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1. Die Rückschläge gegen die Aufklärung im 18. Jahrhundert.

a. Hume.

Hume (1711-1776) ist ein Denker durchaus selbständiger Art, er hat tief in die geistige Bewegung eingegriffen und Probleme herausgestellt, die auch heute fortbestehen. Seine Arbeit verändert wesentlich das Bild des menschlichen Seelenlebens wie die Stellung des Menschen zur Welt: dort verlegt sich der Schwerpunkt vom Denken in Sinnlichkeit, Naturtrieb und Gefühl; zugleich aber ergibt sich, daß das Verhältnis von Subjekt und Objekt sich nicht so fassen läßt, wie es bisher geschah, daß an Hauptstellen, was von draußen als eine Eigenschaft der Dinge an uns zu kommen scheint, in Wahrheit ein Werk unserer Seele, ein Erzeugnis des seelischen Mechanismus bildet; so beginnt schon hier jene für Leben und Weltbild folgenreiche Verschiebung vom Objekt zum Subjekt, die bald darauf Kant in größerem Stile durchgeführt hat. Nicht erst Kant, sondern schon Hume vollzieht jene Wendung, die Kant später mit der Tat des Kopernikus verglichen hat. Nur bedeutet den beiden Denkern das Subjekt etwas wesentlich anderes, und es entsteht bei ihnen damit eine recht verschiedene Gedankenwelt.

Zunächst löst sich in Hume ein schwerer Widerspruch der englischen Aufklärung. Sie will sich gänzlich auf den Boden der Erfahrung stellen, ihm glaubt sie alle Erkenntnis und auch die Lebensführung zu entnehmen. In Wahrheit verwendet sie weit über die Erfahrung hinaus viel eigenes Vermögen des Geistes, ohne es irgendwie zu begründen und gegen jene abzugrenzen. So behandelt z. B. die Erkenntnislehre grundlegende Denkgesetze, vornehmlich die Kausalverkettung, als Vorgänge an den Dingen; so überschreitet noch mehr in praktischer Richtung das Vernunftwesen alle Erfahrung, und es erfolgt auf politischem, ethischem, religiösem Gebiet eine versteckte Idealisierung und Intellektualisierung der menschlichen Natur. Auch der Begriff der Natur ist hier zweideutig, indem er die Tatsache unmittelbar in einen Wertbegriff umsetzt.

Hume ist es, der diesen Widerspruch durchschaut und mit zäher Energie den reinen Bestand der Erfahrung herausarbeitet; von ihm aus entwirft er ein neues Bild von Leben und Wirklichkeit. Eine Kausalität im Sinne eines sachlichen Zusammenhanges der Ereignisse kann vor seiner Kritik nicht bestehen. Denn ein Zusammenhang wird, wie schon die antike Skepsis erkannte, nicht von draußen mitgeteilt, sondern vom Menschen hergestellt; er bedeutet alsdann, so scheint es, nicht mehr als eine gewohnheitsmäßige Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen, kraft deren ähnliche Lagen einen ähnlichen Verlauf erwarten lassen. So wird die Kausalität aus einem Weltgesetz ein bloßseelischer Vorgang, der die Dinge gar nicht angeht. Auch der Begriff des Dinges verliert seine bisherige Geltung. Körper, Seelen, Dinge überhaupt werden nicht wahrgenommen und bedeuten nicht Größen jenseits unseres Gedankenkreises, sondern sie sind lediglich Erzeugnisse und Hilfen unseres Vorstellens; die Seele z. B. ist nichts »als ein Bündel oder eine Sammlung verschiedener Vorstellungen, welche einander mit einer unbegreiflichen Geschwindigkeit folgen und in fortwährendem Fluß und Bewegung sind«. Unsere Vorstellungen spiegeln nicht eine neben ihnen befindliche Wirklichkeit. Die vermeintlichen Grade der Realität sind lediglich Grade einer undefinierbaren Kraft und Lebhaftigkeit, mit der die Vorstellungen den Geist ergreifen; schließlich kommt demnach alle unsere Überzeugung auf ein Gefühl zurück, bloße Schlußfolgerung versichert uns nirgends einer Wirklichkeit. Auch alle Zusammenhänge entspringen einer Nötigung des Gefühls und sind daher Sache des Glaubens ( belief), der natürlich vom religiösen Glauben ( faith) deutlich geschieden wird. Das Gefühl aber entwickelt sich vornehmlich durch Sitte und Gewohnheit, es wirkt dabei weniger der denkende als der empfindende Teil der Seele. Der Verlauf des Vorstellens untersteht nicht einer überlegenen Einheit und folgt nicht bewußter Überlegung, sondern er bewegt sich in strenger Notwendigkeit nach einfachen Grundformen der Assoziation. Mit solcher Wendung ins Empirisch-Psychologische wird alle Metaphysik als ein Wahnbild ausgetrieben und nicht ohne Fanatismus angegriffen.

Auch im übrigen Leben verliert die Vernunft ihre leitende Stellung, die bewegenden Kräfte erweisen sich als völlig irrational. Nicht vernünftige Überlegung, sondern Affekte der Lust und Unlust bewegen unser Handeln, im vermeintlichen Siege der Vernunft über den Affekt siegt in Wahrheit ein ruhiger über einen heftigen Affekt. Aus eigenem Vermögen kann die Vernunft weder etwas heben noch hemmen, sie dient ganz und gar den Affekten. Tugend und Laster unterscheidet nicht eine theoretische Erwägung, sondern ein unmittelbares Gefallen oder Mißfallen, ein Gefühl der Lust oder Unlust, das ihre Betrachtung erzeugt. So wird die Moral eine Sache des Geschmackes. Auch die Behandlung der Religion erfährt einen gänzlichen Umschlag. Hatte die Aufklärung die Neigung, sie vom Erkennen her abzuleiten, so sucht Hume ihre Wurzel in den Affekten der Hoffnung und mehr noch der Furcht; damit bekämpft, und zerstört er gründlich den englischen Deismus.

So wird durchgängig unser Leben auf die sinnliche Empfindung zurückgeführt, und es wird diese auch in der Kulturarbeit aufs zäheste festgehalten; was immer sich ihr gegenüber selbständig dünkte, das ist unterzuordnen oder auszuscheiden. Das verändert ganz und gar den Anblick wie die Ziele des Lebens; augenscheinlich ist die Wendung des Daseins ins Subjektive und Relative, augenscheinlich auch der Sieg des unmittelbaren Eindrucks über das Denken, des Affektslebens über die Theorie. Zugleich verschwindet alle Neigung zum Optimismus, nichts hindert eine volle Anerkennung der Schäden und Fehler im menschlichen Dasein. Aber was immer sich davon findet, das kann bei jener Wendung des Lebens ins Relative nicht tief erschüttern und leidenschaftlich erregen. Bei allen Gegensätzen und Kämpfen herrscht im Grunde des Lebens hier eine große Kühle und Nüchternheit; für andersartige Gedankenwelten ist gar kein Verständnis vorhanden.

Die Gedankenwelt Humes enthält ein selbständiges, mit bewunderungswürdiger Konsequenz entwickeltes Bild der Wirklichkeit. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts hat durch Heranziehung der naturwissenschaftlichen, technischen, sozialen Erfahrungen dies Bild nur weiter ausgeführt, ohne dabei immer die volle Schärfe der Humeschen Gedanken zu wahren. Ein solcher reiner und bloßer Empirismus ist eine Möglichkeit, deren kräftige Durchführung ein nicht geringes Verdienst bedeutet. Ob aber dies Bild genügt, ob hier nicht vielmehr die Leistung selbst eine unerträgliche Schranke zeigt, das ist eine andere Frage; zunächst hat es am meisten durch das gewirkt, was es bei Kant an weitergehender Bewegung hervorrief.

*

b. Rousseau.

Gegen das Überwiegen des Verstandes in der Aufklärung hatten schon die Engländer das Gefühl aufgeboten, bei Rousseau (1712 bis 1778) gelangt dieser Rückschlag zu vollem Siege. Obwohl kein großer Denker in der Art eines Descartes oder Kant, bildet er den Quell einer neuen Stimmung, den Beginn einer unermeßlichen Bewegung. Die Stärke seiner Wirkung erklärt sich zum guten Teil aus einem unausgeglichenen Gegensatz in seinem eigenen Wesen. Rousseau ist Dichter und Denker zugleich, als Denker neigt er zu nüchterner Logik, als Dichter zu träumerischer Romantik. Er ist stark in der Abstraktion wie auch in verkettendem Schließen, in scheinbar leichtem Spiel verbindet er die Sätze zu Reihen, deren einzelne Glieder wie Perlen einer Kette leicht zueinander rollen, und die als Ganzes doch eine gewaltige Wucht besitzen. Von hier aus erscheint sein Werk als eine bloße Entwicklung von selbstverständlichen Grundgedanken, es gibt sich alles so einfach, so einleuchtend und überzeugend, daß kein Widerspruch möglich dünkt. Jene Gedanken selbst aber sind in Wahrheit voller Probleme. Mit dem sachlichen Gehalt verbindet sich eine erregbare Subjektivität und gibt den Größen Leben und Leidenschaft, Stimmung und Färbung, Wert oder Unwert, Liebe oder Haß. Wenn aber die künstlerische Phantasie mit ihrem Zauber aus dem Tatbestand etwas anderes, weit Innerlicheres und Seelenvolleres macht, so tut sie das so leise und zart, daß das Dichten nicht als solches empfunden wird; das Neue verschmilzt mit dem Alten zu scheinbar völliger Einheit und zieht bei allem kühnen Wagnis die Überzeugungskraft der logischen Darlegung an sich. Weniger der Denker als der Dichter Rousseau hat die Herzen der Menschen bezwungen.

Dieser inneren Art entspricht in vollendeter Weise die Darstellung. Klar und einfach, wie sie sich gibt, scheint sie nur der schlichte Ausdruck sachlicher Notwendigkeit. Aber zugleich ist sie durch und durch Resonanz einer weichen und träumerischen Seele, in hinreißender Weise bringt sie ihre Regungen und Stimmungen zum Ausdruck, sowohl den glühenden Zorn und die stürmische Leidenschaft als die zartesten Schwingungen mit ihrem Zittern und Klingen; namentlich vermag sie verhaltene, zwischen Widersprüchen schwebende Stimmungen wunderbar zu verkörpern, mit dem Hauptton schlägt sie zugleich leisere Töne an und erweckt in allem Ungestüm der Bewegung wie allem Drang zum Handeln eine Sehnsucht nach besserer Art, einen Zug zur Einsamkeit, eine stille Melancholie. Das alles geschieht nicht ohne Kunst, aber die Kunst versteckt sich geschickt genug, um wie lautere Natur zu wirken.

In der Sache entfaltet Rousseau zuerst den radikalen Charakter der Aufklärung, den bis dahin eine optimistische Fassung des Verhältnisses von Kultur und Natur verbarg. Von Haus aus forderte die Aufklärung eine Vernunftgestaltung des Daseins, aber sie dachte sich das Ziel nicht fern und den Weg nicht allzu schwer. Die geschichtliche Kultur schien bei aller Irrung und Verirrung der Vernunft nicht schroff zu widersprechen und nach Austreibung von Vorurteil und Aberglauben einen tüchtigen und unbestreitbaren Kern zu enthalten. So schien deutliche Einsicht, redliches Wollen, emsige Arbeit alles in Ruhe und Güte schlichten zu können; es galt eine energische Sichtung, eine Klärung und Auffrischung, nicht aber eine völlige Erneuerung des Lebens durch schwere Erschütterung hindurch. Daher werden nicht elementare Leidenschaften entfesselt und die Gesellschaft bis zum Grunde aufgewühlt, sondern die Aufklärung entsteht auf der Höhe des sozialen Lebens und senkt sich von hier aus langsam, aber sicher zu den breiteren Schichten herab. Ein ruhiger Fortschritt dünkt alles miteinander aufwärts zu führen und die Interessen aller Klassen mehr und mehr auszugleichen. Auch die Verneinung ist maßvoll und gutartig; die Losung ist Reform, nicht Revolution. Die Männer, deren Jugendzeit dieser Epoche angehörte, haben sich in die politischen und sozialen Bewegungen der jüngeren Zeit nie recht hineingefunden.

Diese jüngere Zeit aber beginnt mit Rousseau. Ihm eröffnet sich eine schroffe Kluft zwischen dem Stande der Natur, den die Vernunft verlangt, und dem der Gesellschaft, der uns umgibt; dieser dünkt nicht bloß im Einzelnen voller Mängel, sondern ganz und gar widervernünftig, in seiner tiefsten Wurzel faul und morsch. So trifft auch die Anklage nicht einzelne Schäden, sondern das Ganze einer geschichtlich-gesellschaftlichen Kultur; das Einfache, Unmittelbare, Naturwahre, das die Engländer innerhalb der Gesellschaft zu erreichen hofften, kehrt sich hier gegen diese und bekämpft sie auf Leben und Tod. Alle Einsicht und alles Wohlwollen der früheren Art wird nunmehr unzulänglich, vielmehr erweckt der schroffe Gegensatz von Schein und Wahrheit die glühendste Leidenschaft; nun darf nicht mehr der eine Mensch den anderen lenken und leiten, sondern jeder hat selbständig mitzuarbeiten und sich aus eigener Kraft Wahrheit und Glück zu erringen.

Damit verwandelt sich gänzlich der Wert der Gesellschaft für das Individuum. An der Gesellschaft sah die Aufklärung eitel Licht, der gesellschaftliche Stand schien aus unserer vernünftigen Natur zu entspringen und den Einzelnen unermeßlich zu fördern, unter dem Schutz der Gesetze schien die Freiheit besser gewahrt als bei der Zügellosigkeit der rohen Natur. Nun gelangt eine Kehrseite zur Empfindung: die Gesellschaft erscheint mit ihrer durchgängigen Bindung des Individuums an die Umgebung als die schwerste Gefahr für seine Kraft, seine Seele, sein Glück.

Die gesellschaftliche Kultur macht den Menschen unwahr, schwach und zerstreut, sie entfremdet ihn seinem eigenen Wesen. Da sie nur die Leistung nach außen hin schätzt, so wird alles Denken und Sinnen auf das Urteil der anderen gerichtet und vom eigenen Befinden abgelenkt; für jene Wirkung nach außen genügt der Schein, so entsteht eine durchgängige Heuchelei und verfälscht auch das Innere der Seele. Hier ist kein Boden für ein starkes Empfinden und ein kräftiges Wollen, sondern alle Regung wird auf den flachen Stand der Gesellschaft gestimmt; hier kann keine selbständige Individualität aufkommen, sondern allen wird eine Gleichförmigkeit aufgezwungen. Der Mensch fragt nicht, wie ihm selbst sein Tun gefalle, sondern was die anderen dazu sagen. »Niemand wagt er selbst zu sein. ›Man muß es machen wie die anderen‹: das ist die Hauptmaxime der Weisheit. ›Das tut man, das tut man nicht‹: das gilt als die letzte Entscheidung.« Das »Ich« verschwindet vor dem »Man«. So sich selbst entfremdet, begehrt der Mensch nicht das Nahe und Einfache, sondern das Ferne und Verwickelte; diese Zerstreuung ins Weite ergibt aber unvermeidlich eine innere Mattheit und Schwäche. Indem wir um alles sorgen, »ist unser Individuum nur der kleinste Teil von uns selbst. Jeder dehnt sich, sozusagen, über den ganzen Erdball aus und wird empfindlich über diese ganze große Fläche. Kann es befremden, daß unsere Übel sich in allen den Punkten vervielfachen, durch die wir verwundbar sind?« Derart ins Ferne gerichtet, bleiben wir unserer Heimat fremd und gleichgültig gegen unsere Nächsten. »Mancher Philosoph liebt die Tataren, um nur nicht seine Nachbarn lieben zu müssen.«

Solche Zustände können kein kräftiges Handeln, keine mannhaften Charaktere erzeugen. Aber auch unser Glück fährt dabei schlecht. Glücklich sein, das heißt nicht sowohl viel genießen als wenig leiden; wir leiden aber um so mehr, je weiter Wünschen und Können bei uns auseinandergehen; die Kluft zu verringern und erreichbare Ziele zu stecken, das bildet die echte Weisheit. So tut es der schlichte Landmann und findet dabei sein volles Glück. Das gesellschaftliche Leben aber tut das gerade Gegenteil, indem es uns in fernste Angelegenheiten verwickelt, unabsehbare Wünsche erzeugt, uns ganz und gar an fremde Dinge bindet.

So ein unwahres, unselbständiges, elendes Leben; konventionelles Unkraut überwuchert alle echte Natur und reine Menschlichkeit. Wenn schließlich das Verlangen nach einer Rückkehr zur Einfalt und Unschuld der Natur, nach einem kräftigeren und glücklicheren Leben durchbricht, so kann es sich unmöglich mit jenem Gesellschaftsstande vertragen, es muß sein künstliches Gebäude niederreißen und ein von Grund aus neues errichten. Dafür wird zum Losungswort die reine und unverfälschte Natur: ohne ein Eingreifen und Zustutzen unsererseits entfalte sie sich in vollster Freiheit; auf einfache Empfindungen des Menschen als Menschen gründe sich alles Leben und gestalte sich dadurch auch in seiner Verzweigung »natürlich«. So ein Aufruf zu völliger Wandlung des Lebens.

Hier liegt der Kern von Rousseaus Streben, aber hier liegen auch die Hauptverwicklungen seiner Arbeit. Das Nein ist völlig klar, und der Denker seiner Richtung sicher, so lange er bei ihm verweilt; die Wendung zum Ja aber führt sofort in Unsicherheit. Was bedeutet ihm »Natur«, und wie ist sie erreichbar? Sie kann ihm nichts anderes sein als der Grundbestand, der nach Abzug der Entstellungen und Verfälschungen durch die gesellschaftliche Kultur verbleibt. Aber dieser Bestand wird nicht klar und scharf herausgearbeitet, sondern in einem Gesamteindruck ergriffen und zugleich umgebildet; die Natur erhält eine romantische Beleuchtung, die einfachere und schlichtere Arten des Daseins zu etwas Reinem und Edlem verklärt; in geradem Gegensatz zur scharfen Kritik der Gesellschaft erscheint ein schwärmerischer Glaube an eine unverfälschbare Güte des Individuums; »alles Gute erreicht man von schönen Seelen – Rousseau hat diesen von Plato stammenden Ausdruck erst recht in Umlauf gebracht – durch Vertrauen und Offenheit.« Auch intellektuell betrachtet, ist Rousseaus natürlicher Mensch keineswegs der rohe Naturmensch, sondern das durch die Kultur gebildete und aus ihrer Verwicklung zu sich selbst zurückkehrende Individuum; es wird hier der feinste Auszug der Kultur, von allen Mühen und Schlacken der Arbeit befreit, in die Natur zurückverlegt. Solche Verklärung der Natur läßt die Menschen in einfachen Verhältnissen und ihre Summierung, das Volk, als besser und reiner preisen; auch die äußere Natur erscheint in ihrer Unberührtheit vom Tun und Treiben des Menschen als ein Reich lauterer Wahrheit und seligen Friedens.

So denkt Rousseau nicht ernstlich daran, die ganze Kultur zu verwerfen und die rohe Natur wiederaufzunehmen. Sein Verlangen geht auf eine durchgreifende Umgestaltung des menschlichen Daseins zugunsten der Selbständigkeit des Individuums, und einer Vereinfachung der Lebensführung, auf eine neue Gesellschaft, die den Zusammenhang mit der Natur wahrt, auf eine Verjüngung unseres Daseins. Dies Einlenken nähert ihn offenbar wieder der älteren Aufklärung, aber es bleibt der Unterschied, daß jetzt die Kritik nicht sowohl einzelne Erscheinungen als das Ganze trifft, und daß sie nicht aus verstandesmäßiger Überlegung, sondern aus unmittelbarem Gefühl hervorgeht. So ein Sturm und Drang der Bewegung, ein leidenschaftlicher Antrieb zur Umwälzung und Erneuerung.

Aller Einzelarbeit voran steht hier die Sorge um einen neuen Menschen, einen kräftigen, einfachen, glücklichen Menschen, der nicht an anderen Menschen und Dingen hängt, sondern bei voller Gesundheit seiner Natur auf sich selber steht. »der nur will, was er kann, und nur tut, was ihm gefällt«, der in alles Werk seine volle Kraft hineinlegt. Ein solcher wird sich nicht zunächst als ein Glied eines besonderen Standes, sondern vor allem als einen Menschen fühlen.

Die Bildung derartiger Menschen fordert hauptsächlich eine neue Erziehung. Die Erziehung soll nicht am Zögling herumkünsteln und ihn für fremde Zwecke dressieren, sie lasse namentlich in den Anfängen die Natur sich ungestört entfalten und wolle ihr ganz und gar dienen ( laissez faire en tout la nature), sie halte überall die unmittelbare Anschauung fest und erwecke eigene Tätigkeit, sie führe in sicherem Gange vom Nahen zum Fernen, vom Einfachen zum Verwickelten und gründe auch die moralische Bildung auf die Grundtriebe der Natur. Auf solchem Wege wird sie selbständige, tätige, glückliche Menschen bilden. Zugleich wird die Erziehung in Gehalt und Wert erhöht: sie hat nun nicht bloß den überkommenen Kulturbestand dem werdenden Geschlecht zu übermitteln, sondern sie soll eine neue und echtere Kultur erst bilden helfen, indem sie eine neue, reinere Menschheit heraufführt.

Zur Erreichung dieses Zieles gilt es alle einzelnen Lebensgebiete durch eine kräftigere Beziehung auf das unmittelbare Gefühl und durch einen engeren Anschluß an die Natur zu verjüngen. So unternimmt es Rousseau in Wahrheit, er führt den Gegensatz durch das ganze Dasein hindurch, entzündet überall Liebe oder Haß, stellt überall den Menschen vor ein schroffes Entweder-Oder.

Einer Erneuerung bedarf ohne Zweifel die Religion, da ihre landläufige Form alles inneren Lebens entbehrt. »Der Glaube der Kinder und vieler Menschen ist eine Sache der Geographie. Werden sie dafür belohnt werden, daß sie in Rom und nicht in Mekka geboren sind? Sagt ein Kind, es glaube an Gott, so glaubt es nicht sowohl an Gott, als es Peter oder Jakob glaubt, die ihm sagen, daß es etwas gibt, was man Gott nennt.« Auch die philosophische Spekulation vermag hier wenig, das Hauptwerk verbleibt dem Gefühl mit seiner inneren Stimme; es versichert uns weniger einfacher, aber um so wertvollerer Wahrheiten, es läßt uns Gott, Freiheit, Unsterblichkeit unmittelbar und zugleich völlig sicher erfassen. Eine solche natürliche Religion ist nicht auf Gelehrsamkeit gestellt, alle Redlichen können sie üben. Ihr entspricht aufs beste das Christentum, in seiner ursprünglichen Einfalt und von der ebenso erhabenen wie rührenden Persönlichkeit Jesu her erfaßt, nicht in der Entstellung durch eine entartete Kultur.

Einer Umwandlung bedarf auch die Kunst. Die falsche Kultur mit ihrem Luxus hat sie der Natur entfremdet, sie verdorben und unwahr gemacht. Alle echten Vorbilder des Geschmackes bietet die schlichte Natur, während dem Luxus sich ein schlechter Geschmack zu verbinden pflegt. Die falsche Kunst der Zeit befaßt sich nur mit abgesonderten Kreisen und fremden Dingen. Die Komödie findet ihren Vorwurf nicht beim Volk, sondern in dem engen Bereich der höheren Gesellschaft, und die Tragödie sucht die Pariser für Pompejus und Sertorius zu erwärmen. Auch bei Freuden und Festen sondere man sich nicht ängstlich ab; »exklusive Vergnügungen sind der Tod des Vergnügens. Die wahren Ergötzungen sind die, Welche man mit dem Volke teilt.«

Hierher gehört auch eine Umwälzung des Naturgefühls, die Rousseau durchgesetzt hat. Er sucht bei der Natur weniger Genuß und Vergnügen als eine Befreiung von menschlicher Enge und eine Versetzung in reinere Sphären. So fesselt ihn weniger das Maßvolle und Anmutige als das Gewaltige und Grenzenlose, das Gefühl des Erhabenen erschüttere und läutere die Seele. Daraus erwächst eine begeisterte Freude am Hochgebirge. »Dort gewinnen die Gedanken eine Größe und Erhabenheit, den Gegenständen gemäß, die uns berühren. Es scheint, daß man im Emporklimmen über den Wohnort der Menschen alle niedrigen und irdischen Gefühle dort läßt, und daß in dem Maße, wie man sich den ätherischen Gefilden nähert, der Geist etwas von ihrer unzerstörbaren Reinheit annimmt.« Überhaupt ist das Naturgefühl stark sentimentaler Art, die Natur scheint überall Reinheit und Frieden zu atmen; den Menschen aber beschleicht bei ihrer Ruhe und Stille leicht die Stimmung der Wehmut. Ein solches weiches, träumerisches, lyrisch-musikalisches Naturempfinden zeigen z. B. die Schilderungen vom Genfer See. So siegt hier der Typus einer romantisch-optimistischen Naturauffassung, der längere Zeit die Gemüter bezwungen hat.

Minder weich und sentimental zeigt den Denker die Politik. Wohl fehlt auch hier nicht alle Romantik, sie erscheint vornehmlich in dem Glauben an die Masse des Volkes, die immer das Gute will, es nur nicht immer sieht, einem der Lehre Rousseaus wesentlichen und unentbehrlichen Glauben. Aber die nähere Ausführung zeigt den abstrakten Logiker, der die Grundideen der Aufklärung in ihre äußersten Konsequenzen verfolgt, im besondern den Gedanken der Gleichheit zu voller Durchführung bringt. Nun wird nicht nur alles Recht von den Individuen abgeleitet, es soll auch bei ihnen verbleiben; alles geschichtliche Recht hat den ewigen Menschenrechten nachzustehen, es wird zum Unrecht, sobald es ihnen widerspricht. Aber mögen die Individuen immerfort den Gesellschaftsstand tragen, die Wendung zu ihm wirkt auf sie zurück. Das Zusammentreten der Einzelwillen ergibt ein Gesamt-Ich, einen kollektiven Körper; da ihm jedes Glied seine Rechte abtreten muß, so erlangt er eine unbeschränkte Gewalt. Solche Unterwerfung des Einzelnen unter die Gemeinschaft hat aber zur unerläßlichen Bedingung die volle Freiheit und Gleichheit aller Individuen innerhalb der Gemeinschaft; nur alle zusammen sind souverän, und es läßt sich diese Souveränität nicht auf einzelne Personen übertragen. Auch kann nicht der eine den anderen vertreten; wird das Volk zu groß, um anders als durch Abgeordnete zu beraten, so gelte der Abgeordnete nur als ein Mundstück seiner Wähler, er übermittle lediglich ihre Entscheidung (imperatives Mandat). Die vollziehende Macht wird ganz und gar der gesetzgebenden unterworfen, der Neigung des Denkers gemäß, das Staatsleben vornehmlich als eine Anwendung von Gesetzen und den Kern des politischen Wirkens als ein Unterordnen des einzelnen Falles unter eine allgemeine Norm zu verstehen und damit das geschichtliche und persönliche Element im Staatsleben zu unterschätzen. Das Hauptziel des Staates bildet nicht wie den Engländern der Schutz der Einzelnen, sondern das Wohl des Ganzen, das, wie hier schon bemerklich wird, einen starken Druck auf die Freiheit der Individuen keineswegs scheut. Aber Rousseau betrachtet das Urteil des Volkes oder seiner Mehrheit als ein unfehlbares Gottesurteil, als den Ausdruck absoluter Vernunft. Dieser französische Radikalismus kennt eine Freiheit und Gleichheit nur innerhalb des Staates, keine Freiheit gegenüber dem Staate; die Staatsallgewalt im demokratischen Gewände verkörpert sich hier in klassischer Weise. Ein starker Optimismus beschwichtigt alle Zweifel; der Mensch scheint gut und vernünftig, wenn er nur der neuen Ordnung angehört.

Überhaupt ist es ein schroffer Gegensatz zwischen Herabsetzung der einen Seite und Verklärung der anderen, der den staatlichen Lehren Rousseaus eine dämonische Kraft der Aufreizung und Umwälzung gibt. – Alles Böse kommt letzthin auf die vorgefundene Gesellschaft, alles Gute auf den Einzelnen; die Natur hat uns zur Güte angelegt und zu vollem Glück berufen, die falsche Lebensordnung allein verwehrt es uns das zu erreichen. Die Folgerung und Forderung liegt nahe: das Hemmnis falle, es werde ausgerottet! Vornehmlich diese Schärfung des Gegensatzes zwischen den Nöten der gesellschaftlichen Lage und der Güte der menschlichen Natur hat Rousseau zum Bannerträger der Revolution gemacht; es scheint nur an einem energischen Wollen zu liegen, einem rücksichtslosen Aufräumen, damit sich alles ins Beste wende.

Die Kritik hat bei Rousseau leichtes Spiel. Sie braucht nur die Probleme im Begriff der Natur aufzudecken, um das Unfertige und Schwankende der Leistung darzutun; sie kann zeigen, wie bequem es sich der Denker mit seiner Annahme einer natürlichen Güte des Menschen macht, und wie sehr er dabei der Aufklärung folgt; sie mag zugleich, bemerklich machen, daß das Verlangen nach seelischer Tiefe und einer selbständigen Innenwelt selten ein ungestümes Wogen und Wallen der Seele überschreitet, daß oft bloße Gefühlserregung geistigen Gehalt ersetzen soll. Trotzdem behält Rousseau eine hervorragende Größe, schon sein tiefer Einfluß auf die Besten seiner Zeit verbietet, ihn allzu leicht zu nehmen. Zur Erfrischung und Verjüngung des Lebens hat er Unermeßliches beigetragen; sein Verlangen nach einem neuen Menschen ist in tiefster Wurzel ethischer Art; mögen seine Antworten nicht genügen, seine Fragen bleiben bedeutend und die Kraft bewunderungswert, mit der er sie der Menschheit aufzwang. Manche Ideen der Aufklärung hat er zuerst von der schulmäßigen Verpuppung befreit und zum Gemeingut gemacht, aber auch neue Bahnen hat er eröffnet. In ihm siegt die Wendung zur Unmittelbarkeit des Gefühls, mit ihm beginnt der Gegensatz und der Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft; so steht er am Scheidepunkt zweier Epochen.

 

Die Befreiung von der verstandesmäßigen Aufklärung und die Wendung zum Gefühl ergriff auch das deutsche Leben mit mächtigen Wogen. Stürmisch drängt das jugendliche Geschlecht von gesellschaftlicher Gebundenheit zu voller Freiheit des Einzelnen, von der Beengung durch starre Regeln zu frischer Ergreifung des unmittelbaren Eindrucks und zu ungehemmter Entfaltung aller Kraft, von umständlicher Verschnörkelung des menschlichen Daseins zur Wahrheit und Einfalt der Natur, von der Beugung unter Autoritäten zur Selbständigkeit und Ursprünglichkeit. Das Individuum möchte selbstherrlich sein, ein jeder den Durchschnitt überschreiten. So entsteht der Begriff des Genies und wird mit Lust und Liebe erörtert; wer nicht dahin gehört, nicht »Originalgenie« ist, zum »Philister« herabgedrückt. Für Lavater galt jeder als ein Philister, »in dessen Produktion wohl Richtigkeit der Ideen, Korrektheit der Sprache, Eleganz der Darstellung, aber nicht eigentliches Genie ist«. Diese Emanzipation gestaltet sich aber in Deutschland ganz anders als in Frankreich: sie rüttelt nicht an den Grundlagen von Staat, Gesellschaft und Religion, sondern sie bleibt mehr literarischen und privaten Charakters; sie fordert für das individuelle Empfinden den freiesten Ausdruck und verwirft allen Zopf und Zwang des geselligen Lebens; politische und wirtschaftliche Dinge dagegen erregen sie wenig, und sie befaßt sich mit der Religion nicht sowohl, um ihren Befund einer radikalen Kritik zu unterziehen, als um sie dem Verstände zu entwinden und dem Gefühl zu überweisen. Als eine bloße Opposition hat diese Bewegung keine innere Selbständigkeit erreicht und kein neues Welt- und Lebensbild hervorgebracht. Aber für ein kommendes Großes hat sie Hindernisse weggeräumt und ihm den Weg bereitet; ohne diese Zeit des Sturmes und Dranges ist der deutsche Idealismus mit seinem Schaffen undenkbar.

 

Eine Klärung der Bewegung und zugleich ein Übergang zur Höhe der klassischen Zeit erfolgt in Herder. Auch er teilt die entschiedene Abweisung der Aufklärung, das starke Verlangen nach frischer Anschauung, ursprünglichem Leben, unmittelbarem Gefühl. Aber er gibt der Bewegung einen festeren Halt und einen reicheren Gehalt, indem er über das Gefühl hinaus zu einem Ganzen des menschlichen Lebens vordringt und in der Harmonie aller Kräfte ein Ideal universaler Menschlichkeit findet, indem er ferner das Leben der Einzelnen geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen einfügt. Zugleich läßt ein sehnliches Verlangen nach Lebensfülle und Anschaulichkeit die natürlichen Bedingungen und Umgebungen unseres Daseins emsig und liebevoll ermitteln, mannigfache Fäden spinnen sich zwischen Innen- und Außenwelt und verstärken die Einheit des Ganzen; den verschiedenen Zeiten und Völkern wird eine unvergleichliche Individualität zuerkannt und diese aufs höchste geschätzt. Die Wirklichkeit kommt in lebendigen Fluß, und aller Fortschritt erscheint dabei als ein Bilden von innen heraus, als eine Selbstentwicklung; das alles bereitet die Gedankenwelt der Romantiker und der historischen Schule in wichtigen Zügen vor. Freilich liegt die Stärke hier weit mehr im Entwurf als in der Ausführung, aber die staunenswerte Vielseitigkeit und Aneignungskraft, besonders aber das kräftige Zusammenschauen der Dinge hat in hohem Maße zur Anregung und Belebung gewirkt. So bildet Herder ein unentbehrliches Glied in der Kette der deutschen Entwicklung.


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