilflose Kind. Diese Denkweise hat keinen Platz für eine patriarchalische Herrschergewalt oder für ein Königtum von Gottes Gnaden, auch das Königtum hat sein Recht durch seine Leistung zu erweisen. Einer Begründung bedarf auch das Eigentum, es findet sie in der Arbeit; Wer zuerst einen Gegenstand in Besitz nahm und Tätigkeit an ihn wandte, der darf ihn dauernd behalten und als sich gehörig betrachten. Auch der ökonomische Wert der Dinge bemißt sich nach dem Quantum der Arbeit, das ihre Besitznahme oder Herstellung fordert; im Fortschritt der Kultur tritt mehr und mehr der bloße Stoff vor dem zurück, was die menschliche Arbeit durch Formgebung aus ihm macht. So wird hier die Wendung des modernen Menschen zur Technik und Industrie philosophisch eingeleitet.

Eine strenge Durchführung dieses Verlangens, alle politischen und sozialen Verhältnisse von den Individuen her zu entwickeln und jedem Einzelnen seine Stellung genau nach der Leistung, der sichtbaren und wirksamen Leistung, zuzumessen, würde den gesuchten Vernunft- und Rechtsstaat mit dem geschichtlich überkommenen unversöhnlich zusammenstoßen lassen; bei völliger Austreibung alles geschichtlichen Bestandes, aller Tradition, Vererbung usw. wäre schwerlich eine Wendung revolutionärer Art zu vermeiden. Aber von solcher Strenge und Schroffheit ist Locke weit entfernt, stillschweigend wird das überkommene Grundgefüge der Gesellschaft als vernünftig angenommen, nur im Näheren der Gestaltung scheint manches fallen, anderes sich ändern zu müssen. Vernunft und Geschichte sind hier noch nicht wie in einer späteren Phase der Aufklärung schroff miteinander entzweit; so bedarf es hier nur einer Reform, nicht einer Revolution.

Auch sondert Locke das Individuum nicht völlig ab, indem er es selbständig macht. Denn nur zusammen mit den anderen, nur als ein Glied der Gesellschaft kann es seine Vernunft entwickeln und volles Glück erreichen. Ja die Macht der sozialen Umgebung wird hier in einem Umfange anerkannt wie kaum je zuvor; neben das göttliche und das bürgerliche Gesetz stellt Locke als ein drittes das der öffentlichen Meinung, indem er diese als einen sicheren Bürgen der Vernunft betrachtet. Auch für die moralische Bildung ist das Urteil der Mitmenschen, ihre Billigung oder Verwerfung, von größter Bedeutung, die Erweckung des rechten Ehrgefühls bildet das Hauptmittel der moralischen Erziehung, »Reputation kommt der Tugend am nächsten«. So erhält – das ist bezeichnend für das englische Leben überhaupt – die politische Freiheit ein Gegengewicht an einer gesellschaftlichen Bindung; dieser Zwang ist minder greifbar, aber mit seinem unsichtbaren Wirken leicht stärker als alles Gesetz, da die politische Freiheit doch nur eine Art der Freiheit ist.

Von den einzelnen Gebieten hat Locke am meisten das der Erziehung gefördert. Eine vernunftgemäße Unterrichtsmethode hatten vor ihm schon Ratjen (Ratichius) und Comenius verfochten. Aber die neue Art wirkte bisher mehr innerhalb des alten Stoffes, als daß sie ihren Stoff sich selbst bereitete und die lebendige Gegenwart dafür heranzog. Dies aber ist es, was bei Locke geschieht. Freilich entwirft er nur Umrisse und zieht auch nicht die äußersten Konsequenzen. Aber die Anregung brauchte nur aufgenommen und weiterentwickelt zu werden, um zu Rousseau zu führen.

Es ist eine eigentümliche Art der Aufklärung, die uns bei Locke begegnet. Wie sie die Vernunft nicht als eine selbständige Macht dem Dasein entgegentreten und von sich aus messen, sondern nur innerhalb seiner und an der Hand der Erfahrung wirken läßt, so erfolgt auch die Gestaltung des Lebens innerhalb eines abgesteckten Raumes. Ein Ermitteln der einfachen Kräfte und eine Ableitung alles Geschehens und Handelns aus ihnen läßt eine völlige Wendung des Lebens zum Guten erwarten. Daß diese Kräfte die Richtung zur Vernunft einschlagen, wird dabei vorausgesetzt; ohne einen starken Optimismus, ohne ein Zurückschieben aller seelischen Verwicklung kommt diese Lebensanschauung nicht aus. Zugleich entbehrt sie der inneren Einheit. Zunächst erwartet sie alles Heil von aufklärender Denkarbeit, aber diese wird unablässig durch den Befund des geschichtlichen Lebens ergänzt, eingeschränkt, umgebogen. Der logischen Konsequenz wird ausgewichen, wo sie mit diesem Befunde schroff zusammenstößt und eine radikale Umwälzung fordert; die Schätzung des unmittelbaren Eindrucks und ein praktischer Menschenverstand nehmen den Begriffen alle verletzende Schärfe. Zwiespältig wie das Verfahren ist auch der Inhalt der Lehren. Das Leben soll aus dem nächsten Zusammensein der Dinge, d. h. der Erfahrung, seinen ganzen Inhalt schöpfen, aber unvermerkt wird an wichtigsten Stellen eine der Erfahrung überlegene Vernunft zur Hilfe gerufen, ohne daß je ein Versuch gemacht wird, diese zu rechtfertigen und ihr Vermögen gegen die Erfahrung abzugrenzen. So schieben sich eine empiristische und eine rationale, eine realistische und eine idealistische Ansicht unablässig ineinander; bald wiegt die eine, bald die andere vor. Solche maßgebende Stellung des wissenschaftlich nicht geklärten Eindrucks macht Lockes Philosophie in höherem Grade zu einer Popularphilosophie als die irgendeines anderen führenden Denkers und gefährdet die Selbständigkeit des philosophischen Lebensbildes gegenüber dem des Alltags. Das Denken und Leben wird hier auf einer mittleren Höhe festgelegt, die gegenüber niederen Stufen schätzbar ist, und die auch in der geschichtlichen Lage viel zu leisten vermochte, die aber insofern zur Gefahr wird und Schaden stiftet, als sie die angenommenen Grenzen als endgültig behandelt und sehr angreifbare Lösungen wissenschaftlicher und staatlicher Fragen als selbstverständlich gibt. Unanfechtbar aber bleibt die Fruchtbarkeit des von Locke gebotenen Durchblicks der Wirklichkeit, unanfechtbar der männliche Ernst, die schlichte Wahrhaftigkeit, die lautere Gesinnung, die seine Werke bekunden, folgenreich auch die stärkere Wendung zum menschlichen Dasein und Befinden, welche mit dieser Gedankenwelt einsetzt.

 

δ. Leibniz.

aa. Der Charakter seiner Denkweise.

Mit Leibniz (1646-1716) tritt Deutschland in die Bewegung der Aufklärung ein und erweist dabei sofort eine sehr eigentümliche Art. Auf der Höhe des deutschen Wesens erscheint eine erstaunliche Weite und Universalität, die alles festhalten, nichts verwerfen möchte, ein energischer Zug zum System, der alles zusammenfügt und einen einmal ergriffenen Gedanken auch gegen den härtesten Widerspruch durchsetzt, ein Ausgehen vom Innern der Seele und ein Streben, von hier aus alle Weite aufzuhellen; in dem allen ein kühnes Vordringen und eine gründliche Umwandlung des nächsten Befundes, aber auch manche Gefahr: die Gefahr eines Mitschleppens toten Ballastes und eines Versöhnenwollens auch des Unversöhnlichen, die Gefahr, den unmittelbaren Eindruck zu überspringen und sich ins Pfadlose zu verlaufen, die Gefahr endlich einer eigenwilligen, sich in sich selbst vergrübelnden Subjektivität. Wo es aber diese Gefahren zu überwinden gelingt, da entstehen Schöpfungen allerersten Ranges, die den Gehalt des menschlichen Lebens aufs wesentlichste erhöhen.

Nirgends erreicht die Aufklärung eine solche Weite, nirgends ergreift sie so sehr den inneren Bestand der Dinge, nirgends strebt sie so sehr nach systematischer Durchbildung wie bei Leibniz. Wenn sie sich zugleich von der Enge einer bloßen Opposition befreit, vielmehr alle Mannigfaltigkeit an sich zu ziehen und alle Gegensätze zu umspannen sucht, so wird sie auch dem überkommenen Lebensbefunde volle Gerechtigkeit erweisen wollen, so wird sie Altes und Neues einer einzigen Gedankenwelt einzufügen streben. Gewiß liegen große Gefahren auf diesem Wege, leicht mag statt einer wirklichen Ausgleichung ein bloßer Kompromiß entstehen, leicht das Verlangen nach Verständigung das Eigentümliche der verschiedenen Behauptungen von vornherein schwächen, leicht das Streben, es allen anderen recht zu machen, der eigenen Art unrecht tun. Auch sei nicht geleugnet, daß in Leibniz ein Stück von höfischem Wesen steckt, eine Neigung, allen Anstoß zu vermeiden, die Dinge möglichst glatt, bequem, gefällig darzustellen. Aber darüber sei nicht vergessen, daß jenes Versöhnungsstreben die Aufgabe im großen Sinne faßt, und daß es bei Leibniz aus einer zwingenden Notwendigkeit seines innersten Wesens entsprang: die beiden Welten, die er vereinigen wollte, waren Stücke seines eigenen Lebens; entzückte ihn einerseits die neue mathematische und naturwissenschaftliche Bewegung und trieb ihn zu rastloser Arbeit, so kann auch seine ehrliche Anhänglichkeit an die überkommene sittlich-religiöse Welt und seine innere Zugehörigkeit zu ihr nur verkennen, wer ihn nach fremden Maßstäben mißt. Er hat sich die Aufgabe nicht künstlich bereitet, sondern sie zur Rettung der Einheit seines eigenen Wesens, zu seiner geistigen Selbsterhaltung aufnehmen müssen. Daher hat alles Bedenken gegen Unternehmen und Ausführung die persönliche Wahrhaftigkeit, die Ehrlichkeit des Mannes unangetastet zu lassen.

Auch das erhebt die Sache weit über die gewöhnliche Schwächlichkeit bloßer Kompromisse mit ihrer Verdunklung der Probleme, daß der Gesinnung eine durch und durch eigentümliche Arbeitsweise entspricht, welche neue Wege zu den Gründen der Wirklichkeit einschlägt. Den Schlüssel zu dieser Arbeitsweise bildet die Mathematik oder vielmehr die mathematische Art zu denken. Die Bedeutung, welche die Mathematik für die Gedankenwelt und auch für die Lebensanschauung der Aufklärung von vornherein hatte, erreicht bei Leibniz ihren höchsten Gipfel. Von Anfang an hatte jene kräftig dahin gewirkt, die Aufklärung in die ihr eigentümliche Bahn zu bringen und einen Hauptpunkt ihres Strebens zu stärken. Die Überzeugung von einem geistigen Stammbesitz der Erkenntnis, von einem Innewohnen ewiger und allgemeiner Wahrheiten in der Seele, sie scheint hier allem Zweifel enthoben; ja über den Besitz von einzelnen Wahrheiten hinaus zeigt hier die Seele ein Vermögen, von sich aus ein zusammenhängendes Gedankenreich aufzubringen. Im Aufbau dieses Reiches bekundet sich ein Verfahren, das nicht wie die scholastische Logik einen gegebenen Stoff nur immer von neuem durcharbeitet, sondern das ihn unablässig zu erweitern, neue und neue Einblicke in die Wirklichkeit zu eröffnen verspricht. Im mathematischen Aufbau erweist sich das Danken augenscheinlich als eine schaffende Kraft. Dabei bildet dies von innen aufsteigende Gedankenreich nicht ein Sondergebiet neben der großen Welt, vielmehr bilden die Wahrheiten der Mathematik zugleich die Grundgesetze der Natur; so verbindet die Mathematik in fruchtbarem Wirken geistige Tätigkeit und Außenwelt, sie gibt dem Denken das stolze Bewußtsein, in sich selbst den Schlüssel zum All zu tragen und im eigenen Leben unmittelbar das Weltleben zu erfassen. Die Bejahung enthält dabei eine zwiefache Verneinung, eine Verneinung aller blinden Unterwerfung unter bloße Überlieferung und Autorität, eine Verneinung aber auch alles Naturalismus und Materialismus; ein solcher wird in der Wurzel gebrochen, wo die Mathematik die Dinge durch die Formen des Denkens hindurch sehen lehrt. Nichts hat die Denkarbeit so sehr auf sich selbst zu stehen gewöhnt und mit so freudigem Selbstvertrauen erfüllt als die Mathematik.

Alle diese Überzeugungen werden von Leibniz willig aufgenommen und gemäß der Eigentümlichkeit seiner Natur kräftig weitergeführt. Stets sei gegenwärtig, daß er in der Mathematik eher zu selbständiger und großer Leistung gelangt ist als in der Philosophie, daß im besonderen die Erfindung der Differentialrechnung der Schöpfung seines philosophischen Systems vorangeht. So erfüllt und durchdringt ihn schon ganz und gar der Gedanke des Kleinen, Virtuellen, Fließenden, als er an den Aufbau seiner philosophischen Überzeugung geht. Von solchem Ausgangspunkt her treibt es ihn zwingend die bisherige Weltansicht zu verfeinern, alles flüssig zu machen, was bisher als starr erschien. Was uns vor Augen liegt, ist nicht das Ganze; dahinter steckt das Mögliche, die aufstrebende Kraft; nur von der Möglichkeit her, aus dem Zusammentreffen von Möglichkeiten klärt sich der Tatbestand auf; so ist die Möglichkeit in den Begriff der Wirklichkeit aufzunehmen und damit dieser Begriff aufs wesentlichste zu erweitern. Solche Anerkennung der Möglichkeit scheint einen starren Druck vom Menschen zu nehmen und den Spielraum der Bewegung unermeßlich zu erweitern. Dazu das Kleine, die Unendlichkeit des Kleinen, deren Entdeckung Leibniz besonders erfreut. Wohl folgt er hier einem Zuge der gesamten modernen Forschung, aber er führt ihn viel weiter als die anderen, indem er ihn über alle Erfahrung hinaus ins Metaphysische hebt und aus solcher Überlegenheit der Erfahrung hohe Ziele vorhalten läßt. Aber soweit es möglich, scheint ihm auch eine erfahrungsmäßige Bestätigung des Unendlichkleinen erbracht, erbracht durch die eben eröffnete Welt des Mikroskops und namentlich durch die Entdeckungen Leeuwenhoeks; so wird zuversichtlich alle Grenze der Teilung und auch der Organisation des Stoffes verneint. Hinter jedem Körper steckt wieder ein anderer und anderer, wie beim Harlekin hinter jedem Gewande ein neues; warum sollte die Grenze, unserer Wahrnehmung die Grenze der Wirklichkeit sein? – Mit dem Gedanken der unendlichen Kleinheit verflicht sich aber aufs engste der einer durchgängigen Verschiedenheit der Dinge; nirgends wiederholt sich die Natur, nirgends gibt es zwei gleiche Dinge, zwei gleiche Fälle; nur ein flüchtiger Anblick von außen her kann eine völlige Gleichheit zu gewahren meinen, in Wahrheit ist die vermeintliche Gleichheit nur eine geringe, äußersten Falls eine im Verschwinden befindliche Verschiedenheit.

Wie an dieser Stelle ein scheinbarer Gegensatz sich in einen Unterschied des Grades auflöst, so ist die mathematisch geartete Denkweise Leibnizens überall bestrebt, scheinbare Gegensätze in Stufen zu verwandeln und die qualitative Betrachtung durch eine quantitative zu ersetzen. Durch den Begriff des Unendlichkleinen, des im Verschwinden Befindlichen wird diese schon von Kepler angebahnte Betrachtungsweise einer kräftigeren Durchführung fähig. Auch das scheinbar Unversöhnliche wird in dieser Weise zusammengebracht. So gilt z. B. die Ruhe als eine nach stetiger Verringerung verschwindende Bewegung, auch die Gegensätze von Gut und Böse, von Wahr und Falsch werden in ähnlicher Weise behandelt. Demnach wird aus dieser Gedankenwelt alle Starrheit und Abstoßung verbannt, alles wird flüssig und verträgt einander, die Idee einer Kontinuität alles Seins und alles Lebens gewinnt damit eine Anschaulichkeit und Eindringlichkeit wie nie zuvor, so daß Leibniz mit gutem Grunde das Gesetz der Kontinuität als seine Entdeckung behandeln darf. Nunmehr scheint es auch möglich zu werden, die sinnliche Natur und die geistige Welt einer einzigen Reihe einzufügen, eine durchgehende Stufenfolge zu erkennen, bei der sich auch das einem einzigen Alleben einfügt und zueinander strebt, was für den ersten Anblick einander fremd, ja feindlich gegenübersteht. Fürwahr ein kühner, aber auch großer Gedanke, ein Gedanke im Stil des Barock. Ob er ausführbar ist, das ist eine andere Frage; gewiß machen Leibnizens Darlegungen oft mehr den Eindruck eines erstaunlichen Kunststücks, eines virtuosen Gedankenspiels als den einfacher und überzeugender Wahrheit. Aber die Bedeutung jener Verfeinerung und Flüssigmachung überschreitet weit die besondere Art der Verwendung, jene ist ein Hauptstück der Bewegung des modernen Lebens.

 

bb. Das Weltbild.

Das Weltbild Leibnizens hat seine Anknüpfung bei Descartes, dessen Lösung des Problems aber konnte ihn unmöglich befriedigen. Sie konnte das nicht, weil es ihn von der Spaltung zwischen Welt und Seele zwingend zur Einheit drängte, sie konnte es auch deshalb nicht, weil beider Begriffe ihm viel zu roh, viel zu wenig durchgearbeitet schienen. Dem von der Mathematik aus Gewöhnten, die Welt von den Formen des Denkens her zu betrachten, hatte die Materie von vornherein ihre sinnliche Handfestigkeit verloren, der Philosoph der Bewegung und des Kleinen mußte die kleinen Körper, aus denen die mechanische Lehre die Natur verstand, weiter zerlegen und bis auf einen Punkt selbständigen Lebens führen. So dringt er über die physischen Elemente hinaus zu metaphysischen vor, zu lebendigen Einheiten, »Monaden«. Keinerlei Sein kann es geben, das nicht eine »immanente« Tätigkeit, ein Beisichselbstsein besitzt. So bilden innere Kräfte, seelenartige Wesen, den Grundbestand aller Wirklichkeit; die sinnliche Welt steht nicht gleichwertig neben einer unsinnlichen, sondern die ganze Natur wird ein »wohlbegründetes Phänomen«, eine Erscheinung des unsinnlichen Alls für uns endliche Geister, die wir die Wirklichkeit nicht von innen her zu durchschauen und zugleich zusammenzuhalten vermögen; eine vollkommene Intelligenz würde gar keine Außenwelt neben sich haben. Von hier aus erscheint unser Körper als ein Aggregat von Seelen, ein Aggregat, dessen Zentralmonade die Seele bildet, welche gewöhnlich allein diesen Namen trägt. Das eröffnet eine neue Lösung des Problems von Seele und Körper, von Geistesleben und Natur; nicht als gleichwirklich liegen sie nebeneinander, sondern sie verhalten sich wie Wesen und Erscheinung. Leibniz schwankt oft bei der näheren Ausführung, und er gewährt der Körperwelt oft mehr Bestand, als sie streng genommen bei ihm haben dürfte. Aber ein eigentümlicher Typus des Weltbildes erhält sich dabei: die Natur bleibt in ihrem Gebiete völlig ungestört und folgt ihren eigenen Gesetzen, aber als Ganzes ruht sie auf einer wesenhafteren Ordnung, und alles Naturgeschehen mit seinem Mechanismus dient schließlich den Zwecken des Geistes. Dies Weltbild widerspricht dem unmittelbaren Eindruck zu schroff, um je volkstümlich zu werden, vornehme und scharfsinnige Geister hat es immer von neuem angezogen.

Auch das Geschehen stellt sich bei solcher Verstärkung der Innerlichkeit sehr eigentümlich dar. Der Austausch von Wirkungen, die Wechselwirkung, von der älteren Denkweise ohne Anstoß hingenommen, war der Aufklärung durch die schärfere Scheidung von Seele und Körper ein überschweres Problem geworden; in seiner Behandlung geht wie Spinoza so auch Leibniz einen eigenen Weg. Sind die Elemente der Wirklichkeit, die Monaden, bei sich selbst befindliche Wesen, so können sie nichts anderes erleben als sich selbst, ihr eigenes Befinden; unmöglich können sie Einflüsse von draußen her empfangen, da sie keine Fenster haben, durch welche die Dinge hineinkommen könnten, und auch keine leere Tafel sind, die eine fremde Hand beschreiben möchte. Vielmehr kann alle Bewegung bei ihnen nur von innen heraus erfolgen, ihre Entwicklung kann nichts anderes als Selbstentwicklung sein. Da nun die Grundkraft des Seelenlebens Vorstellen ist, d. h. nach Leibniz Konzentrieren einer Vielheit in einer Einheit, so ist alle Lebensbewegung Vorstellen, Entfalten eines Gedankenreiches, aller Fortschritt eine wachsende Klärung und Überwindung der anfänglichen Verworrenheit.

So die Begriffe von der Wirklichkeit verwandeln kann die Monadenlehre nicht, ohne ein schweres, anscheinend unlösbares Problem zu erzeugen. Jedes Wesen erlebt nur sich selbst, es entwickelt allen Gehalt aus seinem eigenen Grunde. Aber zugleich heißt Leben die Welt um uns vergegenwärtigen, die Seele zum Spiegel des Alls gestalten. Wie kann nun etwas, das sich rein bei sich selbst befindet, zugleich die Welt darstellen, wie das Seelenleben Weltleben sein, wie mein Denken der Welt um mich entsprechen? Das ist ein kritischer Punkt, aber nirgends mehr als an ihm erhebt Leibnizens logische Phantasie sich zu kühnem Aufschwung und stolzer Zuversicht. Es gibt eine Möglichkeit, daß das Innere lediglich bei sich selbst verläuft und doch der großen Welt entspricht: eine höhere Macht, welche die Seele wie das All beherrscht, müßte von vornherein alles so bereitet haben, daß jede Monade aus ihrer eigenen Entwicklung genau das als Vorstellung erzeugt, was draußen in Wirklichkeit vorgeht; die Uhren müßten so geschickt von dem großen Künstler verfertigt sein, daß sie, ohne einen physischen Zusammenhang oder eine Regulierung von draußen her, immer zusammenstimmen. So muß z. B. dem Bild der Sonne, das von innen aufsteigt, der wirkliche Stand der Sonne genau entsprechen. Diese schwindelnde Hypothese verwandelt sich für Leibniz rasch in eine zuversichtliche Behauptung, jene vielbesprochene Lehre von der »prästabilierten Harmonie«; eben in ihrer Kühnheit dünkt sie ihm das großartigste und damit würdigste Bild von Gott wie vom All.

Wir anderen finden diese Annahme wohl weniger großartig als gekünstelt. Aber unleugbar hat die Monadenlehre an wichtigen Punkten zur Erweiterung der Gedankenwelt gewirkt. So vornehmlich beim Begriff der Seele. Eine Welt in sich tragen und aus sich entwickeln könnte die Seele unmöglich, wäre sie nicht mehr als bloßes Bewußtsein; so ist über dieses hinauszugehen und auch ein unterbewußtes Seelenleben anzuerkennen; jede genauere Selbstbeobachtung erweist nach Leibniz ein solches, indem sie das Vorstellen und das Wahrnehmen der Vorstellung als verschiedene Vorgänge zeigt. Auch entstehen oft Sinnesempfindungen durch eine Summierung kleiner Eindrücke, die als einzelne uns entgehen. Wären sie aber für uns gar nicht vorhanden, so könnte auch ihre Summe nicht zum Bewußtsein gelangen, wir könnten z. B. das leise Rauschen des Meeres nicht hören, weil die kleinen Wellen, die es bewirken, einzeln nicht wahrnehmbar sind. So erleben und sind wir fortwährend viel mehr, als unser Bewußtsein zeigt, das Seelenleben verläuft in unzähligen Vorstellungen, die tausendfache Verwebungen bilden, sein Boden ist nicht leer, sondern voll kleiner, erst aufstrebender Vorstellungen, das Bewußtsein bildet nur den Gipfel eines Geschehens, das in unergründliche Tiefen hinabreicht.

Diese Entdeckung des Unterbewußten wird eine Hauptstütze der leibnizischen Lehre von der allgemeinen Verbreitung des Seelenlebens. Denn nun ergibt sich die Möglichkeit verschiedener Stufen der Konzentration, verschiedener Grade des Vorstellens von trübster Verworrenheit bis zu vollkommener Deutlichkeit. Indem das seelische Reich eine fortlaufende Kette bildet und gemeinsamen Gesetzen folgt, gewinnt es zugleich freien Raum für mannigfachste Unterschiede, namentlich für eine ausgezeichnete Stellung des Menschen. Er allein besitzt ein Selbstbewußtsein, eine überlegene Einheit, welche die einzelnen Vorgänge zu überblicken und miteinander zu verbinden gestattet; erst das ergibt eine moralische, nicht bloß physische Identität, eine Persönlichkeit, und zugleich eine Verantwortlichkeit, ein freies Handeln, eine sittliche Welt. Auch wächst hier die Unzerstörbarkeit der Monaden zu einer individuellen Unsterblichkeit. So erhält der Mensch eine selbständige Bedeutung ohne den Zusammenhang mit dem All zu verlieren; der Natur eng verbunden, wird er zugleich über sie weit hinausgehoben. So wenig wir den Mittelpunkt des Ganzen bilden, wir können kraft unserer Vernunft wie kleine Götter den Weltbaumeister nachahmen und als freie Bürger das Gesamtwohl fördern. Der Mensch ist »nicht ein Teil, sondern ein Ebenbild der Göttlichkeit, eine Darstellung des Universums, ein Bürger des Gottesstaates«. »In unserem Selbstwesen steckt eine Unendlichkeit, ein Fußstapf, ein Ebenbild der Allwissenheit und Allmacht Gottes.«

Die Erweiterung der Seele zu einer von unendlichem Leben erfüllten Welt gewährt auch eine sichere Waffe gegen die Ableitung des Erkennens aus bloßer Erfahrung. Nun wird begreiflich, wie die Seele etwas besitzen kann, ohne es von draußen empfangen zu haben, und wie die Menschen trotz aller Spaltung ihrer Meinungen gemeinsame Hauptrichtungen und Grundsätze des Denkens und Handelns befolgen können. In jeder vernünftigen Seele liegt ein Schatz von ewigen und allgemeinen Wahrheiten; ihn zu vollem Besitze herauszuarbeiten, ist Sache der Wissenschaft. Auch das Glück vertieft sich mit dem Hinauswachsen des Seelenlebens über das bloße Bewußtsein; »wer glückselig ist, empfindet zwar seine Freude nicht alle Augenblicke, denn er ruhet bisweilen vom Nachdenken, wendet auch gemeiniglich seine Gedanken auf anständige Geschäfte. Es ist aber genug, daß er imstande ist, die Freude zu empfinden, so oft er daran denken will, und daß inzwischen daraus eine Freudigkeit in seinem Tun und Wesen entstehet.«

Alle solche Steigerung des menschlichen Seins bedeutet für Leibniz zugleich eine Erhöhung des Individuums. Denn wie jedes einzelne Ding seine unterscheidende Eigentümlichkeit hat, so ist auch der Mensch keineswegs ein bloßes Exemplar seiner Gattung. Wohl spiegeln wir alle dasselbe All nach denselben. Gesetzen, aber ein jeder spiegelt es in seiner besonderen Weise, oder, wie Leibniz mit moderner Wendung im Anschluß an die Lehre von der Perspektive sagt: jeder betrachtet das Universum aus seinem eigentümlichen Gesichtspunkt. Aber zugleich umfängt uns eine gemeinsame Wahrheit. Leibniz hat den mittelalterlichen Ausdruck Individualität ( individualitas) der modernen Welt zugeführt, er spricht das Wort, daß die Individualität die Unendlichkeit in sich trägt ( l'individualité enveloppe l'infini).

So wird unser Wesen bei Leibniz beträchtlich verstärkt und vertieft. Aber es bedeutet ihm keinen fertigen Besitz, sondern eine große Aufgabe, die unermeßliche Arbeit fordert. Die Tiefe des eigenen Wesens ist erst zu erringen und aus einem Schlummerstande zu erwecken; da es dabei eine Unendlichkeit anzueignen gilt, so ist ein endloser Fortgang nötig. Diesen Fortschritt denkt sich Leibniz, gemäß seiner Überzeugung von der Kontinuität alles Seins und Geschehens, als einen langsamen, aber stetigen; Lücken, Sprünge oder Rückschritte gibt es hier nicht. Auch was uns eine plötzliche Umwälzung scheint, wurde in Wahrheit lange vorbereitet; alle scheinbare Hemmung oder Zurückwerfung ist nur ein Sammeln der Kraft zu neuer Leistung. Auch gibt es hier kein radikales Böses, keine Notwendigkeit einer völligen Umwälzung, vielmehr besteht das sittliche Leben in allmählicher Besserung, einem langsamen Sichvervollkommnen ( se perfectionner). Sich entwickeln heißt hier ein schon vorhandenes Wesen nur mehr und mehr entfalten, es ist Steigerung, keine Umwälzung. So beim Individuum, so auch beim Ganzen der Geschichte. Hier zuerst erscheint eine klar durchdachte Philosophie der Geschichte, dieses Romans der Menschheit nach Leibnizens Ausdruck. Das Vergangene läßt sich von der Gegenwart aus verstehen, weil im Grunde überall dasselbe geschieht ( c'est tout comme ici), und doch sind die Zeiten verschieden, weil es in verschiedenem Grade geschieht. Alle Epochen verbinden sich hier zu einer fortlaufenden Kette, einem gemeinsamen Aufbau; sicher und fest liegt die Gegenwart zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, sie »ist mit der Vergangenheit beladen und schwanger mit der Zukunft«. Wohl ist das Vermögen des Augenblicks eng begrenzt, und es kann kein stürmischer Anlauf die Ziele rasch erreichen. Aber auch die kleinste Leistung bildet einen unentbehrlichen Stein zum Bau der Zeiten, von unserer Arbeit geht nichts verloren. Die Idee eines unablässigen Fortschritts samt dem festen Vertrauen auf eine bessere Zukunft, dies Hauptstück der modernen Gedankenwelt, sie ist nirgends so sehr wie bei Leibniz von innen her und aus Weltzusammenhängen begründet. Zugleich überwindet eine solche Aufdeckung einer Vernunft der Geschichte die Kluft, welche sich der Aufklärung zwischen Denken und Geschichte eröffnet hatte, und es leitet diese Anerkennung der Geschichte fruchtbare Bewegungen ein.

Mit solcher Annahme eines stetigen Fortschritts gestaltet sich das Handeln zu emsiger Arbeit, der Lebensdrang beruhigt und klärt sich gegenüber der Renaissance, ohne an Kraft zu verlieren. Auch das Erkennen, der Kern des Seelenlebens, verändert seine Art: es ist weder das heroische Ringen mit dem All wie in der Renaissance noch die ruhige Anschauung eines Spinoza, es wird ein unermüdliches Wirken zur Klärung in alle Weite und Breite, ein Zerlegen und Durchleuchten alles überkommenen Bestandes, ein Begründen aller bloßen Tatsächlichkeit, ein Aufhellen auch der letzten Axiome, in dem allen eine unermeßliche Erweiterung des Gedankenreiches. Der volleren Bewußtheit des Lebens entspricht ein kräftigeres Wirken, das Denken drängt nicht nur stärker zum Handeln nach außen, auch bei sich selbst entwickelt es mehr den Charakter zwecktätigen Handelns. Unablässig sinnt und grübelt Leibniz über Verbesserungen der menschlichen Lage drinnen und draußen an der Hand des Erkennens. Er möchte durch neue Methoden unser Denken, Schließen, Gedächtnis usw. fördern, auch eine Universalsprache schaffen, er erfindet eine Rechenmaschine, aber zugleich beschäftigt ihn die Verbesserung des Hausgeräts, der Reisewagen usw. Mit besonderem Eifer wirkt er für den Zusammenschluß der wissenschaftlichen Arbeit in den Akademien. Nichts ist so groß, daß es ihn abschreckte, nichts so klein, daß es ihn gleichgültig ließe, alles Wahrnehmen eines Problems reizt ihn zu neuen Gedanken und Forderungen. Der Zug der Aufklärung zur Nützlichkeit prägt sich nirgends deutlicher aus als in seinem Wesen und Wirken.

Als Ganzes betrachtet mag das alles mit seinem Eifer und seiner Betriebsamkeit dem Streben Spinozas nach Ewigkeit und nach Einheit weit unterlegen scheinen. Aber Leibniz geht keineswegs in die bloße Bewegung und Vielheit auf, er sucht diese in der Einheit und Ewigkeit zu verankern. Nur solche Begründung des endlichen Seins in einem unendlichen rechtfertigt die ihm eigentümlichen Lehren von einem durchgehenden Zusammenhange der Welt, von der Gleichartigkeit alles Seins, von der Übereinstimmung des Innenlebens mit dem All; es fehlt selbst, wie namentlich die deutschen Schriften zeigen, nicht an einer Annäherung an die Innigkeit der Mystik und ihre Verkündung einer unmittelbaren Gegenwart Gottes in unserer Seele. Solcher Gesinnung entsprang das Wort: »Gott ist das Leichteste und Schwerste, so zu erkennen, das Erste und Leichteste in dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens.«

Daher verkennt den Denker gröblich, wer seine Bejahung der. Religion als bloße Schmiegsamkeit gegen die kirchlichen Ordnungen versteht. Vielmehr ruht bei ihm, wie überhaupt bei der älteren Aufklärung, alles Vertrauen zur menschlichen Vernunft auf der Überzeugung von ihrer Begründung in einer göttlichen, nur eine solche führt uns ewige Wahrheiten zu, an denen der Wert unseres Lebens und Strebens hängt; meint Leibniz doch, die ganze Erde könne »unserer wahren Vollkommenheit nicht dienen, es sei denn, daß sie uns Gelegenheit gibt, ewige und allgemeine Wahrheiten zu finden, so in allen Weltkugeln, ja in allen Zeiten und, mit einem Wort, bei Gott selbst gelten müssen, von dem sie auch beständig herfließen«. Diese Überzeugung schützt Leibniz bei aller Beweglichkeit seines Geistes vor einem zerstörenden Relativismus; wohl läßt er jedes Individuum die Welt aus einem eigenen Gesichtspunkt sehen, aber das letzte und feste Maß bildet auch ihm eine absolute, die göttliche Betrachtung der Dinge.

 

cc. Die Versöhnung von Religion und Philosophie.

Bedarf das Denken so sehr für sich selbst einer Begründung in Gott, so kann es nicht befremden, daß Leibniz auch eine Verbindung seiner Philosophie mit dem Christentum sucht; er konnte hoffen, dadurch zugleich die Wissenschaft zu befestigen und die überkommene Religion, die er schon als eine geschichtliche Tatsache ehrte, zu vollerer Wirkung zu bringen. Denn wie ihm alles Leben in der deutlichen Erkenntnis gipfelt, so hat diese auch die Religion zu vollenden; die Liebe zu Gott, ihr Kern, muß auf dem Erkennen Gottes ruhen, um die rechte und erleuchtete zu werden; »man kann Gott nicht lieben, ohne seine Vollkommenheiten zu erkennen«. Nur das macht die Religion zur Überzeugung und Gesinnung des ganzen Menschen; ein Glaube ohne Einsicht bleibt ein bloßes Hinnehmen und Hersagen, ein religiöses Gefühlsleben aber lohne eine Leitung der Vernunft wird leicht verworren und überspannt. So erscheint das Erkennen als der einzige Weg, der Religion die Seele ganz zu gewinnen; es schließt nicht andere seelische Betätigungen aus, namentlich nicht das Gefühl, sondern es bildet die Vollendung des gesamten Lebens. In solcher Gesinnung konnte sich Leibniz, und nach seinem Vorbilde der ältere deutsche Rationalismus, mit dem Christentum in vollem Einklang fühlen, das hier als die »reinste und aufgeklärteste« Religion, als die Religion des Geistes galt. Christus, so meint er, machte die Religion der Weisen zur Religion der Völker, er erhob die natürliche Religion zum Gesetze, er lehrte, die Gottheit solle nicht nur Gegenstand unserer Furcht und Verehrung, sondern auch unserer Liebe und Hingebung sein.

Christlichen Glauben und philosophische Einsicht auszugleichen, mochte von hier aus Leibniz keine allzu schwere Aufgabe dünken. Seine Philosophie brachte dem Christentum manches entgegen: die Begründung des Weltzusammenhanges auf göttlicher Weisheit und Macht, die Verwandlung aller Wirklichkeit in Seelenleben, die hervorragende Stellung des Menschen, die Hochschätzung moralischer Werte. Das alles schloß sich mit dem Christentum des Denkers leicht und freundlich zusammen. Denn dieses war mehr eine spiritualistisch-moralische Weltanschauung als eine Bewegung zu seelischer Umwälzung und neuem Aufbau. Es sind vornehmlich zwei Punkte, von deren Sicherung der Denker eine volle Versöhnung zwischen philosophischer Lehre und religiöser Überzeugung erwartet: die Freiheit des Willens, als die Grundbedingung einer moralischen Ordnung, und die Vernunft der Wirklichkeit, als der Ausdruck und Erweis einer göttlichen Weltregierung.

Die Behandlung des Willensproblems ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie sehr ein Denker den Charakter seiner eigenen Lehre verkennen kann. Leibniz bekämpft den Determinismus, er will ein freies Handeln erweisen und glaubt es dargetan; in Wahrheit läßt seine Verwandlung des ganzen Seelenlebens in einen intellektuellen Mechanismus der Freiheit nicht den mindesten Raum. Denn wenn es heißt, daß alles Handeln aus der eigenen tätigen Natur entspringt, und daß es nicht gleichförmigen Gesetzen folgt, sondern durchgängig eine unvergleichliche Art des Individuums bekundet, wenn ferner als Eigentümliches des Menschen ein Handeln aus einer der Mannigfaltigkeit überlegenen Einheit gilt, so ist in dem allen wohl der Determinismus verfeinert, nicht aber Freiheit gewonnen.

Auch die Lehre von der besten Welt ist bei allen glänzenden Gedanken und feinen Bemerkungen wertvoller als das Bekenntnis einer Epoche aufsteigenden Lebenstriebes und freudigen Lebensgefühls denn als philosophische Leistung; überzeugen konnte sie nur den, der im Grunde schon überzeugt war. Optimistisch ist schon die Schätzung des Tatbestandes.. Leibniz leugnet keineswegs viel Unvollkommenheit, Schlechtigkeit, Schmerz in der Welt, er anerkennt ein metaphysisches, moralisches, physisches Übel. Aber so groß sind die Übel nicht, wie sie verstimmten und mißmutigen Seelen dünken, die überall Schlechtigkeit wittern und auch die edelsten Handlungen herabzuziehen geneigt sind. Auch bei uns Menschen pflegen die Güter die Übel zu überwiegen, wie es mehr Wohnhäuser als Gefängnisse gibt. In Tugend und Laster aber waltet ein gewisses Mittelmaß; selten sind Heilige, aber auch Schurken sind selten. Als Ganzes betrachtet, ist das Böse nicht sowohl ein eigenes Reich als eine Nebenerscheinung des Weltlaufs. Aber auch derart eingeschränkt bleibt es ein bedenklicher Einwand gegen die Begründung der Welt in Gott; eine tieferdringende Betrachtung müßte zeigen, daß diese Welt mit dem Bösen besser ist, als eine Welt ohne alles Böse sein würde. Einen solchen Beweis unternimmt vornehmlich die Theodizee, die Gesprächen mit der geistvollen Königin Sophie Charlotte ihren Ursprung verdankt.

Zur richtigen Antwort gehört vor allem, die Frage an der rechten Stelle, das heißt aber nicht vom Teile her – und auch die gesamte Menschheit bedeutet nur einen Teil des Alls –, sondern vom Ganzen her aufzunehmen; vielleicht ergeht es dann der Philosophie wie der Astronomie, der sich unser Planetensystem aus einem wirren Chaos in eitel Ordnung verwandelt hat, seit Kopernikus sie lehrte »das Auge in die Sonne zu stellen«. – Als Werk des allmächtigen und allgütigen Geistes muß die Welt die beste unter allen möglichen Welten sein; von den unzähligen Möglichkeiten, die nebeneinander ausgebreitet vor seinem Verstande lagen, hat sein Wille die beste in Wirklichkeit gerufen. Daß die Welt sich in Wahrheit so ausnimmt, hat Leibniz weniger direkt erwiesen, als durch die Widerlegung von Einwänden glaublich zu machen gesucht. Er erstrebt dabei ein allen besonderen Eigenschaften überlegenes Wertmaß und findet es im Begriff der Vollkommenheit, d. h. des tätigen Seins, der lebendigen Kraft; von hier aus angesehen, erscheint die Welt als die beste, denn sie ist das System der größten Kraftentwicklung. So zeigt es die Natur, indem sie überall die einfachsten Mittel verwendet und die kürzesten Wege einschlägt, auch indem ihre Regeln sich am wenigsten gegenseitig beschränken; so zeigt es auch das Seelenleben mit der Aufrufung des Menschen zu eigener Entscheidung und rastloser Mitarbeit am Weltprozeß. Werden dem die Hemmungen entgegengehalten, welche jedes Leben zu erfahren pflegt, so sei erwidert, daß es nicht auf die Einzelnen, sondern auf das Ganze ankommt; das Beste im Ganzen ist nicht das Beste an jeder Stelle; wie das Brettspiel die einzelnen Steine sich nur so weit betätigen läßt, als der Plan des Ganzen gestattet, so muß sich auch in der Wirklichkeit des Lebens das Individuum dem Ganzen unterordnen. Wenn die Frage nicht sowohl auf das an der einzelnen Stelle Mögliche ( le possible) als auf das zusammen Mögliche ( le compossible) geht, so kann sehr wohl Geringeres zusammengefügt mehr ergeben als die Verbindung von Größerem. »Ein geringes Ding zu einem geringen gesetzet kann oft etwas besseres zuweg bringen als die Zusammensetzung zweier anderer, deren jedes an sich selbst edler als jedes von jenen. Hierin steckt das Geheimnis der Gnadenwahl und Auflösung des Knotens.« Auch das Böse vermag Leibnizens mathematisch-quantitative Denkweise dieser Betrachtung einzufügen. Aus dem Bösen kann ganz wohl ein größeres Gut, wenn nicht für den Handelnden selbst, so doch für andere entspringen, und es kann damit die Summe des Guten wachsen. War die Größe des römischen Staates möglich ohne die Greuel, welche den Sturz des Königtums bewirkten? Wenn wir nicht den unmittelbaren Eindruck entscheiden lassen, sondern die Ereignisse in ihre Folgen und ihre Zusammenhänge begleiten, so wird sicher die Vernünftigkeit des Ganzen zutage treten. In dem, was wir durchschauen, erscheint so viel Vernunft, daß wir getrost die Äußerung des Sokrates über Heraklit auf das Weltall anwenden dürfen: »Was ich verstehe, gefällt mir; ich glaube, das Übrige würde mir nicht minder gefallen, wenn ich es verstünde«. Jene Lebensfülle des Alls aber kann der Mensch kraft seines Denkens miterleben und darüber alle Schäden seiner besonderen Lage vergessen. So hoch erhebt uns die wahre Erkenntnis, »gleich als ob wir aus den Sternen herab die Dinge unter unseren Füßen sehen könnten«. Dazu kommt der unaufhörliche Fortschritt der Weltentwicklung sowie die. Zugehörigkeit der Seele zu einer ewigen Ordnung. »Tut man aber noch hinzu, daß die Seele nicht vergehet, ja daß eine jede Vollkommenheit in ihr bestehen und Frucht bringen muß, so sieht man erst recht, wie die wahre Glückseligkeit, so aus Weisheit und Tugend entstehet, ganz überschwänglich und unermeßlich sei über alles, was man sich davon einbilden möchte.«

Einwendungen gegen diese Gedankengänge liegen auf der Hand. Leibniz entwirft Möglichkeiten und glaubt sie gesichert, wenn sie nicht zwingend widerlegbar sind; in Wahrheit hat mehr als die Forschung ein Glaube, ein starker Lebensglaube, ihm die Möglichkeiten in Wirklichkeiten verwandelt.

 

Leibniz ist bedeutend durch tausendfache Anregungen, er ist noch bedeutender durch die großen Züge seines Strebens, die nur der schulmäßigen Formulierung entwunden zu werden brauchten, um das Bekenntnis unserer klassischen Literaturepoche zu werden. Ihr freudiger Lebensglaube, ihre Hochhaltung der Persönlichkeit und Individualität als eines selbständigen Weltenkeimes, ihr felsenfestes Vertrauen auf einen unablässigen Fortschritt, sie weisen auf ihn zurück. Die nähere Gestaltung seines Werkes reizt allerdings vielfach zu Widerspruch, auch kommt sie in Wahrheit zu anderen Zielen, als das Bewußtsein des Denkers wollte. Dieses ist von dem Streben erfüllt, Natur und Geistesleben, physische und moralische Welt in das rechte Verhältnis zu bringen. Die Natur soll ihrem näheren Bestande nach aus sich selbst erklärt, als Ganzes aber auf das Geistesleben gegründet und seinen Zwecken unterworfen werden. Aber die Durchführung ergibt das Gegenteil der Absicht: die Naturbegriffe dringen in das Geistesleben ein und bezwingen innerlich eben das, dem sie dienen sollten. Indem das Seelenleben zum Kern aller Wirklichkeit wird, verwandelt es sich in ein bloßes Vorstellungsgetriebe, wie schon die hier, übliche Vergleichung mit einem Uhrwerke zeigt; indem die quantitative Betrachtung mit zäher Energie von der Natur auf den Geist übertragen wird, und selbst Gut und Böse, Wahr und Falsch sich in Unterschiede eines Mehr oder Minder verwandeln, droht die neue Metaphysik eine bloß erweiterte Physik zu werden, wie auch der allesbeherrschende Wertbegriff der Kraftsteigerung die moralischen Werte einer dynamischen Schätzung unterordnet. Wohl der schlimmste Widerspruch aber ist der, daß Leibniz auf einem Fürsichsein des Seelenlebens mit allem Nachdruck besteht und dabei dem Fürsichsein keinen anderen Inhalt zu geben weiß als ein Abspiegeln, ein Erkennen einer draußen befindlichen Welt; wird damit nicht die Innerlichkeit wieder aufgehoben oder doch völliger Leere ausgeliefert?

So ist es wiederum die Überspannung des Intellektualismus, welche zwingend über ihn hinaustreibt; erst als das spätere deutsche Leben dem Streben eine breitere Grundlage gab, konnte das Fruchtbare in Leibniz zu voller Wirkung gelangen. Auch die Verschmelzung von Altem und Neuem, deren nähere Gestaltung oft zum Widerspruch reizt, ist bedeutend und folgenreich durch die Weite ihres Gesichtskreises und ihr Hinausstreben über die Starrheit der Gegensätze; wer immer eine Stetigkeit der geschichtlichen Bewegung schätzt, der wird etwas Großes darin sehen, daß Leibnizens unermüdliches Wirken die alte Art mit ruhiger Umsicht in eine neue übergeleitet, damit nicht nur der deutschen Aufklärung einen eigentümlichen Charakter aufgeprägt, sondern überhaupt das deutsche Leben vor schroffer Umwälzung und enger Verneinung bewahrt hat. So bleiben wir seiner Lebensarbeit auch da zu Dank verpflichtet, wo wir seine Formulierungen ablehnen müssen.

 

ε. Vico und die Italiener.

Vico (1668-1744), der heute mehr gelobt als gelesen wird, steht der Renaissance und ihrem Platonismus näher als der Aufklärung. Aber er empfängt von dieser starke Einflüsse, und in Zusammenfassung der verschiedenen Anregungen erringt er der modernen Arbeit ein bisher von ihr wenig berührtes Gebiet, schafft er eine Philosophie der Geschichte. Er konnte mit Recht von einer neuen Wissenschaft reden, wenn er in seinem Hauptwerk die gemeinsame Natur der Völker untersuchte und von ihr aus Grundformen entwickelte, in denen sich alle menschliche Geschichte bewege. Er entwirft eine »ewige ideale Geschichte«, nach welcher »in der Zeit die Geschichte aller Völker in Ursprung, Fortschritt, Blüte, Verfall und Ende abläuft«. Daß er allen Völkern einen gemeinsamen Sinn für das Wahre und dieselbe Stufenfolge der Bewegung eingepflanzt denkt, das zerstört die bisher übliche Ableitung aller Mannigfaltigkeit von einem einzigen Urvolk und macht eine Übereinstimmung auch ohne äußeren Zusammenhang verständlich, das verstärkt die Bedeutung des sozialen Zusammenhanges und läßt in den großen geistigen Werken nicht sowohl Leistungen der Individuen als Erweisungen eigentümlicher gesellschaftlicher Lagen sehen. Das führte Vico z. B. zur Leugnung der geschichtlichen Existenz Homers; dieser galt ihm als ein »heroischer Charakter griechischer Menschen, insofern sie als Sänger ihre Geschichten erzählten«. Damit entsteht schon hier eine gewisse Völkerpsychologie, und es wird mit besonderer Liebe die Sprache als ein Ausdruck des geistigen Standes der Völker behandelt; sie läßt frühere Zustände der Menschheit erkennen, die sonst unzugänglich sind, ein Gedanke, den übrigens auch schon Leibniz geäußert hatte; auch redet Vico kraft seines Glaubens an eine gemeinsame Natur aller Völker von einem »geistigen Wörterbuch«, das allen Sprachen gemeinsam sei. Vico begnügt sich nicht mit dem allgemeinen Gedanken einer allen Menschen innewohnenden Vernunft, er sucht die Bezeugung dieser Vernunft, in besonderen Handlungsweisen, die allen Völkern von jeher gemeinsam sind, er findet solche in der Religion, der Ehe, der Totenbestattung. Daß Vico die Geschichte in eine göttliche, eine heroische, eine menschliche Epoche zerlegt, ist an sich nicht neu, aber der alte Gedanke wirkt mit neuer Kraft, indem er sich mit großer Energie in alle einzelnen Lebensgebiete hineinarbeitet, in die Staatsverfassung, das Recht, die Sprache usw. Weiter aber läßt Vico das innere Leben der Völker eine gleiche Stufenfolge durchlaufen: »die Natur der Völker ist zuerst roh, dann streng, darauf mild, hernach weichlich, endlich zügellos.« Da jener Ablauf sich in der Geschichte zu wiederholen vermag, so kann Vico von einer Wiederkehr der menschlichen Dinge und von einer Auferstehung der Nationen reden, während er keine Fortbewegung der gesamten Menschheit kennt.

Zur Durchführung seiner Ideen hat Vico unermeßlichen Stoff zusammengetragen, und wenn dabei die kritische Sichtung recht unvollkommen bleibt, so ist eine Fülle fruchtbarer Anregungen von hier ausgegangen, und es ist das Ganze durch die Kraft seiner Überzeugung wie durch die Geschlossenheit seiner Ideen einer starken Wirkung fähig, wie sie eine solche in Wahrheit geübt hat. Nie zuvor waren die menschlichen Dinge so sehr von ihrem geschichtlichen Werden her verstanden worden wie bei diesem Manne, der sagen konnte: »Natur der Dinge heißt nichts anderes als Entstehen derselben in gewissen Zeiten und in gewissen Weisen, wegen welcher jederzeit, da sie so sind, wie sie sind, die Dinge so und nicht anders entstehen.«

An regem philosophischen Leben hat es in Italien auch nach Vico nicht gefehlt, vielmehr hat dieses begabte und bewegliche Volk alle Wandlungen des europäischen Lebens mit eifriger Teilnahme begleitet und von sich aus vielfach gefördert. Aber so viele tüchtige und sympathische Persönlichkeiten dabei erschienen – es genügt, an Männer wie Rosmini und Gioberti zu erinnern –, die eigene Leistung bietet weniger neue Wege als Synthesen überkommener Gedankenwelten. Dabei erscheinen wichtige, der ganzen Menschheit wertvolle Züge: so wird die Religion ohne einen schroffen Bruch mit der Vergangenheit dem modernen Leben und der Innerlichkeit der Seele näher zu bringen gesucht, und dabei oft eine wundervolle Schlichtheit des Ausdrucks erreicht; so gewinnt das Schöne nach Inhalt und Form mehr Kraft und Anschaulichkeit als bei den anderen modernen Völkern, in immer neuer Wendung erscheint hier der Geist der Renaissance; aber bei aller Schätzung dessen möchten wir meinen, daß das Volk eines Dante, eines Leonardo, eines Galilei sein letztes Wort in der Philosophie noch nicht gesprochen hat; es wird es freilich nur sprechen können, wenn es sich von der moralischen Unlauterkeit befreit, in die eine wortbrüchige Politik es verstrickt hat. Wo Treue ein leeres Wort ist, da kann keine Tiefe entstehen.

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c. Der Verlauf der Aufklärung.
Shaftesbury und A. Smith.

Das 18. Jahrhundert findet auch heute noch vielfache Ungunst. Die Aufmerksamkeit haftet oft ausschließlich an dem, was das 19. Jahrhundert ihm entgegenhält; auch hat man ein zu enges Bild von der Aufklärung und betrachtet jene Zeit auch zu sehr als von bloßer Aufklärung eingenommen, während auch die Renaissance in ihr fortwirkt und eine der Aufklärung fremde Freude am Schönen gegenwärtig hält. Die Aufklärung selbst verdankt dem 18. Jahrhundert viel, erst hier wird sie völlig durchgebildet, in alle Verzweigung des Lebens eingeführt, über das Ganze der Kulturwelt verbreitet. Die Last der Vergangenheit gerät jetzt voll in Bewegung; was im überkommenen Befunde einer Belebung und Verjüngung widersteht, wird unerbittlich bekämpft. Auf allen Gebieten weicht die übernatürliche und transzendente Ansicht einer natürlichen und immanenten, so in der Religion, der Ethik, der Staats- und Wirtschaftslehre, der Philosophie der Geschichte, der Kunsttheorie. Überwiegend beseelt ein Glaube an die Kraft und die Güte der Natur die menschliche Arbeit und gibt dem Handeln eine stolze Zuversicht; der Widerstand der nächsten Lage wirkt weniger zur Entmutigung als zur vollen Anspannung eigenen Vermögens.

Die Gesamtrichtung vollzieht eine Wendung vom Weltall zum Menschen; alle Befassung mit Weltproblemen und vornehmlich mit der Metaphysik begegnet wachsendem Widerwillen, während der Seelenstand wie das Zusammenleben des Menschen in Geschichte und Gesellschaft das Denken und Sinnen beherrscht; der Mensch will vor allem sich selbst verstehen, seine Stellung zur Umgebung bemessen, seine Verhältnisse denkend erwägen; glänzend entwickelt sich hier eine psychologische Zergliederungskunst und gibt namentlich der Moral wie der Kunst eine neue Beleuchtung. Die Staatstheorien pflegen das Individuum vor die Gesellschaft zu stellen und von seinem Vermögen wie seiner Gesinnung alles Heil zu erwarten; nicht minder steht hier vor aller geschichtlichen Überlieferung eine zeitüberlegene, auf sich selbst gegründete Vernunft und übt an jener schärfste Kritik. Die Grenze einer derartigen Lebensgestaltung kommt der Zeit noch nicht zum Bewußtsein, sie fühlt sich ihrer Ziele so sicher, sie fühlt sich so voll Kraft und Lebensmut, wie kaum eine frühere Zeit.

Die Spitze der Aufklärung bildet im 18. Jahrhundert England. Das 17. Jahrhundert mit seinen leidenschaftlichen politischen und religiösen Kämpfen hatte hier weit mehr die Geister erweckt, und seit der Thronbesteigung des Oraniers kam die Aufklärung zu freiester und breitester Entfaltung. Eine Zeit stieg auf, von der Berkeley sagen konnte: »Denken ist das große Verlangen der Zeit.« Alle Fragen des menschlichen Befindens werden eifrig erörtert, die vielfache Verwendung des Dialogs bald zur Polemik, bald zur Popularisierung bekundet eine starke Erregung der Gemüter, eine neue Literatur gemeinnütziger Zeitschriften schießt auf, die wachsende Bedeutung des Individuums und der Beziehungen von Mensch zu Mensch spiegelt sich im modernen Roman, der zuerst die umgebenden Verhältnisse getreu zu schildern sucht; überall ein Zurückgehen auf die seelischen Wurzeln unseres Daseins, sowie ein ehrliches und emsiges Streben nach Klärung der Überzeugungen und nach Verbesserung der gemeinsamen Lage; in dem allen gewinnt das unmittelbare Dasein an Wert und beschäftigt den Menschen stärker. Es hat dabei diese Kultur einen ausgesprochen bürgerlichen und schlichten Charakter im Gegensatz zur prunkvollen Art, die vom Hofe Ludwigs XIV. ausging.

Die Bewegung ergreift mit umwandelnder Kraft auch die Moral und die Religion. Gemeinsam ist allen modernen Bestrebungen dabei die Abweisung der bloßen Autorität und die Wendung zu eigner Einsicht und Überzeugung, gemeinsam auch die Abneigung gegen das Übernatürliche und das Aufsuchen der Ziele und Kräfte in unserer eignen Natur. Die Wissenschaft hat vornehmlich die elementaren Gefühle freizulegen, deren richtige Nutzung und Lenkung einen moralischen Stand herbeiführt. Man findet aber die Moral vornehmlich in dem Wirken für die menschliche Gesellschaft, seinen Antrieb soll das Handeln dabei nicht aus einer gehofften Belohnung, sondern aus der ihm innewohnenden Freude schöpfen. Auch das bekundet das Selbstgefühl des freien Mannes, der seinen Schwerpunkt in sich selber sucht. Auch die Kunsttheorie steht in reicher Entwicklung, sie vollzieht einen folgenreichen Übergang von überkommener verstandesmäßiger Form zum unmittelbaren Gefühlseindruck, sie hat damit stark auch nach Deutschland gewirkt.

Im näheren ist die Art wie die Höhenlage der Leistungen recht verschieden. Den Durchschnittsstand überschreitet, am weitesten Shaftesbury (1671-1713), der griechische Geist unter den englischen Denkern. Die Renaissance wirkt wohl namentlich von Giordano Bruno her in ihm mächtig fort, aber die Aufklärung hat ihr Ungestüm gemildert und ihre Kraft mehr ins Schlichtmenschliche gewandt; das Ganze, das daraus hervorgeht, vermag mit seiner Frische und seiner Wärme, seiner edlen Denkart und seinem Schönheitssinn immer noch anzuziehen. Shaftesburys Gedankenarbeit kämpft nach zwei verschiedenen Richtungen hin, sie verwirft ebenso entschieden einen Materialismus, Sensualismus und Hedonismus, wie eine vom Gedanken eines Jenseits erfüllte und vornehmlich die Gegensätze des Daseins hervorkehrende Religion. Eine künstlerische Begeisterung macht ihn zum Anhänger eines Panentheismus, der das Göttliche innerhalb der Welt sucht, es als eine die ganze Wirklichkeit durchdringende, belebende, gestaltende Macht versteht. Verkehrt dünkt es ihm, die Menschen dadurch zum Glauben an eine bessere Welt bekehren zu wollen, daß man ihnen die vorhandene schlecht darstellt; in Wahrheit führt zur Anerkennung höchster Weisheit, Güte und Schönheit vornehmlich die Ordnung und das Ebenmaß, die durch alle Dinge gehen und auch unserer Seele eingeprägt sind. Wie er als die Haupteigenschaft Gottes nicht die Macht, sondern die Güte betrachtet, so fordert er auch in der Religion eine Wendung von der herkömmlichen gedrückten und trübseligen Stimmung zu einer frohen und tapferen; nicht Einschüchterung und Sklavensinn, sondern Kraft und Selbständigkeit soll jene dem Menschen bringen. Er findet Gott in der menschlichen Seele gegenwärtig und wirksam, er sieht zugleich in der Natur Leben und Schönheit in reichster Fülle ausgegossen und auch durch Gegensätze hindurch alle Mannigfaltigkeit zu einer Einheit verbunden. So dichtet er begeisterte Hymnen auf die Natur, sieht in der Sonne ein herrliches Ebenbild des allmächtigen Gottes und schildert mit Anmut und Wärme den Eindruck der Natur auf das menschliche Gemüt. Daß ihn dabei auch die unberührte Natur mit ihrer Einsamkeit anzieht, die Majestät des Gebirges und das tiefe Schweigen des Waldes, überhaupt die erhabene Schönheit, welche eine Art von Melancholie erweckt, das macht ihn zu einem Vorläufer Rousseaus und seines romantischen Naturgefühls.

Für das menschliche Leben aber wird zum Hauptziel innere Selbständigkeit, ein eigenes Schaffen des Glücks, ein Handeln nicht eines Lohnes, sondern der Freude am Schönen wegen; in solchem Handeln wird der Mensch aller bloßen Lust überlegen; »was unseren Geist befriedigt, der Vernunft und dem Verstande angenehm ist, das sollte man nicht Lust nennen«. Auch die Seele stimmt sich zur Harmonie, wenn die selbstischen Neigungen sich den sozialen unterordnen, und eine Güte des Herzens das Wohl des Menschengeschlechts zur eigenen Freude macht. Fern liegt hier der Gedanke eines der Handlung folgenden Lohnes, als schön und harmonisch trägt alles echte Handeln seine Befriedigung in sich selbst. Alles zusammen ergibt einen vom kirchlichen Christentum weit abweichenden Lebenstypus, der aber einen idealen und religiösen Charakter festhält; der immanente Idealismus unserer deutschen Klassiker, die Weltanschauung eines Herder und eines Goethe, wird hier schon in ihren Hauptzügen entworfen; so bildet Shaftesbury ein wertvolles Bindeglied zwischen der Renaissance und der Höhe des deutschen Geisteslebens.

Zunächst freilich wird im 18. Jahrhundert die Breite des Lebens von jenem künstlerischen Idealismus wenig berührt; das Streben der Aufklärung nach Klarheit und Nützlichkeit bleibt in entschiedenem Übergewicht. So erscheint es namentlich in der Religion, bei der die Modernen zunächst das Widervernünftige, bald aber alles Übernatürliche bekämpfen; schließlich bildet den einzigen Inhalt der Religion die Moral, die Ausübung der Tugend dünkt der allein wahre Gottesdienst. Daß der Mensch solcher Ausübung fähig sei, daran läßt ein schwellendes Kraftgefühl jene Zeit nicht im mindesten zweifeln. Oft sinkt ein solcher Optimismus zu arger Verflachung, zu starker Erniedrigung der Maße des Lebens. Ein Adam Smith findet das Glück weit verbreiteter als das Unglück: »man wird, die Erde im Durchschnitt genommen, für einen Menschen, der Schmerz und Elend erduldet, zwanzig in Glück und Freude oder doch erträglichen Verhältnissen finden«. »Gesund, ohne Schuld und reines Gewissens« zu sein, das enthält nach ihm alles Wesentliche des Glücks; dieser Stand aber, so meint er, ist bei allem Leide der Welt der natürliche und gewöhnliche des Menschen, der Stand der Mehrzahl!

Aber nach solchen flachen Stellen sei nicht der ganze, in der Feinheit psychologischer Analyse und in der unbestechlichen Schätzung menschlicher Dinge hervorragende Adam Smith und noch weniger das Ganze der englischen Aufklärung beurteilt. Sie zuerst hat damit begonnen, die Moral wie die Religion auf die eigene Natur des Menschen zu gründen, sie hat damit manchen neuen Durchblick eröffnet wie neue Aufgaben gestellt, sie hat das menschliche Seelenleben in alle Verzweigung verfolgt, sie hat den Menschen größer von sich und seinem Vermögen denken gelehrt und ihn stark in Bewegung gesetzt. Eine Fülle verschiedener Individualitäten steht dabei nebeneinander und behandelt die Fragen von den verschiedensten Seiten her; im Ganzen der Bewegung aber vollzieht sich mehr und mehr eine Wendung vom reflektierenden Verstand zum unmittelbaren Eindruck und Gefühl, und es bereitet sich damit eine Auflösung der Aufklärung vor. Mochte diese englische Leistung mit ihrer psychologischen oder sozialen Behandlung der Fragen die Tiefe der Sache nicht erschöpfen, mochte sie zu sehr am bloßen Menschen hängen, die hier eingeschlagene Bahn, ließ sich weiter und weiter verfolgen, sie hat den deutschen Idealismus zu hohen Zielen geführt.

Das bedeutendste und geschlossenste Werk der englischen Aufklärung ist die Wirtschaftsphilosophie des Adam Smith (1723-1790). indem es auf seinem besonderen Gebiet die Ideen der Aufklärung zu reinem, ja klassischem Ausdruck bringt, entwickelt es zugleich eine Überzeugung vom Ganzen des Lebens und Tuns, und macht es damit das wirtschaftliche Gebiet zum erstenmal zum Beherrscher aller Arbeit; hier zuerst wird unser ganzes Dasein unter den Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Lebens gestellt, wie sonst unter den der Religion, der Kunst und der Wissenschaft. Das besagt eine so folgenreiche Wendung und wirkt so mächtig bis in die Gegenwart hinein, daß eine nähere Darlegung hier zwingend geboten ist.

In Smith erlangt die wirtschaftliche Theorie der Aufklärung den reinsten Ausdruck und einen systematischen Abschluß. Die ältere Lehre, wie sie vom Altertum durch das Mittelalter bis in die Neuzeit reicht, gewährte dem wirtschaftlichen Gebiet keine Selbständigkeit, sondern unterwarf es unmittelbar der Moral; sie faßte es auch nicht in ein Ganzes zusammen, sondern zersplitterte es in lauter einzelne Erscheinungen. Die Voraussetzungen dieser Lehre zeigte mit voller Klarheit namentlich Aristoteles. Diese Voraussetzungen hat das moderne Leben erschüttert und zerstört. Indem die äußeren Güter von sich aus Kräfte erwecken und die Bewegung weitertreiben, werden sie aus bloßen Mitteln zu einem Hauptstück des Lebens; auch wird das Mühen um sie durch den Zusammenschluß der Völker zu wirtschaftlichen Gruppen veredelt. Schon die Renaissance hat hier eine Umwälzung angebahnt, die namentlich im Frankreich des 17. Jahrhunderts große Leistungen hervorrief und im Lauf der Zeit auch eigentümliche Theorien erzeugte. Merkantilisten wie Physiokraten suchten das ganze Gebiet eigentümlichen Leitgedanken zu unterwerfen, sie gewannen damit neue Durchblicke und übten auch auf die Praxis einen großen Einfluß. So standen die wirtschaftlichen Probleme schon sehr im Vordergrunde und erzeugten viel Bewegung. Aber alles bisherige Werk wird übertroffen von A. Smith, die Geschlossenheit seiner Art hat stark auch auf die Lebensanschauung gewirkt.

Smith beginnt mit der Tatsache der Arbeitsteilung. Diese entspringt nicht der Weisheit des Menschen, sondern seinem natürlichen Hange zum Tausch, sie hat den Trieb, aus sich selbst ins Ungemessene zu wachsen. Indem sie jedes besondere Werk geschickter verrichten lehrt, viel Zeit erspart, auch zur Erfindung von Gerätschaften und Maschinen treibt, steigert sie unermeßlich die wirtschaftliche Leistung und zugleich den Wohlstand wie das Wohlbefinden; sie vornehmlich hat vom Natur- zum Kulturstande geführt. Die Teilung aber ergibt keine Zerstreuung, sondern eine engere gegenseitige Bindung der einzelnen Glieder; jeder einzelne kann nämlich nur bestehen und gedeihen, sofern er den anderen etwas ihnen Wertvolles bietet, er muß daher irgendwo derartiges leisten und empfängt damit den stärksten Antrieb, seine Kräfte voll anzuspannen und zweckmäßig zu verwerten. Was aber für ihn zweckmäßig sei, das kann er, dessen Wohl, ja Bestehen im Lebenskampf auf dem Spiele steht, besser beurteilen als irgend ein Fremder. Im Zusammenleben wird das Verhältnis von Nachfrage und Angebot alles aufs beste regeln; wo ein Bedürfnis entsteht, dahin werden bald Kräfte strömen, wo hingegen Überfluß, von dort werden sie bald fortströmen; je freier die Bewegung, desto rascher verläuft dieser Vorgang, die ungehemmte Konkurrenz bildet die stärkste Triebkraft der Arbeit. Einer Überwachung durch den Staat oder durch Korporationen bedarf es nicht, da die wirksamste Kontrolle der Arbeit die Kunden besorgen; ja alles Eingreifen des Staates, sei es zur Förderung, sei es zur Hemmung wirtschaftlicher Vorgänge, ist unter normalen Verhältnissen schädlich. Denn jede künstliche Leitung lenkt, die Kräfte aus ihrer natürlichen Bahn, verzögert ihren Lauf, verringert ihre Leistung. Monopole und Privilegien mögen das Wohlsein einzelner Klassen fördern, den gesamten Volkskörper schädigen sie. Seinem Gedeihen entspricht allein das »naheliegende und einfache System der natürlichen Freiheit«, das jedem gestattet, das eigene Interesse auf eigenem Wege zu verfolgen ( pursue his own interest his own way). Wiederum ist es der Gedanke der Selbständigkeit des freien Mannes, der das Leben und Handeln beseelt; selbst den Kampf auf sich zu nehmen und mit seinen Gefahren zu ringen, das ist reiz- und freudvoller als durch fremde Fürsorge sicher gebettet zu sein. Zum Kampf aber gehört notwendig das Recht einer völlig freien Bewegung, die Individuen müssen den Ort wie den Zweig der Arbeit nach Belieben wählen und wechseln können. Vielfache Reibungen und Mißstände werden dabei nicht fehlen, aber die freie Bewegung vermag am ehesten alle Schäden zu heilen und einen jeden zu seinem Glücke zu führen.

Indem aber die Einzelnen alle Kraft für ihr eigenes Wohl aufbieten, fährt zugleich das Ganze am besten; denn da nur ein Mehr der Leistung den Einzelnen weiterführt und die Konkurrenz die einen gegen die anderen anspornt, so wird der Gesamtstand unablässig wachsen, er muß es mit Sicherheit, so gewiß unwandelbare Naturtriebe die Bewegung tragen und treiben. So entsteht ein großer Gewinn auch für das Ganze, ohne daß die Handelnden ihn erstrebten, Zweckmäßiges wird ohne Zweckgedanken erreicht, eine Lehre, die Darwin bekanntlich auf die Natur übertrug. Jedoch wäre Spaltung und Zwietracht unvermeidlich, bestünde nicht eine Gemeinschaft der Interessen der verschiedenen Klassen und Berufe, und nützte nicht der Gewinn des einen schließlich auch den anderen. Daß aber dies geschieht, davon ist Smith fest überzeugt; ihm steht außer Zweifel, daß die wirtschaftliche Hebung des einen, direkt oder indirekt, früher oder später auch die anderen fördert. Im besonderen hat nach seiner Meinung der industrielle Fortschritt Großbritanniens das Los der arbeitenden Klasse erheblich verbessert. Die gegenseitige Förderung wird jedem, so meint er, ersichtlich, der über die einzelnen Erscheinungen hinaus auf das Befinden des Ganzen schaut.

Was aber innerhalb des einen Staates gilt, das wird auf das gegenseitige Verhältnis der Staaten ausgedehnt und empfiehlt hier einen schrankenlosen Freihandel. Eine völlig freie Bewegung im Austausch der Waren nützt sowohl dem Käufer als dem Verkäufer; im »naturgemäßen« Handel gewinnt nicht der eine zum Schaden des anderen, sondern es gewinnen beide; indem nämlich der eine seine Waren mit Vorteil anbringt, verhilft er zugleich dem anderen zu besserer Nutzung der seinen. So namentlich im Austausch von Fabrikwaren gegen Rohprodukte. Damit wird der Handel aus einer Quelle von Zwietracht und Feindschaft ein Band der Eintracht und Freundschaft, das Wohlergehen des Nachbarn schadet uns nicht, sondern nützt uns; jedes Volk findet auf diesem Wege am ehesten den Punkt seiner Stärke. So eine Solidarität der Völker wie vorhin der Berufe, ein Anblick friedlichen Wettbewerbes und unablässigen Fortschritts.

Diese Betrachtung wird aber über die materielle Arbeit hinaus auf die geistige übertragen, so daß schließlich die Wettbewerbung der Individuen alles Kulturleben trägt. Hohe Ziele bewegen nach A. Smith selten durch ihren eigenen Reiz, Wetteifer und Konkurrenz sind zum Fortschritt unentbehrlich. Das gilt namentlich von der Religion, der Wissenschaft, dem Unterrichtswesen. Sie stehen sich am besten und kommen am sichersten vorwärts, wo sie ganz sich selbst überlassen bleiben, ihre Vertreter hart zu kämpfen haben und etwas Tüchtiges leisten müssen, um sich durchzusetzen und ihre Existenz zu sichern. Alle Erteilung von Privilegien, alle Versetzung in einen sorgenfreien Stand bewirkt Trägheit und Verfall. Daher erklärt es sich, daß die Religionen zu Beginn viel rühriger sind als im späteren Verlauf, Privatschulen mehr leisten als öffentliche, usw. Indem durchgängig die Lebensinteressen der Individuen die stärkste Kraft der Bewegung und die sicherste Gewähr des Fortschritts bilden, erweitert sich die wirtschaftliche Lehre zu einer allgemeinen Lebensordnung.

Über den Wert und die Schranken des Ganzen ist viel verhandelt worden. Uns ist diese Lehre vornehmlich als ein Erzeugnis der Lebensanschauung der Aufklärung beachtenswert. Schon ihr Verfahren bekundet den engen Zusammenhang damit: der Denker sucht durch eindringende Analyse den wirtschaftlichen Prozeß in seine einfachsten Fäden zu zerlegen, um diese dann wieder zusammenzufügen und aus dem Wirken der Elemente das Gesamtbild der Wirklichkeit herzustellen. Mit solcher intellektuellen Unterwerfung des wirtschaftlichen Lebens feiert die Aufklärung einen ihrer größten Triumphe. Auch der Inhalt zeigt den Aufklärungsgeist, indem überall die reine Natur ermittelt, das Handeln auf Naturtriebe zurückgeführt, aller menschliche Eingriff verboten wird. Von der freien Bewegung der Naturkräfte alles Heil zu erwarten, ist ganz im Sinne der Aufklärung. Ihr entspricht auch der Optimismus, der dies System durchdringt. Es steht und fällt mit der Überzeugung, daß das von künstlicher Hemmung befreite Individuum stark und klug genug sei, im Leben einen Platz zu erringen, sowie mit der anderen, daß die Kunden immer das sachlich Bessere auswählen wollen und können; denn würde das Schlechtere vorgezogen werden, so wäre der Fortschritt aufgehoben.

Mit der englischen Aufklärung teilt aber Smith eine stillschweigende Ergänzung der Lehren durch die geschichtliche Lage. Das System gibt sich als ein Erzeugnis reiner Theorie und daher als überall und jederzeit gültig; in Wahrheit ist es zum guten Teil aus den eigentümlichen Verhältnissen des damaligen England hervorgegangen, das Bild eines behäbigen, in sicherem Fortschritt zu größerer Kraft und breiterem Wohlstand befindlichen Gemeinwesens und einer eben erst von der Handarbeit zum Maschinenbetrieb übergehenden Arbeit begleitet und ergänzt unablässig die Lehre. Smiths großes Werk erschien 1777, 1767 hatte Hargreaves die Spinnmaschine, 1769 Watt die Dampfmaschine und in demselben Jahre Arkwright die von Wasserkraft getriebene Garnspinnmaschine erfunden; diese Jahre vornehmlich bringen die Wendung der modernen Arbeit zum Großbetriebe, die das Gesamtbild des menschlichen Daseins umwandeln sollte. Aber die Verwicklungen lagen noch in weiter Ferne; ohne einfachere Verhältnisse, eine gelindere Art des wirtschaftlichen Kampfes, einen langsameren Austausch der Güter vor Augen zu haben, hätte Smith schwerlich alles Heil von der freien Bewegung der Kräfte erwarten können. Kapital und Arbeit haben sich hier noch nicht entzweit, eingreifende Verschiebungen und Erschütterungen des wirtschaftlichen Lebens durch eine grenzenlose Beschleunigung des Verkehrs kommen noch nicht in Frage. So befürchtet z. B. Smith keine Gefahren von der Einfuhr fremden Getreides: die Beförderungsschwierigkeiten seien für eine ernstliche Konkurrenz zu groß, selbst in Teuerungszeiten sei wenig eingeführt worden. In dem allen verrät das System deutlich seinen engen Zusammenhang mit der Besonderheit der geschichtlichen Lage; wie oft in der Aufklärung, so wird auch hier eine Forderung der Zeit in eine bleibende Notwendigkeit umgesetzt.

Am wenigsten befriedigt Smiths System bei aller Fülle von Menschenkenntnis, allem Reichtum des Wissens, allem Scharfsinn der Analyse als allgemeine Lebensordnung und Lebensanschauung. Es kennt keine innere Freude an der Arbeit und kein inneres Wachstum durch ihr Gelingen, es stellt alles Leben und Wirken unter den Gesichtspunkt des äußeren Vorwärtskommens, möglichst großen Erwerbs und Gewinns. Mag die hier geforderte freie Bewegung und volle Entwicklung der Kräfte ein Selbständig- und Mannhaftwerden des Lebens fördern, innerlich wird es bis in alle einzelnen Gebiete, wie die Religion, die Wissenschaft, die Erziehung, tief herabgesetzt. Denn jene Freiheit der äußeren Bewegung ergibt durchaus keine innere Freiheit, da das gierige Jagen nach Erfolg und die harte Konkurrenz den Menschen unablässig auf die Umgebung weist und streng an ihre Lage bindet, ihn damit aber zu ihrem dienstwilligen Sklaven macht. So hat die Leistung A. Smiths, philosophisch angesehen, sehr bemessene Schranken. Aber sie bleibt ein charakteristischer Durchblick des menschlichen Lebensstandes.

Die geistige Führung Europas erlangten im 18. Jahrhundert die Franzosen, erst sie haben die moderne Denkweise zu allgemeiner Herrschaft geführt und gründlich mit überkommenem Wust aufgeräumt. Sie taten das freilich nicht in unmittelbarer Fortführung ihrer eignen klassischen Kultur, sondern in vielfachem Bruch damit und in weitgehendem Anschluß an die englische Aufklärung, auch an englische Verhältnisse. Aber einmal schöpften sie aus ihrer eigenen Überlieferung ein hervorragendes Vermögen formaler Gestaltung und geistiger Beweglichkeit, und dann gab der ausgeprägtere Oppositionscharakter den Bewegungen hier mehr Schärfe und mehr Umwälzungskraft. In England hatte die Aufklärung sich unablässig aus dem geschichtlichen Befunde ergänzt und ihre Behauptung dadurch gemildert, in Frankreich fallen mehr und mehr die geschichtlichen Zusammenhänge, und zu voller Wirkung kommt hier, was den modernen Gedanken an Verneinung und Zerstörung innewohnt. Das um so mehr, als die Darstellung hier eine wunderbare Frische und Eindringlichkeit gewinnt, und die einzelnen Persönlichkeiten ihre geistreiche Art oft schrankenlos zu sprühendem Witz und keckem Übermut, auch zu frivolem Spotte steigern. Natürlich gehen gerade dabei die Individuen weit auseinander, ernstere Naturen, wie z. B. ein Montesquieu, haben den offensten Sinn für alles Große und Tiefe; wir Neueren sind überhaupt in Gefahr, wegen der leichten und witzigen Darstellung den Gehalt des Ganzen zu unterschätzen, namentlich wir Deutschen, die wir die Höhe unserer eignen Kultur erst in Auflehnung gegen die französische erreichten. Dem durchgängigen und sich immer schärfer ausprägenden Streben nach Austreibung alles Übernatürlichen entspricht ein fester Glaube an den Menschen und sein Vermögen; solche Denkweise wirkt dahin, das menschliche Dasein nach allen Richtungen zu durchleuchten und seine Zusammenhänge zu erforschen. So ergreift die neue Betrachtungsweise alle Verzweigung menschlichen Tuns. Im besonderen werden die politischen und die geschichtlichen Vorgänge aller übernatürlichen Zusammenhänge entkleidet, und der Schlüssel zu allen Wandlungen der Staaten und aller Mannigfaltigkeit der Verfassungen in der menschlichen Natur, in ihren Neigungen, Bestrebungen, Affekten gesucht; zugleich erhebt sich mit voller Bewußtheit gegen die überkommene religiöse Deutung der menschlichen Geschicke eine rationale und immanente Geschichtsphilosophie (Condorcet). Auch das Seelenleben des Individuums wird schärfer zergliedert und aus seinem Werden verstanden, feine Beobachtungen erscheinen dabei in überströmender Fülle. Zugleich gewinnt die literarische Arbeit unermeßlich an Ausdrucksmitteln, an Geschmack und an Eleganz. Auch der strengwissenschaftliche Ertrag dieser Bewegung ist größer als oft anerkannt wird; wir erinnern nur an die Leistungen d'Alemberts in der Mathematik und der Physik. So ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts von Frankreich aus zur Weltmacht geworden. Aber indem sie ihre eigne Zeit voll zum Ausdruck brachte und souverän beherrschte, hat sie sich zum guten Teil auch in ihr ausgelebt. Da ferner ihre Größe mehr in der Erzeugung einer eigentümlichen geistigen Atmosphäre als in einzelnen klassischen Leistungen liegt, so gestattet unsere Aufgabe nur eine flüchtige Befassung mit dieser Epoche.

Indem hier das Subjekt vollste Unabhängigkeit erstrebt und schrankenlose Kritik übt, geraten alle Dinge in Fluß; auch in den sprödesten Stoff erstreckt sich die Anregung und Belebung, freilich oft auch die Zersetzung; in einer Persönlichkeit wie der Diderots scheint den Dingen alle Schwere genommen und das ganze Dasein in ein heiteres Spiel verwandelt; jedem Eindruck nachgiebig durchläuft der Denker im eigenen Werden verschiedene Phasen und treibt, ein Abbild seiner Zeit, mehr und mehr in die Verneinung hinein. Aber durchgängig hat er den offensten Blick für die Natur, auch die Kunst dient ihm dazu, sie dem Menschen näher zu bringen. – Andere fordern den Engländern gegenüber mehr systematische Einheit, eine strengere Zurückführung auf den Stand der bloßen Erfahrung. So vereinfacht Condillac den Empirismus Lockes, indem er das ganze Seelenleben von der sinnlichen Empfindung her aufbaut, ohne darüber Materialist zu werden; die sorgfältige Verfolgung der einzelnen Stufen dieses Aufbaus liefert wertvolle Beobachtung und verfeinert den Gesamtanblick dieses Gebiets. – Derberen Gewebes ist Helvetius, der aus der Moral alles ursprüngliche Wohlwollen streicht und alles Handeln auf das wohlverstandene Interesse ( l'interêt bien entendu) des Individuums gründet. Indem wir hier als ein bloßes Erzeugnis der Umgebung gelten, wird die Macht der äußeren Einflüsse ins Unbegrenzte gesteigert, namentlich die der Erziehung, so daß es schließlich heißen kann: »Die Erziehung kann alles.« Neue Ausblicke entstehen durch die Ableitung aller Affekte und zugleich alles Antriebs zum Handeln von der physischen Empfindlichkeit. – Eine räsonnierende, geistreiche, witzige Art findet in Voltaire ihren Gipfel; wie kein zweiter beherrscht er seine Zeit. Welchen Zauber er auf Friedrich den Großen ausübte, ist bekannt; auch das Durchschauen der moralischen Schwächen jenes konnte diesen nicht davon befreien. Gegen alle philosophische Systematik, ja allen lehrhaften Vortrag richtet Voltaire eine ätzende Kritik und übt seinen Witz vornehmlich an Leibnizens Lehre von der besten Welt; noch heftiger bekämpft er alle dogmatische und autoritative Religion, der Aberglaube gilt ihm als der schlimmste Feind des Menschengeschlechts. Dabei verwirft er aus voller Überzeugung den Atheismus, aber er will eine Religion »mit viel Moral und sehr wenig Dogmen«; wohl gibt er dem Grundgedanken der Moral eine Selbständigkeit gegen den Menschen, aber ihre nähere Gestaltung läßt er sie durch das empfangen, was dem jeweiligen Stande der Gesellschaft nützt und huldigt damit weithin einem Relativismus der Ausführung, der sich jeder besonderen Lage anschmiegt. Die größte Wärme zeigt Voltaire im Kampf für die Toleranz; von ihr erwartet er den einzigen Frieden, den die Menschheit erhoffen kann. – Alles zusammen hat eine unermeßliche Erregung und Bewegung bewirkt, die, später auf der Höhe des geistigen Lebens zurückgewiesen, in immer weitere Volksschichten drang und hier noch heute viel Macht übt. Auch diese Aufklärung ist keineswegs schon bloße Vergangenheit.

 

In Deutschland setzt die Aufklärung am spätesten ein; fand sie hier nicht so schroffe Widerstände zu überwinden, so galt es doch viel veralteten Wust aufzuräumen, sie hat das mit ruhigem Ernst und in methodischer Arbeit unternommen, sie hat im Sichten und Verwerfen zugleich zu erhalten und zu befestigen, im besonderen zwischen Religion und Philosophie, zu vermitteln gesucht, sie hat dadurch dem deutschen Leben schroffe Umwälzungen ferngehalten. Aber mit ihrer größeren Besonnenheit verbindet sich eng eine zahmere und spießbürgerlichere Art, ihrem Durchschnitt fehlt wie die Beweglichkeit so auch der feine Geschmack und der sprühende Witz der Franzosen. Der leitende Geist der deutschen Aufklärung ist der von seiner Zeit aufs höchste gefeierte Christian Wolff (1679-1754). Er hat das Verdienst einer systematischen Durcharbeitung und allgemeinverständlichen Darstellung des ganzen Wissenstoffs im Sinne der Aufklärung, er liefert eine Art Enzyklopädie auf modernem Boden, er arbeitet mit zäher logischer Energie die Leitgedanken in alle Verzweigungen hinein, besteht überall auf einem zureichenden Grunde, bildet ein wohlgegliedertes Begriffssystem und schafft dafür mit großem Geschick zuerst einen deutschen Ausdruck; zugleich hat er Tapferkeit im geistigen Kampfe erwiesen. So hat er zur logischen Erziehung des deutschen Geistes erfolgreich gewirkt, auch hat namentlich sein Einfluß die deutschen Universitäten von der Scholastik zu moderner Denkweise übergeführt und damit ihre hervorragende Stellung begründet. Aber als groß gelten kann er nur nach dem Maß seiner Zeit und im Verhältnis zu dieser. Sobald wir ihn von ihr und ihrem Verlangen nach Klarheit und Ordnung trennen, verletzt uns seine Umständlichkeit und sein Ungeschmack und macht uns auch wohl ungerecht gegen seine nicht geringen Verdienste. Von solcher schulmäßigen Enge hatte sich die deutsche Aufklärung erst zu befreien; indem sie das tat, hat sie in Lessing eine hohe Stufe erreicht. Lessings Begriffe schließen sich eng an Leibniz an, aber sie werden durch eine kraftvolle, kampflustige, lebensfrische Persönlichkeit geläutert, verjüngt und umgeprägt, sie werden zugleich zu kristallheller Form geschliffen und gewinnen damit weit mehr Anschaulichkeit und Eindringlichkeit; alles Schulstaubs entledigt, sprechen sie zum ganzen Menschen und wirken kräftig ins gemeinsame Leben. Dazu führen wichtige Stellen die übernommenen Bewegungen selbständig weiter. Deutlicher entfaltet sich die Weltnatur des Individuums und seine Überlegenheit gegen die soziale Umgebung. Enger und innerlicher gestaltet sich der Zusammenhang Gottes und der Welt; vor allem aber erfährt das Verhältnis von Vernunft und Geschichte eine Klärung, die große Wandlungen, namentlich auf religiösem Gebiete, anregt. Nach Lessing lassen die letzten Überzeugungen sich unmöglich von der Geschichte her begründen, »zufällige – d. h. bloß tatsächliche – Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden«. So wird er ein entschiedener Gegner aller starren Rechtgläubigkeit. Aber er überschreitet die gewöhnliche Aufklärung weit mit seinem Streben, in allen geschichtlichen Beständen eine Vernunft aufzudecken, ja die ganze Geschichte als eine Erziehung des Menschengeschlechts zur Vernunft zu verstehen. Das läßt ihn liebevoll alle Überlieferung umfassen und nichts schlechthin verwerfen, das ergibt mit neuen Ausblicken neue Aufgaben in Hülle und Fülle. Die Verfolgung dieser Bahn hat das 19. Jahrhundert zu seinen höchsten Leistungen geführt; Lessing aber erscheint damit als ein wichtiger Vermittler zwischen älterer und neuerer Gedankenwelt. Auch sein Wirken für die Hebung des künstlerischen Geschmacks und die Klärung ästhetischer Überzeugungen war ein Gewinn für das Ganze des Lebens.


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