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I.

Eine Unmenge Menschen drängte nach dem innern Hafen, Kothon genannt, der als Kriegshafen und Seerüstkammer diente, und wo jetzt die Schiffe bereit lagen, die Anker zu lichten. Aus allen Gassen der Stadt strömten die Leute zusammen und stauten sich auf dem geräumigen Marktplatz, daß mancher Neugierige nicht mehr vor- noch rückwärts konnte und eingekeilt zwischen den Volksmassen die erhoffte Kurzweil sich entgleiten sah, dem Schauspiel der Einschiffung beizuwohnen. Dann hieß es wie zum Trost: »Sie kommen hier vorbei, sie versammeln sich auf der Bosra!« Von Mund zu Mund verbreitete sich die Nachricht, man fing an, sich mit seiner Lage zu versöhnen – denn das war richtig: wenn der Zug der Geiseln seinen Ausgang vom Burghügel nahm, so mußte er unbedingt den Marktplatz überschreiten, um sich von da nach dem Hafendamm zu bewegen. Vielleicht hatte einem der Zufall nicht einmal den schlechtesten Platz angewiesen? Unten, an den Toren der Mauer, die das Hafenbecken einkreiste, war der Zudrang vermutlich ein noch viel größerer. Und daß es unter diesen Umständen den wenigsten gelingen würde, bis in den geschützten Raum und in die Nähe der Schiffe vorzudringen, das ließ sich leicht ermessen.

So faßte das Volk sich in Geduld, gespannt den kommenden Ereignissen entgegenharrend.

*

Wirklich hatten auf der Höhe der Bosra im Tempelhain, der innerhalb der Grenzen von Eschmuns Heiligtum lag, vom frühen Morgen an einzeln oder Arm in Arm, manchmal auch in ganzen Gruppen, sofern sie miteinander befreundet waren, die schönen schlanken Jünglinge sich eingefunden, die das Los aus den vornehmsten Geschlechtern der Berechtigten ausgewählt, dem Wohl der Gemeinschaft das Opfer ihrer Freiheit zu bringen. Zwischen uralten Stämmen der Ölbäume, der wie Elefantenhaut verschrundeten, sahen sie von diesem die innere Stadt samt den Vorstädten hoch überragenden Burghügel aus das Meer in unwahrscheinlicher Bläue sich breiten und in der Ferne verdämmern, sahen die strahlende Gottheit darüber leuchten, die reichbebaute, lieblich gewellte heimatliche Küste zu ihren Füßen und die ungezählten Guts- und Meierhöfe, die verstreuten Häuser und Häuschen der Bauern oder Pächter, die marmorweißen Villen der Vornehmen ins frische Grün gebettet. Sahen den weitgespannten Bogen der gigantischen Festungsmauern und Wälle, einem schirmenden Arm gleich, die näheren Gebiete umfassen, an seiner straffen Sehne aber, von Hausteindämmen und Kaimauern gebildet, die kunstreich zwischen kyklopische Quadern eingelassenen Riesenwannen des Handelshafens und des etwas kleineren, näher gelegenen Kriegshafens Kothon, wo die Wimpel wehten und die Segel bauschten, die sie entführen sollten. Noch näher aber das winklige Gassengewirr, die aus Palmen- oder Steineichenhainen aufsteigenden Paläste und Tempel, die engen, vielstöckigen Miethäuserzeilen und die von buntem Menschengewimmel erfüllten Stadtplätze der herrlichen, stolzen, heißgeliebten Hochburg des punischen Volks.

Überwältigt von der Schönheit des elysischen Landschaftsbildes breitete einer von ihnen die Arme aus, einem bangen Seufzer gleich ein Wort auf den Lippen, wie der Liebende den Namen der Geliebten in die Lüfte haucht, ein einziges bloß: Kart-Chadast!

Aber jedem, der es hörte, griff dies Wort ans Herz wie Totenklage und Abschied von allem, was dem Menschen lieb und teuer. Und von den Jüngeren verhüllte mancher sein Antlitz und vergoß Tränen.

*

Steil über der fast hundertstufigen Freitreppe, die vom Saum des Ölbaumhaines bis zu den goldenen Toren des Tempelvorhofes sich aufbaute, erschien jetzt die ehrfurchtgebietende weiße Gestalt des Hohenpriesters Paam-Eljon, von dienenden Gottesbrüdern und edlen Jungfrauen umgeben, die das Amt von Priesterinnen bekleideten. Stumm hob er die Hände zum Himmel und ließ sie langsam wieder zur Erde sinken. Und so dreimal hintereinander in der weihevollen Stille der durchsonnten Frühe. Es war die große bildliche Gebärde, die die Vereinigung Eschmuns mit der Geliebten ausdrückte, das Niederträufen befruchtender Feuchte aus wohltätiger Himmelswärme in den Schoß Aschtarits, der Muttererde. Ein jeder von den Jünglingen wußte die feierlich-gottesdienstliche Gebärde zu deuten: als Erwachen neuen Lebens, als Lenz, als Hoffnung, als Genesen. Und jeder fühlte die Mahnung, die damit an ihn selbst erging, sein Herz der Zuversicht zu öffnen, sein Opfer nicht als fruchtlos dargebracht zu beargwöhnen und sein Schicksal vertrauensvoll den geheimen Kräften ewiger Erneuerung anheimzustellen, die sich rings im keimenden Frühling regten.

Wie gern wären sie bereit gewesen, eine solche Mahnung zu beherzigen! Wie gern hätten sie den Glauben mit sich genommen an ein Gesunden der vor Haß fiebernden Welt, an das Zustandekommen einer Völkergemeinschaft, die der allgemeinen Gesittung diente, den Glauben an die Erhaltung des Friedens.

Aber unter den Älteren mindestens gab es viele, die unter dem Boëtharchen Hasdrubal, den man den Sturmbock oder Widder nannte, den unglücklichen Feldzug gegen die Numider mitgemacht hatten. Und in manchem von diesen wurde jetzt die Erinnerung lebendig, wie der Feldherr sie aus seinem geächteten Lager nach Hause entlassen und ihnen ans Herz gelegt hatte, den mannhaften Gesinnungen der Heiligen Schar treu zu bleiben und sich von den Volksverführern, die einen Frieden um jeden Preis auf die verschwommenen Redensarten der Römer gründen wollten, nicht betören zu lassen. Denn in der Stadt war eben damals die Volkspartei gestürzt und Hasdrubal von den im Hohen Rat ans Ruder gekommenen liebedienerischen Freunden Roms zum Tode verurteilt worden.

Der Widder aber beugte sich ihnen nicht. Die Botschaft, die er seinen jugendlichen Mitkämpfern an die Regierenden zu bestellen aufgegeben hatte, lautete: Er denke nicht daran, die Waffen zu strecken, und harre des Augenblicks, da das Volk von Kart-Chadast zur Einsicht kommen würde, daß auf Erden rechtlos sei, wer wehrlos ist ...

*

Dessen gedachten nun viele, und Zweifel regten sich in ihrer Brust. Die Zahl kam ja kaum in Betracht, dreihundert Streiter, die man, den Forderungen der Römer gehorchend, um sie versöhnlicher zu stimmen, als Geiseln stellen wollte, konnte die Stadt auch im schlimmsten Falle auf ihren Basteien missen. Äußerlich besehen schwächte sich ihre Wehrhaftigkeit dadurch nicht erheblich. Aber diese Dreihundert, von denen auch jene, die der Heiligen Schar nicht angehört hatten, aus den führenden Geschlechtern stammten, waren Blut vom Blute Kart-Chadasts, junge Leute, denen das angeborne Volkstum, die Bodenständigkeit, die Überlieferung ihrer Familien im Augenblick der Gefahr einen Platz in den vordersten Reihen der vaterländisch Gesinnten anwies. Ein solcher Aderlaß an eingewurzelter Volkskraft und glühender Begeisterungsfähigkeit – würde der durch geworbene Söldlinge auch nur annähernd ersetzt und wieder gutgemacht werden können, wenn die politischen Berechnungen trogen und es schließlich doch zum Äußersten kam? Ein herzzerreißender Gedanke für jeden hochgemuten Sohn der Stadt, daß er dann in schmachvoller Knechtschaft ohnmächtig aus der Ferne würde zusehen müssen.

Wahrlich! Noch größere Selbstverleugnung als die Verbannung selbst erheischte der Glaube an die Einsicht und Weisheit derer, die sie verfügten.

*

Einer von den Jünglingen, an ebenmäßigem Wuchs den Gestalten gleichend, wie sie punische Künstler auf steinernen Sarkophagen den Griechen nachzubilden liebten, wendete sich an seine Genossen und sagte: »Von meinem großen Ahn ist das Wort überliefert, wer die Götter ehren wolle, dürfe ihnen ihr Eintreten für Recht und Gerechtigkeit nicht erschweren.«

Aber da mußte er erfahren, daß es sogar unter seinen näheren Freunden welche gab, an die die Mahnung des Boëtharchen fruchtlos verschwendet war. Denn Gisgon, ein Enkel Magos, des Bruttiers, des Führers der herrschenden Partei, der, trotz hohen Alters und vorgeschrittener Gebrechlichkeit die Sorgen der Republik opferwillig als seine eigenen betrachtend, derzeit fast die Macht eines Königs ausübte – eben jener rasche und kühne Gisgon, den wegen seiner Tapferkeit im Felde Hasdrubal, der Widder, durch besondere Beweise seiner Gunst ausgezeichnet hatte, trat ihm so offen wie nachdrücklich entgegen, aus vollster Überzeugung die Meinung verfechtend, gerade das, was jetzt geschehe, sei dazu angetan, den Schutzgöttern Kart-Chadasts die Behauptung ihrer Heiligtümer und geweihten Stätten zu erleichtern.

»Soviel ich mit meinem Urteil erfassen kann,« sagte er, »sind es gerade diese überirdischen Mächte selbst, die uns zur Versöhnlichkeit mahnen! Dürfen wir nicht annehmen, daß sie uns einen Fingerzeig geben wollten, wo der Weg zur Rettung zu suchen sei, indem sie die leitenden Männer Roms zur Milde und Nachsicht stimmten? Obgleich Utik-Chah sich bereits unterworfen hatte und unsre Flanke dadurch bloßlag, so hat der Senat dennoch auch unsere Unterwerfung noch angenommen. Heimat, Leben, Eigentum, sogar Unabhängigkeit gewährleistet er uns, wenn wir nur erst genügend Bürgschaft unsres guten Willens gegeben hätten! Glaub' es mir, mein Hanno, ich bliebe auch lieber im Lande bei der geliebten Braut, statt in Lilybaion einem ungewissen Lose entgegenzugehen. Und doch erfüllt es mich mit Genugtuung, wenn ich denke, daß meine Hingabe dazu beitragen wird, ein dauerndes Verhältnis der Freundschaft mit Rom anzubahnen!«

»Eine leidende Genugtuung! Eine tatenlose Hingabe!« rief Hanno aus, während er mit jäher Bewegung der Hand die schwarzen Locken aus der Stirn strich. »Bist du so besonnen worden, Gisgon, seit jener Schlacht auf dem Blachfeld, wo wir Seite an Seite gegen Masinissa fochten? Hast du vergessen, wie damals Scipio mit dem Beinamen Aemilianus, der römische Legat, von einem nahen Hügel als unbeteiligter Dritter dem erbitterten Kampfe gemächlich zusah, ähnlich wie dem Trojischen Kriege Zeus vom Ida aus, und sich die Hände rieb, offen, weil uns die Numider empfindlich schwächten; insgeheim, weil wir ihnen das gleiche taten! Und hast du seither vergessen, worum der Kampf damals ging? Vergessen, daß Masinissa, der Unersättliche, der mit achtzig Jahren noch immer Kinder zeugt, uns fast Jahr für Jahr ein Stück unsrer fruchtbarsten Länder entriß? Freilich erschien dann regelmäßig eine römische Gesandtschaft, angeblich, um Recht zu sprechen. Aber der Schiedsspruch lautete immer in demselben Sinne: daß der Friede gewahrt, das heißt, der Numider im Besitz der uns weggenommenen Gebiete bleiben müsse. Schließlich kam es so weit, daß der begehrliche Landräuber seine Hand sogar nach den Großen Feldern am Mekerta-Strom ausstreckte. Erinnere dich doch! Von ganz Libyen blieb uns nichts mehr als ein schmaler Küstenstrich, kaum hinreichend, die Stadt zu ernähren. Und abermals erschien eine römische Gesandtschaft, Cato an ihrer Spitze, jener Cato, dessen sprüchwörtliche Gerechtigkeit an den Grenzen Italiens haltmacht. Und abermals wurde der Streitfall in der hergebrachten Weise, nämlich zu unserm Schaden, erledigt. Sollen wir uns wirklich alles bieten lassen? Erinnere dich, was weiter geschah! Jener Cato, den ich lieben würde, wäre ich Römer, fand, wieder heimgekehrt, kaum der prächtigen Farben genug, das Blühen und den Glanz jener seit je gehaßten und noch immer gefürchteten Hafenfestung auszumalen, die die Italiker Karthago nennen. Und er wurde nicht müde vorauszusagen, daß gerade jetzt, wo die fünfzig Jahre Tributpflichtigkeit endlich abgelaufen sind, der eigentliche Aufschwung dieser einstigen Nebenbuhlerin Roms um die Weltherrschaft erst recht beginnen würde. Das alles, mein Gisgon, kannst du doch nicht plötzlich vergessen haben? Auch weißt du so gut wie ich, daß derselbe Marcus Porcius Cato seither noch keine Gelegenheit versäumte, jedem seiner Voten im Senat den Antrag auf Zerstörung unsrer Stadt hinzuzufügen. Und dennoch traust du es den Schutzgottheiten Kart-Chadasts zu, daß sie aus Sorge um ihre Kultstätten uns dazu aufmuntern sollten, die Rechtlosigkeit als Recht anzuerkennen?«

»Tapfer im Kampf, klug im Rat,« antwortete Gisgon, »das ist das Leitwort meines Großvaters, des Bruttiers, der die Römer besser kennt als du und ich. Denn schon zu einer Zeit, da wir beide noch nicht geboren waren, holte er sich als Jüngling blutige Lorbeern in Tarent und Kroton im Kampf gegen das konsularische Heer unter unsres Volkes und deines eignen Geschlechtes größtem Sohn. Und hat nicht auch dieser, der Tapferste der Tapferen, hat nicht auch der große Hannibal selbst den Tag erlebt, wo er staatsmännische Klugheit höher stellen mußte als Tapferkeit?«

»Oh, hätte er den Boden Afrikas nie wieder betreten!«

»Sein Sieg schien durch die achtzig Elefanten von Zama so gut wie gesichert. Da vernichteten numidische Reiterscharen, in seinen Rücken brechend, all sein Hoffen. Damals scheute er sich nicht, in unsre Stadt zurückzukehren und im Hohen Rat zum Frieden um jeden Preis zu drängen. Erinnere dich hieran und beantworte dir selbst die Frage: War dies Feigheit? War es Mangel an Gesinnung? Oder männliche Selbstverleugnung und höchste Einsicht? In ähnlicher Lage aber, ja in weit schlimmerer als er zu jener Zeit, befinden wir uns heute. Auch dem Kampfmutigsten muß jetzt Klugheit und Mäßigung Schwert und Schild sein! Denn wo sind unsre Elefanten? Wir beide sahen noch keinen, seit einem halben Jahrhundert waren sie uns verboten. Wo befindet sich unsre Flotte? Seit ebensolanger Zeit auf dem Meeresgrunde oder in den Häfen der Römer. Und wo endlich sind unsre Mannschaften, unsre Söldner und unsere Hilfstruppen, wo ist unser stattliches Heer, das größte, über das Kart-Chadast in Libyen jemals verfügte? Zeig' es mir doch! Du weißt so gut wie ich, daß es vernichtet ist.«

»Seine Trümmer sammeln sich im Lager des Boëtharchen.«

»Der Widder hat längst aufgehört, Boëtharch zu sein. Und wenn er, um der über ihn verhängten Strafe zu entgehen, Freischaren zusammenzieht, so kann ich, so hart es mir fällt, nur einen Aufrührer in ihm sehen, der die Segnungen des Friedens bedroht.«

»Vielleicht wartet er nicht vergeblich die Zeit ab,« sagte Hanno mit gesenktem Haupt, »wo Verzweiflung diese undankbare Stadt zwingen wird, den Aufrührer zum Schutz gegen die Freundschaft der Römer anzuflehen.«

*

Auf der obersten Plattform der Freitreppe hatten inzwischen die Gebete und gottesdienstlichen Handlungen ihren Fortgang genommen. Am ewigen Feuer Milkarts entzündet, das im dunklen Gewölbe unter dem Eschmuntempel gehütet wurde, flackerte die heilige Flamme. Steil kräuselte sich Opferrauch ins Blau. So erstattete die Erde dem Himmel zurück, was sie von ihm empfangen. Und es war, als hätten die Götter huldreich das Dargebrachte angenommen. Naturnah schon ihrem Wesen nach, schienen sie hier, unter freiem Himmel, so gegenwärtig wie sonst kaum je im geschlossenen Tempelraum. In reichem Maße spendeten sie die Gegengabe, die sie zu geneigter Stunde frommen Herzen gewähren: Erhobenheit und das Gefühl der Begnadung.

Mit schwebendem Gesang der Gottesbrüder und geweihten Jungfrauen endigte die heilige Handlung. Erst hatten sie sich gegen Baal Milkarts strahlendes Feuergestirn gewendet, dann gegen Untergang, an Tanit, die milde Schutzherrin der Stadt, deren Wahrzeichen, die Mondessichel, als blasses Schemen noch im Luftraum schwebte, am durchsonnten Himmel kaum mehr erkennbar. Und nun zogen sie sich nach feierlichem Umgang ins Geheimnis der goldenen Tore zurück.

Den Hohenpriester hingegen sah man langsam gegen den heiligen Hain niedersteigen.

Stufe für Stufe kam er die großartige Freitreppe herabgeschritten, von niemand begleitet als von seinem Schatten, der tiefblau ihm zur Seite über den grellbeschienenen Marmor hinglitt. Auf dem untersten Absatz machte er noch einmal Halt und wiederholte segnend jene sinnbildliche Gebärde von vorhin, den stummen Anruf des Frühlings, der Auferstehung verspricht. Vertrauend auf das natürliche Keimen des also in die aufgewühlten Gemüter gesenkten Saatkorns, versagte er sich jede Ansprache.

Wie die Gottheit, der er diente, im Gegensatz zu den grausamen, kinderfressenden Götzen seiner Vorfahren, im Gegensatz auch zu den griechischen und latinischen Göttern, keine Nachbildung menschlicher Gestalten mit ihren Leidenschaften war, so erhoffte er Wirkungen der Gotteskraft, weit eher als aus Menschenmund, aus der unfaßbaren und unaussprechlichen Frömmigkeit des Schweigens.

*

So trat er jetzt nicht eigentlich als Priester, vielmehr als Mensch, als Vater und Freund unter die Jünglinge. Schlicht, teilnehmend, aufmunternd, wo er es für angemessen hielt, sogar heiter, sprach er mit jedem einzelnen.

Voll jenes franken Zutrauens, das junge Leute dem Alter entgegenbringen, wenn sie Verständnis und Wohlwollen spüren, umringten ihn die schlanken Gestalten, dankbar lauschend, Red' und Antwort stehend, Fragen an ihn richtend und seinen Rat erbittend. Und alle ohne Ausnahme, auch jene, die sich im stillen gewisser Zweifel an der politischen Zweckmäßigkeit des eingeschlagenen Weges nicht ganz entschlagen konnten, zeigten sich entschlossen, dem Befehl des Hohen Rates ohne Murren sich zu fügen.

Denn jeder sah ein, daß es wenigstens nach außen hin jetzt keine zwei Meinungen geben und niemand mehr etwas anderes sein dürfe als ein willenloses Glied jener eisernen Kette, durch die der Schiffsmeister das Steuer in Bewegung setzt, um die Richtung des Fahrzeugs zu bestimmen.

Es war auch nicht Vorsorge gegen zu befürchtenden Widerstand, nur die Absicht, den feierlichen Anlaß besonders zu betonen, was den Hohen Rat bestimmt hatte, militärisches Geleit zu beordern. Dieses, teils beritten, teils zu Fuß, bestehend aus libyschen Söldnern unter der Führung kartchadischer Offiziere, hatte inzwischen den geweihten Raum entlang, den niemand in Waffen betreten durfte, Aufstellung genommen. Der Befehlshaber forderte unter Berufung auf Magos, des Bruttiers, Geheiß die Jünglinge auf, den Schutz der Gottheit zu verlassen und sich reihenweise aneinanderzuschließen.

Man neigte, vom Hohenpriester Abschied nehmend, nach alter phoinikischer Sitte das Antlitz tief zur Erde und formte den Zug. Der Hipparch zu Pferde, in glänzendster Prunkrüstung, weil im amtlichen Auftrag als Vertreter der Jahres-Richter anwesend, die man Schofeten nannte, ritt an der Spitze einer Zehnschaft schwerer Reiterei voraus. Lanzenträger zu Fuß reihten sich zu beiden Flanken, berittene Schützen bildeten das Gefolge.

So bewegte sich der Aufzug die Plattform am Fuß der Tempeltreppe entlang und die steilgewundene Straße hinab, die vom Burghügel gegen die innere Stadt führte.

Das enge, noch abschüssige Gäßchen, in das sie unten einmündete, war fast menschenleer. Hier hausten in den ebenerdigen Gelassen der sechsstöckigen Häuserzeilen betriebsame Handwerker, die Kupferschmiede, die Zeug- und Grobschmiede, die Klempner, Gürtler, Gold- und Silberkünstler. Aber alles hatte an diesem Tage die Arbeit im Stich gelassen, um nach dem Hafen zu drängen. Erst wo das Schmiedegäßchen in den Markt mündete, stieß man auf die Menschenmauer.

Ein paar Augenblicke gab es eine Stockung. Bald aber ward wieder einmal offenbar, daß, wo die Notwendigkeit gebietet, auch das Unmögliche möglich wird.

*

Wie der Keil ins Holzscheit drang die Spitze des Zuges in die Volksmassen ein. Und die pfeilgerade Straße, die sich mitten durchs scheinbar undurchdringliche Gestrüpp von Menschenleibern auftat, hatte genau die Breite, die sich die Vorausreitenden erzwangen.

»Seht den Hipparchen! Gleicht er in seiner goldenen Rüstung nicht Milkart, der auf kriegerische Taten auszieht?«

»Meinetwegen könnt' er's gerne tun. Ein Krieg wäre mir immer noch lieber als eine Niederlage ohne Krieg.«

»So ein Wort solltest du dir zweimal überlegen, Freund! Mit dem numidischen Löwen ist es zwar auch kein Spaß gewesen; aber mit dem römischen Adler – da könnt' es dem Einhorn an den Kragen gehn!«

»Pah, es kommt nie so schlimm, wie es aussieht. Und was nützt uns ein fauler Friede, der Handel und Wandel unterbindet? Krieg mit Rom frißt Leder, der Geschäftsmann will auch leben.«

»Also den Gerbern zu Gefallen sollen wir mit Rom anbinden?«

»Irgendwem zu Gefallen wird ein Krieg immer geführt, warum nicht auch einmal den Gerbern zulieb? Es wäre nur recht und billig, denn gerade den Gerbern haben die ewigen Katzbalgereien in Libyen Schaden genug zugefügt.«

»Jedem Geschäftsmann ohne Ausnahme haben sie Schaden zugefügt.«

»Dem Gerber aber den größten, denn woher soll er seine Rohhäute beziehen, wenn nicht aus dem Hinterland? Darum mein ich immer, mit dem numidischen Löwen müßte eine wahrhaft volksfreundliche Regierung sich vertragen, dann könnte das punische Einhorn gemeinsame Sache mit ihm machen – gegen den Adler!«

»Sag' das nicht zu viel herum, rat' ich dir, sonst läßt der Bruttier dich noch ausweisen!«

»Das möcht' ich sehen! Ich bin ein freier kartchadischer Bürger und sage, was mir gutdünkt!«

Es war der Gerber Juba aus der Vorstadt Magara, der so sprach, und den meisten von den Handwerkern und Handwerkersfrauen, unter denen er stand und die zum Teil libyscher Herkunft waren, leuchteten seine Worte ein. Andere freilich waren entgegengesetzter Meinung und hätten unter gewöhnlichen Umständen widersprochen. Jetzt aber ließ die Schaulust niemandem Zeit, sich in politische Zänkereien zu verlieren.

Alles stellte sich auf die Fußspitzen und reckte die Hälse.

*

Die Gewaffneten, die den Zug begleiteten, drängten mit Schild und quergehaltenem Speer die Menschen zur Seite, damit nicht gleich hinter den Reitern die Wogen wieder zusammenschlügen.

Ein Gemurmel schwebte über der gaffenden Menge. Wer Namen und Herkunft des einen oder andern von den Geiseln zu nennen wußte, gab seine Kenntnisse zum Besten. Die Weiber waren voll Mitleids mit dem jungen Blut, das dem unsichern Schicksal der Fremde überantwortet werden sollte, sie bewunderten die Schönheit der vorbeischreitenden Gestalten und die erlesenen Gewänder, in die sie gekleidet waren. Die Männer hingegen richteten ihre Aufmerksamkeit mehr auf die öffentliche Stellung und Parteizugehörigkeit der Familien, die ihre Söhne hinzugeben im Begriffe standen.

»Wer ist der Jüngling im langen safranfarbenen Kleid, der wie ein Bild auf kyrenischen Vasen aussieht?«

»Der mit den Ohrringen? Das ist ein Sohn des Blanno Tigillas, des größten Grundherrn im Hinterland!«

»Römling?«

»Wie die meisten großen Landbesitzer in Libyen.«

»Und der Knabe an seiner Seite, den man fast für ein Mädchen halten könnte?«

»Ein Sohn Himilkos, des gewissen Himilko – du erinnerst dich?«

»Himilko –?«

»Himilko Phameas, derselbe, der vor kaum zwei Jahren, als noch die Volkspartei am Ruder war, mit andern Anhängern Masinissas für ewige Zeiten aus dem Staatsverbande ausgestoßen wurde.«

»Die Ewigkeit war zum Glück nicht von langer Dauer,« spottete einer der Umstehenden.

Er gehörte zu denen, die den Frieden um jeden Preis erhalten wissen wollten. Malchas mit Namen und Schiffsreeder seines Zeichens, erblickte er in einem freien, ungefährdeten Meer die erste Vorbedingung für das Gedeihen der Stadt.

Jarbas, ein herabgekommener, aber glühend vaterländisch gesinnter Kleinbürger, geriet über seine Bemerkung in Wut.

»Das Volk selbst, diese Qualle, die jede Gestalt annimmt, die dem Klüngel gerade genehm ist, trägt schuld daran! Denn wo sind die heiligen Eide, die wir dem Hohen Rat damals schwuren? Verpflichteten wir uns nicht einmütig, die Verbannten, die offen die Einverleibung der Stadt unter die Hoheit Numidiens anstrebten, nie wieder aufzunehmen und nicht einmal einen Antrag auf ihre Zurückberufung jemals zu dulden?«

»Den Göttern Dank,« fuhr Malchas fort ihn herauszufordern, »daß das Volk nur so kurze Zeit benötigte, um klüger zu werden!«

»Ist es nicht eine Schmach?« schrie Jarbas, beide Arme nach der Richtung, wo die Geiseln vorüberzogen, in die Luft werfend. »Unsre eignen Soldaten verschleppen sie! Sollte man doch meinen, es wären Kriegsgefangene, die eingebracht würden! Und das alles, um vor den Römern zu katzbuckeln! Eine schöne Republik das, von einer wurmstichigen Adelssippschaft beherrscht, die kein Herz fürs Volk und kein Verständnis für seine Bedürfnisse hat! Ich bitte! Ich bin einmal ein vermöglicher Mann gewesen, noch vom Vater und Großvater her Besitzer einer Tonwarenfabrik von wohlbegründetem Ruf. Ganze Schiffsladungen kartchadischer Amphoren lieferte einst unser Haus Jahr für Jahr nach Iberien. Aber seit die beiden Hispanien abhängige Römerlandschaften geworden, begünstigen die Zölle die Konkurrenz dermaßen, daß man eben nicht mehr mitkommt. Kampanische Ware machte uns den Boden streitig, mit jedem Jahr ging das Geschäft zurück, bis es gänzlich zugrunde gerichtet war. Heißt das umsichtige Politik machen? Wie können wir jemals wieder auf einen grünen Zweig kommen, unsre Waren ausführen und unsre alten Handelsbeziehungen wieder aufnehmen, wenn wir nicht endlich einmal den Römern die Stirn bieten und ihnen zurufen: Bis hierher und nicht weiter? Oder soll ich vielleicht von den paar hundert wohlfeilen Tonlampen leben, die ich nach Numidien absetze? Aber was kümmert das die ansehnlichen Herrn, die die obersten Verwaltungsstellen und den Rat gepachtet haben! Ihnen geht ja nichts ab auf ihren libyschen Großgrundbesitzen, das Regieren bereitet ihnen wenig Sorgen, sie tun's ohnedies nur so nebenher mit dem kleinen Finger, wenn sie grade nach Kart-Chadast herein kommen, um sich zur Abwechslung auch mal in der Stadt ein bißchen zu unterhalten. Dafür ist es aber auch danach! Schlappe über Schlappe, Reinfall über Reinfall! Und auf die Wunden, die die Einsichtslosigkeit der Staatsmänner dem Volkskörper schlägt, muß dann jedesmal wieder wie jetzt ein Fetzen punischer Ehre als Pflaster aufgelegt werden!«

Wie er in den Wald rief, hallte es daraus wider. Hatte er mit Schmähungen nicht gespart, so bekam er nun selbst solche zu hören. Drohend geballte Fäuste wurden ihm unter die Augen gehalten.

»Stillgeschwiegen, Kriegshetzer, oder ich bringe dich vors Gericht!« herrschte ein beim Rat angestellter Schreiber namens Mänon ihn an, der für seine Brotgeber einzutreten sich verpflichtet fühlte.

Und Malchas, der Schiffsreeder, der im stillen zu der Annahme neigte, daß die Amphoren des Jarbas schon auch selbst ein bißchen daran schuld sein mochten, wenn sie gegen kampanische Ware sich nicht hatten behaupten können, wendete sich, ermutigt durch den entschlossenen Vorstoß des Beamten, an die Umstehenden, auf die Demokraten schimpfend, diese Gesinnungsprotzen, wie er sie nannte, die mit dem gesamten Um-und-auf ihrer Gedanken noch immer in die Zeit Hannibals verbohrt seien und blind gegen die tatsächlichen Verhältnisse mit dem Schädel durch die Mauer wollten!

Doch fand er nur vereinzelt Zustimmung. Eine Gruppe von zweifelhaften Gestalten, Hafenarbeiter, Lungerer, Radaubrüder aus dem städtischen Pöbel, der nichts zu verlieren hatte, ergriff offen für Jarbas Partei.

»Recht hat er! Eine Schmach ist es! Volksverrat! Bestochen sind diese Römlinge! Wir lassen uns nicht verkaufen! Nicht an den Erbfeind verkaufen!«

Und indem sie zu drängen und zu schieben begannen, um ein Getümmel hervorzurufen und eine Balgerei ins Werk zu setzen, brüllten sie laut über die Menge hin: »Nieder mit Rom! Nieder mit dem Bruttier! Nieder die Verräter!«

Da klang eine langgezogene Fanfare vom Hafeneingang her. Vielleicht nichts als ein soldatischer Ehrengruß, den Herannahenden entgegengesendet, aber wie gemacht, die Gärungen zum Stillstand zu bringen, in die die Volksstimmung nicht nur an dieser einen Stelle überzugehen drohte. Denn noch größer als Parteisucht und die Lust am Unruhestiften war schließlich doch die Neugier.

Abermals streckte sich ein jeder, soviel er konnte, niemand mehr hatte jetzt Aug' noch Ohr für irgend etwas andres übrig als für den Zug der Geiseln und das glänzende kriegerische Geleit, das ihn, langsam, aber doch stetig vom Fleck rückend, durch die unabsehbaren Menschenfluten steuerte.

*

Nicht allzu weit von dem bewachten Tor, das vom Marktplatz durch die Umfassungsmauer des Kothon führte, hatte ein kleiner, hagerer, grauer Kerl sich ziemlich weit vorne einen Platz zu erobern gewußt, doch konnte er keinen Vorteil daraus ziehen; denn immer noch benahmen vier oder fünf Reihen von Vordermännern ihm die Aussicht.

Es war Pinarius, ein geborener Italiker, aber seit vielen Jahren als Händler in Kart-Chadast ansässig. Kein Zwerg, nur ein schmächtigeres Exemplar einer Rasse, die an sich schon schmächtiger war als die punische und libyphoinikische, sah er sich wie ein zu kurz geratener Halm im Gerstenfeld rings von hochgeschossenen Genossen umgeben. Sogar die Tochter seines guten Bekannten, des Grobschmieds Hirom, die neben ihm stand, überragte ihn um Haupteslänge.

Freilich war Channa schlank gewachsen wie eine Palme, und das reiche Haar, rötlich blond wie das der libyschen Stämme an der Kleinen Syrte und nach altphoinikischer Art geflochten und aufgesteckt, ließ sie noch größer erscheinen, als sie war. Denn wie eine hohe Weibermütze aus dem fernen Osten, der Urheimat des punischen Volks, baute es sich steil über Stirn und Schläfen auf, daß das strahlenäugige junge Mädchen fast dem Bilde Tanits, der Schutzgöttin der Stadt, glich, wie es auf Münzen und kleinen Tonfetischen oft wiederkehrte, mit der Krone geschmückt, die manchmal einen Haarkranz, manchmal eher eine phoinikische Kopfbedeckung, manchmal wieder eine Mauerkrone vorzustellen schien.

Der kleine hagere Handelsmann, der das schöne hellfarbige Kind hatte aufwachsen und schließlich über sich hinauswachsen sehen, blickte aus seiner Versenkung so ausdauernd und sehnsüchtig zu seiner Nachbarin auf, daß man beinahe versucht gewesen wäre, ihn für einen unglücklich Liebenden zu halten, hätte sein alter verhutzelter Kopf mit dem noch dichten, aber bereits silbergrauen Stoppelfeld einer solchen Annahme nicht widersprochen.

Übrigens deuteten auch die Worte, die er von Zeit zu Zeit an seine junge Freundin richtete, auf nichts weniger als auf Verliebtheit. Vielmehr stand die Sache so, daß Pinarius von dem, was da draußen vorging und was ihm selbst verborgen blieb, aus den Mienen des Mädchens wenigstens einen schwachen Widerschein zu empfangen hoffte. Das Staunen, das Mitleid, das Bedauern, die Bewunderung, alle Gemütsbewegungen, die sich auf ihrem Antlitz spiegelten, mußten ihm eigenes Erleben ersetzen und ihre mündlichen Auskünfte sein Vorstellungsvermögen unterstützen. Darum quälte er sie unablässig mit Fragen, was es jetzt gerade wieder Neues zu sehen gebe? Ihre Antworten konnten ihm nicht ausführlich genug sein, sie dienten ihm als dürftige Lückenbüßer für die Befriedigung der eigenen Schaulust, die ihm versagt blieb.

»Was siehst du nun? Warum machst du ein so betrübtes Gesicht?«

»Ach, es tut mir leid um diesen Knaben. Wie kann man einen Halbwüchsigen in die Fremde schicken!«

»Kennst du ihn?«

»Ich glaube ihn einmal gesehen zu haben, ganz zufällig, im Palast Hasdrubals, des Widders, wo ich eine Botschaft des Vaters zu bestellen hatte. Er ist ein Söhnchen des unglücklichen Feldherrn, dünkt mich, darum wohl hat man ihn zu den Geiseln gesellt.«

Ein Mann mit blauen Händen und Armen bis über die Ellbogen hinauf wendete sich herum und sagte hämisch: »Geschieht ihm recht! Sollen nur mal auch die Vornehmen dran! Und wenn einer es verdient, so ist's der Widder. Hätte er nicht mit den Numidern angebunden, so könnte er noch heute im Wohlstand sitzen und sein Söhnlein zu Hause behalten.«

»Eschmuns Fluch!« wetterte Hirom, der Schmied; »das ist doch kein Ziel für einen großen Mann, wie der Frosch im Tümpel sitzen! Sollten wir uns vom alten Masinissa gutwillig die Haut über die Ohren ziehen lassen?«

»Ich sage immer, Rom ist nicht nur mächtig, es ist auch gerecht, es hätte die Abwehr der Numider schon selbst übernommen!« beharrte der Färber Maolan, seinen blauen Zeigefinger in der Luft schwenkend. »Das ewige Ans-Schwert-Schlagen und Mit-dem-Wehrgehenk-Rasseln, das ist es, was die Römer gegen uns aufbringt. Warum halten wir überhaupt noch Söldner? Wer soll dann an unsre Friedensliebe glauben?«

»Also, da hör' einer den Stumpfsinn! Ist's nicht rein, um auszuwachsen? Kein Land der Welt gibt's, das nicht auf seine Wehrhaftigkeit bedacht wäre, und gerade bei uns soll's eine Herausforderung sein, daß wir Söldner halten!«

»Das Unrecht ist ja bekanntlich immer auf unsrer Seite!« höhnte einer der Umstehenden.

»Und sogar Kartchader gibt's,« sagte ein gewisser Elym, ein übermäßig hagerer, langer Mensch von schwer zu bestimmendem Alter, den Färber mit finstern Blicken messend: »Eingeborene Kartchader sogar, die den Spruch willfährig nachbeten, wir trügen Schuld an allem, niemand sonst als wir! Wir allein seien die Wölfe, alle andern, besonders die Römer, die reinen Lämmlein dagegen!«

»Ein unechter Kerl von vornherein, wer keine Eigengesinnung hat!«

»Wer kann mir das nachsagen?« schrie Maolan erbittert. »Mein Standpunkt ist ein sachlicher, ich lasse auch dem Gegner Gerechtigkeit widerfahren, das ist alles!«

»Die Mutter ist mehr als jedes andre Weib,« sagte Elym, der Seiler, »laß nur erst ihr Gerechtigkeit widerfahren, dann bist du sachlich genug!«

»Unausgesetzt rüsten die Römer Heere und Flotten,« grollte Hirom empört; »sie unterjochen allgemach die ganze Welt, und bei uns heißt es ans Schwert schlagen, wenn wir uns nicht ohne weiteres einstecken lassen! Soll doch Milkarts Glut die Zunge dörren, die solches Zeug schwatzt!«

»Bei keinem andern Volk kommt das vor,« schrie ein anderer wütend, ein junger Heißsporn namens Dubar; »bei keinem andern Volk der Erde, daß sich in den eigenen Reihen immer wieder Leute finden, die sich den Kopf darüber zerbrechen, das Unrecht der Feinde in Recht umzufälschen!«

»Was wollt ihr? Das Um-Um-Umfälschen gehört bei ihm zum Geschäft. So ein Färber gibt so lange Ker-Ker-Kermeswurm für Purpur aus, bis er schließlich selbst nicht mehr weiß, was echt ist und was nicht.«

Ein wohlgenährter und stark geröteter Mann war es, der also spottete, Nampon, Weinhändler seines Zeichens. Der Färber Maolan aber wußte ihm den Hieb schlagfertig zurückzugeben, indem er sich mit einem verschmitzten Lachen gegen die Nebenstehenden wendete und über die Schulter zurück anzüglich auf den Weinhändler deutete.

»Wenn die Augen meiner Kunden so stumpf wären wie der Gaumen der seinigen, so brauchte ich nicht einmal Ker-Ker-Kermes zu meinem Purpur tun. Es würde genügen, wenn ich bloß Wasser hineinschüttete, wie er in seinen Wein.«

Nampon, der nach einer ebenso schlagfertigen Antwort suchte, fand in seinem Ärger nicht gleich die richtigen Worte. Stotterer, der er war, versagte ihm im entscheidenden Augenblick die widerspenstige Zunge. So hatte der Färber jetzt die Lacher auf seiner Seite. Der Weinhändler wurde vorübergehend zum Stichblatt mehr oder minder harmloser Witze, und Maolan begnügte sich mit dem leicht errungenen Scheinerfolg.

Er war froh, die Aufmerksamkeit von sich abgelenkt zu sehen, und hütete sich wohlweislich, seinem angeblichen Gerechtigkeitsgefühl noch einmal die Zügel schießen zu lassen.

*

»Was sieht man nun? Kommen neue Geiseln vorüber?« fragte Pinarius zu Channa hinauf.

»Der größere Teil des Zuges ist durch das bewachte Tor bereits verschwunden.«

Da malte sich etwas wie hilflose Betrübnis auf des kleinen Mannes Zügen; denn immer noch hatte er im stillen darauf gerechnet, doch schließlich irgendwie Augenzeuge jener Vorgänge zu werden, die voraussichtlich einen bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte der Stadt einleiteten.

Als aber das Mädchen ihren Worten noch die Bemerkung hinzufügte, eine Reiterabteilung, die offenbar den Beschluß bilde, tauche eben von der Seite des Schmiedegäßchens her auf, glaubte Pinarius daraus schließen zu dürfen, daß doch noch nicht aller Tage Abend gekommen sei, und noch einmal belebten sich seine Hoffnungen.

Wie viele ungefähr von den Geiseln noch zu sehen wären? erkundigte er sich gespannt. Und ob sich vornehme Jünglinge darunter befänden, die man kenne? Und ob sie erhobenen Hauptes dahinschritten, oder einen gebeugten und gedemütigten Eindruck machten?

Das alles hätte er gerne gewußt.

»Einer ist darunter,« sagte Channa wie gebannt, »ein Hochgewachsener, wie ein Bild aus Erz ... mit schwarzen Locken ...«

»Ist er schön? Vornehm gekleidet?«

»Mehr als beides! Wenn man sich den Geist, der der Sage nach seinen Atem in das Nichts hauchte, um es in Ordnung und Schönheit umzuwandeln, in menschlicher Gestalt vorstellen könnte, so müßte er ihm gleichen.«

Fast in demselben Augenblick hörte man einen von den Nebenstehenden fragen: »Wer ist jener königliche Jüngling, der zweite in der Reihe, die sich eben nähert?«

Und der Angeredete sagte: »Das ist Hanno, aus dem Geschlecht der Barkiden, der letzte seines Stammes.«

Da stellte Pinarius, der alles Bemühen, über seine Vordermänner hinwegzusehen, längst als fruchtlos erkannt und darum aufgegeben hatte, sich abermals auf die Fußspitzen und verrenkte sich fast den Hals, aber leider nur, um neuerdings zur Einsicht zu kommen, daß es nach wie vor nichts nützte, und daß ein Knirps bleibt, wer es von Haus aus ist.

»Laßt mich ihn sehen!« jammerte er. »Bückt euch, ihr da vorne, nur für ein paar Augenblicke bückt euch, daß ich den Barkiden sehe!«

Aber niemand beachtete sein Flehen, und die wenigen, die es überhaupt hörten und sich umwendeten, lachten, als sie das schmächtige Männlein erblickten, spöttelten über seine Gestalt und machten sich lustig über die Zumutung, die es an sie stellte. Channa indessen empfand Mitleid mit dem Verhöhnten und sagte zu Hirom, dem Grobschmied, der in ihrer Nähe stand: »Hilf ihm, Vater!«

Und gerade das war es nun, was Hirom, sonst ein ungeschlachter Mensch und Dickhäuter, unter keinen Umständen zuwege bringen konnte: seinem Töchterchen einen Wunsch versagen. Nicht ohne Mühe zwängte der massige Mann sich bis zu Pinarius durch, stand wie ein Koloß neben dem kleinen Italiker und drehte ihm den Rücken.

»Steig mir auf den Buckel, Sohn der Wölfin,« sagte er gutmütig lachend, während er sich auf ein Knie niederließ, ihn huckepack zu nehmen.

Pinarius aber hörte nicht gern seine italische Abstammung erwähnen, am wenigsten hier, inmitten einer erregten Menge und bei dieser Gelegenheit.

»Was sprichst du da, wertester Freund!« flüsterte er ihm ängstlich und entsetzt ins Ohr, die Arme um den Stiernacken des Schmiedes schlingend. »Warum nennst du mich Sohn der Wölfin? Weißt du nicht, daß ich seit bald zwanzig Jahren Bürger dieser Stadt bin?«

»Bleibst darum doch der Pinarius!« sagte der Schmied und erhob sich.

Da war der Kleine auf einmal ein Riese geworden und konnte spielend über die Köpfe der andern hinwegsehen. Eifrig ließ er sich erklären, welches der Barkide sei, und bedauerte, ihn nur mehr vom Rücken aus erblicken zu können. Denn dieser war bereits vorüber und näherte sich dem Hafentor. Die letzten der Geiseln folgten ihm, und bald entzog die Nachhut der Reiter ihn den Blicken der Menge.

Solange es überhaupt noch etwas zu sehen gab, durfte Pinarius auf des Grobschmieds Rücken hucken bleiben, dann ließ dieser ihn wieder zur Erde gleiten.

»Wie hat er dir gefallen?« fragte er belustigt.

»Oh, oh – ein schöner Jüngling, auch von hinten! Ein Barkide! Man sieht es auf den ersten Blick! Ein Barkide!«

Die Umstehenden lachten. Schon die etwas harte Aussprache des Italikers, seine überschwengliche Ausdrucksweise, sein tolles Mienenspiel und die überlebhaften Bewegungen, mit denen er jedes Wort unterstrich, mußten einen Punier fremdländisch anmuten und zum Lachen reizen. Einige aber hielten es für nötig, dem Vorfall auch eine ernste Seite abzugewinnen, und machten dem Schmied Vorwürfe, wie er dazu komme, sich in einem solchen Augenblick völkischer Entwürdigung eines römischen Bürgers anzunehmen.

Unwirsch antwortete Hirom: »Laßt mich in Frieden! Das Obst- und das Schmiedegäßchen liegen knapp nebeneinander, wir sind Nachbarn. Übrigens würd' ich, wenn ich könnte, am liebsten ganz Italien auf den Rücken nehmen, um ihm zu zeigen, daß wir trotz allem noch einen Barkiden haben!«

»Was nützt es uns, wenn wir ihn ausliefern?«

»Aber ich bin doch kein römischer Bürger! Ich kann es nachweisen! Kommt in meinen Laden, ich zeig' euch die Urkunden!« verteidigte sich Pinarius, die Angst in allen Gliedern.

Um nur ja keinen Verdacht gegen seine Gesinnung aufkommen zu lassen, beteuerte er mit vielen Worten, sein Herz sei von jeher kartchadisch gewesen, ihnen beflissen vorrechnend, wieviel an Steuern seine Geschäfte dieser Stadt, mit der er seit Jahren Freud und Leid teile, schon eingebracht hätten.

»Du zahlst mit Geld, wir zahlen mit Blut!« sagte einer.

Und ein anderer fügte hinzu: »Das Zehnfache hättest du dafür zahlen müssen, daß du als Römer überhaupt unter Puniern leben darfst!«

Da merkte Pinarius mit wachsender Besorgtheit, daß man ihm seine Herkunft auf keinen Fall verzeihen würde, er mochte reden, soviel er wollte. Rasch umsattelnd flüchtete er ins Weltbürgertum: »Als Römer unter Puniern – sagst du? Als Bruder unter Brüdern, müßtest du sagen! Denn Römer oder Punier – was ist das? Hört alles jetzt auf! Gibt es nicht mehr! Nur Freunde noch, nur Kameraden, nur Menschen! Man wird die herrlichen Jünglinge in Lilybaion wie Prinzen empfangen. Und immer wird Friede sein zwischen den beiden großen Völkern, immer Friede, nichts als Friede! Ein einziges großes Menschenvolk! Friede und Eintracht, ewig zwischen Rom und Karthago!«

»Karthago –? Wo liegt dieser Ort? Wir kennen ihn nicht!« höhnte man ihn. »Nur die Römer sprechen von einer Stadt, die angeblich so heiße. Oder sollte am Ende doch noch so viel Römerblut in dir vorhanden sein, daß du deine Vaterstadt noch nicht einmal mit ihrem richtigen Namen zu benennen gelernt hast?«

Abermals Gelächter. Einer fragte: »Wieviel Talente legst du dir bei uns zurück im Jahre, waschechter Punier?«

Und ein anderer spottete: »Er ist ja kein Punier mehr, er ist bloß noch Mensch! Erst wenn der große Geldsack voll ist, wird er plötzlich wieder Italiker sein und sich drüben zur Ruhe setzen!«

Weinerlich, fast sinnlos vor Angst, weil er merkte, daß er sich immer heilloser verwickelte, beteuerte Pinarius, mit dieser Stadt (die er nun bei ihrem richtigen Namen nannte) und ihrem Boden verwurzelt zu sein wie eine Eiche, die man fällen, aber in kein andres Erdreich mehr versetzen könne. Und hielte sein Herz und die Anhänglichkeit an das punische Volk ihn nicht hier fest, so hätte er sein Geschäft – darauf schwur er die heiligsten Eide – längst aufgegeben! Denn bei den schlechten Zeiten arbeite er eigentlich nur mehr für den Steuersäckel, selbst verdiene er kaum das tägliche Brot dabei! Und das sei wahr, so wahr, wie daß er hier stehe, und wer es nicht glauben wolle, dem sei er bereit, es aus seinen Büchern jeden Augenblick nachzuweisen!

Nun wußte zwar jeder, der ihn kannte, daß Pinarius in aller Stille tatsächlich Reichtümer ansammelte, indem er von seiner unscheinbaren Schreibstube im engen Obstgäßchen aus seit Jahren einen schwunghaften Handel mit Palmöl und Granatäpfeln betrieb, Güter, die er durch libysche Mittler in den Oasen des Südens aufkaufen ließ, um sie in ganzen Schiffsladungen nach Italien auszuführen. Aber niemand widersprach ihm mehr. Man verstand es schließlich, daß er verdienen wollte und den Mantel nach dem Wind hing. Und im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs hatte auch niemand mehr Lust zu müßigem Gerede. Man nahm sich keine Zeit, sich noch länger mit ihm abzugeben, ein jeder dachte nur noch an sich selbst.

Denn alles verließ jetzt seine Plätze und kam in Bewegung.

Die Neugierigsten und Kecksten unternahmen noch allerlei Versuche, ins Innere des Kothon vorzudringen – vergebens. Das Wacheaufgebot am Hafeneingang ließ niemand mehr durch. Da machten sie kehrt und stürmten durchs Obst- und Schmiedegäßchen und durch die gleichlaufende Fischerzeile die verschiedenen Wege zur Bosra hinauf, um von oben wenigstens aus der Ferne die Vorgänge bei der Einschiffung zu beobachten.

Der größere Teil des Volkes hingegen, froh und schon zufrieden damit, nur überhaupt etwas gesehen zu haben, zerstreute sich nach allen Seiten hin durch die Stadt. Lebhaft die gewonnenen Eindrücke besprechend und erregt ihre Meinung austauschend, sah man die Leute in kleineren oder größeren Gruppen nach Hause wandern, in ihre Wohnungen, in ihre Werkstätten, an ihre friedliche Arbeit zurückkehren.

Und allmählich nahm das äußere Bild der Stadt mit ihren Plätzen, Straßen und Gäßchen wieder sein gewohntes alltägliches Aussehen an.

*


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