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3. Das Mittelalter.

a. Das frühere Mittelalter.

Hätten wir von der gemeinsamen Lebensanschauung des Mittelalters zu reden, statt von den Lebensanschauungen der mittelalterlichen Denker, so stünde eine eigentümliche und anziehende Aufgabe vor uns und stellte viel Unterscheidendes und auch Wertvolles in Aussicht. Für unsere besondere Aufgabe dagegen bietet ein ganzes Jahrtausend nicht viel Neues. Die Lebensanschauungen der mittelalterlichen Denker pflegen ihren Stoff den früheren Zeiten zu entlehnen; ihre eigene Zutat ist bemerkenswerter als Ausdruck der geschichtlichen Lage, als daß sie von bleibender Bedeutung wäre. So glauben wir uns hier mit einer summarischen Behandlung begnügen zu dürfen; wenn das von strengkatholischer Seite bisweilen als eine Geringschätzung mittelalterlichen Denkens verstanden und daher getadelt wurde, so glauben wir dem entgegenhalten zu dürfen, daß hier die Art der Behandlung von prinzipiellen Überzeugungen abhängt, bei denen wir doch nur zu unserer eigenen Art stehen können. Wer z. B. in Thomas von Aquino den Gipfel christlicher Weltanschauung sieht, wird ihm natürlich weit mehr Raum zugestehen, als wer beim besten Willen jenes nicht vermag.

Die ersten Jahrhunderte des Mittelalters folgen philosophisch namentlich dem Neuplatonismus, welcher der christlichen Überzeugung einen Hintergrund von Weltgedanken gab. Zu den bis jetzt erwähnten Quellen kommen abschließend noch zwei neue: die Schrift des Boethius († 525) über den Trost der Philosophie ( de consolatione philosophiae), ein philosophisches Erbauungsbuch für Gebildete, und die Werke des Pseudo-Dionysius (aus dem fünften Jahrhundert). Boethius' Trost ist von weicher und vornehmer Art. Erfüllt von der Nichtigkeit alles Irdischen und Sinnlichen erhebt sich der Denker zur unsinnlichen Wesenheit und zugleich zu einer Betrachtung aus dem Ganzen des Alls, er findet Frieden in dem Gedanken, daß solche Wendung alles als gut erweist und das Böse in bloßen Schein verwandelt. Das frühere Mittelalter hat viel daran gehabt.

Mehr auf die gesamte Lebensordnung wirkte Dionysius, dessen im wesentlichen neuplatonische Weisheit dem Mittelalter als eine von apostolischer Autorität getragene Enthüllung tiefster christlicher Wahrheit galt. Als der Kern des Christentums erscheint hier die neuplatonische Idee eines Ausgehens und Zurückkehrens Gottes zu sich selbst, die Welt bildet einen ewigen Kreislauf göttlicher Liebe. Alles Geschichtliche wird ein Gleichnis des Ewigen, alles Menschliche des Kosmischen und Göttlichen. Die Lebensstimmung gestaltet sich ins Sehnsüchtige und Ahnungsvolle, das kirchliche Christentum aber erfährt einen tiefgehenden Einfluß an zwei Hauptpunkten. Indem der neuplatonische Gedanke der lückenlosen Stufenfolge der Wesen, eines Ausströmens des Lebens von oben nach unten, auf das Christentum und die Kirche übertragen wird, entwickelt und befestigt sich, weit mehr als bei Augustin, der Gedanke der Hierarchie, zunächst der himmlischen, dann ihres Abbildes, der irdischen. Ferner verschmilzt dies System, dem Zuge der Zeit gemäß, Sinnliches und Übersinnliches derart, daß das Sinnliche einmal als ein bloßes Abbild, zugleich aber als dem Geistigen untrennbar verbunden erscheint; das wirkt dahin, den Kulthandlungen, namentlich den Sakramenten, den Charakter von Mysterien zu verleihen und zugleich ihre Bedeutung zu steigern. So ruhen, wie sich hier deutlich zeigt, die beiden Hauptpfeiler des mittelalterlichen Kirchensystems, die Hierarchie und die Sakramente, auf einem antiken Grunde.

Zur Vermittlung des Dionysius an den Westen hat namentlich Scotus Eriugena (im neunten Jahrhundert) gewirkt. Ihn erfüllt ein frischeres Lebensgefühl als den Ausgang des Altertums, und die Begründung alles Daseins in Gott wirkt dahin, dem Menschen die Welt und Natur wieder näher zu rücken, ja einen radikalen Pantheismus vorzubereiten. Die äußersten Konsequenzen dessen wurden aber erst nach Jahrhunderten gezogen, und nun war die Verwerfung durch die Kirche unvermeidlich.

Allmählich regen sich auch eigene Bewegungen auf dem Boden des Mittelalters, und es tritt dabei namentlich der Gegensatz hervor, daß einerseits mehr verstandesmäßige Einsicht, andererseits mehr gefühlsmäßige Aneignung verlangt wird. Jenes Streben beginnt namentlich mit Anselm von Canterbury (1033-1109). Er sucht eine wissenschaftliche Begründung der Glaubenswahrheiten, nicht um diese erst zu erweisen, sondern um die anerkannte Wahrheit deutlicher auseinanderzusetzen. Aber es wirkt zu einer inneren Veränderung, einer Rationalisierung des überkommenen Befundes, wenn Grundfragen wie die des Daseins und der Menschwerdung Gottes nunmehr zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung werden. Auch trieb das einmal geweckte Verlangen bald über den bei Anselm erreichten Stand hinaus.

Schon bei Abälard (1079-1142), dem glänzenden Dialektiker, verschärft sich die Sache zum offenen Streit. In ihm bricht das Leben des Subjekts merkwürdig frei und selbständig hervor; schon er zeigt jene Frische der Empfindung und jene Beweglichkeit des Denkens, wodurch der französische Geist so viel dazu beigetragen hat, mit dem Schutt der Vergangenheit aufzuräumen und der Gegenwart eignes Leben zu schaffen.

Abälard beugt sich nicht scheu vor den überlieferten Kirchenlehren, er erörtert sie unablässig, er erweist eben an den schwierigsten Fragen seine dialektische Kraft. In einer für unsere Aufgabe besonders wichtigen Schrift läßt er einen Philosophen, einen Juden, einen Christen über die Grundfragen disputieren und sich einander weit näher finden, als es zu Anfang schien; er bringt die Forschung, ja den Zweifel zu Ehren gemäß der Überzeugung, daß »wir durch Zweifeln zur Forschung kommen, durch Forschen aber die Wahrheit erreichen«; er sieht in der Autorität nur einen vorläufigen Ersatz der Vernunft und äußert sich scharf über die Menge, welche glaubensfest den nenne, der die Durchschnittsmeinung nicht überschreitet, welche verdamme und verklage, was sie nicht kennt, für Torheit und Unsinn erkläre, was sie nicht begreift.

Solcher rationalistischen Gesinnung entspricht der Inhalt der Lehren. Den Kern der Religion bildet bei Abälard die Moral; das Christentum hat nicht etwas Neues und Gegensätzliches gebracht, sondern es bildet den Höhepunkt einer durchgehenden Bewegung. Es hat sonst Zerstreutes verbunden, Dunkles aufgeklärt, allen mitgeteilt, was sonst nur einzelne besaßen. Jesus wird als der Begründer eines reinen Sittengesetzes gefeiert. Auch soll im Christentum kein träger Stillstand walten. Der Denker findet es »wunderlich, daß, während durch die Reihe der Lebensalter und die Folge der Zeiten die menschliche Einsicht in allen geschaffenen Dingen wächst, im Glauben, wo der Irrtum besonders gefährlich ist, gar kein Fortgang erfolgt. Es kommt das sicherlich daher, daß es keinem bei seinen Genossen freisteht, zu untersuchen, was zu glauben sei, und straflos zu zweifeln hinsichtlich dessen, was alle sagen«. So wird hier die Autorität augenscheinlich als Druck empfunden. – In der Moral aber vollzieht Abälard eine Wendung von der mittelalterlichen zur modernen Denkart, indem er das Subjekt zu Ehren bringt und seine Überzeugung und Absicht beim Handeln zur Hauptsache macht.

So strebt hier ein neuer Geist auf, der mit der Umgebung hart zusammenstoßen mußte. Aber der von Abälard ausgehenden Belebung des Stoffes, seinem Verlangen einer wissenschaftlichen Durchleuchtung und geschickteren Vermittlung der Glaubenslehren konnten auch die Gegner sich nicht entziehen. Ein Schüler Abälards war Petrus der Lombarde, dieser aber führt zu Thomas von Aquino, dem Haupte der Scholastik. Wie oft in der Geschichte der Religionen, so hat auch hier das Kirchentum sich die Waffen angeeignet und für seine Zwecke verwandt, die der Rationalismus geschliffen hatte.

Bedrohlicher noch wurde die Wendung zur gefühlsmäßigen Aneignung, welche die Mystik zum Ausdruck brachte. Auch hier erfolgt die Verstärkung zunächst auf kirchlichem Boden und in durchaus kirchlicher Gesinnung, dabei mit großer Wärme und Zartheit der Empfindung (Bernhard von Clairvaux und die Victoriner). Aber sehr bald entstand ein radikaler Pantheismus (Amalrich von Bena), dessen Ausbreitung die Kirche nur mit den schärfsten Mitteln verhindern konnte. Das Ganze des Lebens bedurfte augenscheinlich eines neuen Aufbaus; ihn nach der Art und mit den Mitteln jener Zeit vollzogen zu haben, das bildet die Hauptleistung der Höhe der Scholastik.

*

b. Die Höhe des Mittelalters.

Wenige Zeiten haben so eingreifende Veränderungen vollzogen wie das dreizehnte Jahrhundert. Die Kreuzzüge gingen zu Ende, mit ihnen entfiel ein großes Werk, und es mußte die in ihnen erlittene Niederlage eine Zeit besonders schwer erschüttern, die im Erfolg ein Gottesgericht zu sehen gewohnt war. Es galt einen Ersatz zu finden, er wurde gefunden in einer starken Bewegung sowohl zur seelischen Verinnerlichung als zur sozialen Ausbreitung des christlichen Lebens. Die Bettelorden bringen das Christentum dem Volk unvergleichlich näher, eine rührende Gestalt wie die des Franz von Assisi zeigt, wie das religiöse Gefühl eine schlichte, tiefe und freudige Innigkeit zu erlangen, wie es dem Menschen das Weltall nahezurücken und ihm alle Umgebung wunderbar zu verklären vermag. Ferner bekundet die Kunst mit ihrem Übergang vom romanischen zum gotischen Stil auch eine Wandlung des Lebensgefühls. Auch auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet entsteht mehr Bewegung und gewinnt weitere Kreise. So konnte sich auch die überkommene Gedankenwelt der Veränderung nicht entziehen, um so weniger, da der alte Gegensatz zwischen Wissen und Glauben eine gefährliche Höhe erreicht hatte, nachdem seit dem zwölften Jahrhundert das Ganze der aristotelischen Schriften auch zum Westen zu wirken begann. Aristoteles sprach zu diesem im früheren Mittelalter nur mit seiner logischen Lehre, namentlich durch die lateinische Gestaltung des Boethius hindurch; wie eine große Entdeckung mußte es wirken und die Geister leidenschaftlich erregen, als endlich auf dem merkwürdigen Umwege über den Islam und von Spanien her sein reiches und durchgebildetes System auch dem christlichen Abendlande zuging. Die Erschütterung drohte um so schwerer zu werden, als vom mohammedanischen Aristotelismus her eine Fassung des Verhältnisses von Wissen und Glauben an das Christentum kam, welche dieses ebensowenig wie der Islam selbst annehmen konnte. Das Wissen wird dabei zunächst ohne alle Rücksicht auf die Religion entwickelt, und es wird zugleich Aristoteles unter dem Einfluß des Neuplatonismus vielfach schroffpantheistisch umgedeutet. Ohne alle Vermittlung erfolgt dann die Wendung zum Glauben, seine Wahrheiten werden als ein von Gott auferlegtes Gebot blindlings angenommen, mögen sie den Ergebnissen der Forschung noch so sehr widersprechen. So die Lehre von der doppelten Wahrheit, nach der in der Theologie falsch sein kann, was die Philosophie als wahr erklärt, und umgekehrt; damit eine innere Spaltung des Menschen und zugleich die Gefahr, daß der Glaube, als auf bloße Autorität hin angenommen, einer inneren Wahrheit zu entbehren scheint. Trotzdem drang diese Denkweise, deren genaue Scheidung beider Gebiete namentlich scharfsinnige Geister anzog, auch in das Christentum ein, ihr Hauptvertreter war im dreizehnten Jahrhundert der erst neuerdings leidlich aufgehellte Siger von Brabant, dessen Schriften eine klare Darstellung und eine präzise Denkweise zeigen, und dem schon Dantes ehrenvolle, von tiefer Empfindung getragene Erwähnung ein bleibendes Gedächtnis sichert. Die wissenschaftlichen Vertreter der Kirche versetzte solches Vordringen des Aristotelismus in eine sehr schwierige Lage. Der Macht seines Geistes, dem Reichtum des dargebotenen Stoffes, namentlich aber der Vollendung der wissenschaftlichen Technik konnten sie sich unmöglich entziehen; »es war, als wenn neue Geschütze und Waffen erfunden werden, niemand kann hinfort kämpfen, ohne sich ihrer zu. bedienen« (Seeberg). Zugleich aber entging der bisher vornehmlich durch Augustin und Plato beherrschten Denkweise, nicht, daß mit Aristoteles und seiner Begriffsarbeit in das Christentum ein fremdartiges Element eindringe und seine Eigentümlichkeit bedrohe; jene schroffe Scheidung von Wissen und Glauben mußte diese Abneigung steigern.

Eine Lösung der Verwicklung brachte die Ausbildung eines christlichen Aristotelismus, vornehmlich durch Albert den Großen, den universalen Gelehrten, und mehr noch durch Thomas von Aquino, eines Aristotelismus, der zugleich die Überlegenheit des Christentums zu wahren und die von Aristoteles dargebotenen Güter voll zu verwerten unternahm; die Idee der Abstufung ward hier ein rettendes Mittel, um Wissen und Glauben, um die Welt der Natur und das Reich der Gnade einander fest zu verbinden. Dieser neue Aristotelismus mußte sich mit dem dualistischgesinnten scharf auseinandersetzen; beide Arten trafen bald nach der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts an dem wissenschaftlichen Mittelpunkte der damaligen Christenheit, der Pariser Universität, mit voller Schroffheit zusammen; der Sieg der ausgleichenden Denkart über die scheidende mochte wissenschaftlich manche Bedenken haben, er entsprach einem zwingenden Gebot der weltgeschichtlichen Lage. Denn nur jene Ausgleichung konnte das dem Mittelalter eigentümliche Verlangen nach Ordnung und Organisation befriedigen und das Leben vor einem inneren Zerfall behüten; mögen eingreifende Wandlungen uns die dort gebotene Lösung unzulänglich machen, für jene Zeit war sie in gutem Recht. – Das darin bekundete Vermögen der Kirche, Bewegungen, die ihr gefährlich zu werden drohten, sich freundlich anzugliedern, erweist sich auch gegenüber der Mystik; sie wird nicht verworfen, aber an einen Platz gebracht, wo sie nicht mehr schaden, sondern nur noch nützen zu können scheint. Aus allem zusammen entsteht eine umfassende Synthese des gesamten Lebens, die einen großen Einfluß auf die Menschheit geübt hat und für weite Kreise noch heute zu üben fortfährt. Am besten ist sie von Thomas, ihrem Höhepunkt, aus zu verstehen.

Die geschichtliche Würdigung des Thomas (1227-1274) leidet oft durch die Kämpfe der Gegenwart. Die Abweisung eines ungeschichtlichen Neu-Thomismus läßt mit Unrecht oft auch den alten und echten Thomas bekämpfen. Gewiß war dieser kein Denker allerersten Ranges, aber er war ein bedeutender Geist und kein starrer Fanatiker; er hat sich nicht als geistiger Herrscher über seine Zeit erhoben, aber er hat zusammengefaßt und verarbeitet, was immer sie ihm entgegenbrachte, er hat das mit großem Geschick und in edler Gesinnung getan; wer die Kürze seines Lebens bedenkt und was er auch praktisch in ihm wirkte, der muß vor seiner Leistung aufrichtige Hochachtung haben.

Thomas' Verdienst ist der Ausbau, die systematische Durchbildung einer allumfassenden christlichen Weltansicht; er hat das Christentum der Kultur und Wissenschaft enger verbunden und bei voller Wahrung der Obmacht der Religion auch den anderen Gebieten ein Recht zuerkannt. Die Welt der Kultur vertritt ihm Aristoteles, der im Ganzen seiner Lehre wie Neuerstandene und daher mit frischer Jugendkraft Wirkende. Hier bot sich ein Weltbild von unermeßlicher Fülle, gleichmäßiger Durchbildung, fester Geschlossenheit, hier fand sich ein Ganzes, das sich als einen fertigen Abschluß gab und nirgends durch offene Probleme ängstigte. Kein Wunder, daß es die Geister jener Zeit mit unwiderstehlichem Zwange anzog, gewährte es ihnen doch alles, was sie nur wünschen mochten.

Aber zugleich entstand ein schweres Problem. Den weltfreudigen, überwiegend dem Diesseits zugewandten Griechen dem Christentum anzugliedern, das war kein leichtes Werk; ein schärferes Sehen der Neuzeit muß es für unmöglich halten. Aber den mittelalterlichen Denker verband mit jenem eine Grundüberzeugung idealer Art, er fand auch für sein religiöses Denken eine Anknüpfung an jenes spekulativer Gotteslehre, er sah ihn ferner, nach dem Vorgang der meisten arabischen Philosophen, durch neuplatonische Ideen hindurch und verstand ihn seelischer und religiöser, als der geschichtliche Befund gestattet; vornehmlich aber erleichterte Aristoteles' Hauptrichtung auf die Erfahrungswelt eine Verständigung mit dem Christentum, sobald nur die beiden Welten in ein Verhältnis der Abstufung traten. Dies aber ist der Hauptgedanke des Thomas. Jedes Gebiet erhält hier ein eigentümliches Recht, auch das niedere soll eine besondere Art entfalten und keine Störung von dem höheren erleiden. Wie ein eigenes Reich der Natur, so wird auch ein .selbständiges Werk der Vernunfterkenntnis, des natürlichen Lichtes, anerkannt und ein direktes Zurückgehen auf Gott bei wissenschaftlichen Einzelfragen als ein Asyl der Unwissenheit ( asylum ignorantiae) verpönt. Auch dem menschlichen Zusammensein mit dem Staate wird ein eigentümliches, in der Vernunft begründetes Recht zuerkannt. Nur hat das Niedere überall seine Schranken zu wahren, es darf nicht in das Höhere übergreifen. Das Reich der Natur entwirft im Umriß, was das Reich der Gnade, die Welt des geschichtlichen Christentums, weiterführt und befestigt. So kann nach Thomas schon die bloße Vernunft das Dasein Gottes, die Abhängigkeit der Welt von ihm, eine Unsterblichkeit der Seele dartun; dagegen entstammen die Lehren von der Dreieinigkeit, der zeitlichen Weltschöpfung, der Auferstehung des Leibes der christlichen Offenbarung. Demnach verbindet sich mit jener Selbständigkeit eine Unterordnung und mit der Scheidung der Gebiete ein allumfassender Zusammenhang. Es heißt hier: »Das göttliche Recht bricht nicht das menschliche«, »die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vollendet sie ( gratia naturam non tollit, sed perficit)«, »die Vernunft ist die Vorläuferin des Glaubens«.

Über dem Reich der geschichtlichen Offenbarung liegt aber eine noch höhere Stufe: die unmittelbare Einigung der Seele mit Gott, welche die mystische Anschauung eröffnet, das Reich der Herrlichkeit ( gloria). Aber für das irdische Leben ist dieses Reich mehr Hoffnung als Besitz, auch führt der Weg zu ihm lediglich durch die kirchliche Ordnung hindurch, eigenes Unternehmen würde den Einzelnen unvermeidlich irren lassen. Schließlich erscheint das Ganze wie ein einziger großer Tempel: den Vorhof bildet die Natur, die Gnade eröffnet das Heilige, ein Allerheiligstes erregt die Sehnsucht und entschleiert den Gläubigen sich in einzelnen weihevollen Augenblicken der Verzückung. Ohne die Ordnung des Ganzen zu gefährden, scheint jene Abstufung alle Aufgaben auszugleichen und jedem Gebiet sein volles Recht zu gewähren.

Aber was der Umriß glatt zusammenfügt, dessen Durchbildung kostet unsägliche Mühe und Arbeit. Bald waren Zusammenstöße zu mildern, bald Lücken auszufüllen. Dafür bedurfte es großer logischer Kraft und einer geschickten Handhabung logischen Rüstzeugs. Hier hat Thomas recht Bedeutendes geleistet, indem er namentlich sowohl scheinbar Getrenntes durch Schlußverkettung miteinander verbindet als Widersprüche durch scharfsinnige Unterscheidung, durch ein Aufzeigen verschiedener Bedeutungen der Begriffe beschwichtigt oder doch zu beschwichtigen scheint.

Diese logische Kraft leistet auch dem eigenen Bestande der christlichen Überlieferung wertvolle Dienste. Wohl stammen die Glaubenslehren nicht aus bloßer Vernunft, aber, einmal von Gott eröffnet, gestatten, ja fordern auch sie eine logische Bearbeitung, auch an ihnen erweist sich das durchbildende und architektonische Vermögen des Mannes und vollzieht eine gewisse Rationalisierung. Hier zuerst erwächst ein durchgebildetes System der christlichen Moraltheologie; namentlich aber wird die kirchliche Ordnung umsichtig gegliedert und fest zusammengeschlossen. Alle Mannigfaltigkeit gewinnt einen Zusammenhang und strebt nach einer beherrschenden Spitze, die Kirche wird hier durchaus hierarchisch gestaltet, wie es Augustin noch fern lag. Verschiedene Gedankenrichtungen wirken hier zu demselben Ziele: das Verlangen nach geschlossener Einheit der Kirche als eines einzigen Körpers ( unum corpus), die Überzeugung von der Mitteilung der göttlichen Kräfte von oben nach unten in fortlaufender Kette, endlich die dem mittelalterlichen Denker selbstverständliche Annahme, daß zur vollen Wirklichkeit geistiger Größen eine sichtbare Verkörperung notwendig ist, daß es daher keine Festigkeit der Verbindung ohne die Herrschaft einer einzelnen Persönlichkeit gibt. So muß Thomas die Zusammenfassung der kirchlichen Gewalt in einer einzigen Hand verfechten; was aber die kirchliche Ordnung verläßt oder gar ihr entgegenwirkt, das ist verloren und verfällt harter Strafe. Alle Selbständigkeit des Individuums wird dabei aufgegeben, zum Gewissen der Menschheit wird die Kirche, auch die volle Ausbildung der Lehre vom Fegefeuer steigert weiter ihre Macht. Zugleich wachsen ihre Ansprüche nach außen hin. Die Kirche beherrscht alles Geistesleben und fühlt sich auch dem Staate unbedingt überlegen. Denn so gewiß das Naturrecht diesem einen eignen Kreis zuerkennt, dieser Kreis bleibt ein niederer; so kann es heißen, daß, wie überhaupt im Christentum die Könige den Priestern nachstehen, so dem Papst alle Könige des christlichen Volkes untergeben sein müssen, »wie unserem Herrn Jesus Christus selbst«.

Trotz so schroffer Fassung verdient das Ganze nicht den Vorwurf der Herrschsucht; es ist nicht das eigene Wohl, sondern die Ordnung Gottes und die Sorge für das Heil der Menschheit, die eine unbedingte Überlegenheit der Kirche fordern läßt. Thomas selbst ist ganz von der Stimmung der Weltflucht erfüllt, mit seiner Zeit nennt er schlicht und einfach das Jenseits Vaterland ( patria), er ersehnt augenscheinlich die Ruhe eines nur der Anschauung Gottes geweihten Lebens. Sachlich aber widersteht einer völligen Verwandlung der Kirche in einen geistlichen Staat vornehmlich die Überzeugung von der Mitteilung göttlichen Lebens und göttlicher Liebe in den Sakramenten. In ihnen bleibt die Wirksamkeit des Leidens Christi ( efficacia passionis) lebendig, die Sakramente des neuen Bundes »bezeichnen nicht nur, sie bewirken die Gnade« ( non solum significant, sed causant gratiam). So werden sie ein Hauptstück im Lebensbilde des Thomas, sie geben dem System der kirchlichen Ordnung eine mystische Tiefe und eine religiöse Beseelung.

Demnach ist vollauf verständlich, daß Thomas der Hauptphilosoph des Mittelalters wurde, daß es ihn bald – so zeigen auch Werke der Malerei – als den klassischen Verkünder der christlichen Wahrheit verehrte. Die Idee der Ordnung, welche das Mittelalter beherrscht, erlangt in ihm ihren angemessensten philosophischen Ausdruck; es entfaltet sich ein großes Lebenssystem, das den einzelnen Gebieten mehr Selbständigkeit gewährt und sie doch straff zusammenhält; der Horizont wird beträchtlich erweitert, die Zuführung antiker Gedankenmassen ergibt eine Art Renaissance. Daß Thomas auf der Höhe der damaligen Entwicklung stand, das erweist schon der Anschluß des großen Dante an ihn.

Dante zeigt mit besonderer Anschaulichkeit, daß der Mensch den ganzen Umfang und Inhalt seiner Zeit zum Ausdruck seiner Persönlichkeit und zum Mittel seines Wahrheitsstrebens zu gestalten imstande ist. Denn dem Stoffe nach ist seine Gedankenwelt gänzlich die der mittelalterlichen Kirche, vornehmlich die des Thomas, er scheint nur Überkommenes aufzunehmen und ins Künstlerische zu wenden. Aber es kehrt das Alte in solcher Aufnahme und Gestaltung neue Seiten hervor, ja es wird durch das engere Verhältnis zur Persönlichkeit, das es hier gewinnt, etwas wesentlich anderes und höheres. Indem nämlich der Dichter und Denker alles, was er an sich zieht, zum eigenen und unmittelbaren Erlebnis seiner Seele macht, indem er alle Mannigfaltigkeit an einen einzigen Faden reiht, ihre ganze Weite zu einem mit gewaltiger Kraft geschauten Gesamtbild gestaltet, strebt alle Fülle enger zusammen, und es wird zugleich, was sonst ein bloßes Gerüst scheinen konnte, seelisch vollauf belebt; nunmehr läßt das weitschichtige Gefüge seine Richtlinien deutlich erkennen, die entscheidenden Wahrheiten erhalten, ohne eine wissenschaftliche Begründung aufzugeben, eine wunderbare Nähe und schlichte Einfalt, ja wir dürfen sagen, daß jene mittelalterliche Welt, die sonst die Menschen nur wie ein Nebeneinander beschäftigte, hier von einem Ganzen des Geisteslebens umspannt, innerlich bewältigt und damit erst voll zum Erlebnis des sich zur Einheit aufringenden Menschen gemacht wird. Namentlich kommt erst hier zur vollen Entfaltung und Wirkung, was jene Welt an schroffen Gegensätzen und an bewegender Kraft enthält; im besonderen der Aufstieg zum seligen Ja durch ein herbes Nein, sowie die ungeheure Spannung zwischen Gerechtigkeit und Liebe, welche jene Welt durchdringt und erregt. In solcher Weise eine ganze Welt ins Persönliche wenden konnte nur eine Persönlichkeit, die bei kräftiger Einheit zugleich die größte Weite des Empfindens, ein Vermögen, die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle bei sich selbst zu beleben, enthielt von herbem Ernst und scheidender Strenge bis zu inniger Weichheit und sehnlicher Liebe, eine Persönlichkeit, die, fest auf sich selbst gestellt, zugleich wärmste Teilnahme für alles Tun und Ergehen der Menschen in sich trug. Es wäre aber das Reich seines Schaffens nicht ein gemeinsamer Besitz der Menschheit geworden, und es erhielte sich nicht in dauernder Wirkung, hätte er nicht den Gebilden seiner Phantasie eine solche Körperhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, Eindringlichkeit zu geben verstanden, daß sie uns wie eine lebendige Wirklichkeit vor Augen stehen, wie eine Wirklichkeit Liebe und Haß erregen. So gehört Dante zu den Mehrern des geistigen Besitzes der Menschheit; niemand wird klein vom Mittelalter denken, der ihn zu würdigen weiß.

Es ist aber das Mittelalter nicht bei Thomas stehen geblieben und hat die von ihm gewiesene Mittellinie nicht einfach weiterverfolgt. Einerseits hat die Mystik sich nicht dauernd so willig angliedern lassen, so wenig die persönliche Gesinnung ihrer Führer einen Zusammenstoß mit der Kirche wollte, andererseits ward das Verhältnis von Wissen und Glauben bald auch in einer von Thomas abweichenden Art gefaßt und damit ein anderer Typus des Lebens erzeugt. Überhaupt enthält das Mittelalter weit mehr Mannigfaltigkeit und weit mehr innere Bewegung, als die landläufige Vorstellung auch heute noch oft ihm zuerkennt. Daß auch die Naturforschung keineswegs ganz verkümmert, das zeigen Männer wie Albert der Große, Roger Bacon, der bedeutendste Physiker der Scholastik, und der erst neuerdings näher aufgehellte Schlesier Witelo.

Das Haupt der Mystik und der überragende spekulative Geist in ihr war Meister Eckhart († 1327), ein großer Zauberer des Wortes und der Schöpfer der philosophischen Kunstsprache deutscher Zunge. In seinen Lehren will er sich nicht von der Scholastik und Thomas trennen, und auch seine Mystik bietet dem mit den geschichtlichen Zusammenhängen Vertrauten in den Begriffen kaum etwas Neues; sie enthält dieselbe Verwebung logischer Abstraktion und religiösen Gefühles, die seit Plotin so viele Gemüter beherrschte; ihr droht dieselbe Gefahr, mit der Abstreifung aller Besonderheit auch allen Inhalt einzubüßen und sich ins Gestaltlose zu verlieren. Aber der mittelalterliche Denker einer neuen Volksart hat gegenüber dem erlöschenden Altertum mehr Frische und Unmittelbarkeit der Empfindung, mehr Freudigkeit der Stimmung, mehr Einfalt und Naivität des Ausdrucks, auch mehr Trieb in die Welt zu wirken; dabei besitzt er ein wunderbares Vermögen, auch das Unfaßbarste zu gestalten und anschaulich darzustellen. Kein zweiter Denker jener Zeit spricht noch heute so unmittelbar zu uns wie Eckhart.

Seine Mystik enthält einen einfachen Gedankenbau. Gott kommt aus dem bloßen Wesen, dem »Abgrunde« seiner Natur, zu voller Wirklichkeit nicht ohne sich auszusprechen; sein Sichaussprechen aber ist das Schaffen der Dinge, demnach ist er das Wesen aller Dinge. Alle Irrung und Verkehrung kommt daher, daß die Kreatur ihres Ursprungs vergißt und etwas für sich sein will; alles Heil liegt an dem Verzicht auf Besonderheit und der vollen Rückkehr zu Gott. Dem Menschen mit seiner Denkkraft kommt dabei eine einzigartige Aufgabe zu: er hat alle Dinge zu ihrem göttlichen Ursprung zurückzuführen und damit die Welt zu vollenden; so kann Gott selbst seiner nicht entbehren.

Das ergibt eine überaus hohe Stellung der menschlichen Seele, Eckhart preist sie oft in dichterischem Schwunge. Die Seele ist gleichen Wesens mit Gott. »Ihre Größe können Himmel und Erde nicht messen; wer sie messen will, der messe sie nach Gott.« »Die Seele ist schneller als der Lauf des Himmels. Ihre Wohnung ist auf den Flügeln der Winde, die Flügel aber, das sind die Kräfte göttlicher Natur, die Winde, das ist, daß göttlicher Natur Kräfte der Seele zuwehen.« Die Seele ist aller Dinge Stätte, ohne selbst eine Stätte zu haben, sie steht an der Grenze von Zeit und Ewigkeit.

Je höher aber der »natürliche Adel der Seele« ist, desto schmerzlicher wird ihre Selbstentfremdung empfunden, welche die Versenkung in das geschaffene Sein mit sich bringt, desto dringender wird das Verlangen nach Ergreifung ihres wahren Wesens, nach voller Aneignung ihrer Einheit mit Gott. Dieses Streben geht nicht in die Ferne. Denn »Gott ist mir näher als ich mir selber bin, mein Wesen hängt daran, daß mir Gott nahe und gegenwärtig ist«. Aber solche Gegenwart will von uns ergriffen und angeeignet sein. Denn »nicht schon davon sind wir selig, daß Gott in uns ist, sondern daß wir ihn erfassen und erkennen, wie nahe er uns ist. Denn was hülfe es einem Menschen, wenn er König wäre und wüßte es nicht?«

Ein derartiges Erkennen ist grundverschieden von allem gelehrten Wissen, es fordert eine Umwälzung des gesamten Lebens, eine völlige »Abgeschiedenheit« von der Welt der Vielheit, eine ausschließliche Richtung auf die in uns wirksame Einheit. Es gilt zu einem reinen Beisichselbstsein der Seele durchzudringen, das jenseits aller Mannigfaltigkeit der Kräfte und Leistungen liegt. Will die Seele »Frieden und Freiheit des Herzens in einer stillen Ruhe« finden, so muß sie »wieder heimrufen allen ihren Kräften und sie sammeln von allen zerstreuten Dingen in ein inwendiges Wirken«. Hier spricht Eckhart von einem »Fünklein« der Seele, das uns unmittelbar mit Gott verbindet, hier zuerst hat auch das Wort »Gemüt« einen auszeichnenden Sinn und einen eigentümlichen Gefühlston erhalten.

Mit wunderbarer Zartheit schildert Eckhart diese große Wendung des Lebens. »Wenn es aber kommt, so kommt es verstohlen, in einem Geflüster und in einer Stille es sich offenbaret. Da alles schwieg, was in mir war, da sprach Gott ein stilles Wort zu meiner Seele, das verstand niemand als ich. Und zu welcher Seele das Wort gesprochen wird, die vergißt aller Bilder und Formen und wird eine Einwohnerin mit Gott. Der aber spricht alsdann von Gott am schönsten, der von der Fülle des inwendigen Reichtums am besten schweigen kann.«

Letzthin erscheint jene Wendung als ein Sterben und Auferstehen, ein Sterben des natürlichen, ein Auferstehen des geistigen Menschen. »Es stirbt der Geist ganz aufgehend in das Wunder der Gottheit. Denn in der Einheit hat er keinen Unterschied, das Persönliche verliert seinen Namen in Einheit, Gott nimmt die Seele in sich auf, wie die Sonne das Morgenrot in sich ziehet, so daß es zunichte wird.« Damit aber bewährt sich das Wort: »Selig sind, die in Gott sterben.« Denn wiedergeboren aus Gott erhält der Geist an der ganzen Fülle des göttlichen Lebens teil: »Bin ich selig, so sind alle Dinge in mir, und wo ich bin, da ist Gott, so bin ich in Gott, und wo Gott ist, da bin ich.« Damit erwächst ein hohes Lebensziel: »Das Höchste, dazu der Geist kann kommen in diesem Leben, das ist, daß er eine stete Wohnung habe außer allem in allem. Daß er wohnen soll außer allem, das ist, daß er Wohnen soll in einer Abgeschiedenheit und in einer bloßen Ledigkeit sein selber und aller Dinge. Daß er aber wohnen soll in allem, das ist, daß er wohnen soll in einer steten Stillheit und in einem Entschlummern in seinem ewigen Bilde, wo aller Dinge Bild in einer Einfaltigkeit leuchtet. Die Menschen, die dahin gelangt sind, schauen den Spiegel der Wahrheit und sind unwissend dazu gekommen, sie befinden sich auf Erden, ihre Wohnung aber ist im Himmel, sie sind gesetzt zur Ruhe und gehen einher wie die Kinder.«

Solche Innerlichkeit des Lebens im Gemüte entfremdet Eckhart aber nicht den ethischen Aufgaben und dem praktischen Handeln. Jener Rückkehr der Seele zu Gott widersteht besonders ein selbstisches Verlangen nach Glück; so ist dieses kräftig zu bekämpfen und bis zur Wurzel auszurotten. Solches Verlangen schleicht sich selbst in das religiöse Leben ein. So, wenn für die Leistung ein Lohn verlangt wird nach Art der Wucherer, die Jesus aus dem Tempel vertrieb; denn »die Wahrheit begehrt keiner Kaufmannschaft«. So aber auch, wenn der Mensch nach einem großen Schein von Heiligkeit trachtet, oder wenn er meint, daß alles geschehen müsse, was er von Gott begehrt, ja daß Gott aller Kreatur vergessen habe bis auf ihn allein. »Nein das nicht, das ist es nicht; was Gott von uns heischt, das geht ganz anders.«

Als das Hauptmittel zur Ausrottung der Selbstsucht preist Eckhart das Leiden, Leiden nicht äußerlich, sondern innerlich verstanden. »Rechtes Leiden ist eine Mutter aller Tugend, denn es drücket des Menschen Herz nieder also, daß er sich nicht kann aufrichten gegen die Hoffart und muß demütig sein. Nun aber liegt die höchste Hoheit der Höhe in dem tiefsten Grunde der Demut; je tiefer der Grund, desto höher ist auch die Höhe, die Höhe und die Tiefe sind Eins.«

Als der Weg zur Geburt eines neuen Menschen erzeugt aber das Leiden hier keine gedrückte Stimmung; selbst bei der Schuld weicht die Furcht vor dem richtenden und strafenden Gott dem Vertrauen auf seine Güte und Liebe. Das allein ist die rechte Furcht, daß man fürchte Gott zu verlieren. Seien wir nicht Knechte, sondern Freunde Gottes! Mag der Mensch voller Sünden sein, »was ein Tropfen ist gegen das Meer, das ist aller Menschen Sünde gegen Gottes unergründliche Güte«.

Solches freudige Lebensgefühl drängt eifrig dahin, den Reichtum des neuen Lebens nach außen hin in tätigem Handeln zu bekunden: »Wenn der Mensch sich übt in dem schauenden Leben, so kann er von rechter Fülle es nicht ertragen, er muß ausgießen und sich üben in dem wirkenden Leben«. Da jetzt aber die ganze Welt einen Abglanz göttlichen Wesens bildet, so fällt der schroffe Gegensatz zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Gottesreich und Welt; die rechte Gesinnung kann im alltäglichen Leben und im Verkehr mit den Menschen Gott ebensogut besitzen wie in der Einöde oder der Zelle. Die schlichte, dienstwillige Arbeit des Menschen für den Menschen tritt allem anderen voran, das einfachste Werk aus helfender Liebe ist besser als alles andächtige Schwärmen. Martha mit ihrer liebevollen Sorge für Jesus wird höher gestellt als Maria, die seinen Worten tatlos lauscht; ein »Lebemeister« gilt mehr als tausend »Lesemeister«. Ja, »wenn einer in den dritten Himmel verzückt wäre wie Paulus und sähe einen armen Menschen, der einer Suppe von ihm bedürfte, es wäre besser, er ließe die Verzückung und diente dem Dürftigen«. Damit verlieren die eigentümlich religiösen Werke ihren auszeichnenden Wert; vom Gebete heißt es: »Das Herz wird nicht rein von dem äußeren Gebet, sondern das Gebet wird rein von reinem Herzen«, den Reliquienverehrern aber wird zugerufen: »Leute, was suchet ihr an dem toten Gebeine? Warum suchet ihr nicht das lebendige Heiltum, das euch geben mag ewiges Leben? Denn der Tote hat weder zu geben noch zu nehmen.« Besonders wird die Bindung aller Menschen an eine einzige Ordnung verworfen, denn es ist einmal nicht allen derselbe Weg gewiesen: »was des einen Menschen Leben, das ist des anderen Tod«. Erforderlich ist nur, daß alles aus Liebe geschehe; »lege dem Leib an den Zaum der Minne; das ist das allerstärkste Band und doch eine süße Bürde«. »Wer diesen Weg gefunden hat, der suche keinen anderen.« »Wo aber mehr Liebe sei, das weiß niemand, das liegt verborgen in der Seele.«

Das alles soll nach der Absicht des Denkers nicht gegen die kirchliche Ordnung, sondern innerhalb ihrer wirken, noch entsteht keine Abstoßung und Ausschließung, noch spitzt die Sache sich nicht zu einem Entweder – Oder zu. Aber vollauf entwickelt sich hier eine Verinnerlichung des Lebens, eine Befreiung von selbstischem Glücksverlangen wie von äußeren Formen und Werken. Das Ganze ist grundverschieden von der Art eines Luther, aber es behält neben ihr seinen Wert.

Der Thomismus begegnete von Anfang an dem Widerstand derer, welche der älteren Art gemäß sich mehr an Augustin und an Plato hielten, die Gestaltung der christlichen Gedankenwelt unter dem Einfluß des Aristoteles zu verstandesmäßig und zu abhängig von dialektischer Begriffsarbeit fanden, dagegen stärker die Bedeutung der Tatsachen, den Vorrang des Willens, das praktisch-religiöse Bedürfnis verfochten. Diese Richtung hatte ihren Hauptsitz in England, vornehmlich in Oxford; hierher gehört auch der Mann, der jene Bewegung auf ihre Höhe brachte und dem Thomismus eine vollgewachsene Leistung entgegensetzte: Duns Scotus, der scharfsinnigste Geist des Mittelalters († 1308). Sein Verhältnis zu Thomas ward oft mit dem von Kant zu Leibniz verglichen; strengere Anforderungen an den Vernunftbeweis verengen ihm das Gebiet der Vernunfterkenntnis und verbieten eine Verwandlung der Theologie in Philosophie. Ähnlich wie Kant bekämpft er weniger die Wahrheiten selbst als ihre üblichen Beweise und Formeln. Seine Theologie stellt den Willen und die Praxis voran, sie wird daher ein praktisches Erkennen, wie der Glaube ein praktisches Verhalten genannt. Den Inhalt des Glaubens bilden die Offenbarungen, welche dem schlechthin freien Willen des allmächtigen Gottes entspringen; er hat es nicht mit Notwendigem, sondern mit Kontingenten;, d. h. rein Tatsächlichem, zu tun. Durchgängig wird der Wille dem Intellekte vorgezogen, und zugleich mit voller Freiheit der Entscheidung bis zu grundloser Willkür ausgestattet. Die Individualität gilt hier nicht als ein Weniger, sondern als ein Mehr, das sich nicht aus dem Allgemeinbegriff ableiten läßt; dies Unableitbare bedeutet nicht, wie bei den Aristotelikern, etwas Nebensächliches und Geringwertiges, sondern die vollendende Höhe des Wesens. Die Verschiebung von einer rationalen zu einer positiven Denkart bringt zu knappem Ausdruck die Formel, daß nach Thomas Gott das Gute gebietet, weil es gut ist, nach Scotus das Gute gut ist, weil Gott es gebietet. Es vollzieht aber dieser die Wendung zur Tatsächlichkeit nicht unter Geringschätzung der Begriffsarbeit, sondern unter Steigerung ihrer Technik und höchstem Aufgebot dialektischer Schärfe. Namentlich erreicht das Vermögen der Scheidung und Spaltung der Begriffe hier seinen höchsten Gipfel, um Anmut des Ausdrucks ist dabei geringe Sorge. So wurden hier Unterschiede von bleibendem Wert gewonnen, und es ist die wissenschaftliche Sprache in hohem Grade bereichert wie verfeinert, aber es droht auch schon eine Wendung zu leerem Wortstreit und überkluger Spitzfindigkeit. Daher konnten spätere Forscher, z. B. Erasmus, in Duns Scotus den typischen Vertreter einer unfruchtbaren Scholastik sehen. Das freilich nur, weil inzwischen der Sinn für die Probleme erloschen war, die das Denken dieses hervorragenden Mannes beherrschten.

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c. Das spätere Mittelalter.

Der spätere Verlauf des Mittelalters löst den geistigen Zusammenhang auf, dessen Herstellung seine Höhe bezeichnet. Der sogenannte Nominalismus, dessen Haupt Wilhelm von Occam (etwa von 1280 bis gegen 1350) war, verfolgt die von Duns Scotus eingeschlagene Richtung weiter bis zur Leugnung aller allgemeinen Größen. Die Begriffe gelten als bloße Abkürzungen, die nichts über den Denkenden hinaus bedeuten, jeder Zugang zu den Dingen wird dem Menschen hier versagt. Zugleich fällt alle Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Glaubenswahrheiten, sie sind in reiner Tatsächlichkeit so anzunehmen, wie die Kirche sie übermittelt, die sich dabei auf die Bibel stützt. Schließlich liegt alles an der absoluten Macht und Willkür Gottes. Ein merkwürdiges Schicksal treibt diesen Verkünder der geistigen Autorität in einen harten Kampf mit der sichtbaren Autorität. Er sieht das von ihm mit ganzer Inbrunst ergriffene Ideal einer völligen Armut nicht nur der einzelnen Ordensglieder, sondern der Orden selbst vom Papst verworfen, der Zusammenstoß macht ihn zu einem scharfen Kritiker nicht nur des einzelnen Papstes, sondern des ganzen Papsttums und seines Anspruchs auf weltliche Macht, zugleich aber zu einem Vorkämpfer der Selbständigkeit des Staates und Kaisertums. »Die heilige Armut machte ihn zum Kritiker des Papsttums und zum Verteidiger der Selbständigkeit des Staates« (Seeberg). So unbeugsam er sein ganzes Leben hindurch solche Ziele verfocht, praktisch erreicht hat er damit so gut wie nichts. Aber seine wissenschaftliche Denkweise hat anderthalb Jahrhunderte beherrscht und auch in die Reformation hineingewirkt, wie sich auch Luther einen Occamisten nennt und Occam als seinen »lieben Meister« schätzt.

Für unsere Betrachtung haben im späteren Mittelalter besonderen Wert die Werke der gemäßigten und mehr ins Ethische gewandten Mystik. Namentlich hat hier die Schrift des Thomas von Kempen († 1471) von der Nachfolge Christi einen derartigen Einfluß geübt, daß auch wir einen Augenblick dabei verweilen und die Gründe solcher Wirkung erwägen müssen.

Sowenig jene Schrift eine zusammenhängende Lebensansicht bietet, einfache und kräftige Grundstimmungen tragen das Ganze. Wir gewahren eine Seele, die, von dem Elend der menschlichen Lage übermannt, sehnsuchtsvoll darüber hinausstrebt. Alles Verlangen richtet sich von der Welt auf Gott, vom Diesseits zum Jenseits; schroff steht beides gegeneinander, so daß das eine ergreifen das andere aufgeben heißt, »das ist die höchste Weisheit, durch Verachtung der Welt zum Himmelreich zu streben«. Das Leben schöpft allen Inhalt und Wert aus dem Verhältnis zu Gott; dies Verhältnis aber begründet sich nicht vom Erkennen her durch hochfliegende Spekulation, gegen die starkes Mißtrauen waltet, sondern durch eine persönliche Beziehung von Gemüt zu Gemüt, durch aufopfernde Liebe und Hingebung. Alle Schätzung der Güter untersteht dem Gedanken, daß alles gut ist, was von der Welt ablöst, alles böse, was an sie bindet. Wiederum erwächst ein religiöser Utilitarismus mit seiner Einschränkung auf das, Was zum Seelenheil notwendig dünkt, ihm wird u. a. auch das weltliche Wissen geopfert. Der Hauptweg zu Gott wird das Leiden mit seinem Brechen aller Lust an der Welt, auch gilt es ein einsames und schweigendes Leben ( solitudo et silentium), ein williges Gehorchen, ein freudiges Zurückstehen hinter den anderen, ein sich selbst Besiegen bis zu völliger Selbstverleugnung, ein stetes Vorhalten des Todes. »Durch zwei Flügel erhebt sich der Mensch über das Irdische: durch Einfachheit und Reinheit«. Ergänzt und erwärmt wird dieses Bild durch die Forderung der Liebe, einer stets dienstwilligen Gesinnung, eines gegenseitigen Tragens der Lasten.

Aber diese Gefühle erstrecken sich nicht auf den Menschen in seiner individuellen Art, sie umfassen nicht die lebendige Persönlichkeit, sondern sie gehen in unbestimmte Weite und entbehren alles festen Bodens. Alle Vertrautheit mit Menschen wird widerraten, wir sollen möglichst wenig mit anderen verkehren, weder wünschen, daß sich jemand innerlich mit uns befasse, noch selbst unsere Liebe auf einzelne Menschen richten. So blicken wir in eine weltflüchtige, lebenverneinende Stimmung mönchischer Art. Daß aber das Herz nicht letzthin so ins Unbestimmte lieben kann, sondern eines lebendigen Gegenstandes bedarf, das erweist sich auch hier: je mehr das Gefühl sich von der Besonderheit der menschlichen Umgebung ablöst, mit desto größerer Inbrunst umfaßt es die Heilandsgestalt Jesu. Er allein ist vorzugsweise, er allein wegen seiner selbst zu lieben, alle anderen nur seinetwegen. Es gilt, sein Bild sich stets vor Augen zu halten und alles eigene Tun daran zu messen; die »Nachahmung Christi« in Lieben und Leiden, in Entsagen und Überwinden wird zur Seele des menschlichen Lebens.

In dem allen beschäftigt den Menschen lediglich die Frage des eigenen Seelenheiles, um den Gesamtstand der Menschheit ist keine Sorge, die gesellschaftlichen Verhältnisse werden wie eine fremde Ordnung hingenommen. Auch das christliche Leben erscheint vornehmlich als ein Handeln des Einzelnen; so gewiß es göttliche Gnade und kirchliche Ordnung voraussetzt, ihre Aneignung scheint wesentlich auf den Menschen selbst gestellt, sein Tun trifft die Hauptentscheidung. Wohl ist dies Tun nicht äußerer, sondern innerer Art, »es wirkt viel, wer viel liebt«, aber auch so scheint es ein von uns zu vollziehendes Werk, auch den Stand des Inneren haben wir aufzubringen. Die Unzulänglichkeit unseres Tuns steht außer Zweifel, aber sie ist mehr ein Zurückbleiben hinter dem Ziel als ein gänzliches Verfehlen; so bedarf es mehr einer Stärkung unseres Vermögens als einer Umwälzung unseres Wesens. Demnach wirken in dieser Lebensgestaltung verschiedene Strömungen durcheinander, und es schützt alle seelische Verinnerlichung nicht vor einem Verfallen in Werkheiligkeit.

Auch die Fassung des höchsten Gutes zeigt entgegengesetzte Strömungen. Einerseits ein selbstisches Glücksverlangen, das nicht gründlich entsagt, sondern seine Zeit nur erwartet, auf das Diesseits nur verzichtet zugunsten eines besseren Jenseits, das dient, um später zu herrschen, das um der ewigen Seligkeit willen die zeitliche Mühsal gelassen trägt. Hier behält alle Hingebung und Aufopferung den eigenen Vorteil im Auge; Gott und Christus bilden im Grunde bloße Mittel für die menschliche Seligkeit. Aber das ist nur eine Seite von Thomas. Eine nicht minder starke Bewegung geht auf Gott um Gottes willen, es entwickelt sich eine reine Liebe zum Guten und Ewigen und gibt ihrer schlichten Herzlichkeit oft einen hinreißenden Ausdruck. »Ich will lieber arm sein deinetwegen als reich ohne dich. Ich ziehe vor, mit dir auf der Erde zu pilgern, als ohne dich den Himmel zu besitzen. Denn wo du bist, da ist der Himmel; hingegen der Tod und die Hölle, wo du nicht bist.« »Ich kümmere mich nicht um das, was du außer dir selbst gibst, denn dich selbst suche ich, nicht deine Gabe.«

Demnach liegt hier das Edle neben dem Selbstischen, das Göttliche neben dem Kleinmenschlichen; gerade diese Mischung mag zur beispiellosen Wirkung ins Weite viel beigetragen haben. Denn wer sich dem Durchschnitt nahe genug hält, um leichten Eingang zu finden, und zugleich eine Kraft der Erhöhung übt, der mag die Gemüter vornehmlich gewinnen. Auch hat sich bei Thomas die Entfaltung der Lehren oft von der mönchischen Grundanschauung gänzlich befreit; so erlangen Gefühle innigster Art einen allem Streit überlegenen Ausdruck, und es ist dieser Ausdruck so einfach, so treffend, so überzeugend, daß jedes religiöse Gemüt hier eigene Erlebnisse wiederzufinden vermochte.

Daher haben Menschen verschiedenster Überzeugung weit über die Kirche hinaus sich jenes Werkes erfreut und für das eigene Leben daraus gewonnen. Es ist die letzte Leistung, in der das Christentum älterer Gestalt zu allen spricht und alle fördern kann.


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