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4. Der Rückschlag gegen den Realismus. Der Subjektivismus. Nietzsche.

Der Subjektivismus stimmt mit dem Realismus darin zusammen, die Wirklichkeit ganz und gar in das unmittelbare Dasein, zu setzen und auf dies auch alles menschliche Tun zu beschränken; beide geben dem Leben keine Abstufung und zugleich keine Tiefe, beide verwerfen alle Überschreitung jenes Daseins durch Metaphysik oder Religion als einen verderblichen Wahn, eine unerträgliche Spaltung, beide kennen nur die Erfahrung und das Diesseitsleben. Innerhalb des damit abgesteckten Lebensraumes bilden sie aber einen vollen Gegensatz, der keine Verständigung duldet: der Realismus gestaltet seine Welt von den Gegenständen um uns her, der Subjektivismus hält sich ganz an die Zuständlichkeit der Seele, das freischwebende Gefühl. Das ergibt ein völlig entgegengesetztes Leben: dort geht die Bewegung von außen nach innen, hier von innen nach außen, dort steht die greifbare Leistung, hier die unfaßbare Stimmung voran, dort mehr Festigkeit, hier mehr Flüssigkeit, dort ein Arbeiten für den Gesamtstand der Gesellschaft, hier ein Sorgen für das Befinden des Einzelnen, dort ein Streben nach allgemeinen Ordnungen und Massenwirkungen, nach Abschleifung aller Unterschiede, hier eine Hervorkehrung des Eigentümlichen, Unterscheidenden, Unvergleichlichen, dort eine Einfügung in die lange Kette der Zeiten, hier ein Ergreifen des unmittelbaren Augenblicks, dort eine wissenschaftliche, technische und soziale, hier eine ästhetische und individuelle Kultur, ein Überwiegen des künstlerischen und literarischen Schaffens. Ohne die Verbindung mit der Kunst würde der Subjektivismus rasch ins Leere fallen. Die Aufbietung zur Befestigung und Verkörperung der Stimmung gestaltet aber auch die Kunst eigentümlich: die seelische Erregung überwiegt hier die Gestaltung, die Farbe den Umriß, das Lyrische das Dramatische; der Aufbau ist hier die schwache Seite, die Gedankenwelt löst sich in Aphorismen auf, während die Wiedergabe von Eindrücken eine wunderbare Feinheit erreicht. Auch was an Dramen auf diesem Boden erwuchs, hat namentlich durch das gewirkt, was es an Stimmung erzeugte, es suchte weniger einen Tatbestand geistig zu durchdringen als durch ihn die Seele stark zu erregen.

Das Ganze sei vornehmlich als ein Rückschlag gegen den Realismus verstanden und gewürdigt, als ein Versuch, der mit seiner Entwicklung drohenden Verflachung und Entseelung des Menschen zu entgehen, sowie dem menschlichen Dasein gegenüber der dort üblichen Unterordnung einen Wert bei sich selbst und eine innere Freudigkeit zu erringen. Indem hier alle Mannigfaltigkeit kräftiger auf das Subjekt bezogen und sein Zustand deutlicher herausgearbeitet wird, entsteht ein neuer Durchblick der Wirklichkeit, Wird das Dasein verfeinert und in Fluß gebracht, erlangen sonst zurückgedrängte seelische Regungen ihr volles Recht, quillt viel neues Leben auf. Das Ganze des menschlichen Seins scheint jugendfrischer zu werden und aus ursprünglichen Quellen zu fließen. Der Mensch fühlt sich hier als souveräner, aller Bindung und Einengung überlegener Herr; in seinem Sichselbstgenießen scheint das Leben einen unmittelbaren Wert zu besitzen und aus seiner eigenen Bewegung immer neue Lust zu schöpfen.

Gewiß ist viel Regung und Belebung von hier ausgegangen und geht weiter davon aus; daß aber diese Bewegung das Leben zu führen vermag, ist damit nicht entschieden. Denn in Wahrheit entfaltet der Mensch seine Kraft nur im Ringen mit der Weit und ihren Widerständen; je mehr er sich von der Welt ablöst und sich in einen Sonderkreis einspinnt, desto mehr entschwindet ihm ein Gehalt des Lebens, desto mehr gerät er ins Leere. Dazu kann sich der Mensch unmöglich ganz und gar in bloße Stimmung verwandeln, bei freischwebender Stimmung dauernd verbleiben; immer wieder reißt es ihn aus ihr heraus und treibt ihn in das sichtbare Dasein, in die rauhe Wirklichkeit zurück; er muß ihre Härte dann nur noch stärker, noch schmerzlicher fühlen. Ja der Subjektivismus leidet insofern an innerer Unwahrheit, als er dem Menschen eine Größe und Selbständigkeit nur in seiner eigenen Meinung und Einbildung verleiht, sie ihm vortäuscht wie eine Fata Morgana, während in Wahrheit die Auflösung der Seele in lauter einzelne Stimmungen sie schwach und abhängig macht. Das ist keine andere Freiheit, als wenn ein vom Winde bewegtes Rohr sich aus eigener Kraft zu bewegen glaubte. Nirgends eröffnet sich hier eine Aussicht, zur Welt wie zur eigenen Natur in ein tätiges Verhalten zu kommen und dem Dasein mit seinem Schicksal eine Welt der Freiheit entgegenzusetzen.

Das Individuum mag in der Entfaltung und künstlerischen Darstellung seines Zustandes eine Betätigung und Befriedigung finden, aus der Abhebung des einen von den anderen einen prickelnden Reiz gewinnen, aus dem Wettbewerb viel Spannung und Aufregung ziehen. Aber jeder Blick über die Individuen hinaus auf das Ganze und den Gesamtstand menschlicher Dinge zeigt deutlich das Unvermögen des Subjektivismus, dem Leben einen Gehalt zu geben und die drohende Auflösung abzuwehren; ein freudiges Lebensgefühl verkünden, heißt nicht es begründen und sichern. Schließlich kann alles selbstbewußte und sich gegenseitig überbietende Getriebe der Individuen ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Nichtigkeit des Ganzen nicht hindern. Der Mensch wird dadurch nicht groß, daß er sich für groß erklärt. In einzelnen Persönlichkeiten hervorragende Leistungen erzeugen konnte der Subjektivismus nur, weil sie seine Schranken durchbrachen und ihn aus andersartigen Zusammenhängen ergänzten.

Diese Erwägung muß namentlich bei der Würdigung Nietzsches (1844-1900) gegenwärtig sein, der dem Subjektivismus den bedeutendsten Gedankenausdruck und die hervorragendste künstlerische Gestaltung verliehen hat. Das Verlangen des Subjekts nach mehr Größe des Lebens, nach freiester Entfaltung alles Vermögens, nach Gewinn von Herrschaft und Macht hat sich hier besonders glänzend entfaltet. Alle Vollendung der Form kann freilich die Schranken einer solchen Stimmungsphilosophie nicht verdecken: die innere Abhängigkeit von dem, was draußen gilt; denn der hier beliebte Widerspruch, die Paradoxie, ist nur eine andere, eine indirekte Art der Abhängigkeit, das Unvermögen, sich vom Eindruck auf das Subjekt in die Sache selbst zu versetzen, sie in ihren eigenen Zusammenhängen zu verstehen und zu würdigen, das Unvermögen auch, dem Menschen eine wahrhaftige Größe zu geben, wo es an aller Begründung solcher Größe in Weltzusammenhängen fehlt. Denn wie könnte der einzelne Mensch eine Größe erlangen, wenn das Ganze des menschlichen Seins einer Erhöhung unfähig ist?

Wer Nietzsche zutreffend würdigen will, der muß zwischen dem Gerüst seiner Lehren und seiner Gedankenwelt im weiteren Sinne deutlich scheiden; das Lehrgerüst wurzelt im Subjektivismus und unterliegt all den Bedenken, denen jener ausgesetzt ist. Aber Nietzsche ist weit mehr als bloßer Subjektivist, seiner reichen, feingearteten und beweglichen Individualität ist das geistige Ringen und Schaffen der Menschheit im weitesten Umfange gegenwärtig und wird aus tiefster Seele erlebt; solches Miterleben erzeugt eine Fülle bedeutender Gedanken, weicher Gefühle, ergreifender Stimmungen; knappe Wendungen geben hier oft überraschende Aufhellungen, lassen freilich durch ihre hinreißende Form leicht eine nähere Prüfung der Wahrheit vergessen. Diese Gedankenwelt schöpft aber vornehmlich aus den Bildungen des Idealismus, sie überschreitet weit die Grenzen des bloßen Subjektivismus. Wohl wirbelt in ihr verschiedenartiges durcheinander, Widersprüche sind oft greifbar, namentlich stehen oft antike und moderne Elemente, ästhetische und biologische Betrachtung unausgeglichen nebeneinander. Aber nicht nur bringt solche Fülle die verschiedensten Seiten des Lebens und Schaffens zur Wirkung, es fehlt auch nicht an einem beherrschenden Grundton. Diesen gibt nämlich ein Idealismus künstlerischer Kraft und veredelter Natur, wie er von der Höhe des griechischen Altertums durch die Geschichte geht, in der Renaissance neue Blüten trieb und auch den weiteren Fortgang des modernen Lebens begleitet. Dieser Idealismus möchte dem Menschen unmittelbar eine Stärke zuerkennen, er widerspricht damit schroff dem ethisch-religiösen Idealismus, der keineswegs auf Stärke verzichtet, der sie aber ohne eine Umwälzung des Lebens nicht für erreichbar hält. Nun entspricht dieser ethisch-religiöse Idealismus in der Form, wie ihn heute die Kirche bietet, augenscheinlich nicht der Überzeugung und dem Lebensgefühl weiter Kreise, er wird namentlich da wie ein peinlicher Zwang empfunden, wo staatliche Autorität ihn direkt oder indirekt aufrechterhält; was hier an Verstimmung vorliegt, ja an Erbitterung schlummert, das muß die offene, ja leidenschaftliche Aussprache des Gegensatzes bei Nietzsche lebhaft begrüßen. Daß wir selbst zu diesen Problemen anders stehen und eine Wiederbelebung des antiken Idealismus der großen Natur, als einen Rückschritt ablehnen müssen, das hat der Verlauf dieses Buches zur Genüge dargetan. Aber alle Abweichung von Nietzsches Lehren und Gedanken darf anzuerkennen nicht verhindern, daß von ihm eine eingreifende Kulturkritik geübt und reiche Belebung wie Anregung ausgegangen ist. Auch hat aller Streit über die Lehren die vornehme und feinfühlende Art des Mannes unangetastet zu lassen, einzelne schroffe und abstoßende Äußerungen, wie sie einer solchen Stimmungsphilosophie naheliegen, sollten nicht sein Gesamtbild beherrschen. Halten wir auch stets gegenwärtig, wie geistlos und dabei selbstbewußt der Hauptzug der Zeit war, mit der er feindlich zusammenstieß!

Aber Nietzsches Bedeutung soweit anerkennen, heißt nicht sich zum Subjektivismus bekennen. Es ist sicherlich nichts Geringes, wenn dieser eine Umkehrung vollzieht und statt von außen nach innen, von innen nach außen zu wirken sucht, wenn besonders die Kunst ihr Werk nicht als eine Nachahmung äußerer Dinge, sondern als eine Verkörperung seelischen Lebens betrachtet. Wieviel Bewegung das hervorruft, und wie stark es auch auf die Technik wirkt, das steht uns heute deutlich vor Augen. Aber wer ein Inneres ausdrücken will, der muß auch einen Lebensinhalt, ja eine Innenwelt besitzen; man muß etwas sein um etwas sagen zu können. Und mit dem Sein steht es heute oft herzlich schlecht. Was immer der Subjektivismus an Schätzbarem bringen mag, den ungeheuren Verwicklungen der weltgeschichtlichen Lage ist er weitaus nicht gewachsen; daß er mit gutem Recht der Ausschließlichkeit des Realismus widerspricht und ihm ein andersgeartetes Leben entgegensetzt, das erweist noch keineswegs sein eigenes Recht; was immer bei ihm wertvoll ist, das weist über sein eigenes Vermögen hinaus auf weitere Zusammenhänge. Realismus und Subjektivismus können sich gegenseitig bekämpfen und schwächen, sie bringen damit nicht der Menschheit eine innere Erhöhung. Ihrer beider Unvermögen scheint zu bekunden, daß eine solche überhaupt nicht vom unmittelbaren Dasein aus erreichbar ist, daß daher der Mensch allen Sinn und Wert seines Lebens preisgeben müßte, wenn er ganz und gar diesem Dasein angehörte, sich nicht irgendwie durch eine Umkehrung darüber erheben, die Gegensätze von Objekt und Subjekt, von Leistung und Stimmung umspannen und durch geistiges Schaffen dem Leben einen Inhalt verleihen könnte. So führt das Scheitern der Daseinskultur, auf die Bahn des Idealismus und läßt in ihm zum mindesten ein wahres Problem erkennen; ist überhaupt eine geistige Selbsterhaltung der Menschheit möglich und zugleich ein Recht der Lebensbejahung, so ist sie auf seinem Wege zu suchen. Sehen wir, wie es heute damit steht.


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