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XXV.

Vom Felsenvorsprung am Platz der Dido auf das zum Teil noch brennende, zum Teil schon abgebrochene und zerstörte Hafen- und Marktviertel der Stadt hinabblickend, unterhielten drei Männer sich miteinander. Ithobaal, der einst reiche Kaufherr, Freund der Wissenschaften und Künste; Bostar, der scharfzüngige Witzbold, und Maharbal, vordem Oberhaupt der früher so mächtigen barkidischen Partei.

Es gab aber jetzt keine barkidische Partei und überhaupt keine Partei mehr. Auch keinen Spaß und keine Witze, keinen Reichtum, keine Gelehrsamkeit und keine Kunstfreude. Es gab nichts mehr als Tod und Elend in Kart-Chadast.

»Wo wäre etwas zu finden, das uns Treue hält in diesem Leben?« sagte Ithobaal. »Die Wahrheit ist es nicht! Die Schönheit nicht und noch weniger der Besitz. Am wenigsten der Genuß.«

»Und am allerwenigsten die Macht,« ergänzte Maharbal.

»Am ehesten vielleicht noch die gute Laune, falls sie einem nicht verdorben wird,« sagte Bostar. »Sie spielt so lange mit dem Ernst des Lebens Fangball, bis dieser ihr ins Gesicht fliegt und ihr Nasenbluten verursacht.«

»Darüber könnte sie sich allenfalls trösten. Wo aber ist Trost für wirkliches Unglück? Alle Erfahrungen meines Lebens zusammenfassend, weiß ich nur eine Quelle zu nennen, die ihn spendet.«

»Und die wäre?«

»Die Hoffnung auf irgend etwas, das nach uns kommt.«

»Kann die wirklich Trost gewähren?« fragte Maharbal.

Und die Hand gegen die zerstörte Stadt ausstreckend, fuhr er fort: »Ich scheide mit dem Blick aufs Chaos. Was sollte nach mir kommen, das mich zu trösten vermöchte? Freilich weiß ich: dies Chaos wird neues Leben gebären. Bauern werden den Pflug über die Trümmerstätte führen, wo ein edles und stolzes Volk sich einst seines Daseins freute. Fischer, Seefahrer, Kaufleute, Handwerker werden sich allmählich wieder darauf ansiedeln. Eine neue Stadt wird sich an diesen gesegneten Meeresbusen schmiegen und neue Nahrung, neuen Wohlstand daraus saugen. Und ein neues Volk wird in dieser Stadt wohnen, die vielleicht ebenso stolz und schön und ruhmvoll sein wird, wie die unsrige es war. Aber dies Volk wird nicht das punische sein, und nur für das punische Volk habe ich gelebt und geatmet, weil es mein Volk und das Volk meiner Ahnen ist. Alle Liebe, deren mein Herz fähig ist, habe ich daran verschwendet. Nun ist es ausgerottet – für immer. Was könnte ich noch von der Zukunft erhoffen? ... So werde ich ungetröstet bleiben – für immer!«

»Du denkst bloß ans Irdische,« sagte Ithobaal.

»Nicht ausschließlich. Mit tausend Würzelchen saugen wir göttliche Nahrung aus dem Erdreich unseres Volkstums.«

»Aber noch unzerstörbarer als dieses ist die Wesenheit des Menschen. Und sie wird sein Schicksal überleben, wenn er sich selbst treu bleibt und zu sterben weiß.«

»Stare sind gelehrig,« spottete Bostar.

»Was willst du?« wehrte Ithobaal mit einem Anflug von Unmut ihn ab. »Ich bin nie ein Schöpfer gewesen, immer nur ein Empfänger. Wenn alles andre mich im Stich läßt, warum soll ich den Glauben nicht dankbar hinnehmen, der allein mich noch aufrecht hält in dieser schweren Zeit?«

Aus der Stadt drang Lärm zu ihnen empor, Trompetengeschmetter, Befehlsrufe und Schreien, das Geprassel stürzenden Mauerwerks, die vielfachen Geräusche der Arbeit, wie sie auf Bau- und Zimmerplätzen zu hören sind.

Alle drei verstummten sie. Traurig ruhte ihr Blick auf der rings vom Frühling umblühten Verwüstung.

*

Seit sechs Tagen und sechs Nächten wütete da unten unausgesetzt das Werk der Zerstörung. Von Haus zu Haus hatten die Römer in hartem Ringen die drei Engpässe des Fischer-, Obst- und Schmiedegäßchens bezwungen, alles Punische unbarmherzig hinmordend und austilgend, was ihnen in den Weg trat. Im haßerfüllten Kampf bis aufs Messer mit dem rasenden Volk und der kartchadischen Wehrmacht, die schließlich ebenfalls in die Häuser eingedrungen und auf die Dächer geklettert war, um ihnen jeden Fußbreit Boden streitig zu machen, hatten sie schließlich die Herkulesarbeit wirklich verrichtet, sich einen Weg bis zu der auf halber Höhe des Burghügels hinführenden Straße zu bahnen.

Die gesamte Bevölkerung dieser Stadtviertel war niedergemacht worden, der größte Teil der Truppen gefallen, von den Führern außer Gisgon auch Blanno Tigillas, der im Fischergäßchen befehligte. Nur Melekpalas, der die Verteidigung des Obstgäßchens leitete, hatte sich mit einem unbeträchtlichen Überrest seiner Mannschaften hinter den alten, die Bosra umgürtenden, halb verfallenen und jetzt nur notdürftig wieder instand gesetzten Wall zurückziehen können, der die Mauer der Dido genannt wurde.

Hasdrubal, der Boëtharch, verfügte sonach nur noch über geringfügige Streitkräfte. Dennoch war er entschlossen, die Bosra bis zum Äußersten zu halten. Aus den preisgegebenen unteren Stadtteilen hatte sich eine zahlreiche Bevölkerung auf den Burghügel geflüchtet. Er bildete sich ein, daß er sie zur Verteidigung würde heranziehen können. Vor allem aber vertraute er dem Bithyas und seinen Leuten, den vielen numidischen und libyschen Flüchtlingen und Überläufern, die sich ihm angeschlossen hatten. Und auf diese Kämpfer konnte er sich in der Tat verlassen. Für sie hatte die Aussicht, zu fallen, noch immer etwas Verlockenderes, als die Aussicht, in Gefangenschaft zu geraten.

Scipio Aemilianus, offenbar durch den nahe bevorstehenden Ablauf seines Konsulatsjahres gedrängt, schien nun Eile zu haben, den Kampf auch gegen die Bosra aufzunehmen. Um so rasch wie möglich genügend Truppen und Belagerungsgeräte heranbringen zu können, ließ er breite Zufahrtsstraßen mitten durch die eroberten Stadtteile schlagen.

Zu diesem Ende hatte er zunächst Feuer in die Häuser werfen lassen, und da sie nur zum geringsten Teil aus Holz bestanden, die meisten dagegen aus Backsteinen oder Mörtelguß aufgebaut waren, so wurde gleichzeitig mit dem Einreißen und gewaltsamen Umstürzen ganzer Reihen von Gebäuden begonnen. Die Soldaten mußten, wie einst an der Ochsenzunge, vorübergehend aufhören Krieger zu sein. Sie waren zu Schuttaufräumern und Karrenschiebern herabgesunken.

Und während sie, unablässig zu rascherem Arbeiten angetrieben, mit Äxten, Beilen und Gabelstangen das Herabgestürzte forträumten, fanden sie in dem mit Leichen und Leichenteilen untermischten Schutt nicht selten auch noch menschliche Körper, von denen es nicht ganz feststand, ob noch Leben in ihnen sei oder nicht. Sie konnten sich keine Zeit nehmen, es genauer zu untersuchen. So wurden Tote und Lebende untermischt mit Balken, Steinen und Schutt in Gruben geschaufelt oder zum Ausfüllen von Löchern verwendet.

Und kaum war mit Spitzhauen und Gabelstangen das Gelände halbwegs abgeglichen und eingeebnet, so sprengten die Meldereiter darüber hin, die Obersten und Hauptleute liefen, ihre Mannschaften ablösend, unter vielfältigem Geschrei hin und her, und neue Truppen, von der Ochsenzunge herübergeschafft und gefolgt von langen Zügen von Fuhrwerken und Tragtieren, hielten ihren Einzug und bewegten sich in der Richtung gegen die Bosra.

Dies alles geschah unter persönlicher Leitung Scipios selbst, der die ganzen sechs Tage und Nächte hindurch wach und auf den Beinen geblieben war.

An diesem siebenten Tage hatte er sich endlich, zu Tode ermüdet, auf der steinernen Bank unter der Zypresse der Dido niedergelassen und beobachtete von überschauender Höhe die Ausführung der von ihm getroffenen Anordnungen. Gegen diese Stelle lenkten denn auch die Abgesandten ihre Schritte, die eine Volksversammlung auf dem Platz der Dido, dem Widerspruch des Boëtharchen und aller Unnachgiebigen zum Trotz, gewählt und mit dem Auftrag betraut hatte, Unterhandlungen mit dem Feinde einzuleiten.

Und der Rückkehr eben dieser Gesandtschaft harrten Ithobaal, Bostar und Maharbal auf jenem Felsenvorsprung am Platz der Dido mit fieberhafter Spannung entgegen.

*

Den Sieger um das Leben aller derer zu bitten, die auf diese einzige Bedingung hin die Bosra verlassen wollten, darin bestand die Sendung, welche die vom Volk gewählte Gesandtschaft übernommen hatte.

Damit war sie, von Wahballat, dem hochbejahrten Oberpriester Tanits geführt, Ölzweige in den Händen und bekränzt mit wollenen Kränzen, am frühen Morgen ausgezogen und hatte den Weg gegen die Zypresse der Dido eingeschlagen.

Die Sonne näherte sich bereits der Scheitelhöhe, als die drei ungeduldig Wartenden die Unterhändler endlich zurückkehren sahen. Langsam und würdig kam der durchwegs aus Greisen bestehende kleine Zug heran. An der Spitze schritt Wahballat, im weißen Bart, noch immer den heiligen Kranz der Schutzflehenden auf dem Haupt. Bei seinem Anblick lief Maharbal die Galle über.

»Wie der Mann sich ans Dasein klammert! Kann es einer verstehn, daß ihm bei seinem Alter das Leben noch schwerer wiegt als die Schmach? Am liebsten risse ich ihm den Kranz vom Kopf!«

»Gerade weil er alt ist!« sagte Bostar. »So hat er die Schmach nicht mehr lange zu tragen.«

»Seid nicht ungerecht!« beschwichtigte Ithobaal. »Vielleicht sprach er die Wahrheit, als er in der Volksversammlung behauptete, nicht seinetwegen, nur um des armen leidenden Volkes willen rate er zur Demütigung vor dem Feind.«

»Falls Scipio die Deditio angenommen hat, kann er's ja beweisen, indem er die Feiglinge ziehen läßt und selbst hier bleibt,« bemerkte Bostar.

»Davor wird er sich hüten!« sagte Maharbal ingrimmig. »Er weiß ganz gut, daß die Römer praktische Leute sind. Sie denken sich: wir wissen zwar nichts von einer Tanit, aber vielleicht gibt es doch etwas dergleichen, da wollen wir's uns mit ihr lieber nicht verderben und ihren Oberpriester glimpflich durchrutschen lassen. Gerade das ist es ja, was mich empört: Ihm selbst wird in der Gefangenschaft kein Haar gekrümmt werden. Den Leuten aber, die er von ihrer vaterländischen Pflicht abspenstig macht, ist er ein schlechter Berater, wenn er ihnen vorsagt, daß es unverantwortlich wäre, noch so viele Menschenleben hinzuopfern, da ohnedies alles verloren sei. Sie machen sich's nicht so recht klar und hören es natürlich gern, daß sie nicht sterben müssen. In ihrem Falle aber bedeutet Abzug von der Bosra bloß unter Zusicherung des Lebens nichts andres als: In die Sklaverei verkauft werden!«

»Darüber besteht kein Zweifel. Aber die meisten Menschen sind schon von Haus aus geborene Sklaven. Lassen wir ihnen das Vergnügen!«

»Es geht ums Ganze!« beharrte Maharbal. »Wenn ein nur einigermaßen beträchtlicher Teil des Volkes fahnenflüchtig wird, so ist er bei der großen Ausdehnung, die die Mauer der Dido hat, die Bosra nicht zu halten.«

»Sie wird auch mit diesem ausgehungerten und kriegsmüden Pöbelhaufen nicht lang zu halten sein, wenn die Römer einmal so weit fertig sind, daß sie angreifen können.«

»Hören wir vorerst, in welchem Sinne Scipio entschieden hat.« Die Abgesandten hatten sich genähert. Ithobaal neigte sich tief vor dem Priester und fragte: »Was bringst du uns, ehrwürdiger Baal?«

»Glückliche Botschaft! Bloß um das Opfer des Stolzes kann jeder, der will, sein Leben den Göttern erhalten. Nur Bithyas und die andern Überläufer sind ausgenommen.«

Er schritt vorüber.

»Zur Feigheit auch noch die Gemeinheit!« grollte Maharbal, der sich wütend die Lippen biß.

*

Mit brennender Ungeduld bangte auch das Volk der Rückkehr der Abordnung entgegen. Die ganzen acht Tage her quälten diese bedauernswerten Flüchtlinge, die Haus und Herd hatten im Stich lassen müssen, sich mit Ungewißheit ab, zu Tausenden zusammengepfercht im Regierungsgebäude und in den Überresten der alten Zitadelle, im kleinen Schofetenpalast und drüben, im Tempel der Tanit. Die meisten nächtigten, da die Unterkünfte nicht ausreichten, überhaupt im Freien, in den Gärten der Pfauen oder gar auf der Straße, viele Kranke darunter und halb Sterbende. Alle aber waren sie dem Verhungern nahe, von Schmutz und Ungeziefer angefressen, herabgekommen und gänzlich zermürbt.

Von verschiedenen Aussichtspunkten hatten auch sie das Herannahen der Unterhändler beobachtet. In unbeschreiblicher Erregung strömten sie jetzt von allen Seiten zusammen. Sie fieberten förmlich nach der Entscheidung: Tod oder Leben?

Aufgebracht beobachtete Maharbal, wie der Platz der Dido sich füllte.

»Nun wird der heilige Baal vermutlich auch diesen armen Irregeführten einzureden versuchen, daß man das peinliche Wörtchen Schmach mit dem gefälligeren Ausdruck: Opfer an Stolz – vertauschen könne.«

»Für den gemeinen Mann mehr noch als für den Denkenden gibt es einen Punkt, wo die Widerstandskraft zu Ende ist,« sagte Ithobaal milde.

Vom Felsenvorsprung aus, den sie nicht verlassen hatten, sahen sie jetzt Wahballat auf den Altan des Regierungspalastes heraustreten und zu der Versammlung reden. Man konnte seine Worte aus der Entfernung nicht verstehen, aber das Volk lauschte, als verkünde er Offenbarungen.

Plötzlich erhob sich Geschrei. Wild rief die am Ende ihrer Kraft angelangte Menge durcheinander: »Frieden und Übergabe! Keinen Widerstand mehr! Fort mit dem Krieg! Nie wieder Krieg!«

»Wäre mir auch recht!« spottete Bostar. »Fangen wir also gleich von unten an! Niemand darf einen Feind haben. Keiner Zorn, Neid, Haß nähren gegen seinen Nebenmann. Parteien sind verboten, außer sie sagen einander gegenseitig nichts als Schönheiten. Das Unrecht wird abgeschafft, jeder hat redlich zu sein, und da niemand angegriffen wird, so braucht auch niemand sich zu wehren. Verlange ich Unmögliches? Nun also. Wenn alle Völker sich im Innern darauf eingerichtet haben, können sie leicht auch zur Abschaffung der Kriege schreiten.«

»Trage deine Weisheit der Menge da drüben vor,« sagte Ithobaal lachend, »so brauchst du nicht erst auf die Römer zu warten, um totgeschlagen zu werden.«

Jubel brauste jetzt im Volke auf. Offenbar hatte Wahballat ihnen die Entscheidung Scipios bekanntgegeben.

»Den Bithyas und die Seinen im Stich lassen!« knirschte Maharbal, der sich noch immer nicht beruhigen konnte. »Untreu werden denen, die uns Treue hielten!«

»Warum nicht?« scherzte Bostar. »Bei den Römern ist die punische Treue sprichwörtlich.«

»Mit Unrecht in dem Sinne, wie sie's meinen!« brauste Maharbal auf. »Denn Unehrlichkeit und Hinterlist im politischen Wandel ist zwar von jeher eine Eigenschaft Roms gewesen, aber nie eine solche Kart-Chadasts. Im Gegenteil zeichnete unser Volk sich immer durch Verläßlichkeit, Offenheit und Redlichkeit im Handel und Wandel aus, denn dies sind unerläßliche Voraussetzungen für den erfolgreichen Kaufmann. Aber jene andere und oberste Treue, die Treue gegen uns selbst, die fehlte uns in der Tat! Das Fremde galt uns stets höher als das Eigene, in allem, bis zu den täglichen Gewohnheiten herab, äfften wir Ägypter und Griechen nach, und jeder von uns, der ins Ausland verschlagen wurde, nahm binnen weniger Jahre Gebräuche, Gesten, ja, Sprache und Gedanken der Fremden an und vergaß seiner Heimat. Und jedesmal, sooft kriegerische Verwicklungen unvermeidlich wurden, gab es Leute unter uns, die, ihre Augen für das Recht auf der andern Seite schärfend und blind für unser eignes, jede große, weitausschauende Politik durch Parteiungen zuschanden machten. Bei solcher Artung kann kein Volk bestehen! Und in diesem Sinne ist unser Volk wirklich das ungetreueste auf der ganzen bewohnten Erde und sein Untergang nicht nur ein heldenhafter, sondern auch ein wohlverdienter!«

Er führte Beispiele aus der Zeit Hannibals an, wurde aber unterbrochen durch das Freudengeschrei, das aus der versammelten Menge aufstieg. Eine ungeheure Erregung ging über den Platz der Dido. Ein langer Zug hatte sich gebildet, Männer, Weiber, Kinder, ganze Familien, auch nicht wenige Soldaten, besonders libysche Söldlinge darunter. Langsam setzte er sich jetzt in Bewegung. Wieder schritt Wahballat, der Oberpriester Tanits, an der Spitze einher. Singend und johlend zogen die erbärmlichen Überreste des punischen Volkes von demselben Platz, wo einst der Kampf gegen Rom erzwungen und später der Ermordung Hasdrubals, des Numiders, zugejubelt worden, in die römische Gefangenschaft, in lebenslängliche Sklaverei.

*

»Es werden nicht alle untreu werden!« sagte Ithobaal, noch immer hoffend. »Ich bin sicher, daß viele zum Heldentod Entschlossene zurückbleiben.«

»Die sich aus Schwäche nicht mehr schleppen können, bleiben bestimmt da,« tröstete Bostar. »Ich wette, auch die Schwerkranken und Sterbenden sind Manns genug, bis zum letzten Blutstropfen bei uns auszuharren.«

Gleichsam mit angehaltenem Atem zählte Maharbal die Vorbeiziehenden ab. Er war sich darüber klar: wenn mehr als zehn- oder gar zwanzigtausend Männer die Bosra verließen, so war an ein lückenloses Besetzen des Mauerwalls nicht mehr zu denken. Selbstverständlich ließ sich die Zahl nur schätzungsweise feststellen, aber die Reihen wenigstens zählte er, ungefähr mußte es stimmen.

»Sieh! Der Schiffsbaumeister Muttines! Auch der!« rief Bostar erstaunt.

»Nachgeben richtet mehr aus als mit dem Kopf durchwollen,« sagte Muttines im Vorüberschreiten und gewissermaßen Trotz bietend, gleichsam als hielte er sich für den Klügeren.

Dennoch hatte er die Augen niedergeschlagen. Vielleicht schämte er sich. Aber der Wolf, der ihm im Leibe saß, heulte nach Futter und hatte in Ermanglung von Brot jede andere Überlegung aufgefressen.

Auch sonst wallte mancher im Zug der Abtrünnigen mit, von dem man es nicht erwartet hätte. Mänon, der ehemalige Staatsschreiber, Juba, der Gerber aus Magara und andere. Sooft Soldaten vorüberkamen, gab Maharbal seiner Entrüstung in schmähenden Worten Ausdruck. Wie ein erschütternder Schlag aber traf es ihn, als er auch Bomilkar in den Reihen der in die Sklaverei Wandernden wahrnahm. Aber auch dafür hielt Bostar, nach seiner Art und Weise, einen Trost bereit.

»Du mußt bedenken, daß er seit gut einem Jahr oder länger seine Parteizugehörigkeit nicht wechselte. Inzwischen ist er sicherlich zu der Überzeugung gelangt, den falschen Hasdrubal umgebracht zu haben.«

Tief unten beiderseits der Straße, die zur alten Zypresse führte, hatte man inzwischen Waffen aufblitzen sehen. Ein paar römische Triariermanipel standen dort bereit, die Gefangenen in Empfang zu nehmen. Mehr und mehr leerte sich der geräumige Platz, aber noch immer dauerte der Menschenzug fort.

»Wie viele hast du bisher gezählt, Maharbal?«

»Nach fünfzigtausend hörte ich auf zu zählen.«

In düsteres Nachsinnen versunken blickte er zu Boden. Jetzt kamen nur noch ein paar Nachzügler, die nicht gut zu Fuß waren. Dann nahm das Vorüberziehen ein Ende. Nur wenige zum äußersten Bereite waren noch zurückgeblieben, gerade nur eine Handvoll Leute. Öde und verlassen, gleichsam wie ausgekehrt, dehnte sich der Platz der Dido unter der brennenden Nachmittagssonne.

Plötzlich zog Maharbal einen Dolch hervor, und ehe die Freunde es verhindern konnten, stieß er sich ihn ins Herz. Er hatte gut getroffen. Im gleichen Augenblick schon stand dieses Herz still. Es hatte dem punischen Volk geschlagen, das es nicht mehr gab.

Ein berittener Herold kam die Hochfläche der Bosra entlanggesprengt.

»Zum Eschmun-Tempel, wer noch ausharren will! Aber rasch, die Treppe wird abgebrochen!«

Da mußten Ithobaal und Bostar die Leiche im Stich lassen. Sie rannten, so schnell ihre Beine sie trugen, gegen Eschmuns heiligen Hain.

Wirklich wurde bereits daran gearbeitet, die Stufen der großen Freitreppe, die auf die oberste, vom Tempel gekrönte Plattform führte, aus ihrem Gefüge zu lösen und zu steinernen Verhauen aufzutürmen. Immerhin war sie noch so weit gangbar, daß die beiden Freunde und die übrigen vom Platz der Dido Kommenden sich ihrer bedienen konnten.

So gelang ihnen noch rechtzeitig die Vereinigung mit der Schar der Unnachgiebigen, die den Tod der Demütigung vorzogen. Es waren im ganzen noch sieben- bis achthundert Menschen, Bürger und Adelsbürger, zum Teil mit ihren Familien, die Kämpfer von Nepheris unter Bithyas und andere Überläufer numidischer, libyscher, mauretanischer oder äthiopischer Herkunft, die ursprünglich bei Gulussa gestanden hatten, endlich eine Anzahl treu gebliebener Söldner.

Sie alle waren entschlossen, lieber zu sterben, als in römische Gefangenschaft zu geraten. Unter dem Oberbefehl des Widders rüsteten sie sich jetzt, dem Feinde von dem höchstgelegenen Punkt der Bosra, dem Eschmun-Tempel aus, noch einen letzten Widerstand entgegenzusetzen.

*

Zehn Tage und Nächte sind hingegangen, seit am Fuß der gewaltigen künstlichen Felsenstaffel, die den stolzen Bau des Eschmun-Tempels trägt, die Trompeten der Römer schmettern.

Immer wieder in bestimmten Zeitabschnitten, Tag und Nacht, blasen sie zum Sturm. Immer wieder rücken vom Platz der Dido, den Scipio nach Abzug der zur Sklaverei Begnadigten ohne Schwertstreich besetzen konnte, neue, unverbrauchte Kohorten über die untere Hochfläche der Bosra gegen den heiligen Ölbaumhain heran, die ermüdeten und hart mitgenommenen Mannschaften abzulösen. Die Verteidiger dagegen, schon von Anfang an zu gering an Zahl und außerdem auch noch durch starke Verluste zu sehr zusammengeschrumpft, um sich in Schichten teilen zu können, wissen nichts von Ablösung. Ununterbrochen, seit zehn Tagen und Nächten, stehen sie, ohne auch nur für eine Stunde ein Auge geschlossen zu haben, im erbitterten Nahkampf Mann gegen Mann.

Aber so tapfer sie sich wehren – in dieser elften Nacht geht das blutige Ringen bereits um ihre letzte noch haltbare Stellung, um die oberste, noch unzerstörte Schanze knapp unterhalb der Tempelplattform.

Die Untergrotte des Eschmun-Tempels, wo die Frauen untergebracht sind, widerhallt in dieser Nacht von Seufzern und Wehgeschrei. Das zum Erbarmen abgemagerte Leichlein eines Kindes gilt es zu betrauern und das Schicksal einer jugendlichen Witwe zu beklagen, die in sich versunken und scheinbar teilnahmslos, als ginge dieser ganze Erdenjammer sie nichts mehr an, auf dem Boden kauert.

Ellots Kindlein, noch Säugling und im zartesten Alter, ist gestorben. Ausgelöscht in aller Stille wie ein Lichtlein, dessen Docht zu Ende ging. Entschlummert an der Mutterbrust, deren nährende Quellen längst versiegten. Denn zu den Unentwegten und Unnachgiebigen, die die wenigen überlebenden Kartchader noch bis in ihre letzte Zufluchtsstätte auf dem Gipfel der Bosra begleitet haben, gehört auch der Hunger.

Abermals hatte Hasdrubal, den man den Sturmbock oder Widder nannte, sich bei seinen Entschlüssen mehr von der blinden Gesinnung als von der Umsicht leiten lassen.

»Meine Burg ist uneinnehmbar! Zehn Jahre könnten die Römer davor liegen wie die Griechen vor Ilion, sie würden sie doch nicht bezwingen. Inzwischen kommt uns bestimmt eine Volkserhebung in Mauretanien und Numidien, vielleicht auch ein Umsturz in Makedonien zuhilfe!«

So lauteten noch vor kurzem des Boëtharchen Worte, an die er selbst felsenfest glaubte. Jetzt freilich, obgleich seither keine zehn Jahre, nur zehn Tage vergangen sind, denkt er anders und ist seelisch zusammengebrochen, wie es unerwartet so oft über Menschen von starker Einbildungskraft kommt, denen die Inbrunst ihrer Wünsche auch das Unmögliche als erreichbar vorspiegelt.

Denn Schritt für Schritt haben inzwischen die Römer sich die ungeheure Böschung hinaufgearbeitet, welche der Abbruch der großen steinernen Freitreppe zurückließ. Die aus den ausgehobenen Stufen staffelweise übereinander aufgerichteten Schanzen sind unter Heranbringung von Sturmleitern und anderen Belagerungsgeräten in zähem Ringen eine nach der andern erobert worden. Sie hatten fast sturmfest geschienen und wären es vielleicht auch gewesen; aber die Mannschaften, die sie verteidigten, konnten sich kaum mehr auf den Füßen halten.

Es war ein Unglück, daß der Widder, dieser trotz seiner Fehler und Schwächen bedeutende Mann, seine Feldherrkunst jahrelang nur im offenen Gelände Libyens erprobt hatte, wo es ihm in der Tat gelungen war, den Römern in zahlreichen Schlachten und kleineren Gefechten namhafte Vorteile abzuringen. Hieraus erklärte es sich, warum er die Beengungen des Festungskrieges nicht genügend in Rechnung zog. Daß man hier nicht wie im Felde ausweichen und sich zurückziehen konnte, wenn die Truppe erschöpft war, hatte er nicht bedacht, auch sich kaum recht klar gemacht, wie lange die Waffen und Lebensmittel ausreichen würden, von denen er in letzter Stunde allerdings möglichst große Vorräte in der Vorhalle des Eschmun-Tempels hatte aufstapeln lassen. Als ihm dann später gemeldet wurde, daß sie bereits zu Ende gingen, tobte er und befahl Einschränkung des Verbrauchs. Aber es war fast nichts mehr da, was man kärger und sparsamer hätte verteilen können.

Die Folge davon war, daß die Nöte der Zernierung und Aushungerung, die Kart-Chadast im großen erlebt hatte, sich jetzt in verjüngtem Maßstabe auf der Höhe des Eschmun-Tempels wiederholten. Und das erste Opfer des Darbens war ein unschuldiges Kindlein, das Enkelkind des Boëtharchen selbst.

Frommsinnig haben Feuerhüter und entsagende Brüder die heiligen Flammen Milkarts mit wohlriechenden Hölzern genährt, daß sie hochzüngelnd das in die Glut gebettete Geripplein des Kindes verzehren. Die Frauen beten, die Gottgeweihten singen Todespsalmen, viele weinen und klagen. Dem Altar gegenüber aber kauert nach wie vor, als wäre sie geistesabwesend, die junge Mutter auf dem Boden und starrt tränenlosen Auges ins Feuer.

... In Liebe empfangen und schon der Liebe wieder entrückt ... Zurückgekehrt in die heiligen Flammen, aus denen es geboren ... Vereint in ewigem Zusammenlodern mit seinem Vater, ihrem geliebten Gatten, mit dem für immer sich zu vereinen auch ihre heißeste Sehnsucht ist ...

Jetzt leben die Worte wieder auf, die Hanno, der vom Geist Besessene, in Milkarts heiliger Grotte einst zu ihr gesprochen. Damals lautete ihre Antwort: »Deine Lehre ist mir zu hart!« Nun fühlt sie sich reif genug für diese Lehre. Und die gerungenen Hände gegen den Altar aufhebend, fleht sie zum Gott des sengenden Feuers: »Erlöse mich!«

*

Unausgesetzt tobt inzwischen der grausame Kampf weiter, da draußen, am Rande der Plattform. Feuerrot von den in der Tiefe der Stadt wütenden Bränden, bescheint der umwölkte Himmel die bewegten Gruppen der Gegner, die um die letzte Schanze ringen, mit zauberischem Licht. Schon ganz nahe sind die Römer heraufgedrungen. Nur dies einzige Verhau noch, das ebenso wie die schon früher bezwungenen aus den steinernen Stufen der Treppe geschichtet ist, hindert sie noch, die volle Höhe zu ersteigen.

Von der Böschung herauf werden Sturmleitern angelegt. Aber sooft die Stürmenden über der Mauerbrüstung auftauchen, werden sie von der schon arg zusammengeschmolzenen Schar der Verteidiger mit Pfeilen und Wurfgeschossen überschüttet oder in erbittertem Ringen von Mann zu Mann wieder in die Tiefe gestürzt.

Dann tritt jedesmal eine kurze Ruhepause ein, und eine Zeitlang wird es still. Bis von unten her mit neuen Mannschaften ein neuer Sturm einsetzt.

Der Hipparch Melekpalas schreitet die gelichteten Reihen der Kartchader entlang und ermahnt zur Sparsamkeit mit Pfeilen und Wurfspießen.

»Es braucht doch nicht jeder Feind aus zehn Wunden zu bluten! Wenn eine tödlich ist's, so genügt's.«

»Ich denke, wir lassen es sein! ... Ich bin der Sache müde ... Wenn die Waffen ausgehn, kann man eben nicht mehr kämpfen.«

Alle sehen erstaunt um, ob es wirklich der Boëtharch ist, der so gesprochen? Aber er ist es in der Tat! Er hat einfach die Nerven verloren. Hunger, Schlaflosigkeit, Enttäuschung haben ihn zermürbt, sein Rückgrat angefressen, den Kern seines Wesens zerstört, einen andern Menschen aus ihm gemacht.

In hilfloser Verzweiflung wirft der große, starke, gewalttätige Mann sich auf die Erde und schluchzt wie ein Kind.

Durch die Nacht kreischt wie ein Schreien um Hilfe das geängstigte »Peau! Peau!« der blaugoldnen Pfauen, die der Aschtarit heilig sind. Ihre Gärten stehn in Flammen. Mit dem Regierungspalast, dem kleinen marmornen Schofetenhaus und dem Tempel Tanits lodern sie in eine einzige riesige Fackel zusammen.

»Ich wehr' mich bis zum letzten Pfeil und Speer!« sagt Bithyas, der Äthiopier. »Und dann erst recht noch mit dem Schwert. Und wenn ich sehe, daß es schief geht, hab' ich immer noch Zeit, es gegen mich selbst zu kehren.«

»Ich halt' es wie du!« stimmen seine Leute ihm bei.

»Ich auch! Ich auch!«

»Das Leben ist mir ohnedies verleidet, seit ich kein Pferd mehr zwischen den Schenkeln spüre. Das war mir nicht an der Wiege gesungen, daß ich mich so lange mit dem Festungskrieg würde herumbalgen müssen. Was liegt mir daran, wenn ich krepiere. Osiris wird in seinem unterweltlichen Reich einen schneidigen Reiter und Lanzenwerfer, wie ich einer bin, schon brauchen können!«

Auch Ithobaal erklärt, durchhalten zu wollen bis zum letzten.

»Ich habe einen Sohn zu rächen und bleibe unsrer Sache treu. Nur wer zu sterben weiß, wird leben!«

Und Bostar bekennt sich, wenn auch in seiner zweideutigen Art, zu der gleichen Überzeugung.

»Von sogenanntem Heldenmut, der bekanntlich in jeder zottigen Männerbrust wohnen sollte, verspür' ich, aufrichtig gesagt, wenig. Aber diese Erde langweilt mich, es gibt zu viele Papageien auf ihr. Auch bin ich des Lebens überdrüssig, seit es so ernst darin zugeht. Vielleicht gibt Bithyas mir einen Empfehlungsbrief an Osiris mit, dann schaff' ich mir Tierohren und einen Bocksschwanz an und hüpfe vergnügt über Asphodeloswiesen ... Auf alle Fälle aber weiche ich hier nicht von der Stelle, eh' daß ich nicht tot bin!«

Aus dem Halbdunkel knirscht eine Stimme: »Ein Schurke, wer anders denkt!«

Jarbas ist es, der auf seine späten Tage noch das Kriegerhandwerk erlernt hat.

Flüsternd wendet er sich jetzt gegen den Kämpfer an seiner Seite: »Der Boëtharch taugt nichts mehr! Er verdient abgesetzt zu werden. Wir streiten um eine heilige Sache, und die Leute sagen, du seist ein Prophet. Führe du uns!«

»Wohin?«

»Zum Sieg!«

»Dazu bedarf es keines Führers. Es kann jeder für sich allein zum Sieger werden. Und was wir selbst dazu beitragen können, muß jeder für sich allein verrichten.«

»Was sollen wir tun?«

»Lächelnd verbrennen.«

Da wendete Jarbas sich an seinen Nebenmann auf der andern Seite und raunte ihm ins Ohr: »Der Mensch ist doch verrückt! Ein vollendeter Narr!«

In diesem Augenblick schmetterten von Eschmuns Ölbaumhain herauf abermals die Trompeten. Ein neuerlicher Sturmangriff setzte ein.

*

Ellot vernahm eine Stimme an ihrer Seite und blickte auf.

»Ich versprach dir, dich zu rufen, wenn die Zeit gekommen wäre.«

Hanno stand neben ihr, in voller Rüstung, an der Stirn eine klaffende Wunde, die die eine Hälfte des Gesichtes mit Blut überströmte.

»Bithyas und der größte Teil der Unsrigen ist gefallen. Die Waffen sind erschöpft. Der Eschmun-Tempel ist unsere letzte Zuflucht. Er wird in Brand gesteckt, noch ehe die Römer die Plattform erstiegen haben und es verhindern können. Du darfst ihnen nicht in die Hände fallen. Komm! Ich geleite dich zur Höhe und zum Licht!«

Wie eine Traumwandlerin erhob sie sich und folgte ihm.

Einige von den Frauen in Milkarts heiliger Grotte hatten etwas von Hannos Worten aufgefangen. Entsetzen verbreitete sich. Die Römer seien da! flog es von Mund zu Mund. Keine wollte der zweifelhaften Gnade des Feindes preisgegeben sein. Kreischend stürzten sie hinter Ellot her die Treppe hinan, ins Freie. Der Morgen war angebrochen, ein milder, regenloser, aber von grauem Wolkenhimmel überwölbter Frühlingsmorgen. Der erfrischende Wind, der stoßweise vom Meer herwehte, führte Brandgeruch wie von verkohlten Balken mit sich ...

Als sie laufend um die Ecke des Tempels bogen, sahen sie die letzten Überlebenden von den Kämpfern hinter die goldenen Tore des Tempelvorhofes flüchten. In wilder Hast drängten sie hinter ihnen drein. Noch ein paar Nachzügler kamen gerannt und folgten. Die Torflügel schlugen zu und wurden verrammelt.

Fast im gleichen Augenblick kletterten die ersten römischen Hastaten über die halbzerstörte Schanze unterhalb der Plattform. Vorsichtig umherspähend, stiegen sie über die dort aufgehäuften Berge von Leichen, sammelten sich und rückten langsam aufwärts. Behutsam Schritt vor Schritt setzend, weil sie einen Hinterhalt befürchteten und jede Sekunde eines Gegenangriffs gewärtig waren, schlichen sie sich, die Lanzen wurfbereit in den Händen und mit geducktem Rücken das letzte steile Stück der Böschung hinan.

Der Zenturio Haterius war der erste, der sich mit einem kühnen Sprung auf die weiträumige Tempelterrasse schwang.

Nach allen Seiten auslugend, stellte er fest, daß nirgends ein lebendes Wesen zu erblicken sei. Wie ausgestorben war alles ringsumher. Der Tempel Eschmuns, den er seit Jahren so oft aus der Ferne in der Sonne hatte leuchten sehen, hoch über der Stadt und sogar den Burghügel selbst noch überragend, lag jetzt ganz nahe vor ihm, schweigsam und gleichsam in sich verschlossen. Aus der ungeheuren granitenen Felsenstaffel wuchs er, ein steingewordener abenteuerlicher Traum von gigantischen Maßen, wie für die Ewigkeit gefügt in den grauverhangenen Himmel hinein.

Haterius gab ein Zeichen. Da schwangen die Soldaten, die ihm folgten, sich ebenfalls auf die Plattform, ihrer zehn, zwanzig und mehr. Und abermals winkte der Zenturio. Ein Schauer der Ergriffenheit lief allen über den Rücken, die Größe des Augenblicks wurde ihnen plötzlich bewußt. Die Trompete schmetterte vom höchsten Gipfel der Bosra! In langgezogenen Tönen zitterte die Siegesfanfare durch die Morgenluft.

Frohlockend klang sie über die zerstörte Stadt hinweg aufs weite Meer hinaus, und Wind und Wellen schienen aufzuhorchen und ihren jubelnden Schall weiterzutragen von Schiff zu Schiff, von Meer zu Meer, von Land zu Land.

Denn dieser Trompete Geschmetter verkündete der gesamten bewohnten Erde den Sieg Roms über den verhaßten Erbfeind und die Ausrottung des punischen Volkes.

*

Im heiligen Dämmer von Eschmuns Tempelhalle lag betend Allisat auf den Knien, die edle, hoheitsvolle Gattin Hasdrubals, des Boëtharchen.

An ihrer Seite knieten, mehr neugierig als erschrocken um sich blickend und aufmerksam die ungewohnte Umgebung musternd, ihre beiden halbwüchsigen Knaben, jüngere Brüder Ellots und des vor mehr als drei Jahren als Geisel ausgelieferten Adherbal, von dem man nie wieder etwas gehört hatte, und der vermutlich in römischer Gefangenschaft verkommen war.

Schwere Schwaden bläulichen Qualms umbrauten das Deckengebälk des ungeheuren Tempelraumes, dessen reiche Vergoldung aus geheimnisvollen Dunkelheiten herniederschimmerte. Und immer tiefer wurde aus der Höhe der Rauch herabgedrückt. Wie Weihrauchwolken wallte er schleppend die Halle entlang, zwischen den riesigen Säulen aus rotem Porphyr langsam dahinkriechend, Nebeln vergleichbar, die einen hochstämmigen Bergwald durchziehn.

»Mutter, ich kann nicht mehr atmen. Ich muß husten.«

Sie drückte ihn an sich und küßte ihn.

»Es sind nur mehr wenig Leute da,« sagte der andere Knabe. »Die meisten sah ich dort die schmale Treppe hinaufeilen, sie führt vermutlich aufs Dach und ins Freie. Wollen wir uns nicht auch dahin retten, Mutter? Hier müßten wir bald ersticken.«

Allisat erhob sich. Mitleidsvoll ruhte ihr Blick auf ihren beiden Lieblingen.

»Du hast recht, auf dem Dach wird es besser sein.«

Ihre Söhne an der Hand führend, schritt sie erhobenen Hauptes und tränenlos durch die weite Halle, dem Eingang jener engen Wendeltreppe entgegen.

»Sieh, Mutter, wie das Feuer die Wände hinaufleckt und das kostbare Getäfel verzehrt! Warum haben die Leute den Tempel in Brand gesteckt?«

»Ich sagte dir's doch!« belehrte der ältere Bruder. »Damit die Römer ihn nicht entweihen. Und wir müssen auch mit dem Tempel verbrennen, verstehst du? Sonst fangen sie uns und schleppen uns fort.«

»Aber ich will nicht verbrennen!« klagte der Kleine.

»Möchtest du lieber wie Adherbal von den Römern zu Tode gequält werden? – Nun also!«

Der riesenhafte, mit seltsamen Bildwerken durchwirkte Teppich, der das Allerheiligste gegen die Tempelhalle abschloß, flammte jetzt auf. Auch aus dem hohen Deckengebälk leuchtete Feuerschein.

Der Jüngere von den Brüdern, der rasch vergessend schon wieder sorglos war, zögerte noch an der Tür.

»Schade, daß wir nicht hierbleiben und zuschauen können!«

Aber der Größere zog ihn mit sich fort: »Eile dich! Es ist höchste Zeit, sonst stürzen uns noch brennende Balken auf den Kopf.«

Während sie die Stufen hinaufstiegen, fragte er: »Wo ist eigentlich der Vater? Muß er noch immer gegen die Römer kämpfen?«

»Der Kampf ist zu Ende. Hoffen wir, daß er sich mit den andern hieher flüchten konnte.«

»Da hätte ich ihn sehen müssen!«

»Es waren einige hundert Menschen, die hereinstürmten. In der Menge kann er dir leicht entgangen sein. Wir werden ihn auf dem Dach des Tempels wiederfinden – wenn er nicht gefallen ist.«

Gepreßten Herzens verstummten die Knaben.

Als sie die weithin sich dehnende Dachfläche des Tempels betraten, spähten sie mit großen bangen Augen nach dem Vater aus. Aber er war nirgends zu erblicken, obgleich fast alle Flüchtlinge sich bereits hier oben eingefunden hatten, dem Rauch und Qualm zu entrinnen und nicht darin umzukommen.

Die meisten kauerten oder lagen völlig teilnahmslos umher, gleichgültig geworden gegen ihr Schicksal und nur froh, daß man sie in Frieden ließ und nichts mehr von ihnen begehrte, daß sie ausruhn, vielleicht für ein paar Minuten Schlaf finden konnten.

In überwiegender Zahl hatten sie sich jenen Teil der Dachfläche zum Aufenthalt erwählt, der über dem Allerheiligsten lag. Denn das Allerheiligste wölbte sich wieder über Milkarts Untergrotte, darum glaubten sie, an dieser Stelle dem Schutze beider Götter zugleich, Eschmuns und Milkarts, am nächsten zu sein.

Hier stand auch inmitten der auf dem Boden hingelagerten Menge aufrecht, aber mit gesenktem Haupte und die Arme über der Brust gekreuzt, Baal Paam-Eljon, der Hohepriester Eschmuns, anscheinend in inbrünstige Gebete versunken. Vielleicht betete er um rasche Erlösung ...

*

War dies der Fall, so wurde sein Gebet erhört.

Denn kaum hatte Allisat mit ihren Knaben jenen Teil der Dachterrasse überschritten, so ging ein unheimliches Knistern und Bersten durchs Mauerwerk des Estrichs. Das brennende Dachgestühl darunter war eingestürzt, die Decke stürzte nach. Die Säulen der Tempelhalle barsten und schlugen das Gewölbe der Untergrotte durch. Und aus dem riesigen schwarzen Krater, der den Oberpriester mit allen um ihn versammelten Menschen verschlungen hatte, züngelten gierig Milkarts heilige Flammen ans Licht.

Aufschreiend hatten die beiden Knaben die Mutter mit sich fortgezogen.

Noch stand der größere Teil des Tempels unversehrt. Aber ein dumpfes, von Zeit zu Zeit sich wiederholendes Donnern von stürzendem Mauerwerk verkündete, daß der Kessel von Glut und Qualm, der sich an Stelle des Allerheiligsten aufgetan hatte, langsam weiterfraß.

Die Knaben drängten deshalb nach der Dachseite, die in der Richtung gegen Eschmuns heiligen Hain lag. Diese mußte vom Verderben am spätesten ergriffen werden. Und die Mutter, der die jugendlichen, sich so heiß ans Leben klammernden Menschenkinder bitter leid taten, gab ihnen nach.

Da sie sich jener Seite näherten, gewahrte Allisat eine Anzahl Numider und anderer Überläufer, die an die Dachbrüstung vorgetreten waren und den Römern, wie sie meinte, wütende Schmähungen hinunterriefen. Als die Zornmütigen endlich, nachdem sie ihrem Groll Luft gemacht, sich zurückgezogen hatten, trat Allisat selbst an die Brüstung heran. Und nun begriff sie, daß die Schmähungen nicht den Römern gegolten hatten, und erstarrte vor Entsetzen, kaum daß sie den ersten Blick in die Tiefe geworfen. Denn was sie dort sehen mußte, schnitt ihr schmerzvoller durch die Seele, als wenn sie zehn Tode hätte erleiden müssen.

Auf einem der Trümmer des inzwischen zerstörten Tempelvorhofes saß, umgeben von den gold- und silberblitzenden Offizieren seines Stabes, Scipio Aemilianus, der Konsul, während in gebührendem Abstand etwas seitlich hinter ihm mit hämischem Grinsen König Gulussa von Numidien stand. Zu ihren Füßen aber lag, mit der wollumwundenen Stirn die Erde berührend, ihr Gatte: Allisats Gatte! Der Vater ihrer Kinder! Der letzte Boëtharch von Kart-Chadast! Hasdrubal, den man einst den Sturmbock oder Widder genannt hatte!

Und dieser Mann, bis dahin der Unnachgiebigste von allen, hob in seiner Hand den Ölzweig der Schutzflehenden hoch!

Es war ein erschütterndes Bild, wie ein Symbol: Adler und Löwe, zu blutigem Weidwerk verbündet, die das Einhorn ins Knie gezwungen ...

*

Von seinem Sitze sich erhebend, legte Scipio Aemilianus, der Konsul, die hohlen Hände an die Mundwinkel.

»Auch dir, hohe Frau, und deinen Kindern,« rief er zur Dachkrönung des Tempels empor, »hat der Boëtharch die Begnadigung erwirkt!«

Allisats Stolz bäumte sich. Nicht einen Augenblick lang trat die Versuchung an sie heran, die Gnade des Siegers anzunehmen. Nicht die leiseste Regung des Mitleids mit dem besiegten und gedemütigten Gatten fand in ihrem Herzen Raum. Es war nichts als Entrüstung, Abscheu und Verachtung in ihr. Sie hob ihre Knaben auf die Brüstung. Und sie beiderseits mit ihren Armen umschlingend, richtete die edle Frau sich hoch auf.

»Hasdrubal!« rief sie.

Und da er aufblickte, aber sofort von Scheu und Scham übermannt, den Blick wieder von ihr abwendete, fuhr sie fort: »O du großsprecherischer, feigster, treulosester unter den Männern! Wie kannst du es über dich gewinnen, zu den Füßen derer zu liegen, die dein Vaterland so heuchlerisch betrogen! Rühmtest du dich nicht, nie werde die Sonne die Stadt zerstört und dich zugleich am Leben schauen? Und dennoch wurdest du zum Überläufer, nur aus dem Grunde, weil es klüger war? Fluch und Schmach über dich wie über alle Klugen! Möge der Pöbel Roms, wie du es verdienst, dir ins Antlitz speien, wenn Scipio in seinem Triumphzug dich durch die Straßen und Plätze der siebenhügligen Stadt schleift! Ich sage mich von dir los! Ich weiß, was mir zu tun obliegt! Für mich und meine Kinder wird dieser brennende Tempel zum Scheiterhaufen werden! Geläutert geben seine heiligen Flammen der Ewigkeit zurück, was unzerstörbar an uns war. So soll dein Same ausgetilgt sein von der Erde für immer, damit kein später Enkel, befragt, wer sein Ahne gewesen, von Scham errötend antworten müsse: Der letzte Boëtharch von Kart-Chadast!«

»Ihr Römer aber,« rief sie, gegen Scipio gewendet, »dünkt euch nicht als Sieger, weil ihr diese Stadt, von der einst nährendes Leben ausströmte in die ganze gesittete Welt, in ein rauchendes Trümmerfeld verwandelt habt! Häuser, Tempel und Paläste, Fluren, Gräber und Altäre konntet ihr zerstören und entweihen und eine Anzahl matter und zermürbter Herzen dazu verleiten, daß sie das Elend der Sklaverei dem ehrenvollen Tode vorzogen. Den Geist von Kart-Chadast aber könnt ihr nicht zerstören, der dem Unrecht und der Gewalt solange heldenmütigen Widerstand entgegensetzte. Er wird fortleben, länger als ihr selbst, eure Stadt und eure Weltherrschaft, Anklage gegen euch erhebend, solange die Sterne der Götter über der Erde leuchten. Und ein Schandmal wird euch aufgedrückt bleiben für immer: der entehrende Ruf eurer Arglist und Gewissenlosigkeit!«

Damit wendete die von heiliger Glut leuchtende Frau sich ab und zog ihre Kinder mit sich fort.

*

Der immer mehr sich erweiternde feurige Schlund, der ungeheure Schwaden von Rauch und sengender Hitze aus der Tiefe emporsendete, hatte inzwischen ungefähr die Hälfte des Tempels verschlungen.

An seinem Rande sah sie jetzt Ellot knien, an der Seite eines verwundeten Kriegers, den sie nicht kannte. Beide schienen sie, von seliger Verzückung ergriffen, mit verklärtem Antlitz dem erlösenden Lichte entgegenzubangen. Wie der Erde bereits entrückt, hielten sie Blick und Arme gegen jene Stelle des Himmels erhoben, wo hinter dem grauen Gewölk Eschmuns Gestirn schweben mußte, das heute noch nicht sichtbar geworden. Es war, als wolle der Gott die Menschen prüfen, ob sie auch an ihn glaubten, wenn er sich verhüllte.

Plötzlich schrien die beiden Knaben auf. Unter donnerähnlichem Getöse war abermals ein Stück Dach und Tempel eingestürzt und in sich zusammmgebrochen. Ellot und ihr Begleiter waren verschwunden.

Allisat kniete am Rand des qualmenden Kraters, der nun schon weitaus mehr Raum einnahm als der noch erhaltene Teil des Tempels, und blickte in das unten wogende Feuermeer. Sie hielt die beiden Kinder um die Mitte gefaßt wie vorhin, da sie zu Hasdrubal gesprochen.

»Wo ist Ellot?« fragte einer der Knaben, halb furchtsam, halb bewundernd in die wogende Glut hinabstarrend.

»Sie flüchtete sich in ein anderes, schöneres Land, wo auch Adherbal weilt, nachdem er den Römern entflohen. Sie bleiben nun für immer beisammen, befreit von allem Kummer und aller Not... Wollt auch ihr euch mit ihnen vereinigen?«

»O ja, ja, das wollen wir!« riefen sie erfreut.

Da beugte Allisat sich weit vornüber und stürzte, ihre beiden Kinder im Arm, in die lodernde Tiefe...

Weniges später erschütterte ein Beben der Erde fast den ganzen Burghügel. Was vom Eschmun-Tempel noch übrig gewesen, ungefähr der dritte Teil des gesamten gewaltigen Bauwerks, war wie unter einem einzigen fürchterlichen Donnerschlag in sich zusammengebrochen.

Eine schwarze Wolke von Rauch und Asche schwebte, wie um den Gipfel des Feuerberges auf Sizilien, über der ragenden Höhe, wo einst Eschmuns Tempel gestanden.

*

Nachdem Publius Scipio Aemilianus noch alle nötigen Anordnungen getroffen und die Offiziere seines Stabes mit verschiedenen Aufträgen in die Stadt entlassen hatte, war er allein, nur in Begleitung seines Lehrers und Freundes Polybios, bei den Trümmern des Eschmun-Tempels zurückgeblieben.

Von den Anstrengungen der letzten Wochen fast aufgerieben, leiblich und seelisch am Ende seiner Kräfte, sehnte er sich nach Einsamkeit und vertrauter Aussprache. Und gerade hier, auf diesem höchsten Punkte des Burghügels, war es jetzt still und einsam geworden. Die Ruhe und der Friede des Todes umwehten ihn ...

In nachdenklichem Schweigen befangen, schritten die beiden Freunde langsam über die granitene Tempelterrasse hin. Noch immer qualmten übelriechende Schwaden aus den zerstörten Überresten des einst so festlich prangenden Heiligtums. Klippenartig starrten abenteuerliche Mauerbrüche von gigantischen Ausmaßen in die Luft. Berge von rauchgeschwärzten Marmorblöcken und Säulentrümmern, riesige Haufen verkohlter Balken, zwischen denen hie und da noch halbverbrannte Leichenteile eingeklemmt waren, lagen wirr durcheinandergeworfen umher. Mit innerlicher Ergriffenheit betrachteten sie dieses Bild fürchterlicher Verwüstung.

Und schließlich traten sie auf den gegen Mittag vorgeschobenen Ausbau der Plattform hinaus und standen Seite an Seite an derselben Stelle, wo einst, zu Beginn der Belagerung, der Hohepriester Paam-Eljon und Hasdrubal, der Königs-Schofet, nebeneinander gestanden hatten, das erste Landen der Römer an der Ochsenzunge beobachtend.

Da lag nun zu Füßen des Siegers, vom weiten Halbrund des Golfes umschlossen, die eroberte Stadt.

Zum Teil war sie schon zerstört, tatsächlich dem Erdboden gleichgemacht, oder glich mit ihren dachlosen Mauerresten einem bloßgelegten Gerippe. Zum andern Teil wurde noch daran gearbeitet, die Hauswände durch Sturmböcke zum Einsturz zu bringen oder mittels Spitzhauen niederzulegen. An vielen Stellen qualmten Rauchwolken zum Himmel. An anderen loderten noch die hellen Flammen aus dem Innern der Häuser. Und von Zeit zu Zeit stieg ein fernes Heulen und Brausen auf wie ein heranwehender Orkan: das Gejohle zuchtloser Soldatenhorden, denen Scipio nach so langer Belagerung und so harten, blutigen Kämpfen ein mehrtägiges Plündern trotz innern Widerstrebens nicht hatte versagen können und dürfen.

Plötzlich bemerkte Polybios, daß der Konsul die Augen mit der Hand bedeckt hielt. Tränen kollerten ihm die Wangen herab. Und als hätte vor seinem innern Seelenauge eine seherische Offenbarung sich aufgetan, sprach er laut die Verse der Ilias vor sich hin, die den Fall Trojas voraussagen:

»Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilion hinsinkt,
Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs...«

Da fragte der sonst so zurückhaltende Achaier mit Wärme und innigem Anteil in der Stimme: »Woran denkst du, mein Aemilianus?«

Und Scipio, ohne sich seiner Tränen zu schämen, wendete dem Freunde das Antlitz voll zu und sagte, dessen Rechte ergreifend: »Es schnürte mir plötzlich so weh das Herz zusammen, diese Stadt, die siebenhundert Jahre lang blühte; die große Gebiete auf dem Festland, unzählige Inseln und alle Meere beherrschte; die im Überfluß an Waffen, Schiffen, Elefanten und Gold es einst mit den größten Reichen der Welt aufnehmen konnte und sie alle an Unternehmungsgeist und Betriebsamkeit sogar noch weit übertroffen hat – zerschmettert zu meinen Füßen liegen zu sehn. Und ich weiß nicht, wie es kommt, mein Polybios, aber ich fürchte und besorge, es möchte einmal ein anderer dasselbe über meine Vaterstadt verhängen!«

»Nicht leicht kann man ein einsichtigeres und verständigeres Wort sprechen,« erwiderte Polybios. »Denn auf dem Gipfel des Erfolges und bei der tiefsten Erniedrigung des Feindes die Unbeständigkeit des Glückes sich gegenwärtig halten, verrät eine große und edle Gesinnung. Du hast recht: das Geschick der Städte, Völker und Reiche unterliegt ebenso notwendig wie das der einzelnen Menschen der Veränderung. Darum möge der Sieger sich vor Überhebung hüten und der Besiegte vor Zaghaftigkeit... Übrigens gibt es hier,« schloß er, »keinen Besiegten mehr, der Rom gefährlich werden könnte.«

»Der Sieg selbst kann ihm gefährlich werden,« antwortete Scipio.

»Abermals muß ich dir beistimmen. Nicht immer braucht es das Unglück der Waffen zu sein, was ein Volk schädigt. Es kann sich auch selbst schädigen, indem es die Macht, die ihm über andere verliehen ist, rücksichtslos mißbraucht. Der Haß, der in der Welt gesät wird, trägt seine Früchte mit derselben Zuverlässigkeit wie die Liebe, und der Keim alles gesunden Lebens und Gedeihens der Völker ist das Vertrauen unter den Menschen.«

In dem Augenblick brach zum erstenmal an diesem trüben Tage ein Strahl der Sonne aus den Wolken und vergoldete mit zauberischem Glanze die kühn getürmten Felsen des Zweihornberges am jenseitigen Ufer, über dessen kahlen Zacken und Graten den Kartchadern, solange sie im Licht gewandelt, Sonne, Mond und Sterne aufgegangen waren, im ewig gleichen Wandel der Zeiten. Und das mit weißen Wellenkämmen bedeckte Meer und der Himmel darüber, der sich aufgehellt hatte, erschienen mit einmal blauer, höher, unendlicher als je ...

»Das ist's, was mir nachgeht,« rief Scipio Aemilianus schmerzlich bewegt: »jene hohe Frau, die Gattin des Boëtharchen, sprach wahr! Solange die Gestirne der Götter über der Erde leuchten, werden Unrecht und Gewalttat sich rächen!«

Nachdenklich wiegte Polybios das graue Haupt. Und nach einigem vorsichtigen Überlegen, wie es seiner Art entsprach, sagte er bedeutsam: »Wenn jene heldenhafte Frau es in demselben Sinne meinte, den du im Auge hast, dann mögen ihre Worte wohl zutreffend sein: Nicht der, der Unrecht leidet, nein, wer Unrecht tut, ist der Besiegte!«

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