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Dritter Teil.
Die Neuzeit.

A. Die Gesamtart der Neuzeit.

Die Gesamtart der Neuzeit in kurzen Zügen zu schildern, macht heute besondere Mühe. War es überhaupt kaum möglich, die überströmende Fülle von Bestrebungen in Einen Anblick zu fassen, so gesellt sich dazu jetzt ein starkes Unsicherwerden über unsere Gesamtstellung zur Neuzeit. Einmal fühlen wir uns noch als Glieder der Neuzeit und möchten nicht darauf verzichten als »modern« zu gelten, andererseits hat die Neuzeit so viele Verwicklungen gezeigt und so viele Zweifel an ihrem ausschließlichen Recht hervorgerufen, daß wir unverkennbar auch schon in einer inneren Ablösung von ihr, einem Hinausgehen über sie begriffen sind; eben das, was uns noch äußerlich, oft mit aufdringlicher Wirkung, als Gegenwart umfängt, droht uns innerlich schon zu einer Vergangenheit zu werden, die uns nicht mehr zu binden vermag. Solche Lage gebietet einer Würdigung äußerste Vorsicht, vielleicht läßt sich den Schwierigkeiten am ehesten begegnen, wenn wir von dem beginnen, was die Neuzeit von früheren Zeiten abhebt.

Die Neuzeit hat das Bewußtsein einer selbständigen Art zunächst gegenüber dem Altertum gefunden, und zwar erst im 17. Jahrhundert, das aber von der Naturwissenschaft und der schönen Literatur her. Die Betrachtungen jener Zeit treffen aber wenig den Kern der Sache, die Arbeit geht hier tiefer als das reflektierende Bewußtsein. Das Altertum beginnt vom Weltall und läßt dieses dem menschlichen Leben seinen Inhalt geben, die Neuzeit stellt den inzwischen erstarkten Menschen voran und strebt von ihm zur Welt, hat diese ihm erst zu gewinnen; in engem Zusammenhange damit behandelt das Altertum die Welt als fertig und abgeschlossen, die Neuzeit als erst im Werden und Aufstieg begriffen und großer Wandlungen fähig; jenes ist auch in der Durchbildung vornehmlich auf Maß und Grenze bedacht, diese schwelgt im Gedanken der Unendlichkeit und möchte auch die einzelnen Stellen an dieser teilnehmen lassen; das Altertum sieht die weltdurchdringende und weltbeherrschende Größe in der Form, die Neuzeit findet sie in der Kraft, jenes beruft damit die Kunst, diese die Wissenschaft zur Leitung des Lebens; schon solche Gegensätze treiben das Leben in eine neue Bahn. Dazu kommt der Gegensatz zur christlichen Lebensführung, der, wenn auch aus äußeren und inneren Gründen oft verschleiert, mindestens ebenso groß ist als der zum Altertum. Beim Christentum der Mensch bei sich selber voll schwerer Verwicklung und den Problemen seiner Lage weitaus nicht gewachsen, daher ganz und gar auf göttliche Gnade angewiesen, in der Neuzeit der Mensch voll Kraft und Selbstbewußtsein, geneigt, dem eigenen Vermögen das Höchste zuzutrauen; im Christentum die Hauptbewegung des Lebens über die Welt hinaus, in der Neuzeit in die Welt hinein, dort daher die Religion der beherrschende Mittelpunkt des Ganzen, dem alle anderen Gebiete sich unterzuordnen haben, in der Neuzeit dagegen eine Emanzipation von der Religion und eine Ausdehnung des Strebens über alle Gebiete zur Herstellung einer durchgehenden Kultur; das Christentum bindet das Leben an einen überragenden Höhepunkt der Geschichte und führt ihm von da seinen Inhalt zu, die Neuzeit besteht auf einer übergeschichtlichen Gegenwart und will alles unmittelbar von ihr aus gestalten. Beide älteren Lebensordnungen gehen darin zusammen, ein Ganzes voranzustellen und das Einzelne ihm gliedmäßig einzufügen, während die Neuzeit vom Einzelnen und Kleinen ausgeht und von diesem alle Zusammenhänge aufbaut, so steht dort die Ordnung vor der Freiheit, hier die Freiheit vor der Ordnung; dort gilt es hauptsächlich vorhandene Kräfte zu verwerten, hier neue aufzubringen.

Wer unbefangenen Blickes die weltgeschichtliche Bewegung überschaut, der wird nicht verkennen, daß die Neuzeit vieles zur Geltung und Wirkung gebracht hat, das besten Rechtes ist, und das, einmal durchgebrochen, sich nicht wieder zurücknehmen läßt; selbst der prinzipielle Gegner des Ganzen teilt große Weiterbildungen des Lebens, die ohne eine Wendung des Ganzen nicht wohl möglich waren. Aber zugleich entstehen ungeheure Verwicklungen, sobald das Gesamtziel des Lebens in Frage kommt. Soll dessen Feststellung in Verständigung mit den älteren Lebensformen erfolgen, oder soll sie lediglich von der neuen Art aus geschehen? Eine Verständigung ward vielfach versucht, bald ward das Altertum, bald auch das Christentum, bald beides miteinander zur Ergänzung herangezogen. Aber so bedeutende Leistungen und Schöpfungen das hervorgebracht hat, eine innere Einheit ward nicht erreicht, immer von neuem drohte der im Grunde vorhandene Zwiespalt hemmend und lähmend hervorzubrechen. Stellte die Neuzeit sich aber lediglich auf ihr eigenes Vermögen, so drangen bald schwere Probleme und Verwicklungen auf sie ein. Mensch und Welt, das waren die Hauptziele ihres Strebens; für jede dieser Größen mußte sie aus ihrer immanenten Grundrichtung eine strenge Einheit fordern. Aber die Erfahrung zeigte keinen eindeutigen Befund, die erstrebte Einheit ließ sich in gerade entgegengesetzter Richtung suchen: ist die Welt das sinnliche Dasein und alles, was geistig heißt, ein bloßes Nebenergebnis unselbständiger Art, oder ist der Kern des Ganzen unsinnlicher Art, und die sinnliche Welt eine bloße Erscheinung oder doch etwas für ihr eigenes Bestehen auf jenes andere ganz und gar Angewiesenes? Die Entscheidung hierher oder dorthin ergibt aber nicht nur grundverschiedene Weltbilder, sondern auch grundverschiedene Lebensbahnen, sie ergibt einerseits einen starken Realismus, andererseits eine ausgeprägte Intellektualkultur mit einem alles Dasein durchwaltenden Denken. Und was ist der Mensch? Ist er bloß das sinnliche Wesen des ersten Eindrucks, eine nicht allzu scharf abgegrenzte zoologische Gattung mit gewissen geistigen Eigenschaften, oder ist er ein Durchbruchspunkt einer neuen Welt, der Beginn einer wesentlich höheren Ordnung? Die Neuzeit möchte allen Lebensinhalt vom Menschen aus entwickeln; heißt das alles aus ihm, aus seinem eigenen Vermögen erzeugen, oder heißt es nur, etwas in ihm entdecken, was über ihn hinausreicht? Ist der Mensch bloßer Ausgangspunkt und eines unermeßlichen Aufstrebens fähig, oder ist er zugleich letzter Endpunkt, so daß er dem eigenen Kreise nie zu entrinnen vermag?

Die Widersprüche bei der näheren Gestaltung des Zieles rufen aber unvermeidlich die Frage hervor, ob das Ziel selbst das höchste und letzte ist. Gibt die Entfaltung der Kraft an der Welt und die Unterwerfung der Welt unter das menschliche Vermögen dem menschlichen Leben schon einen Gehalt, der ihm genügen und seine Bejahung gegenüber allen Mühen, Sorgen und Leiden des Daseins rechtfertigen kann? Bedroht nicht die Kraftentfaltung, als letztes Ziel gedacht, schließlich das Leben mit innerer Leere, und zerstört das ausschließliche Streben und Jagen nach einer besseren Zukunft nicht alle wahrhaftige Gegenwart? Ferner kann die Neuzeit die Stellung, die sie dem Menschen zuweist, nicht begründen ohne einen festen Glauben an seine intellektuelle und moralische Tüchtigkeit; ist diese Schätzung gegenüber dem Befunde der Erfahrung durchzusetzen? Und wenn sie es nicht ist, wenn das Menschenwesen schwere Verwicklungen in sich trägt, kommt dann nicht ein innerer Spalt in das moderne Leben, gerät es nicht in die Gefahr einer Unwahrhaftigkeit seines tiefsten Grundes?

Das ist das Eigentümliche der gegenwärtigen Lage, daß sie alle diese Probleme deutlich empfindet und offen ausspricht; das ist mit seinen Enttäuschungen eine Wendung schmerzlicher Art, aber es ist ein entschiedener Gewinn an Wahrhaftigkeit; ein Verstecken der Probleme verschlimmert die Lage nur, das volle Erkennen des Mangels ist die erste Bedingung eines Weiterkommens. Dies aber wird damit jedenfalls klar, daß die Neuzeit nicht einen fertigen Abschluß bringt, der als Maßstab alles Früheren gelten dürfte, daß sie vielmehr eine Epoche des Suchens und Ringens bedeutet, eine Epoche, die eine durchgreifende Befreiung und unermeßliche Bereicherung des Lebensbestandes gebracht hat, die nicht wieder verloren gehen kann, bei der aber die Expansion das Vermögen der Konzentration weit überwiegt; eine solche Lage ergibt unvermeidlich eine große Zerfahrenheit des Lebens und eine peinliche Unsicherheit, sie läßt sich unmöglich als endgültigen Abschluß betrachten und behandeln. Daher bleibt heute jeder, der die modernen Tendenzen als selbstverständlich und abschließend ansieht, hinter dem weltgeschichtlichen Stande des Geisteslebens zurück, die sogenannten modernen Menschen sind, innerlich angesehen, oft besonders rückständige Menschen. Die Zeit befindet sich im Suchen und Streben, einem Streben bedeutendster Art, aber sie ist arm an festem und unbestrittenem Besitz. Es sei dabei aber keinen Augenblick vergessen, daß alle Höhen der Neuzeit ein gemeinsames Streben haben, dessen gutes und höheres Recht sich nicht bestreiten läßt, das Streben, den Lebensgehalt nicht von draußen aufzunehmen, sondern ihn von innen her zu entwickeln und durch den Aufbau einer in sich selbst gegründeten Innenwelt eine Umkehrung zu vollziehen, die nicht bloß in der Erkenntnislehre der Tat des Kopernikus vergleichbar ist. Diese Wendung ist von verschiedenen Seiten her unternommen und auf verschiedenen Gebieten zu großartiger Wirkung gelangt, aber für einen Zusammenschluß zum Ganzen, sowie für den Gewinn der gesamten Menschheit ist noch recht viel zu tun, und befinden wir uns erst im Streben. Wer aber in diesem Streben eine aller menschlichen Willkür überlegene Notwendigkeit und zugleich den Aufstieg zu einer höheren Lebensstufe anerkennt, der kann nicht gering von der Neuzeit denken.

Die dargelegte Art der Neuzeit erklärt zur Genüge, daß ihre Bewegung nicht einen ruhigen Fortgang, eine allmähliche Entwicklung bildet, sondern daß sie schroffe Umwälzungen enthält; zum mindesten vier Epochen liegen dabei deutlich hinter uns, ohne doch eine bloße Vergangenheit zu bilden. Die Übergangszeit der Renaissance und der Reformation zeigt den modernen Geist schon in starker Regung, aber dem Neuen fehlt noch eine deutliche Ausprägung und ein volles Bewußtsein eigener Art, es glaubt die notwendigen Forderungen befriedigen zu können, indem es eine alte Lebensform zu neuer und ungetrübter Wirkung aufruft. Dann folgt die Epoche der Aufklärung, in der die neue Denkart eine volle Selbständigkeit erreicht und alle Gebiete des Lebens von sich aus eigentümlich gestaltet; hier erfolgt der einzige allumfassende und systematische Aufbau auf modernem Boden; kein Wunder, daß mächtige Wirkungen von hier bis zur Gegenwart reichen, Wirkungen namentlich auf die breiten Massen der Menschheit. Dann wird der Höhe des Schaffens diese Lebensordnung zu eng und seelenlos, verschiedene Richtungen (Sturm und Drang, Neuhumanismus, Romantik) wirken zu ihrer Bekämpfung zusammen und entwerfen namentlich mit Hilfe der Kunst ein reicheres, seelenvolleres Leben, das aber mehr zu besonderen gesellschaftlichen Schichten als zum Ganzen der Menschheit spricht. Dann gewinnt im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Wendung zur sichtbaren Welt, die, längst vorhanden, bisher im Hintergrunde gestanden hatte, die Oberhand, es entsteht eine Lebensordnung des Realismus, die mit mächtigen Wirkungen uns auch heute umgibt, deren Schranken aber immer deutlicher zutage treten. Nunmehr scheint sich eine neue Epoche einzuleiten, das aber zunächst mehr in kritischer Erörterung und in tastendem Suchen als in aufbauendem Schaffen. Darüber mögen am Schluß des Werkes einige Bemerkungen gestattet sein.

Unsere geschichtliche Betrachtung, welche nur mit den Höhepunkten zu tun hat, hat gemäß dem Plan des Ganzen ihr Hauptaugenmerk darauf zu richten, was an Erweiterung, Vertiefung, Förderung des Lebens aus der Arbeit der Denker entsprungen ist; inmitten aller Kämpfe muß es hier unsere Aufgabe sein, an den einzelnen Leistungen vornehmlich das Positive zu sehen und die verschiedenen Richtungen möglichst als Mitarbeiter an einem gemeinsamen Werke zu verstehen.


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