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1. Die voraugustinische Zeit.

Die Lebensanschauungen der ersten Jahrhunderte sind nicht zu schildern ohne eine kurze Würdigung des Aufsteigens und Durchdringens des Christentums gegenüber einer feindlichen Welt. Auch hier hat die neuere Forschung den Anblick der Sache erheblich verändert. Wir wissen jetzt, daß auch das spätere Altertum keineswegs so ausgelebt und verkommen war, wie es früher oft dargestellt wurde; wir wissen ferner, daß das Christentum nicht allein um die Herrschaft über die Seelen warb, sondern daß es ein Stück einer durchgehenden religiösen Bewegung war; wir wissen endlich, daß manches aus jener gemeinsamen Bewegung stammt, was bisher als ihm eigentümlich galt, sowie auch dieses, daß es manches von seinen Mitbewerbern aufnahm, daß auch die Eigentümlichkeit der Völker, zu denen es wirkte, nicht ohne Einfluß blieb. Alles zusammen konnte beim ersten Eindruck die Eigentümlichkeit des Christentums stark zu mindern scheinen, ja die Verneinungslust vieler Zeitgenossen mit ihrer Neigung, es möglichst niedrig einzuschätzen, mochte es schließlich wohl gar für eine bloße Anhäufung verschiedenartiger Stücke erklären. Eine ruhigere Besinnung und eine sorgfältigere Forschung hat das entschieden zurückgewiesen; ja es dürfte sich schließlich das volle Gegenteil jener Behauptung erweisen: mag das Christentum in vielem übereinstimmend, in manchem abhängig sein, eine genauere Vergleichung mit den Mitbewerbern wird die unvergleichliche Eigentümlichkeit seines Kernes nur noch stärker hervortreten lassen und zugleich erweisen, daß sein Sieg gute Gründe hatte.

Was war es wohl, das dem Christentum eine Überlegenheit auf dem Boden jener Zeit verlieh? Diese Frage fällt nicht mit der nach seinem innersten Wesen zusammen, so gewiß beide Fragen eng zusammenhängen.

Der Punkt, wo das Wesen des Christentums zugleich der Grund seiner Stärke in der geschichtlichen Wirkung war, ist sein ethischer Grundcharakter, die darin begründete volle Selbständigkeit des Geisteslebens, die entschiedenste Abweisung alles Naturalismus und aller Naturvergötterung, die das Altertum nie ganz überwunden hat. Wenn schließlich die verschiedenen heidnischen Religionen in der Anerkennung einer einzigen, allumfassenden Gottheit zusammentrafen, so fanden sie diese Gottheit vornehmlich wirksam in der Natur; nur so konnten sie die Sonne, den sol invictus, als ihre Hauptverkörperung verehren. Wohl versetzte die neuplatonische Philosophie über alle Natur hinaus in eine reine Gedankenwelt, aber eine seelische Wärme erhielt diese nur nebenbei und im Grunde durch eine Erschleichung, jedenfalls blieb sie der Besitz einiger weniger Denker, ward kein befruchtender Lebensstrom für weitere Kreise der Menschheit. Die ethische Lebensordnung dagegen sprach unmittelbar zu jedem einzelnen und hielt ihm hohe Ziele vor, zugleich verband sie die Menschen aufs innigste miteinander, rief jeden einzelnen zur Entscheidung auf und stützte ihn zugleich durch den festen Zusammenhang einer Gemeinschaft. Nirgends deutlicher als hier erwies sich die Wahrheit, daß es schließlich das Ethische ist, das die Seelen beherrscht, und das in trüben Zeiten allein den Menschen fest in sich selbst und dem Schicksal gewachsen macht.

Für solches Selbständigwerden der ethischen Ordnung schuldet das Christentum dem Judentum großen Dank. Denn dieses brachte ihm aus langer und harter Geschichte eine innerliche Moral und eine Befreiung des Geisteslebens von aller bloßen Natur entgegen. Aber zu einer Weltmacht geworden und zugleich zu voller innerer Größe gelangt ist diese ethische Denkweise erst auf dem Boden des Hellenismus und unter eingreifender Umbildung des Verhältnisses von Gott und Mensch. Die semitische Denkweise pflegt beim Verhältnis beider den Abstand hervorzukehren, die griechische, wie auch die indische, sucht vielmehr eine Einigung, sie will auf der Höhe der Religion das Menschliche zur Göttlichkeit selbst erheben, es eine »Vergottung« erfahren lassen. Das erst gewährt bei der Religion dem Mystischen und Geheimnisvollen ein Recht und ruft den ganzen Menschen zu einer Wesenswandlung auf; indem das Christentum, ohne den Abstand aufzugeben, auch diese Seite der Einigung entwickelt, vollzieht es eine entschiedene Ablösung vom Judentum. In dieser Richtung war es namentlich die Erhöhung Jesu zu göttlicher Stellung und Würde, welche zum Siege des Christentums wesentlich beigetragen hat, indem sie dem Streben nach Einigung von Göttlichem und Menschlichem einen beherrschenden Mittelpunkt und eine anschauliche Nähe gab. Auch wer heute diese Wendung ablehnt, sollte ihre große geschichtliche Bedeutung, ihr Wirken zur Vertiefung, Befestigung, Erwärmung des religiösen Lebens nicht leugnen.

An diese Wendung knüpft sich aber manches Weitere an. Das Miterleben der Geschicke Jesu gestattete den Gläubigen, die ganze Stufenleiter der Gefühle von tiefstem Schmerz bis zu äußerster Seligkeit zu durchlaufen; ferner fand damit die anlehnungsuchende Zeit eine unbestreitbare Autorität, einen festen Bestand des Glaubens, der aller Erörterung entzogen und allem Zweifel überlegen war. Auch gestattete jene Wendung zum Übernatürlichen, Wunderbaren, Geheimnisvollen ein Entgegenkommen gegen das Zeitverlangen nach sinnlicher Aufregung, nach Pracht und Pomp, ja nach Magie. Aber in solchem Entgegenkommen hat das Christentum Maß gehalten und sein innerstes Wesen dabei, wenn auch vielfach verdunkelt, so doch nicht verloren.

Überhaupt ist an ihm kaum etwas so zu schätzen, als daß es, gemessen an den wilden Aufregungen und stürmischen Bewegungen jener Zeit, eine große Mäßigung und Nüchternheit bewahrte, daß es die innere Glut nicht zu verheerender Flamme emporschlagen, sondern in stillerem Walten alle Verzweigung des Daseins erwärmen ließ. So zeigt es auch die Behandlung der sozialen Frage, indem sie bei voller Anerkennung des Angewiesenseins der Menschen aufeinander allen radikalen Ansturm fernhielt. – Schon dieses wenige macht den Sieg des Christentums wohlverständlich, weiteres wird unsere Schilderung der Denker zeigen.

Die Darstellung der christlichen Lebensanschauungen vor Augustin ist aber schwierig genug. Da keine einzelne Leistung eine vorbildliche Größe erreicht, so muß hier ein Überblick genügen. Er aber zeigt nicht nur viele Unterschiede der Individuen, nicht nur einen Gegensatz griechischer und römischer Art, sondern auch eine Wandlung im Ganzen, indem bei rascherem Wachstum des Christentums, wie es seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts erfolgt und seit der Mitte des dritten Jahrhunderts noch stärker anschwillt, die Organisation das Individuum, die Leistung die Gesinnung zurückdrängt und das Magische immer weiter um sich greift. Wir hoffen, diesen Problemen leidlich gerecht zu werden, wenn wir verschiedene Durchblicke des Ganzen versuchen und dabei auch die individuellen Färbungen im Auge behalten.

*

a. Das Lebensbild der ersten Jahrhunderte.

Die literarischen Äußerungen der ersten Jahrhunderte über Menschenleben und Menschenlos sind mehr Bekenntnisse eines neuen Lebens als Leistungen wissenschaftlicher Art. Eine Zeit, wo die christlichen Gemeinden nach außen wie nach innen hart zu kämpfen hatten, wo die Erwartung einer überschwenglichen Seligkeit die Menschen mehr im Glauben und Hoffen als in der sinnlichen Gegenwart leben ließ, wo endlich Arme und Ungebildete den Grundstock der Gemeinden ausmachten, eine solche Zeit hatte wenig Raum und wenig Trieb dafür, die Überzeugungen von Leben und Welt zusammenhängend zu behandeln und wissenschaftlich zu erörtern. Weniger das eigene Bedürfnis als die Notwendigkeit der Verteidigung trieb zu einer Beschäftigung damit; indem man dabei nicht sowohl zu sich selbst als zu Fremden sprach, mehr den Gegner angriff als sich selber gab, wurden mehr einzelne Punkte der Berührung und des Zusammenstoßes behandelt als ein Ganzes von Eignem geboten; auch mußte man sich, um die anderen zu gewinnen, auf ihren Boden stellen und ihre Maße gelten lassen. So gehen die literarischen Darlegungen nicht eben tief, und sie sind oft stark rationalistisch und utilitaristisch gehalten. Was damals die Herzen erfüllte, das offenbart weit anschaulicher die altchristliche Kunst, und ein Gang durch die Katakomben versetzt unmittelbarer in den Lebenskreis jener Zeit als alle literarischen Werke. Darin aber behalten diese einen eigenen Wert, daß sie ersehen lassen, wieweit das Neue und Eigentümliche zum Bewußtsein kam, und wieweit es sich Fremdem gegenüber zu begründen vermochte. Einen Zusammenhang aber gibt den einzelnen Äußerungen nur das sie tragende Leben.

Als den Kern des altchristlichen Lebens zeigen auch die Lebensanschauungen die Moral, allen Aufgaben voran steht die Forderung einer strengen und innerlichen Moral. Darin erscheint eine nahe Verwandtschaft mit den Stoikern und Kynikern jener Zeit, aber auch beträchtliche Unterschiede sind nicht zu verkennen. Die Stoiker stellen das Seelenleben des Menschen neben eine im wesentlichen logische und physische Ordnung der Dinge; eine solche kann den Einzelnen nicht mit entgegenkommendem Wirken umfangen und seinem Streben eine Hilfe gewähren. Den christlichen Lehrern dagegen ist durch die ganze Welt Gott, der vollkommene moralische Geist, gegenwärtig; so hat das Streben des Menschen den engsten Zusammenhang mit der das All beherrschenden Macht und wird von ihrem Wirken behütet.

Aber zum Glauben an die Weltmacht des Guten gesellt sich hier die Überzeugung, daß das nächste Bild ein völlig anderes Ansehen zeigt, indem es voll Leid und Unvernunft ist. Zum Guten wenden kann diesen Weltstand nur Gottes Hilfe, nicht eigene Kraft; so verflicht sich mit der moralischen Überzeugung aufs engste ein religiöser Glaube. Dabei wird aber die Moral durch die Religion mehr befestigt und unterstützt als umgebildet und vertieft; ein wärmeres religiöses Gefühl, eine Sehnsucht nach einem Leben aus göttlicher Vollkommenheit kommt selten genug zum Ausdruck, die Religion dünkt mehr ein Mittel, dem Menschen zu vollem Glück zu verhelfen, als ein selbständiger Zweck. Sicherlich wirkte ein tieferes Verlangen im Grunde der Seele, aber den Weg zur wissenschaftlichen Darlegung hat es nicht gefunden.

Auch das besagt eine Abweichung von der alten Philosophie, daß das Streben mehr über die Individuen hinaus auf den Gesamtstand, auf die Hebung der Menschheit geht. Das stellt nicht nur neue Aufgaben in Hülle und Fülle, es wirkt auch zur Überzeugung in anderer Weise. Die wissenschaftliche Begründung verblaßt gegenüber dem, was im Bewußtsein der Gemeinde lebt, der unmittelbare Eindruck, das schlichtmenschliche Gefühl entfaltet sich freier und spricht sich unbefangener aus, das Ganze gewinnt an Wärme und Einfalt. Aber die Verbreiterung der Überzeugungen schadet nicht nur der Vornehmheit der Form und der Durchbildung der Begriffe, der Anthropomorphismus der Volksvorstellung reißt das Denken oft weit mit sich fort, und keine Erwägung sachlicher Notwendigkeiten bändigt das Ungestüm des Glücksverlangens.

Das Lebensbild der altchristlichen Denker sucht nicht mit der Antike seine Begründung in der Wissenschaft, vielmehr soll der Glaube, d. h. hier ein Ergreifen und Annehmen göttlicher Offenbarung, die Wahrheiten übermitteln, an denen das Heil des Menschen hängt. Das Wissen wird gern gegenüber dem Glauben herabgesetzt; eine hochmütige Verirrung dünkt es, mit dem Wissen die letzten Geheimnisse aufhellen und den Glauben meistern zu wollen. »Über Gott läßt sich nur von Gott lernen« (Athenagoras). Die Griechen, bei denen die alte Freude am Wissen nicht erloschen war, halten dabei gewöhnlich mehr Maß, bei den Lateinern dagegen steigert sich die Geringschätzung des Wissens oft zu schroffer Verwerfung alles eigenen Vermögens des Menschen. Mit zwei Hauptpunkten scheint der Glaube im Vorteil: der Sicherheit und der Verständlichkeit. Die Philosophen, so heißt es, suchen die Wahrheit erst, während die Christen sie schon besitzen; am Glauben nehmen alle teil, während die wissenschaftliche Erkenntnis sich auf kleine Kreise beschränkt, schon weil den meisten die Muße zur Forschung fehlt. »Jeder christliche Handwerker kennt Gott und zeigt ihn und besiegelt durch die Tat, was immer von Gott verlangt wird, obschon Plato behauptet, daß der Bildner des Alls sich nicht leicht finden und, wenn gefunden, schwer allen mitteilen lasse« (Tertullian).

Den Mittelpunkt der altchristlichen Gedankenwelt bildet die Gottesidee. Hier erfolgen eingreifende Wandlungen gegen den Volksglauben und auch gegen die philosophische Überzeugung der Alten. Nun erst entwickelt sich auf griechischem und römischem Boden ein ausschließlicher Monotheismus, der neben dem einen unsichtbaren Gott keinerlei Untergötter und Zwischenstufen duldet; nun erst verschwindet hier der Polytheismus, um freilich später innerhalb des Christentums durch die Heiligenverehrung in gemilderter Art wieder aufzuleben. Alle Wirklichkeit gilt jetzt als unmittelbar vom höchsten Geiste gebildet, die Natur verliert die alte Beseelung und Göttlichkeit. Die antike Denkart mußte das als einen schweren Verlust empfinden, die neu gebotene Welt dünkte ihr öde und kalt, es war ernstlich gemeint, wenn die Gegner die Christen Atheisten schalten. Die alten Begriffe von der Gottheit wurden in der Tat durch den neuen Glauben zerstört, die neue Gottesidee mit ihrer Unbildlichkeit und ihrer Namenlosigkeit entbehrte der Anschaulichkeit und der Individualität, die der alten Denkweise unentbehrlich schienen. Dagegen beriefen die Christen sich nicht nur auf die innere Gegenwart des göttlichen Wesens, auch in die Natur schien ihnen von dort ein neues Leben zu strömen. Unsichtbare Engel, so meinen sie, durchwalten die ganze Natur, alle Wesen beten, und an zahllosen Stellen – z. B. im Flug der Vögel – entdeckt eine gläubige Betrachtung das Kreuzeszeichen. Wie solches Leben nicht bloßer Naturkraft entstammt, sondern den Dingen eingeflößt ist, so weist die Natur überall über sich selbst hinaus auf eine höhere Ordnung.

Im Aufgeben aller Verwandtschaft mit Naturbegriffen vollzieht die Gottesidee eine Annäherung an den Menschen als das freie und moralische Wesen. Mit mehr Recht als bei den Griechen wäre hier von einer Persönlichkeit Gottes zu sprechen, obschon ein besonderer Ausdruck fehlt. Es gelingt aber nicht, das Bloßmenschliche genügend abzustreifen, menschliche Gefühlslagen werden oft ungeläutert auf die Gottheit übertragen. Viel Streit erzeugt unter den Vätern die Frage, ob sich von einem Zorne Gottes reden und damit dem höchsten Wesen ein Affekt beilegen lasse. Den Lehren der alten Philosophen widersprach das durchaus; daß aber in den christlichen Gemeinden die Furcht vor dem Zorne Gottes den stärksten Antrieb zum Handeln bildete, das bezeugen auch die Denker, welche jenen Affekt mit geläuterten Begriffen unvereinbar finden. Aber selbst den meisten Denkern scheint der Affekt unentbehrlich: ohne einen zürnenden Gott gäbe es keine Gottesfurcht, und ohne eine solche Furcht keinen Bestand der bürgerlichen Gesellschaft.

Als Werk des allmächtigen und gütigen Gottes muß die Welt vollkommen sein. So wird nicht selten im Gegensatz zu den Wirren und Leiden des Menschenlebens die Ordnung und Schönheit der Natur gepriesen und den Ungläubigen als einleuchtender Beweis für das Dasein Gottes vorgehalten; die herrlichen Werke der Natur zeigen jedem unbefangenen Gemüt überzeugend den unsichtbaren Bildner. Es ist aber die Welt nicht nur räumlich begrenzt, wie das auch das Altertum meinte, sondern auch zeitlich, wie jetzt entgegen der antiken Geschichtsphilosophie gelehrt wird. Nicht folgen einander in endlosem Rhythmus gleichartige Perioden, sondern die Welt hat in der Zeit wie einen Anfang, so auch ein Ende; was in ihr geschieht, vor allem der große Kampf Gottes mit dem Bösen, geschieht einmal und nie wieder, seine Folgen aber reichen in alle Ewigkeit. Das hebt unermeßlich auch die Bedeutung des menschlichen Tuns, während der alten Art die Vergeblichkeit alles Strebens vorgerückt wird, da sie alles Errungene wieder verloren gehen läßt und das Streben immer neu zu beginnen hat. Die Dauer der Welt ist aber nicht nur begrenzt, sondern auch kurz; öfter finden sich sechstausend Jahre als ihre Frist angegeben. Eben jetzt scheint der Weltuntergang unmittelbar bevorzustehen und mit ihm das große Gericht. Diese Überzeugung entsprang zunächst der Erwartung einer baldigen Wiederkunft des Messias, sie erhielt sich aber auch später, da dem Verblassen jener Hoffnung der immer stärkere Eindruck eines Verfalles der Kultur, eines Alterns der Menschheit, vollauf das Gleichgewicht hielt. Noch zu Beginn des vierten Jahrhunderts meint Lactanz, die Welt werde nicht über ein paar Jahrhunderte hinaus bestehen. So lag vor diesem Christentum kein Ausblick in eine weite Geschichte. Um so wichtiger wurde der Augenblick, um so dringlicher die Entscheidung der Gegenwart.

Das um so mehr, als eine neue Stellung des Menschen zur Welt dem Handeln stärkste Antriebe gab. Trotz aller Lehren der Stoiker von dem Vorzuge des Menschen war das Altertum im großen und ganzen dabei verblieben, ihn wie sein Tun dem Weltall unterzuordnen und einzufügen. Nun aber, wo das moralische Handeln auch dem moralischen Wesen einen unvergleichlichen Wert verleiht, wird der Mensch zum Mittelpunkt und Ziel des ganzen Alls; für ihn ist alles eingerichtet, auch Sonne, Mond und Sterne dienen seinem Wohl. Mit der Bedeutung wächst die Verantwortlichkeit, das Handeln des Menschen entscheidet über das Ergehen der Welt, sein Abfall hat das Böse in die Welt gebracht und alles Elend hervorgerufen, das der gegenwärtige Stand der Dinge zeigt. Denn aus der Freiheit stammt das Böse, nicht aus dunkler Naturnotwendigkeit. So fällt die alte Lehre von der hemmenden und herabziehenden Macht des Stoffes; nichts von dem sei verworfen, was göttliche Allmacht geschaffen hat. Auch seinen Körper darf der Mensch nicht als etwas Fremdes und Gemeines verachten und die Hauptschuld am Bösen auf die Sinnlichkeit werfen, denn auch der Körper gehört zu unserem Wesen, und zur vollen Unsterblichkeit bedarf es auch der Auferweckung des Leibes. Bei den Griechen begegnete solche Lehre tiefem Widerwillen, nur unter Kompromissen und Umdeutungen haben ihre größten Lehrer sich dem Kirchenglauben gefügt.

Je höher aber der Mensch gestellt wird, desto peinlicher wird das gegenwärtige Elend. Denn dieser Weltstand kann ganz und gar nicht befriedigen. Zahllose Gefahren und Leiden bedrängen uns von innen wie von außen, dort die eigenen Begierden, hier die gesellschaftlichen Mißstände. Im besonderen verweilt der Gedanke, wie eine Zeit schwerer Kämpfe es nahelegt, bei der Ohnmacht des Guten gegenüber den feindlichen Mächten. Es fehlt alle Hoffnung, daß der Lauf der Zeiten das bessere, daß etwa eine den Dingen innewohnende Ordnung die Weltgeschichte zum Weltgericht gestalte. In unserer Welt bleibt immer das Gute machtlos, hier hat immer die Wahrheit zu leiden. So ist es lediglich die Hoffnung auf das baldige Kommen einer neuen Welt, die an freudiger Arbeit festhalten läßt; alles Verlangen geht auf jene übernatürliche Zukunft, und im Gottesdienst wird gebetet: »Kommen möge die Gnade und vergehen möge die jetzige Welt!«

Die Eröffnung dieser Aussicht, das ist ein Hauptpunkt der christlichen Verkündigung. Das Wesen des Christentums selbst wird aber wenig erörtert, und die Erörterung läßt von dem Seelenleben der Gemeinde wenig verspüren. Den Apologeten des zweiten Jahrhunderts gilt das Christentum als eine gottgegebene Vernunftlehre, die alles vollendet, was irgend im Menschen an Gutem steckt, und was die Geschichte davon erweckte. Eigentümlich ist dieser Vernunftlehre namentlich die alleinige Verehrung des einen unsichtbaren Gottes und die ausschließliche Hochhaltung der Moral, einer durchaus innerlichen, auf freier Gesinnung begründeten Moral, als des wahren Gottesdienstes. Auch später findet man die Größe des Christentums weniger in der Mitteilung eines neuen Gehalts und einer geistigen Erhöhung der Menschheit als in der allgemeineren und kräftigeren Durchführung der allen Menschen gemeinsamen Aufgabe. Was von Haus aus überall angelegt war, was von Anfang an als Ziel vorschwebte, was aber bis dahin im Halbdunkel blieb, das hat nun volle Klarheit und zugleich eine größere Eindringlichkeit erlangt, das steht jetzt allen gleichmäßig offen. Nun erst kann es den ganzen Menschen ergreifen und aus einer Kunst der Worte und Lehren zur Erweisung in Taten werden. Eine höhere Schätzung und innere Verehrung der Persönlichkeit Jesu, wie sie auch nach dem Zeugnis der Kunst unzweifelhaft in der Gemeinde lebte, bringen jene Schriftwerke wenig zum Ausdruck. Wohl wird seinem Sterben und Auferstehen überall eine große Bedeutung zuerkannt, aber meist fehlt eine nähere Erklärung und Begründung. Man hält sich meist an den Gedanken, daß Jesus die Macht der bösen Dämonen gebrochen, einen Zugang zu Gott eröffnet, eine Erneuerung der Menschheit begonnen habe. Doch erscheinen auch tiefere Spekulationen. So meint Irenäus, in Christus sei das Unvergängliche geworden, was wir sind, das Sterbliche sei dabei von dem Unsterblichen absorbiert und dadurch auch wir als Söhne Gottes adoptiert. Nur auf diese Weise könne das Vergängliche unvergänglich werden. Die griechische Kirche hat diesen Gedankengang dauernd festgehalten.

Wie man über den Kern des Christentums dachte, zeigt auch die Art seiner Verteidigung. Im Lauf der Jahrhunderte verschiebt sie sich vom Besonderen ins Allgemeine. Anfänglich gilt als der stärkste Beweis der Wahrheit die Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen; was heilige Männer verkündeten, bevor es geschah, das muß von Gott so geordnet sein. Sodann werden die Heilungen durch Jesu Namen zum Zeugnis angerufen, besonders die Austreibungen von Dämonen, die man alltäglich um sich zu gewahren glaubte. Auch der weiteste und freieste Geist vor Augustin, auch Origenes hält diese beiden Beweise in höchsten Ehren. Mit dem Erstarken des Christentums wird aber zum Hauptbeweise sein eigenes Vermögen und Wirken. Der sittliche Zustand der christlichen Gemeinden übertrifft unvergleichlich den des umgebenden Heidentums; nur göttliche Macht konnte dem Christentum die Kraft verleihen, die Menschen zu läutern und auch gegen die schwersten Verfolgungen zu stählen, nur ihre Hilfe befähigte es, durch alle Leiden zu wachsen. Denn »das Blut der Christen ist ein Same« (Tertullian), »die Religion Gottes wächst, je mehr sie bedrückt wird« (Lactanz). Auch die Ausbreitung des Christentums über alle Völker dient als Zeugnis seiner Wahrheit, ein so erstaunliches Vordringen gegen eine überlegene feindliche Welt kann nicht ohne göttliche Hilfe erfolgt sein. Auch daß das römische Kaisertum etwa gleichzeitig mit dem Christentum begann und einen durchgängigen Völkerfrieden brachte, ist, so meint man, zugunsten der Ausbreitung des Christentums erfolgt und durch das Erscheinen des friedenstiftenden Erlösers bewirkt. Ferner wird unbedenklich auch der Nutzen der Religion für das bürgerliche Leben und die gesellschaftliche Ordnung verwertet: nur die Furcht vor dem richtenden und strafenden Gott lehrt die Menge den Gesetzen gehorchen. Die ethische Hoheit des Christentums wird natürlich nicht vergessen. Es richtet alle Kraft auf die Besserung der Menschen; nach Origenes' Überzeugung erhebt das die Wunder Jesu hoch über die aller heidnischen Wundertäter, daß jene keine Zaubereien sind, sondern stets moralischen Zwecken dienen. Den inneren Vorzug der christlichen Moral findet man weniger in neuen Lehren als in der Einflößung der Kraft, Aufgaben zu lösen, die das Vermögen des bloßen Menschen übersteigen. Die Milde, Friedfertigkeit, Standhaftigkeit, Geduld des Christen wird gepriesen. Namentlich ist es ein neues Verhältnis zum Leid, das überall hervorschaut. »Das unterscheidet uns von den anderen, welche Gott nicht kennen, daß jene im Unglück klagen und murren, uns dagegen das Unglück nicht von der Wahrheit der Tugend und des Glaubens abruft, sondern im Schmerz erstarken läßt« (Cyprian). – Auch das innigere Verhältnis zum Mitmenschen wird oft gepriesen: »wer die Last des Nächsten auf sich nimmt, wer in dem, worin er überlegen ist, dem Zurückbleibenden wohlzutun sucht, wer durch Mitteilung der Gaben Gottes an die Notdürftigen ein Gott für die Empfangenden wird, der ist ein Nachahmer Gottes« (Brief an Diognet). In Einen Anblick faßt die ethischen Wirkungen des Christentums Eusebius (etwa 270-340) zusammen: »es gibt allen teil an göttlicher Wahrheit, es lehrt, edlen und tiefen Sinnes die Frevel der Feinde zu ertragen und das Böse nicht mit gleichen Mitteln abzuwehren, es hebt über Leidenschaft und Zorn und alle wilde Begier hinaus, es treibt namentlich, vom eigenen Besitz den Armen und Bedürftigen mitzuteilen, jeden Menschen als einen Angehörigen zu begrüßen, auch den nach äußerer Satzung Fremden nach einem inneren Gesetz als Nächsten und Bruder anzuerkennen«.

So fühlt sich das Christentum durch Milde, Geduld und Humanität den Gegnern weit überlegen. Aber der mächtige Glücksdrang und die Erwartung einer neuen Welt lassen die Weichheit nicht in Weichlichkeit und den Opfersinn nicht in einen matten Verzicht verfallen. Der alte Christ erträgt und entsagt, aber er tut das in felsenfester Erwartung eines höheren Glückes; er denkt nicht kleiner, sondern größer vom Menschen und von seinen Zielen. Lactanz schreibt sein Hauptwerk namentlich in der Absicht, dagegen zu wirken, »daß sich die Menschen nicht, wie einige Philosophen es tun, so gering schätzen und sich nicht für ohnmächtig und überflüssig und wertlos und durchaus vergeblich geboren halten, welche Meinung die Mehrzahl zum Laster treibt«.

Auch das wirkt zu vollem Aufgebot der Kraft, daß die Entscheidung für oder wider Gott bei der eigenen Entschließung des Menschen liegt. Denn so gewiß der alte Christ mit einer geschichtlichen Überlieferung und gesellschaftlichen Umgebung eng verbunden ist, bei ihm selbst steht die große Wahl, an der sein Schicksal hängt. Es wird die volle Freiheit des Willens so zuversichtlich behauptet, wie kaum je zuvor und auch schwerlich nachher; ihre Leugnung scheint alle sittliche Verantwortlichkeit, ja allen sittlichen Wert aufzuheben; »es gäbe nichts Löbliches, hätte der Mensch nicht das Vermögen, sich nach beiden Seiten zu wenden« (Justin). Die Verantwortlichkeit aufs höchste zu steigern, war für das erst aufstrebende Christentum eine Lebensfrage. So verkündet es die Freiheit als eine gemeinsame Überzeugung der christlichen Kirche; die Freiheit reicht dabei über das Handeln hinaus auch auf die Überzeugung, auch der Glaube steht bei der freien Entscheidung des Menschen; Irrlehren über Gott anzunehmen dünkt daher eine moralische Schuld. Eine Verpflichtung, die Freiheit psychologisch zu begründen, empfindet man nicht, auch macht das Verhältnis der menschlichen Freiheit zur göttlichen Allmacht noch keine Sorge. Denn vom Menschen, nicht von Gott her, wird hier die Wirklichkeit betrachtet.

Aus solchen Überzeugungen entwickelt sich ein Leben voller Kraft, Aufregung, innerer Bewegung. In Aufbietung alles Vermögens gilt es, der Entscheidung für Gott treu zu bleiben. Es handelt sich um ein schroffes Entweder-Oder: entweder Erfolg und Genuß in diesem Leben, aber ewiges Verderben, oder Seligkeit im Jenseits, hier aber ein stetes Kämpfen und Leiden. Schon die Klugheit gebietet dabei, der kurzen Spanne Zeit die unermeßliche Ewigkeit vorzuziehen. Einstweilen herrscht die feindliche Macht und übt den härtesten Druck; mag der Gegner innerlich gerichtet sein, äußerlich bleibt er in Macht und vermag er schweres Leid zuzufügen. So hebe das Gemüt sich über die sinnliche Gegenwart durch die Kraft des Glaubens hinaus und ergreife in freudiger Zuversicht die noch verhüllte bessere Welt! Der nächsten Lage gegenüber bedarf es hauptsächlich der Tapferkeit, Tapferkeit im Sinne eines unbeirrten Ausharrens; als die Krone der Tugenden wird oft die Geduld gepriesen. Dabei fühlt sich der alte Christ dem Stoiker bald nahe verwandt, bald fern und feindlich. Auch der Christ soll ein Held sein und der ganzen Welt zu, trotzen vermögen. »Soldaten Gottes« nannten sich die Christen, namentlich die abendländischen, gern, unter den Denkern schwelgt besonders Cyprian in Bildern aus dem Heereswesen und Soldatenleben. Dagegen widersprechen die christlichen Denker den Stoikern schroff in der Behandlung der Affekte. Wie hätte das Christentum die Menschheit zu einer völligen Umwälzung aufrufen und zugleich das Gefühlsleben unterdrücken, die stoische »Apathie« empfehlen können! Ohne eine tiefe Erschütterung des Menschen durch Reue und Buße kommt das neue Leben nicht in Fluß, und es wird in seinem Schweben zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt von Furcht und Hoffnung unablässig hin und her bewegt. So gilt es, die Affekte nicht sowohl zu unterdrücken oder herabzustimmen als sie zum rechten Ziele zu wenden; die Furcht vor Gott befreie von aller anderen Furcht! »Die Furcht ist nicht auszurotten, wie die Stoiker, noch zu mäßigen, wie die Peripatetiker es wollen, sondern sie ist auf den rechten Weg zu leiten, und es ist die Besorgnis in der Weise aufzuheben, daß lediglich diejenige übrig bleibt, welche als die echte und wahre nichts anderes zum Gegenstand der Furcht werden läßt« (Lactanz).

Die Erregung und Bewegung des ganzen Menschen durch die eine Aufgabe gestattet keine volle Mitarbeit an den Werken der Kultur; diese konnte jene um Rettung und Seligkeit besorgten Menschen um so weniger anziehen, je mehr die antike Welt nach dem Scheitern der Wiederbelebungsversuche im zweiten Jahrhundert einem raschen Sinken verfiel. So zeigt das alte Christentum keinen Drang nach Verbesserung der allgemeinen Zustände oder nach Erforschung der Welt, hier wie da erscheint eine Zurückhaltung, wenn nicht Ablehnung, nach der Verschiedenheit der Individuen und nach dem Gegensatz griechischer und römischer Art in verschiedenen Graden. Auch die Kunst, die doch dem Seelenleben der alten Christen nicht wenig galt, wird bei den Denkern nirgends anerkannt. In solcher Geringachtung steckt ein Rückschlag gegen die antike Schätzung der Form, die nach dem Verblassen und Verschwinden eines lebendigen Gehaltes den alten Christen eine Überschätzung äußerer Glätte dünkte. Da die Form ihnen nichts für ihr Glücksverlangen bietet, so wird sie als gleichgültig, nichtig, ja verführerisch abgelehnt, und das Streben ausschließlich dem Inhalt, der Gesinnung, der sittlichen Verfassung zugewandt. Selbst bei einem Clemens heißt es: »Die Schönheit eines jeden Wesens liegt in seiner Tüchtigkeit«; die Lateiner aber steigern die Mißachtung der Form bis zur Gleichgültigkeit gegen die grammatische Korrektheit. »Was schadet es«, so meint Arnobius, »wenn ein Fehler in Numerus und Kasus, in Präposition, Partizipium und Konjunktion gemacht wird?« Das sind Stimmungen, welche eine barbarische Verachtung aller Bildung nahelegen und einen kulturfeindlichen Geist verraten. Aber sie sind begreiflich aus ihrer Zeit, und sie haben eine Wendung des menschlichen Strebens vollzogen, die lange Jahrhunderte anhielt. Einen vollen Rückschlag dagegen brachte erst die Renaissance.

Aber wenn die altchristlichen Denker ihre Stärke in der ausschließlichen Hochhaltung des Seelenstandes haben, auch hier fehlen dem Bilde nicht Schatten. Ihr ungestümes Glücksverlangen gefährdet die Reinheit der Beweggründe des Handelns, sie bleiben hinter denen der alten Denker weit zurück. Hatten diese einmütig dem Guten eine innere Schönheit zuerkannt und in der Freude an solcher Schönheit den Hauptantrieb echten Handelns gefunden, so besteht die Mehrzahl der Kirchenväter, namentlich der Lateiner, entschieden auf einer Belohnung, einer ausgiebigen Belohnung der Tugend. Die Tugend gilt als Weg und Mittel zur Seligkeit, einer im Jenseits mit Sicherheit erwarteten und mit glühenden Farben ausgemalten Seligkeit. Der Inhalt des sittlichen Lebens scheint darüber gleichgültig zu werden, wenigstens äußert sich keine Freude daran. Vielmehr wird es wohl gar eine Torheit genannt, die Mühen, welche die Tugend in unserer Welt bereitet, Arbeit und Not, Schmerz und Schande, auf sich zu nehmen ohne die Zuversicht eines großen Lohnes, das Laster zu fliehen ohne die Furcht vor einer schweren Strafe. »Gäbe es keine Unsterblichkeit, so wäre es weise, böse zu handeln, töricht, gut zu handeln« (Lactanz). Der schroffe Gegensatz zur Weltumgebung und die ungeheure Spannung der Läge mag so krasse Äußerungen erklären und leidlich entschuldigen; auch sei in Anschlag gebracht, daß die christlichen Väter mit ihrer Wendung zum Volk mehr die Stimmung der Menge spiegeln und mehr eine Wirkung auf diese erstreben als die antiken Denker. Immerhin bleibt unbestreitbar, daß in der Reinheit der sittlichen Motive die Mehrzahl der Kirchenväter hinter den altgriechischen Denkern zurückbleibt.

Die altchristliche Denkart hat ihre Größe in der Ausbildung eines selbständigen Lebenskreises, in dem Aufbau einer weltumspannenden Organisation. Hierher flüchtet sich alle Innigkeit des Gemütes und alle Kraft des Handelns, hier entsteht inmitten aller Weltflucht eine neue Welt, ein Reich voll freudigen und fruchtbaren Wirkens. Schon das war etwas Großes, daß sich hier, inmitten aller Zersplitterung und Zerreibung der Verhältnisse, der feste Halt für die Individuen fand, der lange vergebens gesucht war, daß hier eine Gemeinschaft der Überzeugung und Gesinnung entstand, die jedem das Gefühl der Sicherheit gewährte und ihm hohe Ziele vorhielt. Hier weiß sich jeder dem anderen eng verbunden, da die Christusgläubigen Eine Seele und Eine Gemeinde bilden. Hierher wandert jetzt das antike Bild vom Organismus der Gesellschaft und gewinnt damit an Nähe und Wärme; wie Glieder eines Leibes, leben die Gläubigen miteinander und füreinander; was der eine erfährt, bewegt unmittelbar auch den anderen. Die vorwiegende Zusammensetzung der Gemeinden aus Armen und die ständige, wenn nicht Verfolgung, so doch Gefährdung, brachte es mit sich, daß der Kampf gegen Not und Leid zur wichtigsten Sorge wurde. Zur privaten Wohltätigkeit gesellte sich eine organisierte kirchliche Liebestätigkeit und erstreckte sich über die einzelnen Gemeinden hinaus. Den Witwen und Waisen, den Kranken und Schwachen, den Armen und Arbeitsunfähigen, den Gefangenen und Verfolgten soll geholfen werden und wird geholfen. Aber bei aller Anspannung gerät das Streben nicht ins Überschwengliche, alle Richtung der Gedanken auf die zukünftige Herrlichkeit verhindert nicht eine aufrichtige Schätzung der Arbeit und ein ernstes Anhalten zur Arbeit, nicht eine Klarheit und Besonnenheit in der Verwendung der vorhandenen Mittel. Namentlich aber wird die innere Pflicht nicht zu einem äußeren Zwange, die Hilfe wird nicht als eine Forderung eingetrieben, sondern von freier Liebe erwartet. Daß dabei die Wirklichkeit des Lebens sich keineswegs glatt gestaltete, zeigen vielfache Klagen über Lauheit und Kargheit der Spenden; der Grundgedanke aber wurde trotzdem aufrecht gehalten. Bei äußerer Sonderung soll innerlich der Besitz gemeinsam sein, nur als Verwalter, nicht als Eigentümer der Güter darf sich ihr Inhaber fühlen. So verwende jeder nur das zum Leben Notwendige für sich selbst und biete alles übrige den Brüdern dar; denn unrecht ist es, daß einer schwelgt, wo viele darben. Schon das läßt allen Luxus verwerfen. Ebenso verpönt ist alles Streben nach selbstischer Aufspeicherung äußerer Güter, namentlich aber eine Ausbeutung wirtschaftlicher Überlegenheit. Um solchen Gelüsten entgegenzuwirken, wird das aristotelische Verbot alles und jedes Zinses – durch Lactanz – auf christlichen Boden verpflanzt und der kirchlichen Lebensordnung dauernd eingefügt. Was immer sich aber hier an innerer Zusammengehörigkeit entwickelt und an opferwilligem Handeln aufkommt, das verbleibt auf dem Boden der gegebenen sozialen Verhältnisse, führt nicht zur Forderung einer neuen Ordnung. Dafür erschien die Welt als zu fremd und gleichgültig, auch als zu fertig und abgeschlossen. So blieb das Hauptmittel gegen alle Schäden die freie Liebestätigkeit.

Zum Kampf gegen die Not gesellte sich der wider die Unsittlichkeit. Die Christen umgab das Raffinement einer überreifen und üppigen Kultur, blendende und aufregende Genüsse lockten und reizten, eine laxe Denkart der Zeit fand sich leicht mit allen moralischen Bedenken ab. Es galt einen Kampf gegen einen übermächtigen, beinahe unwiderstehlichen Strom; kein Wunder, daß, wenigstens grundsätzlich, keine Verständigung erlaubt und die Gegenwirkung aufs schroffste gestaltet wurde. Verboten wird alles bloße Vergnügen, verworfen aller Schmuck; leicht könnten sie uns erschlaffen und fremden Dingen unterwerfen. Solche Gesinnungen verdichten sich zu festen Regeln und Forderungen, manche heidnische Vergnügungen, z. B. die Zirkuskämpfe, werden gänzlich verworfen, durchgängig aber wird Zurückhaltung und Vorsicht geboten. Am eifrigsten ist der Angriff auf die geschlechtliche Unreinheit, über welche die heidnische Umgebung aufs laxeste dachte; auch das zeigt einen neuen Geist, daß den Männern dieselbe Strenge des Lebenswandels auferlegt wird wie den Frauen, und daß die Ehescheidung stark erschwert wird, welche damals Judentum wie Heidentum recht leicht möglich machten.

Erwägen wir, daß alle diese Leistungen auf der Überzeugung ruhten, unmittelbar im Dienste Gottes zu stehen, so kann es nicht wundernehmen, daß die christliche Kirche ein hohes Selbstbewußtsein gewann, und daß sie alle innere Gemeinschaft mit dem Heidentum entschieden abwies. Die Christen betrachteten sich als das Weltvolk, das den ganzen Erdkreis einnehmen werde, auch als das Kriegsvolk Gottes; ihre Gemeinschaft erschien als unmittelbar von Gott eingesetzt und daher aller menschlichen Verbindung unvergleichlich überlegen; nur diese Gemeinschaft ist, wie Origenes näher ausführt, unveränderlicher Art. Denn hier herrscht das von Gott gegebene Naturgesetz, während die Staatsgesetze von Menschen stammen und von Menschen verändert werden. Nur diese christliche Gemeinschaft ist wahrhaft universal: als das göttliche Vaterland will sie alle Menschen umfassen und retten, während die Verschiedenheit der Völker die Staaten unvermeidlich spaltet. Damit erscheint die christliche Gemeinschaft als der Kern des gesamten Menschheitslebens, als das Urvolk, das seit Beginn der Geschichte war, und dem alles entlehnt ist, was andere Völker an Wahrheit besitzen.

So stand bei dem Zusammenstoß mit der staatlichen Ordnung, der namentlich beim Kaiserkult erfolgte, des gläubigen Christen Entscheidung außer Zweifel: in Gefahren und Nöten, in Schmach und Tod ist Gott unbedingt die Treue zu wahren. Die Nichtchristen verwarfen natürlich diese Absonderung (ἀμιξία) aus politischen und sittlichen Gründen, sie ließen es neben hartem Zwange auch an philosophischer Belehrung nicht fehlen. Den gewünschten Erfolg aber erreichten sie nicht; die Christen verblieben dabei, den Gegensatz der religiösen und der staatlichen Gemeinschaft dem von göttlicher und menschlicher Ordnung gleichzustellen; schon jetzt erscheinen auf kirchlicher Seite alle Ansprüche, die durch das Mittelalter hindurch bis zur Gegenwart reichen.

So fehlt es nicht an Keimen schwerer Verwicklungen, die später viel zu schaffen machten. Auch gehört das zum Bilde dieser Zeit, daß ein starker Anthropomorphismus die Gedanken beherrscht, daß das ethische Streben mit selbstischem Glücksverlangen vielfach zusammenrinnt, daß bisweilen Leidenschaft und Fanatismus eine unheimliche Wildheit erreichen. Weitere tiefe Schatten werden sich unten bemerklich machen. Namentlich seit dem dritten Jahrhundert wurde beim Durchschnitt der Menge mehr eine Disziplinierung als eine Moralisierung erreicht. Aber selbst das ist nicht gering anzuschlagen, wurde doch immerhin ein ausgedehnter Kreis vom Ernst des Lebens ergriffen und in irgendwelche geistige Bewegung gebracht. Ein neuer Anfang war damit gesetzt, ein frisches Leben geweckt, ein fruchtbarer Keim gepflanzt. Das Ganze blieb namentlich so lange in voller Kraft und Wahrhaftigkeit, als der harte Kampf gegen eine übermächtige Umgebung das Leben vor träger Gewöhnung wie vor Schein- und Heuchelwesen bewahrte. So hat das Christentum der Menschheit beim Versinken einer alten Kultur und in starker Erschütterung des Lebens einen festen Halt geboten und ein hohes Ziel eröffnet, so durften seine Jünger mit Fug und Recht sich als die Seele der Welt bezeichnen.

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b. Die altchristliche Spekulation.

α. Clemens und Origenes.

Die Versuche, das Christentum in eine spekulative Erkenntnis umzusetzen, wie sie zunächst das Morgenland unternahm, gehören auch in eine Geschichte des Lebensproblems. Denn das Erkennen bedeutete dabei kein bloßes Denken über das Leben, es galt als seine innerste Seele, als seine Erhebung zu voller Freiheit und Wahrheit. So konnte es alle Wärme der Gesinnung an sich ziehen und in seinem Gelingen zugleich die Innigkeit und Zartheit des Gefühles steigern.

Den Anfang bilden hier die beiden Alexandriner Clemens (seit 189 als Lehrer tätig) und Origenes (185-254). Beide drängt es vom Glauben zum Wissen, aber Clemens verbleibt bei allgemeinen Umrissen und wendet die Sache vornehmlich nach der Richtung der Moral, Origenes aber schafft ein großes spekulatives System, das erste auf dem Boden des Christentums.

Clemens ist der eifrigste Anwalt des Wissens gegenüber dem Glauben, die Aufgabe fällt hier nicht schwer, da ihm der Glaube nicht mehr bedeutet als eine niedere Stufe der Einsicht, das Annehmen einer Lehre auf Grund kirchlicher Autorität. Erst das Wissen, so zeigt er, macht die Wahrheit dem Menschen vollauf zu eigen, erst das Wissen führt vom Bilde zur Sache, vom bloßen Tatbestand zu seiner Begründung. Echtes Erkennen vermag den Menschen so einzunehmen, daß er Wissen und Einsicht nicht sowohl besitzt als in Wissen und Einsicht verwandelt wird. Erst solches Erkennen gewährt eine reine, selbstlose Freude, es bedarf keiner Belohnung von außen her. Wer für die Arbeit belohnt sein will, der verkauft seine Überzeugung und handelt nach Kindes Weise; den wahren »Gnostiker« hingegen (Clemens liebt diesen Ausdruck, während Origenes ihn vermeidet) hat die Liebe zu Gott zum Manne gereift, der nichts will als die Wahrheit selbst. Hätten wir zwischen dem Erkennen und der ewigen Seligkeit zu wählen, so wäre unbedenklich auf diese zu verzichten. Wurzel und Krone alles Erkennens bildet aber die Erkenntnis Gottes. In ihr wird der Mensch über Zeit und Raum hinaus in das unvergängliche Sein erhoben und gänzlich in Gott aufgenommen, »vergottet« ( θεούμενος). Zugleich werden alle Affekte abgelegt und das stoische Ideal der Seelenruhe »Apathie« verwirklicht. Solche Innerlichkeit des Lebens bedarf keines sichtbaren Ausdrucks, tief unten liegen hier alle Satzungen und Einrichtungen äußerer. Art. Der wahre Gnostiker lobt Gott allezeit, nicht bloß an einzelnen Tagen und Stunden, sein ganzes Leben ist ein heiliger Festtag.

Diese Höhe droht ihre Jünger von der Gemeinde abzusondern und die Christenheit zu spalten. Aber Clemens wirkt einer solchen Gefahr mit aller Kraft entgegen. Mag hier das Wissen, dort der Glaube walten, beide wollen dieselbe Wahrheit, und es zeigt die allegorische Deutung einen Weg zur Verständigung; mag hier die Liebe zum Guten, dort die Furcht vor Strafe zum Handeln treiben, hier wie da wird dasselbe gefordert, auch das Wirken für die Gemeinde verbindet beides zum selben Ziel. Ja die Erkenntnis, die zunächst die Menschen zu scheiden droht, einigt sie vielmehr durch die tätige Liebe, die aus ihr hervorgeht. Denn wie das Erkennen eine selbstlose Hingebung an die Wahrheit enthält, so entzündet es auch einen eifrigen Drang, die Liebe zu bekunden: »der Erkenntnis folgen die Werke wie dem Körper der Schatten«. Sie zu bekunden zunächst gegenüber Christus durch standhaftes Zeugnis bis zur freudigen Preisgebung des Lebens, dem »vollendeten Werk der Liebe«. Dann aber durch ein rastloses Wirken für Christi Gemeinde. Die hier herrschende Schätzung der reinen Gesinnung ergibt eine freie und freudige Stellung zur Welt und ihren Gütern: der wahre Sieg über die Welt besteht nicht in äußerlicher Fernhaltung, sondern in innerlicher Überwindung. Der Reiche verzichte daher auf seine Güter nicht äußerlich, sondern innerlich;, er tut das, indem er alles in den Dienst der Gemeinschaft stellt, für sich selbst nur das Notwendige verwendet. Solche Gesinnung läßt die Ehe nicht als eine Verwicklung in die Welt verschmähen, sondern sie seelisch vertiefen und warm empfehlen, »um des Vaterlandes willen – und um nach unseren Kräften zur Vervollkommnung der Welt zu wirken«. Nirgends in der alten Kirche wird das Familienleben so liebevoll behandelt wie bei diesem Denker. »Das Schönste aller Dinge ist eine häusliche Frau, die sich selbst und den Mann mit eigenem Schmuck umkleidet, so daß alle sich freuen, die Kinder über die Mutter, der Mann über die Frau, diese über jene, alle aber über Gott«.

Solchem freundlichen Verhalten zum Leben entspricht eine höhere Schätzung der Welt und der Weltgeschichte. Wohl empfindet auch Clemens bitter den Gegensatz des Christentums zu seiner Umgebung, aber das hindert ihn nicht, die von Gott gesetzte Ordnung als die beste und schönste zu preisen. Das Leben erscheint ihm als eine gemeinsame Schule, die Geschichte als eine fortschreitende Erziehung der Menschheit; als eine Vorbereitung (προπαιδεία) zum Christentum wird die antike Bildung, namentlich die Philosophie, bereitwillig anerkannt. Ja, es wird wohl die christliche Lehre als eine Auswahl und Verbindung des Richtigen aus den verschiedenen Gedankenwelten bezeichnet.

Sicherlich enthalten solche Überzeugungen nicht die Durchschnittsansicht der Gemeinde; Clemens selbst erwähnt oft genug die Scheu der Menge vor der Philosophie samt der Meinung, daß sie vom Teufel stamme. Aber daß in den Kämpfen jener Zeit eine so freie und innerliche Überzeugung überhaupt entstehen konnte, das gehört auch in das Gesamtbild des alten Christentums.

Ein umfassendes System christlicher Lehre und Weltanschauung hat zuerst Origenes geschaffen. Den Grundstock bildet dabei aber weniger das Christentum als der Platonismus. Seine Verschmelzung von Wesenhaftem und Gutem und sein Aufstreben von dem unsteten Fluß der Zeit zu einem unwandelbaren Sein, vom trüben Gemenge der Sinnenwelt zu reiner Geistigkeit beherrscht auch Origenes' Gedanken. Als mächtiger Einschlag gesellt sich dann das Christliche hinzu, es bringt sowohl eine stärkere Betonung und persönlichere Gestaltung der moralischen Idee als eine engere Verknüpfung des Ewigen mit der Zeit und eine höhere Schätzung der geschichtlichen Ordnung wie der menschlichen Gemeinschaft. Die Wechselwirkung beider Gedankenreihen und Empfindungsweisen erzeugt eine fruchtbare Bewegung, ein weites Gedankenreich, ja einen eigentümlichen Typus der Welt- und Lebensgestaltung. Aber eine volle Einigung und eine gleichmäßige Durchbildung des ganzen Lebenskreises wird nicht erreicht, alle glänzenden Eigenschaften erheben Origenes nicht zur Größe eines ursprünglichen Schaffens.

Gleich im Gottesbegriff rinnen verschiedene Strömungen zusammen. Vor allem bekämpft der Denker den Anthropomorphismus seiner Umgebung, er möchte das höchste Wesen über alles Menschliche und Weltliche hinaus in eine erhabene, auch unseren kühnsten Begriffen unzugängliche Ferne rücken. Wir können nur sagen, was Gott nicht ist, wir scheinen damit alle Lebensgemeinschaft mit ihm einzubüßen. Aber inmitten der Verneinung erscheint bei Origenes auch ein Streben nach Bejahung. Im besonders nachdrücklichen Verwerfen gewisser Vorstellungen bejaht und empfiehlt er das Gegenteil. Gegenüber der Vielheit der Dinge bildet Gott die strenge Einheit, gegenüber der sonstigen Vermengung von Sinnlichem und Geistigem die reine Geistigkeit, gegenüber dem Fluß und Wandel unserer Welt das unwandelbare Sein. Zu solchen Forderungen der Spekulation gesellt sich als ein neuer Zug Gottes Erweisung innerhalb der Welt: die weltdurchdringende Liebe und Güte; erst dessen Entwicklung verbindet den Denker mit der Überzeugung der Gemeinde. Um seiner Güte willen hat Gott die Welt geschaffen, und kraft ihrer läßt er nicht das Mindeste verloren gehen. Alle Völker und Zeiten umfaßt seine Liebe, und es geschieht nichts Gutes unter den Menschen ohne ihn, »den Gott über allen« (ὁ ἐπὶ πᾶσι θεός), wie Origenes ihn zu nennen liebt. Den höchsten Erweis dieser Güte bildet das Christentum mit dem Eingehen des Göttlichen in die Welt und der Verbindung von Zeit und Ewigkeit. Was die Welt an keiner Stelle entbehren kann, das hat erst hier volle Kraft und Klarheit erlangt.

Um aber die ewige Wesenheit und vollkommene Güte darzustellen, muß die Welt die gemeinchristliche Vorstellung weit überschreiten. Mag Origenes eine grenzenlose Ausdehnung im Raume mit der echtgriechischen Begründung verwerfen, daß es ohne Begrenzung keine Zusammenfassung und Ordnung gibt, lieber verweilt er bei der Weite als bei der Enge der Welt. Bei der Zeit aber treibt ihn die Scheu vor ungebührlicher Beschränkung zum vollen Bruch mit der Vorstellung der Gemeinde und zu enger Annäherung an das altgriechische Bild der Geschichte. So entschieden wie irgendein alter Philosoph verneint Origenes einen zeitlichen Anfang der Welt. Gewiß hat diese unsere Welt wie ein Ende so auch einen Anfang, aber vor ihr lagen unzählige andere Welten, und andere werden ihr folgen, unser jetziges Dasein bildet nur ein Glied einer endlosen Kette, die Welt mit dem geschichtlichen Christentum nur eine Welt unter anderen Welten. Dem christlichen Denker erscheint freilich diese Folge der Welten nicht als ein bloßer Rhythmus des Naturlaufs, sondern als ein Werk des göttlichen Schaffens, aber das Schaffen selbst wird aus einem einmaligen Akt eine fortlaufende Tat, die immer von neuem einsetzt. Auch die stoische Lehre von einer völlig gleichen Beschaffenheit aller Weltperioden wird abgelehnt, da sie alle Freiheit der Entscheidung aufhebt, die Origenes unbedingt festhält. Die Entscheidung aber wird verschieden sein und die Welten eigentümlich gestalten. So kann ganz wohl unsere, durch das Erscheinen Christi ausgezeichnete Welt eine einzigartige Stellung wahren.

Auch beim Inhalt der Welt werden Griechisches und Christliches miteinander ausgeglichen. Die griechische Überzeugung stellt die Welt unter den Hauptgegensatz des Geistigen und des Stofflichen, die christliche unter den des moralisch Guten und des Bösen; dort wurzelt das Übel im dunklen Stoff mit seiner Notwendigkeit, hier in der Schuld, welche Freiheit voraussetzt. Origenes bemüht sich eifrig, eine feinere Art des Stoffes für das Gute zu retten, ohne die Verwerfung des gemeinen Stoffes abzuschwächen. Die Tiefe der Wirklichkeit – so wird es von hier aus zu einem bleibenden Bestandteil der christlichen Spekulation – bildet die unsichtbare Welt der Ideen, erst nach ihr entsteht das stoffliche Sein, das immerfort ihres begründenden und beseelenden Wirkens bedarf. Aber als das Werk Gottes war auch dieses Sein zu Anfang viel reiner und feiner als die grobe Sinnlichkeit, die uns jetzt bedrückt und verführt; zur niederen Art zog es erst der Abfall der Geister herab, welche die zur Behauptung des Guten nötige Kraft nicht wahrten. So scheint der Gegensatz christlicher und griechischer Überzeugung ausgeglichen: die letzte Entscheidung liegt bei der sittlichen Tat, aber die unmittelbare Empfindung wird von tiefem Widerwillen gegen den gemeinen Stoff beherrscht, und die Bahn wird frei für ein asketisches Lebensideal. Die Askese wird hier auch innerhalb des Christentums wissenschaftlich begründet; im Gegensatz zu Clemens scheidet sich eine strengere, möglichst enthaltsame Lebensführung scharf von der allgemeinen; nicht nur die Gesinnung, auch die Art des Tuns trennt den vollkommenen Christen von der Menge.

Aus solchen Überzeugungen entwickelt sich ein eigentümliches Bild von den Geschicken und Zielen des Menschen. Die menschlichen Seelen gehören, als ein Hauptteil der göttlichen Schöpfung, zum dauernden Weltbestande, sie lebten daher schon vor diesem Leben, sie befinden sich hienieden infolge eigener Schuld, es gilt für sie eine Rückkehr zur göttlichen Höhe. Denn diese Welt ist eine Stätte der Versuchung und Erniedrigung, der Körper mit seiner Schwere zieht den Geist in die niedere Sphäre hinab und hemmt alle reinen Freuden. Jedoch wirkt siegreich gegenüber dem Stoff die Macht des Geistes mit seiner Erkenntnis, und in allem Elend des nächsten Daseins erhält sich felsenfest das Vertrauen, daß endgültig nichts von dem verloren gehen kann, was der ewige Gott geschaffen hat und mit seiner Liebe behütet; der spekulative wie der ethische Zug des Mannes verbinden sich zu der Überzeugung von einer völligen Wiederherstellung aller Dinge, einer Zurückführung auch des weitest Verirrten zu seiner göttlichen Heimat. Indem so der Weltlauf gänzlich zum Ausgangspunkte zurückkehrt, in aller Bewegung nichts verloren, aber auch nichts gewonnen wird, mag die ganze Geschichte bloß ein zeitlicher Durchblick der Ewigkeit dünken, und es droht alle Arbeit der Welt zu traumhaftem Schein herabzusinken.

Bei diesem Zurückstreben zur reinen Geistigkeit und vollen Ewigkeit wird zum Kern des Lebens das Erkennen, als der einzige Weg vom Schein zum Wesen, von der Zeitlichkeit zur Ewigkeit. Unendlich höher als die alltägliche Religionsübung steht das Verlangen nach reiner Erkenntnis Gottes, die alles Zeitliche und Räumliche, alles Bildliche und Wandelbare abstreift, so daß der Mensch ganz in Gott aufgenommen, in Gott verwandelt wird.

Solches Ideal gestaltet auch das Christentum eigentümlich, das seiner Verwirklichung dient. Vor allem kann es hier nicht einen einzelnen Punkt innerhalb des Verlaufs der Geschichte bedeuten, es muß alles Dasein umspannen und in Wesen und Wert erhöhen. Seinen Kern bildet die volle Gegenwart des Unvergänglichen in dem Vergänglichen, das überzeitliche Wirken der göttlichen Vernunft, das alle ihre Jünger von der Zeit befreit und in die Ewigkeit versetzt. So eröffnet erst das Christentum ein volles Erkennen göttlichen Wesens, eine Vergottung des Menschen. Ein deutlicher Übergang von solcher Idee zum geschichtlichen Christentum fehlt. Aber auch dessen Behandlung zeigt ein Streben nach Universalität, einen weiten und freien Sinn. Das Christentum erstreckt sein Wirken über die ganze Geschichte, Christi Erscheinen bildet den Höhepunkt einer weltgeschichtlichen Bewegung. Denn es erhob zur vollen Macht und Herrschaft, was auch vorher schon vorhanden war, aber bis dahin zerstreut und vereinzelt blieb. Denn von jeher hat Gott sich der Welt angenommen, und jederzeit gab es Gerechte und Wohlgefällige. Aber erst in Jesus begann die volle Vereinigung, die »Verwebung« ( συνυφαίνεσθαι), der göttlichen und der menschlichen Natur, und es ward durch solche Gemeinschaft mit dem Göttlichen die menschliche Natur göttlich nicht bloß in Jesus, sondern in allen, die das von ihm eröffnete Leben ergreifen und weiterführen. Der wahre Nachfolger soll nicht bloß ein Anhänger Christi ( Χριστιανός) bleiben, sondern selbst ein Christus werden und mit seinem Leben und Leiden der Errettung der Brüder dienen. So wird das Christentum auch auf dem Boden der Erfahrung ein Werk, das immer von neuem beginnt und die ganze Geschichte durchdringt.

Im menschlichen Kreise erweist jenes eine Größe und Universalität vornehmlich in der Moral. Es hat nach Origenes' Überzeugung keine neuen Gebote gebracht, aber es tat Größeres, indem es der Menschheit die Kraft zur Erfüllung auch der schwersten Gebote verlieh, die Tiefe der Gesinnung ergriff, die Herzen mit Milde und Liebe erfüllte. So ist es auch die ethische Größe und die ethische Wirkung, welche die Persönlichkeit Jesu die Helden des Altertums weit überragen läßt. Kein anderer Kirchenvater des Morgenlandes hat sich so sorgfältig und liebevoll mit dieser Persönlichkeit beschäftigt wie Origenes. Er schildert die Güte und Menschenfreundlichkeit Jesu, seine Milde und Sanftmut; von ihm können sich auch uns anderen solche edlen Gefühle mitteilen, uns eine Beruhigung des ganzen Wesens bringen, uns zu Söhnen des Friedens machen. Der Denker verweilt bei seinen Leiden und preist das Blutzeugnis aus reiner Liebe als den allein entsprechenden Dank; er entwickelt dabei einen eigentümlichen Gefühlston individueller Aneignung (»mein Jesus«). Aber er steigert die Weichheit der Empfindung auch schon zu spielender Gefühlsschwelgerei, z. B. in der Betrachtung des Eindrucks der Wunden auf die Seele, und er verknüpft in seiner allegorischen Deutung des Hoheliedes das Ideal jungfräulichen Lebens mit einer schwärmerischen, von krankhaften Auswüchsen nicht freien Behandlung der Persönlichkeit Jesu, des »Bräutigams« der Seele.

Jedenfalls hat die Verwandlung des Christentums in Spekulation hier keine Erkältung des Gefühls erzeugt. Auch ist Origenes eifrig bemüht, in Glauben und Leben einen Zusammenhang mit der Gemeinde zu wahren. Für die Lehre bot die allegorische Deutung ein fügsames Werkzeug, das Origenes ausgiebig verwandte und auch technisch weiterbildete. Im Leben und Handeln aber verbindet ihn ebenso die Schätzung der Moral mit seiner Umgebung, wie ihn das Streben nach einer ewigen und universalen Wahrheit die christliche Gemeinschaft hoch über den Staat hinausheben läßt.

Demnach umspannt der weite und reiche Geist des Mannes verschiedene Gedankenkreise und hält sie möglichst zusammen. Eine volle Einigung aber wird nicht erreicht. Mag die Moral die Kluft zwischen dem Christentum des Erkennenden und dem der Menge überbrücken, mag auch die Hochschätzung der Sakramente alle Gläubigen verbinden, im Grunde verbleibt eine tiefe Kluft. Wie fern und fremd ist jenem selbstlosen Aufgehen in das ewige Sein, jener »Vergottung«, die der Denker erstrebt, die Stimmung der Menge, die nach seiner eigenen Schilderung vornehmlich durch die Furcht vor dem göttlichen Gerichte bewegt wird und nicht handelt ohne einen Lohn zu hoffen, die sichtbarer Zeichen bedarf und zähe am Sinnlichen haftet. Selbst im Streben nach einem Zusammenhang blickt Origenes auf solche Lebensführung als auf etwas Niederes und Fremdes herab, und es fällt ihm die Menschheit schließlich doch nach griechischer Art in zwei Klassen auseinander. Wenn er meint, das Christentum könne unmöglich die ganze Menschheit fördern, ohne zu einem jeden nach seinem besonderen Vermögen zu reden und sich auch der Fassungskraft der Niederen anzupassen, so zeigt diese Rechtfertigung selbst, daß der Denker einen weiten Abstand von seiner Umgebung empfindet. Namentlich darin wirkt die antike Art noch fort, daß der Gegensatz nicht als flüssig und einer allmählichen Überwindung fähig, sondern als starr und unveränderlich gilt. So verbleiben nebeneinander ein esoterisches und ein exoterisches Christentum. Das esoterische hat eine außerordentliche Weite, Freiheit und Innerlichkeit. Aber es schwebt viel zu hoch über den allgemeinen Verhältnissen, um kräftig zu ihnen wirken zu können. Auch ist es mehr ein christlich gefärbter Platonismus, ein verinnerlichtes und seelisch erwärmtes Griechentum als der Aufbau einer neuen Welt und Lebensordnung.

Aber wie dem sei, der hier geprägte Typus des Christentums hat das Morgenland dauernd gewonnen und auch auf das Abendland vielfach gewirkt. Wohl nahm die immer geschlossener und selbstbewußter auftretende »Orthodoxie« begreiflicherweise an manchen Lehren des Origenes Anstoß, und es mußten seine Anhänger unter ihrem Druck manche Abschwächungen der Grundgedanken zugestehen, ohne damit die schließliche Verwerfung des Systems abhalten zu können. Aber jene Orthodoxie ruht selbst auf Origenes' Gedankenarbeit; »die Dogmen- und Kirchengeschichte der folgenden Jahrhunderte ist im Orient die Geschichte der Philosophie des Origenes« (Harnack). Herrschend blieb im Orient bis zur Gegenwart jene Fassung des Christentums als eines Eingehens des ewigen Seins in unsere zeitliche Welt und einer dadurch bewirkten Hinaushebung des Menschen über alle Schranken und Leiden dieser Welt. Der nähere Inhalt der Geschichte und die Besonderheit des Lebens Jesu verblassen vor jener Tatsache der Menschwerdung, wie auch das unter griechischem Einfluß gestaltete Dogma des Christentums weder von Jesu persönlicher Art noch von einer geistigen Eigentümlichkeit des Christentums irgend etwas zu berichten weiß. Das Dogma selbst, der scheinbar volle Triumph des Christentums, bekundet die fortwirkende Macht der griechischen Spekulation. Ihre volle Stärke aber erlangt die spekulative Richtung erst mit Hilfe des Neuplatonismus, der bald stromweise in das Christentum einzudringen beginnt.

 

β. Der Einfluß des Neuplatonismus. Gregor von Nyssa.

Der Umwandlung der geistigen Lage durch Plotin konnten auch die christlichen Denker sich nicht entziehen, ihrem eigenen Streben bot sein Weltbild viel zu viel, um sie nicht unwiderstehlich fortzureißen. Hier zuerst war die Wirklichkeit von ihrem innersten Grunde bis zur äußersten Verzweigung geistig belebt, alles Feste und Starre aufgelöst und einem einzigen Lebensstrome eingefügt, zugleich aber das Streben über das unmittelbare Dasein hinausgehoben und alles Sinnliche in ein Gleichnis einer unsichtbaren Ordnung verwandelt. Dies umflutete alles, was im Christentum der Spekulation geneigt war, mit übermächtigem Vermögen, es verlieh auch der christlichen Denkart eine Beweglichkeit und Geschmeidigkeit, ohne die eine Versöhnung von Glauben und Wissen zum Aufbau einer kirchlichen Gedankenwelt schwerlich so rasch gelungen wäre. Dabei vergessen die spekulativen Geister keineswegs das Eigentümliche des Christentums, nur zieht es sich ihnen mehr in das Seelenleben des Einzelnen zurück, als daß es in der Gedankenwelt den Kampf aufnähme und siegreich bestünde. Aber mag das Christliche gewöhnlich mehr folgen als führen, es bringt einen neuen Ton in das Ganze, ein weicheres und innigeres Gefühl, auch mischen die einzelnen Denker die Bestandteile recht verschieden. Für die christliche Philosophie beginnt mit dem Eindringen des Neuplatonismus ein neuer Abschnitt gegenüber dem bisherigen Vorwiegen des Platonismus und des Stoizismus; erst auf der Höhe des Mittelalters hat diese neue Denkart dem Aristotelismus weichen müssen, einem Aristotelismus aber, den sie selbst erheblich verändert und ins Seelische umgebogen hatte. Für uns genügt es, aus dieser älteren Zeit eines Mannes zu gedenken, der einen eigentümlichen Lebenstypus vertritt; das tut keiner mehr als Gregor von Nyssa.

Gregor von Nyssa (331-394) gehört zu den Vätern der Orthodoxie und ist von späteren Zeiten wegen seiner Verdienste um die Dreieinigkeitslehre als »Vater der Väter« gefeiert worden. Aber so aufrichtig seine Rechtgläubigkeit ist, sie wird von einem spekulativen Zuge mystischer Art getragen und durchwaltet, sie bildet weniger den Kern als das Gerüst seines religiösen Lebens. In seinem Gottesbegriff wird die vollkommene Persönlichkeit durch das absolute Sein weit zurückgedrängt, und das Verlangen nach persönlicher Lebensgemeinschaft hat Mühe, sich gegenüber dem Streben nach völliger Versenkung in die ewige Einheit zu behaupten. Es verschmelzen bisweilen in demselben Begriff die verschiedenen Gedankenreihen, und die neuplatonische Art überwiegt dabei leicht die christliche. Das »Schauen« Gottes bedeutet für Gregor nicht sowohl in altchristlicher Weise die Nähe von Person zu Person als die mystische Einigung mit dem Grunde des Seins, und der Vatername, auf Gott angewandt, bezeichnet ihm nicht bloß die Innigkeit liebevoller Fürsorge, sondern mehr noch den Ursprung unseres Wesens aus ihm und unsere Zugehörigkeit zu seiner Natur; so ist die Verbindung hier mehr metaphysischer als ethischer Art. Namentlich zeigt den Zusammenhang dieser Gotteslehre mit der philosophischen Spekulation ihr Lieblingsgedanke der Unendlichkeit des höchsten Wesens. Eine solche übersteigt wie alle Grenzen, so auch alle begriffliche Fassung, alle besonderen Eigenschaften werden hier unzulänglich; wohl sucht der Denker eifrig nach Namen zur Bezeichnung des göttlichen Wesens, aber er überzeugt sich bald vom Versagen aller menschlichen Ausdrucksmittel. So wünscht er sich sehnsüchtig Flügel, um über das Sichtbare und Veränderliche hinaus zu der beharrenden Natur, der unveränderlichen, in sich selbst gegründeten Macht zu gelangen. In diese möchte er sich versenken, durch das Eingehen in den Quell des Lichts selbst lichtartig werden. Mit solcher Verneinung aller Eigenschaften droht das Göttliche für uns in ein völliges Dunkel zurückzuweichen, unsere Welt aber zu wesenlosem Scheine zu sinken. Jedoch findet das bei Gregor eine Gegenwirkung: eine Verbindung von christlicher Überzeugung mit altgriechischem Schönheitssinn läßt ihn in der Welt einen reichen Gehalt entdecken und zugleich das Bild des Göttlichen lebensvoller gestalten, dessen Herrlichkeit sich in ihr spiegelt.

Die Idee der Schönheit wirkt bei Gregor nicht bloß durch die Vermittlung Plotins, sondern auch direkt von Plato her und daher mit mehr Frische und Anschaulichkeit. Durch die ganze Welt findet er Schönheit ergossen, Ordnung und Harmonie halten alle Mannigfaltigkeit zusammen, überall erscheint ein festes Maß, die rechte Mitte suche auch unser Handeln. Den Kern des Schönen bildet aber das Gute, und die höchste Schönheit ist die Reinheit des Herzens. In unserer vernünftigen Natur tragen wir ein Abbild des göttlichen Wesens; mag die Sünde es stark verdunkelt haben, durch Ablegung des Bösen läßt es sich wiedergewinnen und kann dann in voller Reinheit und Schönheit strahlen, dann den Menschen zum göttlichen Vorbilde weisen. Insofern liegt alle Gotteserkenntnis an dem ethischen Verhalten. »Wer sein Herz von aller Schlechtigkeit und aller Aufregung reinigt, der sieht in der eigenen Schönheit das Abbild der göttlichen Natur.« »So wird selig, wer reines Herzens ist, da er, auf die eigene Reinheit blickend, in dem Abbild das Urbild sieht.« Die weltüberlegene Hoheit Gottes können wir nicht erfassen, sondern das Maß der Gotteserkenntnis ist in uns: »Reinheit und Seelenruhe ( ἀπάθεια) und Fernhaltung alles Bösen, das ist die Gottheit. Ist nun jenes in dir, so ist Gott gänzlich in dir.«

Wenn aber solches Innewohnen des Göttlichen unserer Wirklichkeit einen höheren Wert und unserem Leben einen anschaulicheren Inhalt verleiht, so strebt die Bewegung immer über das nächste Dasein hinaus; mit allem ihrem Vermögen erzeugt die Welt nur eine Sehnsucht nach höheren Lebensformen, nun und nimmer darf sie selbst uns fesseln. So erhält das Leben den Charakter aufstrebender, alles überfliegender Sehnsucht. »Wir sollen nicht anstaunen die Schönheit des Himmelsgewölbes noch die Strahlen des Lichtes noch irgend etwas anderes von dem sichtbaren Schönen, sondern uns durch die an allem diesem erblickte Schönheit zum Verlangen der Schönheit führen lassen, deren Ehre die Himmel verkünden.«

Demnach bleibt die tiefste Neigung des Mannes darauf gerichtet, den Befund unserer Welt herabzusetzen und dem Menschen alle Lust daran auszutreiben. Es erwächst ein weicher Pessimismus, dessen gefühlsinnige Art oft moderne Wendungen vorausnimmt. Lebhaft schildert Gregor die mannigfachen Leiden und Schäden des Lebens, die Fülle von Haß und Übermut, von Schmerz und Friedlosigkeit, die Gewalt der Leidenschaften, deren ganze Kette von einem Gliede aus bewegt wird. Die Organe der Seele sind hier nicht geübt, beim Schönen Echtes und Unechtes zu unterscheiden. Alle besonderen Leiden und Schäden verblassen aber vor dem Gedanken der Nichtigkeit und Hinfälligkeit des ganzen irdischen Daseins. Überall waltet hier Unbestand und Vergänglichkeit. Die Blumen blühen jeden Frühling wieder auf, der Mensch hat aber nur die eine Jugend und welkt dann dem Winter des Alters entgegen. Verschieden sind die äußeren Geschicke des Lebens, und die Menge preist manchen glücklich, aber der tieferen Betrachtung verschwinden alle Unterschiede, am höchsten Ziel gemessen übertrifft kein Lebenslauf den anderen. Denn schließlich ist alles hier nichtig; wer könnte glücklich sein, wo alles so rasch dahinfließt und die Gräber unserer Eltern uns vor Augen liegen? Mag es Menschen geben, die solches Leid nicht fühlen und in sinnlichen Lüsten schwelgen: ihre tierische Stumpfheit macht sie im Grunde elender noch als die anderen, denn das Unglück nicht zu fühlen, das ist das größte Unglück. Wenn Jesus die Leidtragenden selig pries, so wollte er damit nicht den Schmerz als Schmerz verherrlichen, sondern die Erkenntnis des Guten, die aus dem Schmerz hervorbricht, ohne die er nicht möglich wäre.

Alle Weichheit und Zartheit des Gefühls kann dabei die Tatsache nicht verdecken, daß der Denker mehr spekulativ als ethisch gerichtet ist. Nicht die Sehnsucht nach mehr Liebe oder mehr Gerechtigkeit, sondern die nach mehr Wesenhaftigkeit und Ewigkeit treibt Gregor über die nächste Welt hinaus zu Gott. Das macht den Bruch besonders schroff. Denn enthält nur die unsichtbare Ordnung ein echtes Wesen, so sinkt alles übrige zu bloßem Schein; als einen solchen gilt es alles Sinnliche abzustreifen und alles aufzugeben, was in dies nichtige Leben verstrickt. Zu dem, was der wahrhaft Fromme hinter sich lassen muß, gehört auch »die Beschäftigung mit den Wissenschaften und Künsten und was in Sitten und Gesetzen geschätzt wird«; diesem Gedankengange – sonst urteilt Gregor milder – gilt die Ehe als der Anfang und die Wurzel des Eifers um unnütze Dinge. Wer als ein guter Steuermann seinen Lauf nach Gestirnen richten will, die nie untergehen, der lasse sein Dasein zwischen Leben und Tod in der Mitte schweben, er widme nie seine ganze Kraft dem Leben.

Solcher Ablösung von der Welt entspricht eine Versenkung in die Innerlichkeit des Gemütes. Hier fühlt Gregor sich des Zusammenhanges mit Gott unmittelbar gewiß, von hier aus strömt eine Seele auch in die Welt und Natur. Er tritt in ein seelisches Wechselleben mit der Natur, wie die frühere Zeit es kaum kennt, er vergißt ihre Beziehung zum Menschen und empfindet ihre Größe besonders im stillen Rauschen des Waldes und in der Abgeschiedenheit vom menschlichen Kreise. Daher nimmt er samt seinem Bruder Basilius in der geschichtlichen Entwicklung des Naturgefühls einen bedeutenden Platz ein, wie das neuerdings namentlich A. Biese dargelegt hat.

So bildet die Lebensanschauung Gregors den reinsten philosophischen Ausdruck der Zurückziehung des christlichen Lebens von der Welt, die nach dem äußeren Siege des Christentums mehr und mehr um sich griff.

Immer weniger hatte das Christentum das anfängliche Ideal behaupten können, inmitten einer schlechten Welt eine Zufluchtsstätte frommer Gesinnung und sittlichen Lebens zu bilden; der Zustrom größerer, ungeläuterter Massen hatte immer mehr Abschwächungen erzwungen. Schließlich entschied der äußere Sieg mit der Überflutung durch jene Massen den inneren Niedergang. Sollten ernstere, um ein ewiges Leben besorgte Gemüter nicht verzweifeln, so galt es, besondere Hilfen zu finden. Orient und Okzident gingen hier auseinander; dieser suchte die Hilfe vornehmlich bei einer Erhebung der Kirche, als einer objektiven Ordnung, über alle Schäden der Individuen, jener in der Zurückziehung der Individuen zu einem einsamen, Gott allein mit ganzer Seele in mystischer Hingebung dienenden Leben. Wie mächtig ein solches Leben die Zeitgenossen anzog, hat Gregor wohlgefällig geschildert; wie aber jene Versenkung in die Unendlichkeit des Gemütes unter Verwebung griechischer und christlicher Art eine wunderbare Weichheit und Zartheit des Empfindens erzeugte, das zeigt niemand deutlicher als er selbst, der Philosoph der mystischen Sehnsucht.

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c. Die Gestaltung einer kirchlichen Lebensordnung.

Von früher Zeit her hat das Christentum einen starken Zug zur Ausbildung einer sichtbaren und organisierten Kirche, einer Kirche, die das Individuum einer als heilig erachteten Autorität unterwirft, heilige Menschen und heilige Werke über das gemeinsame Leben hinaushebt, einen glanzvollen Kultus hervorbringt und namentlich durch das Mysterium der Sakramente die Seelen der Gläubigen beherrscht. Mehr und mehr ist dies, was zu Beginn noch minder entwickelt und nur eine Seite neben anderen war, zur beherrschenden Hauptsache geworden. Späteren Zeiten mochte solche Wandlung als ein Abfall von der Grundidee der Religion des Geistes und der Wahrheit erscheinen. Wer aber zugleich die Ansprüche der Seele auf Glück, die Besonderheit jener Zeitlage, die eigentümliche Art und Forderung des Christentums erwägt, der wird nicht nur die geschichtliche Notwendigkeit jener Wendung begreifen, er wird sie auch nicht für einen bloßen Abfall erachten. Der Gedanke der Kirche, eines eigentümlichen, von der Religion beherrschten Lebenskreises, entspringt dem innersten Wesen des Christentums. Als Verkündigung des nahen Reiches Gottes, als frohe Botschaft von einer neuen Welt, war es an die Menschheit gekommen. Die baldigen Zukunftshoffnungen erfüllten sich nicht, für eine längere Zeit hatte es sich in dieser Welt einzurichten, und es mußte dabei auch mit einem unvermeidlichen Sinken der anfänglichen Spannung rechnen. Wollte es sich nicht der Welt ergeben und damit sich selbst verlieren, so mußte es ihr gegenüber einen eigentümlichen Lebenskreis entwickeln, so mußte es diesem Lebenskreis seine Ideale und Hoffnungen anvertrauen. Die dem Christentum wesentliche Überzeugung von der Eröffnung einer neuen Welt, der Bildung eines neuen Lebens und Wesens aus dem Verhältnis zu Gott und zwar für alle Menschen, sie wird auf dem Boden der Geschichte durch die Kirche vertreten. Diese allgemeine Idee deckt freilich nicht die nähere Gestaltung, mit jener wäre mehr Freiheit, mehr Selbsttätigkeit, mehr Innerlichkeit vereinbar gewesen. Aber es waren die besonderen Verhältnisse der Zeit, welche die Bewegung in die entgegengesetzte Richtung trieben. Ein kleines Häuflein Menschen hat sich einer übermächtigen Welt zu erwehren, es will dabei mehr als bloße Duldung, es erklärt sich für den Kern der ganzen Welt, es fühlt sich zur Herrschaft berufen. Wird dies Häuflein dabei nicht vor allem bei sich selbst zusammenhalten und aller drohenden Spaltung eine überlegene Autorität entgegensetzen müssen, und wird das Greifbare und Sichtbare der Ordnung hier nicht um so mehr Raum gewinnen, je mehr der begeisterte Aufschwung der ersten Anfänge nachläßt? Vor allem in der Überwindung drohender Spaltungen hat die Kirche ihre Einheit gefunden und zugleich das Christentum vor einer Auflösung in bloße Sekten bewahrt. Auch der wachsende Einfluß lateinischer Art hat zur weiteren Ausbildung der Organisation und zur Verstärkung der sinnlichen Elemente im religiösen Leben gewirkt. Jener Art ist die spätgriechische Verflüchtigung des Sinnlichen fremd, ihr bedeutet es einen wesentlichen und unentbehrlichen Bestandteil der Wirklichkeit. Mit solcher Schätzung geht Hand in Hand ein hervorragendes Organisationsvermögen, ein großes Geschick in der Behandlung praktischer Fragen. Dagegen ist der spekulative Sinn nur schwach entwickelt, und es fehlt namentlich die Idee eines inneren Zwanges der Wahrheit, wie sie aus der altgriechischen Denkart auch der christlichen Welt zufließt, die Selbständigkeit der Individuen steigert, einer straffen Zusammenfassung der Kräfte widersteht.

Endlich muß bei der Würdigung jener Entwicklung auch die Gesamtlage jener Zeit über das Christentum hinaus gegenwärtig sein. Das religiöse Verlangen, das seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts alles Leben und Streben unwiderstehlich fortreißt, verleugnet bei allem Bestehen auf Glück nicht den Charakter einer müden und matten Zeit. Man will nicht Tätigkeit, sondern Ruhe, nicht Verantwortung, sondern Entlastung, nicht die Gefahr der Freiheit, sondern die Sicherheit der Unterwerfung, nicht ein klares Durchschauen, sondern den Zauber des Geheimnisvollen und Unbegreiflichen, nicht eine reingeistige Verehrung Gottes, sondern eine möglichst eindrucksvolle, durch sinnliche Pracht überwältigende Vergegenwärtigung einer höheren Welt. Auch die Einflüsse des Orients haben nach dieser Richtung gewirkt. In einer so gestimmten Zeit konnte nur eine Entwicklung, wie sie tatsächlich erfolgt ist, das Christentum zum Siege führen. Aber darin eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit erkennen, heißt nicht das bleibende Recht dieser Gestaltung anerkennen; »was der christlichen Religion damals den Sieg gegeben hat, verbürgt nicht die Dauer des Sieges in der Geschichte« (Harnack).

So ist die sichtbare Kirche zu immer mehr Macht und Autorität gelangt, so hat sie immer mehr die sittliche Pflicht in eine gebotene Leistung verwandelt und die Menschen zu völliger Unterwerfung und willigem Gehorsam erzogen. Je weniger die Individuen bei sich selbst genügen, desto mehr wächst die Kirche ihnen gegenüber zu unantastbarer Hoheit, desto mehr überträgt sich auf sie die Idee der Heiligkeit, desto mehr muß sie mit eigentümlichen Gnadenmitteln der Unvollkommenheit jener Hilfe bringen. In Wahrheit sind eben die Denker, welche die Kirchenidee mit besonderem Eifer verfechten, voller Klagen über die Unzulänglichkeit der Individuen, über die Schwäche ihres Glaubens und die Lauheit ihrer Liebe. Mit dem Anwachsen solcher Strömung dünkt die Kirche immer mehr eine göttliche Ordnung, nicht eine menschliche Einrichtung; die ihr gezollte Ehre scheint Gott selbst erwiesen, ihre Kränkung ihm zugefügt. Nur durch sie, die Mutter der Christen, gibt es einen Weg zum göttlichen Vater: »niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter hat« (Cyprian). Der Einzelne schuldet ihr Gehorsam und Ehrfurcht, alle Abweichung von ihr erscheint als ein böswilliges Verschmähen, ein dünkelhafter Eigensinn. Das stempelt Schisma und Häresie zum schlimmsten aller Frevel, dessen Folgen nicht einmal das Martyrium aufhebt. Denn alles andere Vergehen trifft Einzelne, dieses aber die ganze Gemeinde.

Der Erhöhung der Kirche entsprach die Absonderung eines Priesterstandes. Die Priester, vornehmlich die Bischöfe, werden zu berufenen Vermittlern zwischen Gott und der Gemeinde, zu Spendern der göttlichen Gnade. Namentlich erhöht die wachsende Macht der Opferidee ihre Stellung. Der Opferidee konnte sich von früh an das Christentum nicht entziehen, doch überwog zunächst der Widerspruch gegen das heidnische Opfer. Eine ethisch gestimmte Religion sah das rechte Opfer in der Darbringung des eigenen Herzens. »Unschuld und Gerechtigkeit zu pflegen, sich alles Betruges zu enthalten, Menschen der Gefahr zu entreißen, das sind unsere Opfer, das ist Gott heilig. Bei uns gilt einer um so frommer, je gerechter er ist.« So Minucius Felix, der besonders lebhaft die Richtung auf die schlichte Moral, den Verzicht auf alle eigentümlich religiösen Leistungen als einen Vorzug des Christentums preist. Auch noch Lactanz meint: »Das ist der wahre Kultus, in dem der Geist des Verehrenden sich Gott selbst als unbeflecktes Opfer darbringt.« Aber längst hatte inzwischen die Opferidee sich mehr ins Magische gestaltet. Je schwerer die Furcht vor der richtenden und strafenden Gottheit die Gemüter bedrückte, je mehr man zugleich die eigene Ohnmacht fühlte, desto stürmischer erhob sich das Verlangen nach wunderbarer Hilfe und Sühne, sowie nach greifbaren Zeichen solcher Hilfe. Hier tritt nun »das sündentilgende Werk Christi in den Vordergrund. Nicht sowohl die Inkarnation – diese ist Voraussetzung – als der Tod Christi wird als das punktum saliens betrachtet, und er wird bereits nach allen denkbaren Richtungen hin als Opfertod, als Versöhnung, als Erkaufung, als stellvertretende Leistung des Kreuzestodes behandelt« (Harnack). Zur Erhöhung des Priestertums wirkte diese Wendung namentlich, seit von Cyprian her sich die Vorstellung verbreitete, der Priester wiederhole in der Darbringung das Opfer Christi. So flossen das Bedürfnis nach Autorität und das nach Magie in eins zusammen, der »Priester Gottes« wird damit weit über die Gemeinde hinausgehoben und mit übermenschlicher Heiligkeit bekleidet.

Nach derselben Richtung wirkt die Ausbildung einer doppelten Moral, die, schon den Anfängen des Christentums keineswegs fremd, nach und nach eine feste Ordnung annimmt. Sie gestattet es, das Ideal der Askese, das der Zeit unentbehrlich war, in das Christentum aufzunehmen, ohne mit der allgemeinen Lebensordnung zu brechen. Aber die Befestigung des Unterschiedes steigerte zugleich die kirchliche Macht. Wird die gemeinsame Verpflichtung überschritten, so entsteht ein überschüssiges Verdienst, das dem Mangel der anderen abhelfen kann. So denkt man zunächst von den Märtyrern, den Blutzeugen des Glaubens, und zwar um so mehr, weil die Mehrzahl der Gemeinde ihnen nicht auf den Dornenpfad folgte; so denkt man weiter auch von denen, die durch strenge Enthaltung von weltlichen Gütern und Genüssen Gott ein Opfer darbringen, wie durch Fasten, Armut, Ehelosigkeit. Solchen verdienstlichen Werken wird die Kraft beigemessen, Sünden zu tilgen, jene leichteren wenigstens, die nach stoischem Vorgange als verzeihliche Fehltritte ( peccata venialia) von den Todsünden deutlich geschieden werden. In dem allen eine Schätzung der Leistung als Leistung, eine Abstufung des Wertes nach der Größe des Werkes; zugleich die Aufgabe, Schuld und Verdienst genau gegeneinander abzuwägen. Es erwächst ein System von Kompensationen, die Moral erhält mehr und mehr den Charakter einer rechtlichen Ordnung. Die Verwalter dieser Ordnung aber sind die Priester. Der Gedanke des allgemeinen Priestertums wird durch solche Entwicklung nicht aufgehoben, aber für das praktische Leben und die unmittelbare Empfindung weit zurückgedrängt.

Zur richtigen Würdigung dieser Entwicklung ist stets gegenwärtig zu halten, daß das Christentum nicht allein aus sich selbst seine Formen fand, sondern daß es sich dem Einfluß der umgebenden Welt um so weniger entziehen konnte, je größere Kreise es an sich zog. In weitem Umfange dürfte hier das Wort Cumonts zutreffen: »Der neue Glaube hat die Offenbarung, welche er brachte, in die geheiligten Formen der vorhandenen Kulte gegossen.« Immerhin bedrohte das Eindringen magischer Elemente und das Zurückweichen reiner Innerlichkeit vor äußerer Leistung das Christentum mit starkem Sinken. Wohl fehlte es nicht an Gegenwirkung. Es blieb die Ablehnung der Naturvergötterung, die christliche Moral bewahrte ihre Kraft und ihr Opfervermögen, der Gedanke an das baldige Ende der Dinge mit dem Weltgericht hielt die Gemüter in Spannung und Aufregung, der Kampf gegen die erst seit der Mitte des dritten Jahrhunderts ihre volle Macht wider das Christentum einsetzende heidnische Welt schützte es sicher vor träger Verflachung. Auch die Schmälerung der individuellen Freiheit wurde nicht als ein starrer Druck empfunden, solange es gegen jenen übermächtigen Gegner zusammenzustehen galt, und solange nur der eigene Wille die Individuen bei der Kirche festhielt. Das mußte sich aber ändern mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion, alles Bedenkliche jener Wendung zu einer sichtbaren Ordnung voll magischer Elemente kam nun schrankenlos zur Wirkung. Dem Ausbau der Organisation, dem Glanz der Riten, der Emsigkeit der Leistungen entsprach kein genügendes Innenleben, keine geistige Tiefe. Die schlichte Moral leidet Schaden zugunsten der Religion, die Religion selbst aber wird tief in die Zwecke und Leidenschaften, auch in die sinnlichen Vorstellungen des bloßen Menschen hineingezogen. Das Christentum war in Gefahr, bei äußerem Siege geistig zurückzugehen; wenn irgendwo in seiner Geschichte, so bedurfte es jetzt eines gewaltigen und ursprünglichen Geistes, der ganz mit seiner Zeit lebte und ihre Bedürfnisse vollauf teilte, der zugleich aber die Zeit über ihren Durchschnitt hinaushob und ihr an ewiger Wahrheit erschloß, was von ihr aus erreichbar war. Ein solcher Mann erschien in Augustin. Er hat durch erschütternde innere Kämpfe hindurch und mit unermüdlicher Lebensarbeit dem religiösen Verlangen eine seelische Tiefe und dem kirchlichen System einen geistigen Inhalt gegeben. Er führt auch die altchristliche Lebensanschauung auf ihre philosophische Höhe.


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