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IX.

In derselben Nacht jagte ein Reiter die Straße entlang, die aus der Richtung von Utik-Chah und Castra Cornelia gegen die Stadt führte. An der großen Biegung, wo der mit Brackwässern durchsetzte Meerbusen sich beinahe bis ans bewaldete Hügelgelände ins Festland drängte, knapp hinter dem elenden, nur aus wenigen Rohr- und Binsenhütten bestehenden Fischerdörfchen Gara, machte er halt.

»Von hier zum See von Tunes hinüber,« überlegte er, »sind es kaum anderthalb Stunden Weges. Eingeschnürt zwischen zwei Gewässern, streckt die schmale Landenge sich wie ein schlanker Giraffenhals gegen das freie Meer vor. Und der Schädel des Tieres ist Kart-Chadast mit seinem Vorort Magara. Ein Belagerer der Stadt würde aus dieser Bodengestaltung Vorteil zu ziehen suchen. Und der Verteidiger müßte es verstehen, aus der Not eine Tugend zu machen...«

Fern am Himmelsrand über dem Meere flackerte ein Wetterleuchten auf, eine ganze lange Kette von rasch einander folgenden Entladungen. Um die Schattenrisse einer Schar langbeiniger Flamingos, die noch in der Nacht in den Untiefen umherwateten, zuckten die fahlen Flammen des Widerscheins aus der weiten brackigen Wasserfläche, die sich tot und bleischwer vor seinen Augen dehnte, ungebrochen vom stärkeren Wellenschlag der offenen See.

»Fürchterliche Gewitter steigen auf!« sagte er halblaut vor sich hin. »Nicht ein einziger Lichtpunkt am düster verhängten Himmel!...«

Und sein Tier wieder in Gang setzend, ritt er weiter, in tiefes Nachsinnen versunken. Er hatte die Zügel zum Knoten geschlungen und überließ das jetzt langsam im Schritt gehende Pferd sich selbst, völlig damit beschäftigt, die militärischen Gedanken planvoll zu entwickeln, die das heimatliche Gelände mit seinen Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten in ihm angeregt.

Die Lage der Stadt auf einer sich jählings verbreiternden Halbinsel erschwerte ohne Zweifel den Aufmarsch eines feindlichen Heeres nicht unbeträchtlich. Die Abschnürung gegen die Landseite konnte leicht Anschoppungen der Angriffstruppen zur Folge haben, ihre freie Bewegung hemmen, die Regelmäßigkeit der Nachschübe gefährden. Sie verlangsamte das Heranbringen des Belagerungsparkes und bedeutete geradezu eine Gefahr, wenn etwa nach einem abgeschlagenen Sturm auf die Mauern ein kräftiger Gegenstoß den Angreifer auf die Landenge zurückwarf. Dennoch überwogen, wenn aufseiten der Römer ein behutsamer und umsichtiger Feldherr die Kampfhandlung leitete, für den Verteidiger die Nachteile. Insbesondere einer fiel schwer ins Gewicht. Bei seiner geringen Breite von kaum fünfundzwanzig Stadien ließ nämlich der Isthmus sich mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand von Kräften vollständig absperren. Dann saß man in der Mausefalle. Der Verkehr der Stadt mit dem Hinterland war unterbunden, die Versorgung mit Lebensmitteln nur mehr von der Seeseite her möglich. Und da die feindliche Flotte außer den Hunderten von anderthalbrudrigen leichten Schiffen, von unbedeckten Hilfsschiffen und Frachtfahrzeugen über mindestens fünfzig trefflich ausgerüstete Penteren verfügte, so ließ sich leicht absehen, wie bald die Aushungerung gelingen mußte. Keine Tapferkeit, kein Opfermut waren dann imstande, den unvermeidlichen Zusammenbruch aufzuhalten...

Wie er es auch drehte und wendete, das Ergebnis aller Überlegung gipfelte schließlich in Trostlosigkeit. Es gab wirklich keine Rettung mehr. Selbst das kühne Wagnis, das Volk ohne Unterschied der Parteien trotz der erfolgten Auslieferung der Waffen noch in letzter Stunde zu verzweifeltem Widerstand zusammenzuscharen, mußte aussichtslos bleiben. Der Untergang der Stadt war besiegelt, dagegen half kein Sträuben!

Die Straße führte jetzt einen ansteigenden Hain mächtiger Edelkastanien entlang, der durch die an seinem Rande entspringende Quelle geheiligt war. Abermals zog der Reiter die Zügel an. Der Ort war ihm vertraut, trotz der Dunkelheit bereitete es ihm keine Schwierigkeit, die Stelle aufzufinden, wo das Wasser rieselte. Er schwang sich vom Pferd und ließ es trinken. Schwer fiel es ihm aufs Herz, daß das punische Volk nicht einmal mehr seine Gottheiten zu schützen imstande sein würde. Denn nicht lange, so mußte auch diese gütige Göttin, die die erquickendste Labe weit und breit im Lande spendete, in die Gewalt des Feindes geraten.

Den Helm abnehmend und mit der Rechten sich am Widerrist seines treuen Tieres festhaltend, neigte er sein Haupt todmüde auf die wollene Decke, die ihm nach numidischer Gepflogenheit statt eines Sattels diente. Die Anstrengungen des Tages, die durchgemachten Gemütserschütterungen, vor allem aber die klare Einsicht in die Ohnmacht alles Wollens hatten eine völlige Erschlaffung seiner Sinne herbeigeführt, der er sich widerstandslos überließ. Er schloß die Augen. Eingesponnen in einen dumpfen Traumzustand halber Bewußtlosigkeit, wünschte er nichts mehr, als schlafen zu können. Aber in bunter Folge jagten Einfälle, Erinnerungen, Wahnbilder wirr durch sein abgemartertes Gehirn...

Zum Greifen deutlich sah er seinen Oheim, den Fürsten Gulussa, vor sich, wie er tückisch sein Schildkrötenhaupt hin und her bewegte: »...Rom ist klug, ihr aber seid große Kinder...«

»...Meine Skarabäen bannen böse Geister,« sagte Nanai, »in deiner Nähe jedoch bedarf ich ihrer nicht...«

Der Gedanke an die Geliebte überflutete ihn mit wehmütiger Empfindsamkeit.

»O holde Nanai, könntest du ahnen, wie es um mich steht! Selbst das Zauberschutzmittel deiner Angehenke wäre jetzt ohnmächtig, die Dämonen der Finsternis zu bannen, die meine Seele umdüstern!«

»Im Umgang der Völker miteinander,« hörte er Lanassa, seine königliche Mutter sagen, »versteckt sich die Klugheit der Schlange gern hinter das Gurren einer Taube!«

Kein Zweifel, Staatsklugheit konnte den Kartchadern niemand nachsagen. Ihre Politik war ungeschickt, stümperhaft, geradezu selbstmörderisch gewesen. Er dachte: »Wie ganz anders stünde es jetzt um das punische Einhorn, hätten seine Steuermänner den Kurs nicht blindlings gegen die römische Skylla genommen! Wäre die numidische Charybdis nicht vorzuziehen gewesen? Zu spät!... Oder sollte doch noch Zeit sein, die Ruderpinne herumzureißen?«

Unerklärlich, woher das Herz die Ausdauer nimmt, sich an Hoffnungen zu klammern. Nichts ist schwerer zu erschüttern als sein Glaube, und eher gerät die Erde ins Wanken als der Wahn.

Ja, am Ende war trotz alledem noch nicht aller Tage Abend angebrochen?

Da fielen ihm wieder die abgelieferten Waffen ein. Zweitausend Katapulten und zweihunderttausend Rüstungen in der Gewalt des Feindes! Und er selbst der ausführende Arm einer solchen Wahnsinnstat!...

»Nur eins bleibt meinem guten Schwerte noch zu verrichten,« sagte er sich; »ein Stoß ins Herz, erst meinem treuen Rosse, dann mir selbst!...«

Auf dem Stamm einer der Kastanien, die am Wege standen, sah er im Geiste bereits eine gottgeweihte Tafel angebracht, die daran erinnerte, daß an dieser Stelle Hasdrubal, der Sohn Chimalkarts, den man den Numider nannte, sein Kampfroß und hierauf sich selbst getötet habe, weil er den Untergang seiner Vaterstadt nicht überleben wollte...

Und wieder vernahm er die hämische Stimme Gulussas: »... So wird dem punischen Volk nichts übrigbleiben, als seine Parteistreitigkeiten im Reich der Schatten auszutragen!...«

Alles in ihm bäumte sich. So leicht sollte heimtückischer Schlauheit der Wurf gelingen? Noch fühlte er sich von heißem Leben durchpulst. Und trotzig richtete er sich auf, wie verjüngt und erfrischt.

Vielleicht hatte wirklich ein paar Atemzüge lang erquickender Schlaf ihn umfangen? Entschlossenheit und Widerstandskraft waren ihm plötzlich zurückgekehrt. Woher die unerwartete Wandlung? Hatten die im Nachtwind rauschenden Kronen der heiligen Bäume ihm einen erlösenden Gedanken zugeraunt?

Den Helm aufs Haupt drückend, streckte er beide Hände gegen die geweihte Quelle aus. Wortlos schwebte auf seinen Lippen ein feierliches Gelöbnis. Nein! Niemals würde er sie kampflos preisgeben, die Heiligtümer seines Volkes, solange noch ein Hauch von Atem in ihm wäre! Und stand er denn allein? Erzwang sich der Starke nicht Gefolgschaft? Oder hatte sein Wille nicht mehr die Kraft, die Teilnahmslosen zu durchglühen, die Schwankenden und Zaudernden mit sich fortzureißen? Wo doch die Römer selbst ihm dabei zu Hilfe kamen! Richtig genutzt konnte ihr ungeheuerlicher Schurkenstreich auch ein Geschlecht von ungeheuerlichen Maßen zeugen. Denn nun war's offenbar, daß die Götter nur den des Lebens wert erachten, der für sein gutes Recht zu sterben weiß.

War es ein Wunder, das ihm plötzlich die gewohnte Zuversicht wiedergeschenkt? Daß mit einmal Erfolg versprechend schien, was ihn eben noch Wahnsinn gedeucht? Jener andere Hasdrubal war ihm eingefallen, sein Namensvetter, den sie den Widder nannten. Politischer Erbfeind bis dahin und persönlicher Gegner, mußte dieser unversöhnlichste Hasser Roms in diesem Augenblick äußerster Not zum natürlichen Bundesgenossen und bereitwilligen Mitstreiter werden. Wie hatte er vergessen können, daß der in Acht erklärte Feldherr, der gefürchtete »Sturmbock«, mit zwanzigtausend Mann wohlausgerüsteter Truppen in Libyen stand und nur darauf wartete, von der Stadt wieder in Gnaden aufgenommen zu werden, um seinen Krieg gegen die Römer fortzusetzen!

Ganz leicht und froh ward ihm auf einmal zumute. Jetzt wußte er es wieder: Noch war Kart-Chadast nicht verloren! Noch hatte es seine unüberwindlichen Festungswälle! Noch verfügte es über Hunderttausende von arbeitsgewohnten Armen! Waffen und Schleudermaschinen waren nichts als Menschenwerk. Man konnte neue schmieden und bauen. Die Zeit, wo man aus Schwertern Hämmer und Sicheln verfertigen würde, war noch nicht angebrochen! Gerade das Gegenteil tat heute not. Und unvergiftet durch den süßerschlaffenden Mohntrank der weltbürgerlichen Träumer, die die Völker versöhnen wollen, indem sie ihr eigenes preisgeben, würden die Fäuste, die aus Hämmern und Sicheln Schwerter und Lanzenspitzen geschmiedet hätten, die neuen Waffen auch zu gebrauchen wissen! Denn heute galt es nicht, sich mit Redensarten berauschen, heute galt es, sich um das nackte Leben wehren, und man konnte sich wehren! Es war kein aussichtsloses Beginnen mehr, sich zu wehren! Wie sich die Dinge jetzt darstellten, mußte dem Angriff sogar früher der Atem ausgehen als dem Widerstand. Kart-Chadast blieb unbesiegbar!

Denn jenseits des Isthmus von Gara stand der Widder! Arbeitete dieser mit der Besatzung auf den Mauerzinnen einmütig zusammen, dann hatten die Konsuln das Spiel verloren! Dann war ihre Stellung an der Landenge vom Rücken aus bedroht. Dann gab es kein Abschneiden der Lebensmittelzufuhr vom Binnenlande her und kein Aushungern der Stadt. Und dann – dann war, auch wenn Titanen gegen sie angerannt wären, der Widerstand der Festung überhaupt nicht zu brechen!

In hundertfältig gesteigerter Schönheit erblühte ihm zugleich mit den neuen gewaltigen Zielen ein neues Leben. Aufjubelnd schwang er sich auf sein Roß. Und dieses, als sei der Feuergeist seines Herrn ihm stählend in die Muskeln gefahren, flog wie ein Pfeil durch die Nacht dahin, dem brodelnden Unheilkessel von Kart-Chadast entgegen.

*

Als Hasdrubal, der Numider, durchs Tor von Magara einritt, staunte er empört und hielt an.

Den langen finstern Schacht unter der Umwallung hatte er durchquert, unbemerkt, unbehelligt. Weit offen standen die Torflügel. Kein Söldnertrupp, den Eingang zu bewachen. Kein Spähposten auf den Mauerzinnen.

»Torwache!« schrie er. »Leute herbei! Wo ist die Wache?«

In der unfern des Tores gelegenen Schenke regte sich etwas unterm Schatten der Terebinthen. Ein paar waffenlose Söldner, ein paar Landarbeiter torkelten hervor. In benachbarten Gärtners- und Pächtershäusern erschienen Köpfe an den Fenstern. Viele meinten, die Römer seien da.

»Heran!« schrie Hasdrubal. »Wollt ihr saufen und schlafen, statt euch zu wehren? Herbei, wer männlich ist! Ausreißer, wer sich drückt!«

Ein Dutzend verängstigter Gestalten sammelten sich allmählich um ihn, er erkannte auch den Weinhändler und Schankwirt Nampon darunter. Während immer mehr Leute aus der näheren Umgebung zusammenliefen, befahl er: »Die Tore geschlossen! Späher auf die Mauerzinnen! Jeder ist von diesem Augenblick an Soldat. Die Sklaven erkläre ich frei. Sie gelten soviel wie die Bürger und kämpfen an ihrer Seite. Für Waffen werde ich sorgen. Nehmt euch in acht, Leute, und tue jeder seine Pflicht! Ungehorsame und Meuterer lasse ich ans Kreuz schlagen!«

Im Banne seines Willens zweifelte man keinen Augenblick, daß er hier zu gebieten berechtigt und berufen sei. Niemand dachte an Widerspruch. Alle empfanden es fast wie Befreiung, eines eigenen Entschlusses enthoben zu sein und wieder die Hand eines Führers zu spüren, der ihnen sagte, was zu geschehen hätte. Die Torflügel knarrten und schlossen sich donnernd.

»Bei Herannahen des Feindes ist sofort Meldung zu erstatten!« rief Hasdrubal dem bestürzten Nampon zu. »Bis ich einen Offizier mit Verstärkungen sende, bist du mir für das Tor von Magara verantwortlich!«

Mit kurzem soldatischen Gruß ritt er weiter.

Er hörte die Widderhörner von der Bosra Sturm blasen. Er gewahrte den roten Schein über der Stadt, den der bewölkte Himmel zurückwarf, die ganze Umgebung düster erhellend. Er fragte sich, ob die heiligen Flammen Milkarts ihren unterirdischen Kerker gesprengt und sich zornwütig auf die Behausungen der Menschen gestürzt hätten. Es war nicht schwer zu erraten: in Kart-Chadast mußte Aufruhr ausgebrochen sein. Vermutlich hatte man die Regierenden verjagt und kühlte nun sein Mütchen an den Römlingen. Ihm konnte es gleichgültig sein. Verspielt hatten die Romfreunde auf alle Fälle. Wer aber würde an ihrer Stelle die Führung übernehmen?

Wer sonst, wenn nicht er selbst!

Er war dazu bereit und entschlossen. Unter der Voraussetzung, daß man ihm unbeschränkte Machtbefugnisse einräumte. Fremden Brei essen war nicht seine Sache, er hatte selbst welchen im Ofen. Vor allem die Barkidischen mußten ausgeschaltet bleiben. Ihre Unbelehrbarkeit hätte jede Aussicht auf eine vielleicht noch in letzter Stunde mögliche Verständigung mit Masinissa verschüttet. Es sind nicht alle gute Köche, die lange Messer tragen.

Am Garten von Chammons-Lust vorbeijagend, kam ihm Nanai in den Sinn, die süße, holde Nanai. Und jene Liebesnacht. ...

Wo war sie? Verblüht wie die Lilien Tanits. Was lag alles dazwischen! Ein Scherbenberg der Weltgeschichte. Für schwelgerische Wonnen blieb jetzt kein Gedanke übrig. Ein Schatten, so glitt die rückhaltlos hingebende Geliebte an ihm vorüber. Was bedeutete sie ihm? Was konnte sie ihm noch sein? Allenfalls ein Weg zu Baga?

Der Einfall machte ihn stutzen. Nanai war Bagas Gattin und Baga einer seiner unbequemsten politischen Gegner. Er lächelte. In seinen Adern floß das kartchadische Blut nicht ungemischt, ihm sollte kein Gulussa mehr nachsagen, daß er den Zweck wolle, aber die Mittel scheue. Wenigstens wo es sich um Weiber handelte, litt er nicht an Überbedenklichkeit.

Mehr und mehr festigte sich die Einsicht, daß es mit den Leuten von der Volkspartei irgendwie fertig zu werden galt. Von der Mehrzahl ließ sich allerdings voraussehen, daß sie freiwillig darauf verzichten würden, ihm in den Weg zu treten. Teils waren sie zu klug, teils zu feig. In diesem gefährlichen Augenblick sehnte sich wohl keiner nach der Herrschaft. Nur Baga, dem man innerhalb seiner eigenen Partei mit Mißtrauen begegnete, weil er sein Geld für sich arbeiten ließ, blieb unberechenbar. Staatsmännisch gleich urteilslos wie militärisch unerfahren, träumte dieser Streber Tag und Nacht davon, seinen leicht erworbenen Reichtum durch öffentliche Würden zu adeln. Wenn Aussicht auf Erhöhung seiner Person ihn blendete, konnte er vielleicht sogar Mut aufbringen, den Mut der Blinden, die ahnungslos auf einen Abgrund losgehen. Vielleicht reizte der allgemeine Wirrwarr seine Unternehmungslust. Und Anhänger ließen sich kaufen, auch für den albernsten Streich ... Aber einen Mann solchen Schlages jetzt zu Einfluß gelangen lassen, hieße den Römern in die Hände arbeiten.

In Todesnot ruft man nicht einen Gaukler ans Krankenbett statt des Arztes.

Hasdrubal, der Sohn Chimalkarts, war nicht der Mann, sich durch den nächstbesten Ehrgeizling beirren zu lassen, wenn er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, die Lage zu retten. Bereit, sich selbst ans Ziel zu schießen, um es desto sicherer zu erreichen, würde er auch die Entschlossenheit aufbringen, über Leichen zu schreiten, wenn's nottat.

Wo zwischen Gärten die Straße sich gabelte, hielt er überlegend an. Aber schon nach wenigen Augenblicken des Schwankens bog er gegen die Gegend ein, in der Lanassas Landhaus lag. Wie er seine Mutter kannte, lief er keine Gefahr, sie im Schlaf zu stören, trotz vorgerückter Stunde. In dieser Nacht tat Masinissas Tochter kein Auge zu, dessen war er überzeugt.

Aber welche Überraschung, da er sich dem Hause näherte! Ein militärisches Aufgebot, auf dem Vorplatz lagernd. Lanzenreiter, teils zu Pferde, teils lässig neben ihren Tieren umherstehend, ihrer rund zwei Dutzend. Sie schienen zu warten. Auf wen? Schwerter, Schilde, Spieße, Panzer – befremdlicher Anblick. Jetzt, nach erfolgter Waffenablieferung! Hier, innerhalb der Umwallung von Magara!

Während sie ihm die soldatische Ehrenbezeigung leisteten, trat ein Haussklave mit der Meldung an ihn heran, die Herrin erwarte ihn auf der Plattform des Daches. Mit gleichen Beinen sprang er vom Pferd und stürmte die Treppe hinan.

»Ich wußte, daß du kommen würdest!« löste Lanassa ihm entgegentretend das Rätsel. »Ich weiß auch, was du planst. Meine Getreuen harren deiner Befehle. Es sind nicht viele, aber in deiner Hand ihrer genug. Ein Mann von Zucht und Gehorsam wiegt zehntausend johlende Proleten auf.«

Hasdrubal staunte. Oft bewährte gotterleuchtete Sehergabe der Mutter! Wunderbares Ahnen, das ihr längst geoffenbart, wie seine Entscheidung fallen würde, während er selbst noch im Dunkel getastet. In derselben Stunde, wo er sich den Tod hatte geben wollen, waren die umfassendsten Anstalten bereits getroffen, seinen neuen Lebenszielen zu dienen. Geheimnisse umgaben ihn. Woher Waffen und Rüstungen, dem Zugriff der Römer entzogen?

Lanassa lächelte. »Es gibt unterirdische Gelasse. Schatzkammern, kostbarer als mit Gold gefüllt.«

»Zuzeiten ist Eisen allerdings mehr wert als Gold.«

»Wenn man es zu Waffen stählt. Denn Waffen bedeuten Vernunft und Ordnung. Erst Kart-Chadast bezwungen, zwingst du auch die Römer. Sie sind Fleisch und Blut wie wir, glaub' es mir! Keiner unter ihnen, den ein Pfeilschuß ins Herz nicht tötet. Keiner auch, der leben kann, ohne zu essen. Fasse Mut! Rom zählt auf den numidischen Bundesgenossen. Ohne Hilfstruppen, ohne Zufuhr von Lebensmitteln wird es Kart-Chadast nicht meistern. Ich weiß ein Geheimnis, ich will es dir vertrauen ...« Sie neigte sich an sein Ohr und flüsterte: »Solange Masinissa lebt, wartet es auf beides vergeblich!«

Begierig sog er die unschätzbare Kunde von ihren Lippen. Durch reitende Boten, die ständig hin und wieder flogen, war sie über alles unterrichtet, was in der Stadt vorging. Und er kämmte ihre Worte bedächtig durch wie langes Haar, kühl überlegend, wie sich ein Gelingen daraus flechten ließe. Bis sie ihn endlich fortdrängte, zur Eile mahnend und den Segen der Götter auf sein Haupt herabflehend.

Noch lange, nachdem er sich entfernt und den Befehl über die kleine Schar entschlossener Streiter übernommen hatte, stand die schöne Frau an der Brüstung des Auslugs stille, dem Schall der Hufe lauschend, der sich allmählich in der Nacht verlor. Und noch da er verklungen, verharrte sie an der gleichen Stelle, eine Bildsäule, so reglos. Unverwandt den düstern Blick auf die in rote Glut getauchte Stadt gerichtet, horchte sie gespannt nach der Bosra hinüber, wo das Klagen und Stöhnen der Widderhörner anhielt, Nerven aufpeitschend, Mark erschütternd in seiner Unermüdlichkeit.

Was ging in ihr vor? Welche Gedanken und Pläne brütete dies stolze Haupt? Was für Süchte und Begierden dies leidenschaftlich pochende Herz? Reifte aus der Tiefe ihres ehrgeizigen Busens eine Vorahnung kommender Schicksale, die den Ruhm des numidischen Königshauses mit einem unvermuteten Aufstieg des punischen Volkes vermählten? Spiegelte sich darin ein Zukunftstraum von der weltbeherrschenden Größe Kart-Chadasts schon als vollendete Wirklichkeit wieder? Zu einem Thron von ungeheuren, noch nicht dagewesenen Maßen sah das sehnsuchtsvoll in die Ferne gerichtete Auge die Purpurwolken am nächtlichen Himmel sich türmen – aber kein Gulussa und Micipsa, ein andrer Sproß aus Masinissas königlichem Blute sollte ihn besteigen! ...

Plötzlich trat Stille ein. Das aufwühlende Getute von der Bosra her war jäh verstummt. Und bald danach begann auch der düstre Schein über der Stadt zu bleichen. Mehr und mehr versank sie in die Dunkelheit der sternenlosen Nacht. Nur ein matter Schimmer in der Höhe bezeichnete noch die Stelle, wo die Burg ragte. Der Widerschein von Milkarts heiligen Flammen aus der Grotte unter dem Eschmuns-Tempel. Jetzt, da die Fackeln des Aufruhrs erloschen waren, konnte man ihn wieder leuchten sehn, milde und stetig.

Da glitt ein sieghaftes Lächeln über Lanassas Antlitz. Und in königlicher Haltung stieg sie ins Innere des Hauses hinab, um ihre Gemächer aufzusuchen und in langem, tiefem Schlafe die überreizten Nerven endlich zu entspannen.

*

An der abschüssigen Berglehne hinter dem Rathause von Kart-Chadast, etwa halben Wegs zum Tempel der Tanit, lugte aus dem üppigen Grün öffentlicher Staatsgärten ein kleines, aber schmuckes marmorweißes Haus hervor, das gewöhnlich einem der jeweiligen Schofeten, und zwar in der Regel dem älteren, als Amtswohnung diente. Man nannte es das Haus der goldnen Pfauen, weil in den blühenden Gärten, deren Düfte es umschmeichelten, seit alters her, niemand wußte wie lange, eine Anzahl dieser stolzen, farbenprächtigen Tiere gehalten wurde.

Der Sage nach stammten sie aus einem fernen Wunderland, das noch über Medien, ja, weit über die Persis hinaus gegen Sonnenaufgang lag; ein Priester, der die alljährlichen Weihegeschenke der Stadt nach Tyros begleitet hatte, sollte sie einst mitgebracht haben. Seither züchtete man sie von Staats wegen weiter, denn sie waren der Aschtarit heilig, deren Tempel auf der Bosra keinen Platz mehr hatte finden können. Kaum minder prunkvoll als die Heiligtümer Eschmuns und Tanits, ragte er etwas abseits unten an der Strandmauer, die das Häusergewirr der Stadt gegen das Meer hin begrenzte. Um so bereitwilliger war die Gelegenheit ergriffen worden, der hehren Göttin wenigstens durch das Halten der ihr geweihten blau-goldnen Vögel eine Stätte der Verehrung auch auf dem Burghügel zu sichern.

In dieser wolkenverhangenen Nacht brütete Einsamkeit über den Pfauengärten. Keine Volkswoge spülte aus aufgewühlten Straßen in ihr stilles Bereich, die Grelle der Fackeln erstarb im Dickicht lianenüberwucherter Sykomoren, noch eh' sie das marmorweiße Haus erreichte. Vergessen und verlassen duckte es sich in verschwiegene Schatten, nur der Himmel goß roten Widerschein über seine Ausgestorbenheit.

Eine Stimme erhob sich in einem der Gelasse, eine gepreßte, halb versagende Stimme. Geängstigt rief sie nach einem Diener, flehte kläglich um einen Trunk Wasser. Aber ihr Laut verhallte ungehört, keinem menschlichen Ohr erreichbar. Alle Sklaven waren entflohen, die Wachen hatten sich gedrückt. Wo Macht zur Ohnmacht wird, weist Untreue der Treue die Tür. Sein Leben setzte aufs Spiel, wer jetzt noch dem Bruttier diente.

Horch! Huschten Schritte durch die gespenstisch leeren Räume? Schlichen sich Mordbuben ein, gedungene Meuchler, mit der überflüssigen Sendung betraut, einen Toten zu töten?

Hilflos aufs Ruhebett hingestreckt, lauschte Mago in die rötliche Dunkelheit der umgebenden Gemächer hinaus. Alles still. Ein Trug der Sinne. Um ihn kümmerte sich niemand mehr. Keine hilfreiche Hand, keine dolchbewehrte fand sich, seiner Not ein Ende zu bereiten, auf die eine oder auf die andre Weise. Einsam sterben war sein Los, verlassen von den Freunden, vergessen sogar von den politischen Widersachern, denen es nicht mehr die Mühe lohnte, ihm nach dem Leben zu trachten ...

Abermals stöhnte er verzweifelnd auf: »Wasser! Ich verschmachte!«

Da stand eine weiße Gestalt in der Tür. Grauen überschlich ihn. Das war die Seele des großen Hannibal, die Rechenschaft von ihm zu fordern kam, er wußte es. Je länger er hinstarrte, um so mehr glich die Erscheinung dem Bilde des Heimgegangenen Heerführers, wie es von den Tagen der Jugend her in seiner Erinnerung lebte. Zürnte er ihm, der ruhmreiche Held? Wie konnte es anders sein! Erst jetzt war Hannibals Sache endgültig verloren. Und durch wessen Schuld, wenn nicht durch seine, des irregeleiteten Mago Verblendung!

»Kannst du nicht zur Ruhe kommen, heiliger Schatten? Gieße die volle Schale deines Zornes über mich aus, ich hab' es nicht anders verdient. Denn ich war's, der dein Volk ins Verderben stürzte!«

»Erschreckt nicht, hier steht ein schwaches Mädchen,« antwortete es aus der Dunkelheit.

»Das Unglück verfolgte mich, wie es dich verfolgte,« wimmerte Mago, in die Kissen zurücksinkend. »Ich glaubte nicht an so viel Arglist und Betrug. Mein Wille war gut und meine Hände rein, aber Dämonen legten mir eine Binde um die Augen. So zertrümmerte ich noch die Trümmer deines Werks, statt sie aufzubauen. Verzeih mir, mein Feldherr, verzeih!«

»Ihr redet irre, Baal! Labt Euch mit einem Trunk! Ich will bei Euch wachen.«

Er vernahm nicht, was zu ihm gesprochen wurde. Er wußte nichts mehr von sich. Bis ein schwebendes und schwankes Gefühl ihn wiegte, als trüge man ihn zu Grabe. Das schwache Licht eines Öllämpchens flackerte in der Gruftkammer. Die Zunge klebte ihm jetzt nicht mehr am Gaumen wie früher. Er spürte etwas wie Erleichterung. So bestätigte sich's, daß der Tod ein Genesen sei? ... Da erblickte er ein junges Weib, das an seiner Seite kniete.

»Wer bist du, jungfräuliche Göttin?«

»Keine Göttin, nur Ellot.«

»Ellot –?«

»Erinnert Euch! Es gab eine Zeit, da der Haß noch nicht sein Haupt erhob zwischen den Bürgern der Stadt, da nahmt Ihr sie einmal auf Eure Arme und herztet sie, die kleine Ellot, die noch Kinderschuhe trug.«

»Die kleine Ellot?«

»Hasdrubals und Allisats Töchterlein.«

»Hasdrubals –?«

»Den sie den Widder nennen.«

Angst malte sich auf Magos Zügen.

»Verfolgt der Widder mich noch in die Unterwelt?«

»Ihr befindet Euch in Eurem Schlafzimmer, Baal. Seht die vertrauten Wände und Einrichtungsstücke.«

»Ich sehe Sarkophage, darin ruhen meine Ahnen. Ich rede nicht irr, ich weiß, wo ich mich befinde. Sie trugen mich in die Nekropole an der Bosra, und das ist recht. Ich will nicht verbrannt sein, wie es jetzt Mode geworden, ich war kein Römer, altes punisches Blut floß in meinen Adern, da ich lebte. In einem Sarg aus Zedernholz trugen sie mich in diese Gruft, ich danke es ihnen... Warum aber,« riß er sich plötzlich auf, »warum verfolgst du mich bis in den Frieden des Grabes? Was hast du hier zu suchen, wenn du des Widders Tochter bist? Dürstet sein Herz nach Rache? Sandte er dich aus, Sühne von mir zu fordern, jetzt, da ich wehrlos bin?«

»Seid ruhig! Niemand sandte mich. Ihr ringt in Todesnot.. Wer dächte an Rache? Wer denkt an Sühne?«

»Kannst du fragen? Du, Hasdrubals Kind? ... Und deine Finger streicheln lindernd über meine Hand... So kennst du mich nicht!«

»Ihr seid Mago, den sie den Bruttier nennen!«

»Ich war es. War deines Vaters, des Widders, Erbfeind. Entkleidete ihn seiner Ämter und Würden. Erklärte ihn in Todesacht. Ließ seine Güter einziehen. Stieß die Seinen ins Elend. Lieferte sein Söhnlein, den halbwüchsigen Knaben Adherbal, in die Hände der Römer. Dies alles tat ich...«

»Und noch viel mehr!« seufzte es in Ellots verschwiegenen Gedanken.

»Ausgerottet wie Unkraut hätte ich am liebsten des Widders Andenken und seinen Namen!«

Keuchend rang er nach Atem.

»Hier, trinkt Euch Stärkung!« mahnte Ellot, den Becher an seine Lippen setzend.

»Du bist gut zu mir, aber ich will mir nichts erschleichen. Nackt geht meine Seele zu den Schatten ein, ich betrüge dich nicht. Bist du taub und muß ich es dir erst in die Ohren schreien? Du sollst es wissen, du ahnungsloses Kind: Mago, den Bruttier, nannten sie mich, als ich noch lebte! Ich war's, ich allein, der dir den Vater, den Bruder entriß!«

»Ich weiß es.«

»Der deine Familie um Ehre und Wohlstand brachte!«

»Ich weiß es.«

»Dies alles tat Mago, der Bruttier, dir und den Deinen!«

»Ich weiß es.«

»Aber noch immer weißt du nicht das Allerschlimmste. Denn das Schlimmste ist: Dies alles war zwecklos, fruchtlos, sinnlos und führte nur zum Gegenteil von dem, was ich beabsichtigte.«

»Auch das weiß ich.«

Mit aufgerissenen Augen starrte Mago sie an.

»Und dennoch fluchst du mir nicht?«

»Ich bin ein armes, unglückliches Mädchen, Baal Mago.«

»Und heftest dich an meine Fersen und folgst mir in das Reich der Schatten, mich vor der ewigen Gerechtigkeit anzuklagen?«

»Ich ahnte, daß Ihr verlassen seid, darum kam ich, Euch beizustehen.«

*

Schon waren in den Straßen die Fackeln erloschen, als ihr Schein erst in den Gärten der Pfauen aufflammte. Verängstigt flatterten die aufgescheuchten Tiere, die sich zum Schlaf in die Kronen der Bäume zurückgezogen hatten, mit wehendem Schwanzgefieder von Ast zu Ast. Das grelle Lodern des Pechbrands erschreckte sie, das Schreien und Johlen nicht minder, das die stillen Laubgänge entweihte. Lüstern nach Blut und Plünderung bewegte sich eine angetrunkene Horde gegen das marmorweiße Haus.

Man hatte angenommen, daß es ein leichtes sein würde, des gestürzten Schofeten Leibwache zu überwältigen oder zum Überlaufen zu bestimmen. Als man aber, ans Ziel gelangt, weder vor dem Eingangstor noch in der Umgebung des Hauses Wachtposten erspähen konnte, bemächtigte sich feiges Mißtrauen der Fackelhelden. Sie witterten Gefahr und argwöhnten die unsichtbare Anwesenheit von Bewaffneten, die sich vielleicht im Innern verborgen hielten, oder rings im Hinterhalt lagen, durchs dunkle Dickicht der Gartengebüsche gedeckt. Dieses stille, geheimnisvolle Gebäude schien einer Pandorabüchse voll schlimmer Möglichkeiten zu gleichen. Wie leicht konnten unbesonnen Eindringende einzeln überwältigt werden, wie leicht bereits Eingedrungene durch ein von außen geplantes Schließen und Besetzen des Tores in eine Mausefalle geraten! Seine Haut zu Markte tragen, spürte keiner Lust. Löwe im Mund, Hase im Herzen, begnügte die zusammengerottete Menge sich vorläufig damit, ihrer vaterländischen Gesinnung durch wüstes Lärmen, unflätige Schmährufe auf den Bruttier und blutrünstige Drohungen gegen sein Leben Ausdruck zu geben.

Ihr Anführer Baga befürchtete, dabei nicht voll auf seine Rechnung zu kommen. Er hätte lieber ganze Arbeit verrichtet gesehen. Er wußte, in der Masse machte es böses Blut, daß der Riese Goliath gerade den Schuldigsten der Schuldigen mit ausgebreiteten Armen vor der Wut des Pöbels geschützt hatte. Was der Geier einmal in den Klauen hält, läßt er ungern los. Und um auf den Schultern des Volks emporzusteigen, muß man ihm seinen Willen tun. Am sichersten gewinnt sich die Freundschaft der Hyänen, wer ihnen Aas vorwirft. Was eignete sich besser zu solcher Verwendung als dieser lebende Leichnam des Bruttiers? Niemand hatte es wie der verdient, dem allgemeinen Bedürfnis nach Vergeltung geopfert zu werden. Die öffentliche Meinung verurteilte ihn zum Tode. Wer den Ruhm für sich in Anspruch nehmen konnte, Vollzieher dieses Urteils zu sein, war sicherlich mit einem Schlage der volkstümlichste Mann in Kart-Chadast. So folgerte Baga.

»Was gafft ihr und johlt? Wo bleiben die Taten?« versuchte er die Spießgesellen zu ermuntern. »Soll der Verbrecher leer ausgehen? Soll er straflos bleiben? Zu den Feinden entkommen, um mit Ehren überhäuft die Früchte seines Verrats zu genießen? Oder wollt ihr warten, bis er wieder die Gewalt an sich reißt? Den Römern die Tore öffnet, euch und eure Kinder von der Scholle treibt und heimatlos macht? Dann, wahrlich, wäret ihr Kälber, die den Schächter zum König küren! Aber ich weiß es, ihr freien Bürger einer freien und noch immer mächtigen Stadt, eure Geduld ist erschöpft. Euer Entschluß, der Mißwirtschaft ein fürchterliches, aber verdientes Ende zu bereiten, gefaßt. Zögert nicht länger, ihn auszuführen! Stürmt die marmorne Burg! Kitzelt den Grillen aus dem Loch! Mago hat sein Leben verwirkt. Sein Hab und Gut verfällt der neuen Hoheit, und das seid ihr! Vollstreckt das Volksgericht! Übt euer heiliges Amt! Den Löwenanteil an der Beute dem Tapferen, der mir des Bruttiers Haupt zu Füßen legt!«

Beifall scholl ihm entgegen, aber ins Haus einzudringen wagte dennoch keiner. Man hatte die schier dämonische Entschlossenheit nicht vergessen, deren der greise Mago seinem hinfälligen Körper zum Trotz manchmal noch fähig gewesen. Man hielt es für gewiß, daß er, wenn auch vielleicht nur von wenigen Getreuen umgeben, sein Leben teuer verkaufen würde. Ein jeder schob den Nebenmann vor und stand selbst bescheiden zurück. In die Höhle des Löwen, sagt man, führen wohl Fußspuren hinein, aber niemals aus ihr eine heraus.

»Geh du voran, Baga, wir folgen!« schrie einer aus dem Haufen, und viele lachten.

»Hol' dir Maharbal zu Hilfe, er wird dich gängeln!« spottete ein anderer. Man wußte, daß Bagas Eifersucht dem Führer der barkidischen Partei seinen Einfluß auf die breiten Massen mißgönnte und ihn gern ausgestochen hätte.

»Der Bruttier hat keine Schätze angesammelt,« gab ein Dritter zu bedenken; »wer weiß, ob die Ausbeute den Einsatz lohnt.«

»Wenn wir uns die Finger verbrennen sollen, muß Baga schon selbst etwas springen lassen!«

»Was zahlst du für Magos Kopf, Baga?«

»Seht, er wird verlegen! Seine Roßpalmen gelten ihm mehr als das Leben von Leuten unseres Schlages!«

»Es bleibt immer das gleiche: je mehr einer hat, um so filziger wird er.«

»Freunde!« rief Baga. »Räumt mit der Mißwirtschaft auf und verhelft einem richtigen Volksmann zur Regierung, so bürge ich dafür, daß jeder von euch reicher sein wird als ich selbst!«

Es war etwas dick aufgetragen, die Spottreden, die ihm entgegenschollen, verschärften sich noch. Ihn möglichst empfindlich zu hecheln, schlug einer vor, Bomilkar an Stelle des Bruttiers zum Schofeten zu wählen: der sei der richtige Volksmann, er werde sofort in Gegnerschaft gegen seine eigene Regierung treten und sich selbst stürzen, dann würde vielleicht ein Platz für Baga frei.

Noch war das Gelächter, das diesen Worten folgte, nicht verhallt, als man von mehreren Seiten zugleich Waffen aufblitzen sah. Berittene drangen auf den Parkwegen vor und umzingelten in wenigen Augenblicken die Aufrührer. Gefällte Speere schlossen ein Entrinnen aus. Bestürzt sah Baga einen seiner erbittertsten politischen Gegner vor sich halten, Himilko Phameas, der den kleinen Trupp befehligte. Sofort nach Betreten der Stadt hatte Hasdrubal, der Numider, sich mit ihm ins Einvernehmen gesetzt und die Hälfte der von Lanassa geworbenen Lanzenreiter zu seiner Verfügung gestellt. Von Lichtschein und Geschrei angelockt, fand er sich jetzt in den Pfauengärten ein, um auch hier die Ordnung wiederherzustellen, nachdem in den Straßen der ihm zugewiesenen Stadtbezirke seine Aufgabe erfüllt und das Gesindel zu Paaren getrieben war.

»Im Namen der neuen Regierungsgewalt! Menschenansammlungen in Straßen und auf öffentlichen Plätzen sind verboten. Raub, Plünderung und Mord wird mit dem Tode bestraft. Jeder Bürger hat sich sofort nach Hause zu begeben. Wer nach dem ersten Hahnenschrei noch im Freien betroffen wird, ist mein Gefangener!«

Die Leute hatten eiligst die Brandfackeln gelöscht, nur eine Leuchte, die einer der Reiter trug, erhellte noch den Platz vor dem Hause. Ein jeder drückte sich, so schnell er konnte, und verschwand, ohne daß man ihn daran gehindert hätte, in der Dunkelheit. Auch Baga, der sich plötzlich verlassen sah, machte Miene zu entfliehen. Da starrten ihm aber Lanzenspitzen entgegen, die auf seine Brust zielten. Ein gebieterisches »Halt« donnerte ihm nach. Er wußte, hier hatte er es mit einem Mann zu tun, mit dem sich nicht spaßen ließ. Wie ein begossener Hund kehrte er zurück und warf sich, vor Himilko hingepflanzt, in die Brust, seine Angst hinter kühnem Auftrotzen verbergend.

»Was geht hier vor? In wessen Namen leihst du dem Bruttier deinen Schutz, dem Verräter des Vaterlandes? Wer ist die neue Regierungsgewalt?«

»Hasdrubal, der Numider.«

»Als Mitglied des Hohen Rates müßte ich auch davon wissen.«

»Der Hohe Rat tritt noch diese Nacht zusammen, Hasdrubal, den Retter des Vaterlands, in seinem Amte zu bestätigen.«

»Einem so eigenmächtigen Vorgehen werde ich mich widersetzen. Das ist Machtanmaßung der numidischen Partei!«

»Es gibt keine Parteien mehr. Es gibt nur einen alleinigen königlichen Staatsschofeten mit unumschränkter diktatorischer Gewalt, und das ist Hasdrubal, der Sohn Chimalkarts.«

»Vorausgesetzt, daß der Hohe Rat ihm diese Würde wirklich zuerkennt. Wer wird den Antrag stellen?«

»Vielleicht Baga – wenn seine Einsicht als Staatsmann nicht durch die Gewissenlosigkeit des Volksverführers übertroffen wird.«

Verstört, betreten blickte Baga um sich. Er sah die drohend gefällten Spieße im Halbkreis. Er stand noch unter dem ernüchternden Eindruck, wie rasch und spurlos seine Anhängerschaft sich verflüchtet hatte.

»Ich werde den Antrag stellen!« sagte er, plötzlich entschlossen. »Aus dem Schoße der barkidischen Partei hervorgehend, wird ein solcher Antrag nicht nur doppelte Aussicht auf Erfolg haben, sondern auch die Einmütigkeit der Nation aufs nachdrücklichste bekräftigen. Und wenn mich nicht alles trügt, so ist Hasdrubal nicht der Mann, der sich für erwiesene Dienste nicht erkenntlich zeigen würde.«

»Die Erkenntlichkeit der Könige heißt Gnade.«

»Empfiehl mich, mein Himilko Phameas, der besonderen Gnade des erhabenen Königs-Schofeten Hasdrubal!«

»Baga durchgelassen!« rief Himilko seinen Berittenen zu. »Als einem Mitglied des Hohen Rates gebührt ihm die militärische Ehrenbezeigung!«

*

Der Stadt völlig Herr geworden und im unbestrittenen Besitze der Macht, durchquerte weniges später Hasdrubal, der Numider, mit kleinem Gefolge die wieder in Dunkelheit getauchte Stille der Pfauengärten, um sich in die nächtliche Ratsversammlung zu verfügen. Er befand sich in Gesellschaft des Hipparchen Melekpalas, der, in Sorge um die Sicherheit des Bruttiers, ihn beredet hatte, diesen Weg zu nehmen.

Wo der von Laubkronen überwölbte Reitpfad abbog, hielt der Hipparch sein Pferd an und sagte: »Mücken erproben ihre Macht gern am Elefanten. Es ist mir gemeldet, daß Baga nach billigem Lorbeer geizt.«

»Ich will selbst nach dem Rechten sehen,« antwortete der Sohn Chimalkarts, die Richtung gegen das marmorweiße Haus einschlagend.

»Daran tust du gut! Ein häßlicher Fleck würde den blanken Schild deiner soldatischen Ehre trüben, wenn in dem Augenblick, wo du die Zügel der Staatsgewalt ergreifst, deinem Vorgänger im Amt Unbill zugefügt würde. Dies um so mehr, als du unter ihm eine der höchsten militärischen Würden bekleidet hast.«

»Auch menschlich genommen, würde ich es aufs tiefste bedauern. Bei allem Gegensatz unsrer politischen Überzeugungen konnte ich dem Bruttier Achtung und Ehrfurcht nicht versagen. Wer sich an dem wehrlosen Greise vergreift, der vergreift sich an mir selbst. Mago hat schwere und verhängnisvolle Irrtümer auf dem Gewissen, aber er war ein Mann.«

»Sonst wäre er nicht in die Stadt zurückgekehrt. Wie Matho und andere es taten, hätte er sich durch Übertritt zu den Römern der Wut des Pöbels leicht entziehen können.«

»Hätt' er's doch getan!«

»Würdest du es wirklich wünschen?«

»Deine Frage beschämt mich. Nein, Melekpalas, in Wahrheit würde ich es nicht wünschen. Es ist ein Verarmen für jeden von uns, wenn einer, den wir für ehrenhaft hielten, sich selbst untreu wird. Aber ich merke, daß ich nach Art aller Regierenden bereits dazu neige, eine ersparte Verlegenheit höher zu schätzen als die Würde der Menschen.«

»Das ist es, warum ich mit Politik nichts zu tun haben mag,« sagte der Hipparch. »Sie bildet sich ein, nichts könne uns reicher machen als der Erfolg.«

Der kleine Zug hielt vor dem Tore, die beiden Männer sprangen vom Pferd und überließen die Tiere dem soldatischen Geleite.

»Alles ruhig!« stellte Hasdrubal fest. »Deine Befürchtung scheint sich nicht zu bestätigen. Oder sollte der Bruttier das Haus verlassen und sich geflüchtet haben?«

»Ein schwacher Schein schwankt hinter einem der Fenster.«

Als sie sich die dunkle Treppe hinaufgetastet hatten und in die Tür traten, vernahmen sie unterdrücktes Schluchzen. Vom flackernden Licht einer Tonlampe gespenstisch beleuchtet, starrte das marmorweiße Antlitz des Bruttiers mit weit aufgerissenen, aber toten Augen gegen die Decke. An der Seite der regungslos ausgestreckten Gestalt saß weinend ein junges Mädchen, das Gesicht in beide Hände gedrückt.

Hasdrubal verhüllte sein Haupt mit dem Mantel. Melekpalas näherte sich dem Lager, er beugte sich über die Leiche und preßte mit dem Ballen seiner Hand die Lider über die verglasten Augen. Nun glich der Tote einem Schlummernden, ein Ausdruck friedlicher Demut und Ergebenheit entspannte die einst so harten und gebieterischen Züge.

Als der Hipparch sich wieder aufrichtete, erblickte er eine äthiopische Sklavin, die unhörbar ins Gemach geglitten war. Mit ausgestreckter Hand zeigte sie auf das weinende Mädchen, grinsend nach der Tür zurückgewendet und mit gebleckten Zähnen gleichsam Anerkennung heischend: »Hab' ich dich gut geführt?« Die hoheitsvolle Frau, die ihr folgte, entließ sie mit einem Neigen des Hauptes. Melekpalas erkannte Allisat, die Gattin des Widders. Sie näherte sich dem Mädchen, das noch immer das Gesicht in den Händen barg, und berührte seine Schulter, daß es erschrocken aufblickte.

»Deine Mutter ängstigte sich. Was führt dich in dies Haus?«

»In der schwersten Stunde wäre er einsam geblieben.«

»Er hätte es nicht anders verdient. Alles Unglück, das uns traf, kam von ihm.«

»Eben darum mußte ich ihn trösten.«

»Er war unser Feind.«

»Noch mit dem letzten Atem rief er den Segen der Götter auf mich und die Meinen herab.«

»Es war zu spät, dem Haß abzuschwören.«

»Es war nicht zu spät, Mutter, das Sterben wurde ihm leichter.«

Hasdrubal hatte den Mantel zurückgeschlagen, sein erster Blick fiel auf Ellots warmes, blutjunges Leben, das wie eine Verheißung blühte neben dem grausigen Bilde von Ausgelöschtsein und Verfall.

Die zügellose Verwegenheit des numidischen Blutes kochte plötzlich so ungestüm in Masinissas Enkel auf, daß es im gleichen Augenblick unumstößlich bei ihm feststand, dies Mädchen, halb noch Kind, das so rein und unberührt war wie eine eben erschlossene Tuberose, müsse sein eigen sein. Und vielleicht hätte er selbst im Angesicht der Leiche das wilde Aufflammen der Leidenschaft nicht verbergen können, wäre der Hipparch, der ungefähr ahnte, was vorging, nicht zwischen ihn und das Mädchen getreten.

»Die Götter senden uns eine Bundesgenossin,« sagte Melekpalas.

Da gewahrte Hasdrubal erst Allisats Anwesenheit, ihr Anblick rief ihn ins politische Leben zurück. Die Größe der Aufgaben, die seiner harrten, verdrängte sofort jeden Gedanken an Weib und Liebe.

»Ich grüße dich, Allisat, edle Gemahlin des ruhmwürdigen Feldherrn der Republik!«

»Soviel ich weiß, nennt man Hasdrubal, den Widder, einen Hochverräter. Er ist verbannt und zum Tode verurteilt.«

Der Sohn Chimalkarts tat ein paar Schritte gegen das Totenbett des Bruttiers, er stand nun knapp daneben und streckte Allisat, die auf der andern Seite stand, die Rechte entgegen.

»Über diese Leiche hinweg reiche ich dir die Hand zur Versöhnung. Das Urteil gegen den Widder ist null und nichtig, von diesem Augenblick an ist er in den ungeschmälerten Besitz seiner Würden und seines gesamten Vermögens wieder eingesetzt.«

Mit einer unwillkürlichen Bewegung hatten Allisats beide Hände die seinige ergriffen. Ihr Blick fiel dabei auf das schweigende Antlitz des Toten. Die Erkenntnis vom völligen Zusammenbruch seiner Staatskunst, mit der Mago aus dem Leben geschieden war, sprach sich ergreifend in den milde und demütig gewordenen Zügen aus. Es war ihr, als segne der enttäuschte Romfreund das Bündnis, das die hadernden Parteien zu einer gemeinsamen Kampflinie gegen Rom zusammenschloß. Aber hielt man wirklich schon auf solcher Höhe? Würde aus dem Abgrund unvereinbarer Gegensätze, die im Augenblick vergessen schienen, nicht unversehens ein Gorgonenhaupt auftauchen? Betroffen vom jähen Wechsel der Umstände, den sie noch kaum zu überblicken vermochte, trat die hohe Frau vom Totenbett zurück und blickte, indem sie abwechselnd in des Numiders und des Hipparchen Mienen zu lesen versuchte, nicht ohne leise Bedenken und doch hoffend von einem zum andern.

»Ich vertraue euch!« sagte sie endlich aufs tiefste bewegt. »Vertraue darauf, daß der Augenblick, wo ich, auf die Zustimmung meines Gatten zählend, in seinem Namen die dargebotene Hand freudig ergriff, ein neues Zeitalter einleiten wird. Vertraue auf Einmütigkeit und treue Waffengenossenschaft im Angesicht der äußersten Gefahr. Vertraue auf Errettung des punischen Volks aus Not und Tod!«

»Dein Vertrauen soll dich nicht trügen, edle Allisat!« antwortete der Sohn Chimalkarts. »Und um die lautere Gesinnung zu bewähren, mit der wir dieses Vertrauen erwidern, wage ich dich zu bitten, in höchsteigener Person die Überbringerin unsrer Botschaft an deinen ruhmreichen Gatten zu sein. Mache dich so bald wie möglich auf den Weg nach seinem Lager in Libyen, das militärische Geleite, unter dessen Schutz ich dich stelle, wird unser bewährter Freund, der tapfere Himilko Phameas führen. Melde meinem erhabenen Namensvetter Hasdrubal, der den Ehrennamen des Widders führt, seine Ernennung zum Oberbefehlshaber über die gesamte Streitmacht, welche die Stadt von der Landseite her zu sichern berufen sein wird. Berichte ihm, daß wir das Volk neu bewaffnen und die Festung in wenigen Wochen in Verteidigungszustand setzen werden, daß wir einer Belagerung zähen Widerstand entgegenzustellen entschlossen sind und auf ein einträchtiges Zusammenwirken seines Feldheeres mit der Streitmacht hinter unsern Basteien und Mauern zählen. Die näheren Dienstanweisungen und Richtlinien wird ein versiegeltes Schreiben enthalten, das ihm Himilko zugleich mit den Urkunden überreichen wird, welche seine Ehrenrettung und vollständige Genugtuung amtlich bestätigen sollen. Und damit empfehle ich dich und ihn der Gnade der Götter, die nicht zugeben werden, daß unsre Stadt und das punische Volk vom Erdboden verschwinden. Glück auf den Weg! Reise ohne Verzug, wir haben keine Zeit zu verlieren. https://www.gaga.net/pgproj/57d63bc2/0172.pngTanit sei mit dir!«

Allisat neigte sich tief zur Erde, indem sie fragte: »In wessen Namen habe ich meinem Gemahl diese verheißungsvolle Botschaft zu überbringen?«

Und Melekpalas antwortete: »Im Namen von Chimalkarts Sohn Hasdrubal, dem königlichen Staatsschofeten von Kart-Chadast!«

*


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