Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Ja, so saßen sie eines Abends bei einander und besprachen sich. »Ich muß mir noch ein junges Mädchen nehmen,« sagte Anna, »aber die sind schwer zu haben. Die Leute überlaufen mich förmlich mit 273 Arbeit. Ich komm' garnicht mehr zu Atem.« – »Sei froh, daß du was zu thun hast,« meinte Bernhard gähnend und reckte sich, »Arbeit macht das Leben süß.« – »Ja,« entgegnete die Schwester, »das sagst du wohl. Aber man will auch mal eine Stunde frei haben.« – »Versteht sich,« gab Bernhard zu. Er hatte gern mal eine Stunde frei. – »Und dann arbeitet man schließlich noch immer für die Schulden,« fuhr Anna fort, »ich wollte das ginge etwas bequemer.« – »Ja,« fiel die Mutter ein und blickte von der Zeitung auf, »so müssen wir einen Pensionär nehmen. In Kopenhagen haben alle Kaufleute Pensionäre. Das bringt Geld. Die kleine Stube hinten könnten wir gut ausmieten.« – »Was sollen wir mit einem fremden Menschen!« warf Bernhard hin. – »Nun,« erwiderte Anna, »wenn es ein netter Mensch ist, warum nicht? Wir gehen nirgends hin – da hätten wir abends ein bißchen Unterhaltung. Wenn man mal bei Pastor Borchert anfragte?« – »O du, nein!« rief der Bruder, »bloß keinen frommen Jüngling. Davon haben wir gerade genug gehabt!« – Die Mutter warf ihm über die Brille einen vorwurfsvollen Blick zu. Anna wurde rot und schüttelte den Kopf. Er erkannte seinen Fehler, daß er die Schwester an Unangenehmes erinnert hatte, und entschuldigte sich: »Ich meinte ja man bloß.«

Frau Behm las die Zeitung vor: »Hier sucht einer was. ›Junger gebildeter Mann wünscht gut möbliertes Zimmer mit oder ohne Pension in der 274 Nähe der Gasanstalt. Offerten mit Preisangabe unter H. J. an die Expedition der Zeitung.‹ – Ob wir uns da melden? Nahe bei der Gasanstalt ist es hier ja.« – Anna hatte Lust dazu: »Wir können uns melden, und wenn er kommt und gefällt uns nicht, dann brauchen wir ihn ja nicht zu nehmen.« – Sie sehnte sich nach Unruhe, Abwechselung, sie wollte jemand Fremdes, Neues um sich haben, eines anderen Menschen Stimme. Sie fühlte, das würde sie erfrischen und erquicken. – Bernhard war noch immer dagegen. Aber als Mutter sagte: »O, wenn es ist ein feiner Mann, so können wir gut unsere fünfundvierzig Mark Pension nehmen, das würde uns so Gott helfen –«, da wurde er bedenklich. Er gönnte Mutter und Schwester den Verdienst. – »Ja, das heißt,« sagte er, »essen kann er hier, aber zur Familie gehört er deshalb doch nicht.« – Damit hatte er schon sein Einverständnis gegeben, und Anna setzte sich gleich hin und schrieb das Angebot: 12 Mark für das Zimmer allein und 45 Mark mit Verpflegung. – »Schreib' ja: bei einer feinen Kaufmannsfamilie,« mahnte Frau Behm. Anna brachte den Brief noch am selben Abend zur Expedition.

Nun warteten sie, ob H. J. käme, und machten das Zimmer zurecht, das sie ihm abtreten wollten. Es lag gerade unter Annas Schlafkammer. Donnerstag ging hin, Freitag ging hin, Sonnabend ging hin. – »Nein, er kommt nicht,« meinte Frau Behm, und Anna that es leid. Aber am Sonntag kam 275 doch noch einer. Die Hausthür schellte, und vor Anna stand auf dem Flur ein großer, breitschulteriger Mensch mit blonden, aufrechtstehenden und schon ein wenig lichten Haaren. – »Sie entschuldigen, gnädiges Fräulein, ist es hier, wo ein Zimmer zu vermieten wäre?« – Seine Stimme schallte laut und war zu stark für den engen Raum. Seine blaßblauen Augen blickten mit Wohlgefallen auf Anna, die ob der Anrede verlegen und gleichwohl geschmeichelt war. – »Ja, bitte,« antwortete sie, und als sie den großen Mann betrachtete, entfuhr es ihr unwillkürlich: »Wenn es Ihnen nur nicht zu klein sein wird.« –»Ruhig muß es sein, das ist die Hauptsache,« bemerkte er dagegen. »Darf ich es ansehen?« – »Sehr gern.«

Sie ließ ihn die Treppe hinauf voran gehen und öffnete die Thür zu dem Stübchen. Es machte einen freundlichen Eindruck, war sauber und geputzt, und blankes Waschgeschirr stand da. Er trat ans Fenster. »Die Aussicht ist nicht weiter schön.« – »Nein,« gab Anna beklommen zu. – »Aber Grün sieht man doch. Das ist eine Kastanie. Kastanien mag ich gern. Das sind so gesunde Bäume. Und im Herbst die prächtigen Dinger, wenn man die aus der dicken Schale herauspellt, nicht?« – »Ja,« war alles, was Anna antworten konnte. Der junge Mensch, der so voll und warm blickte, wirkte seltsam auf sie. – »Trocken ist die Stube doch?« forschte er und fühlte die Tapete. – »Ganz,« erwiderte Anna. – »Ich habe nämlich ein bißchen Husten – manchmal. Ist 276 nicht schlimm. chronischer Katarrh. Das giebt sich mit der Zeit.« – »Gewiß . . .« – »Und dann ist Morgensonne hier, nicht wahr?« – »Ja, bis elf ist Sonne.« beeilte sich Anna zu versichern. Das war eine gute Empfehlung für einen erkälteten Menschen. – Der Fremde betrachtete die Möbel und begann von neuem: »Daß das Zimmer nach hinten hinaus liegt, ist mir gerade lieb. Wagengerassel kann ich nicht vertragen. Wagengerassel ist scheußlich für einen nervösen Menschen.« – »Hier hört man nichts . . . nervös sehen Sie doch aber gar nicht aus.« – »Nun, ich danke. Das sieht man nur nicht. Hier oben über? Wohnt dort jemand?« – »Nein, niemand weiter. Da schlafe ich nur.« – »So.«

Sein Auge ruhte auf ihr. Seine Nasenflügel blähten sich ein wenig. – »Ja, gnädiges Fräulein, Lust hätte ich wohl. Wenn Sie damit einverstanden wären.« – »Mutter ist vorn in der Stube, wenn Sie vielleicht . . .« – »Ja. Da können wir gleich das Nötige besprechen.« – Sie führte ihn ins Wohnzimmer. – »Mutter, der Herr kommt wegen der Stube.« – »O,« rief Frau Behm erfreut. – Der Fremde stellte sich vor: »Juhl ist mein Name. Das Zimmer gefällt mir.« – »O nehmen Sie Platz, Herr Juhl,« bat Frau Behm. »Anna, hast du nicht eine Flasche Bier und denn die Zigarren von Bernhard.« – Juhl dankte, aber Frau Behm ließ nicht ab, bis er ihre Gastfreundschaft angenommen hatte. Er trank in hastigen Zügen und rauchte stark, und 277 sogleich wurde er redselig, während seine Augen zu glänzen anfingen. Er erzählte mit einem gewissen nachlässigen Renommierton, der sich auf seine Offenheit etwas zu gute that:

»Ich bin jetzt erst hierher gekommen. Der Gas-Direktor ist ein Onkel von mir, und mein Alter meinte, ich sollte froh sein, daß ich hier unterkäme. Na –. Mir ist es schließlich egal, was sie mit mir machen. Ich hab' studiert. In Kiel. Erst Litteratur und Geschichte. Das wurde mir zu langweilig, wußte ich alles schon längst. Dann bin ich Mediziner gewesen. Das hielt ich nicht aus. Immer in diesen toten, kalten Menschen herumschneiden.« – Er schauderte zusammen und nahm einen großen Schluck. – »Endlich hab' ich den Kram weggeworfen und bin zur Zeitung gegangen. Da hab' ich den Ober-Präsidenten beleidigt, weil der die Dänen chikaniert. Ich hatte durchaus recht, aber natürlich: sie haben mich verdonnert.« – Anna sah lebhaft zu ihm hin. Das war interessant. – »Ich bin nämlich in Nord-Schleswig geboren, in Apenrade. Mein Vater ist Däne und wohnt jetzt in Kolding.« – »Ach? Ich bin auch dansk,« rief Frau Behm hocherfreut. »Ich bin geboren bei Kopenhagen.« – »Was?« sagte er aufgeregt, »dann sind wir Landsleute? Skaal, gammel Danmark! Gnädiges Fräulein, wann kann ich einziehen?« – »Gleich,« erwiderte Anna lachend.

Juhl und Frau Behm wechselten ein paar Worte auf dänisch. Frau Bolettes Backen röteten sich: »Nein, 278 nein, ist das einzig und haben einen Landsmann hier!« – Den wollte sie aber pflegen. Er fuhr fort:

»Mit der Zeitungsgeschichte war es also aus. Die Kerls sind alle feige. Die haben eine Hundeangst vor jedem Obermufti, daß ihnen die amtlichen Anzeigen genommen werden können. Da bin ich eine Zeit lang bei meinem Alten im Geschäft gewesen, aber das wurde mir zu öde, und dann sollte ich Versicherungsagent werden. Das kann nun aber kein Mensch verlangen, daß man herumreisen und andere Leute belästigen soll, bis sie einen hinauswerfen oder man ihnen irgend solchen Wisch angehängt hat, den sie gar nicht nötig haben. Nun bin ich hier und habe mich verpflichten müssen, die Koggenstedter Gaslaternen mit in Ordnung zu halten. Bin neugierig, wie das wird.«

Er bekam Rauch in die Kehle, hustete auf und atmete hörbar. Darauf gab er sich einen Ruck: »Abgemacht? Kann ich meinen Koffer hierher bringen lassen?« – Anna nickte eifrig, und Frau Behm sagte: »Sie müssen aber sagen, was Sie gerne essen. Wir kochen ja noch viele dänische Gerichte.« – »Röd Gröd med Flöde,« meinte Juhl scherzend. – »Ja, ja!« rief die Mutter begeistert. – »Eins noch,« sagte er, »ich spiel' ein bißchen Klavier. Ich wollte mir ein Instrument mieten, aber die Stube ist fast zu klein dazu.« – »Das ist sie am Ende,« stimmte 279 Frau Behm betrübt ein und fürchtete. daß an dem Hindernis noch alles scheitern würde. – Anna wußte Rat. »Kann es nicht hier in der Wohnstube stehen?« fragte sie, »wenn wir den Schrank herausnehmen? Der kann nach oben in meine Kammer kommen.« – »Aber das geniert doch, gnädiges Fräulein.« – »Nein, nein,« versicherten beide dringend, »wir hören zu gern Musik. – »Gut denn,« sagte Juhl und erhob sich. »Ich schicke alles her. Geben Sie mir bitte einen Hausschlüssel. Zu Mittag bin ich nämlich bei meinem Gasonkel, und heute abend möchte ich mir Koggenstedt ansehen und etwas Lokalkenntnis gewinnen.« – Darauf ging er.

Frau Behm und Anna waren vergnügt. »Aber Fräulein darf er dich doch nicht nennen,« sagte die Mutter. – »Er erfährt schon, daß ich verheiratet gewesen bin,« entgegnete Anna, und es war ihr ein angenehmer Gedanke, daß sie ihm ihr Schicksal erzählen würde. Das mußte sie ihm interessant machen, meinte sie. – »Wie alt er wohl ist?« fragte Frau Behm. – Davon mochte Anna nicht sprechen. Sie hatte sich das schon selbst überlegt und war gewiß, daß er jünger war als sie. – »Das weiß man bei einem Herrn nie,« antwortete sie kurz, »er wird wohl in meinem Alter sein.« – »O das glaub' ich nicht,« warf die Alte ein, »er muß ziemlich viel Jahre weniger haben« – »Na, dann laß ihn, was geht das uns an?« – Anna war gereizt und unwillig.

Bernhard kam, und die Frauen erzählten ihm 280 von Juhl. – »Wenn das man kein Bummler ist,« meinte er bedenklich, »aber schließlich – wenn der Gasdirektor sein Onkel ist . . .« Damit beschwichtigte er seine Besorgnis. – Ein Dienstmann brachte einen großen Koffer. Darauf war ein Blechschild, das den Namen »Harald Juhl« trug. Frau Behm war entzückt: »Harald! das ist echt dänisch!« – Anna fand den Namen auch sehr hübsch. Harald Juhl . . . das war etwas Heldenhaftes. Warum er nur Husten hatte? Aber die Erkältung ging gewiß bald vorüber. Mies scheuerte sich an dem Koffer, als wolle sie sich lieb Kind machen. – Der Tag wurde damit verbracht, daß Familie Behm überlegte, wie sie es ihrem Zimmerherrn am besten einrichten könnte. Anna ordnete in der kleinen Stube herum und machte alles noch feiner, als es schon war. Sie gab von ihren Möbeln her, sie hing von ihren Bildern auf: »Morgen im Walde«, »Großvaters Liebling« und einen Öldruck, ein Fruchtstück darstellend, auf dem Apfelsinen und Kartoffeln und Erdbeeren und gelbe Wurzeln abgemalt waren. Es that Anna leid, daß man keine Kastanien darauf sah. Auch Frau Behm holte noch ein Bild: ein Porträt von Frederik VII. Das hing sie ihrem Landsmann an die Wand beim Bett und betrachtete es gerührt. 281

* * *

Erst um Mitternacht kam Harald Juhl nach Hause. Alle drei Behms lagen wach und lauschten, wie er die Treppe hinaufging, mit den Schritten desjenigen, der die Stufen noch nicht kennt. Anna hörte, wie er seinen Koffer öffnete und herumpackte, und dann fing er an zu husten. Die Uhr schlug eins, als es endlich da unten still ward. – Er stand spät auf. Sie mußten lange mit dem Kaffee warten. – »Ja,« entschuldigte ihn die Mutter, »in Kopenhagen frühstücken sie alle erst um zehn.« – Er aß nur eine Semmel und sagte: »Ich kann das Bier hier nicht vertragen. Vorher hab' ich außerdem bei meinem Onkel Wein getrunken. Das ist Unsinn. Aber man thut's doch.« – Sein Auge war matt, sein Gesicht hatte einen grauen Schein. – »Ich bin nervös,« fuhr er fort und strich sich mit der langen schmalen Hand über die Augen, über die stumpfe Nase und den rötlichen Schnurrbart, »nun, ein kleiner Kognak bringt das wieder in die Reihe.« – »O morgens nicht! Keinen Snaps trinken,« warnte ihn Frau Behm mütterlich. – »Was will man machen, wenn man so scheußlich abgespannt ist?« – »Mein Mann sagte immer: vor sechs soll man nichts trinken. Nachher schadet es nichts mehr.« – »Ist Ihr Mann schon lange tot, Frau Behm?« – »Ziemlich. Er war so gut.« – Die Thränen traten der alten Frau in die Augen. Die Gelegenheit schien ihr indessen trotz ihrer Trauer günstig, dem neuen Hausgenossen von ihrem Leben zu erzählen. – 282 »Meine Tochter war schon verheiratet, aber . . .« begann sie. – »Ach? das hatte ich nicht gewußt. Dann entschuldigen Sie nur, gnädige Frau.« – Sein Blick wurde heller. Anna errötete leicht. – »Laß nur, Mama, Herr Juhl erfährt ja noch alles.«

Aber Mutter Behm war im Zuge und beichtete die ganze Familiengeschichte. Juhl hörte geduldig, aber mit Anstrengung zu, und als er fortkommen konnte, ging er in sein Zimmer und hatte bei seiner Rückkehr einen leichten Kognakduft um sich. Seine Bewegungen waren frischer, er plauderte lebhaft, meist zu Anna gewandt. Den Vormittag über blieb er zu Hause und hielt sich im Wohnzimmer auf, während Frau Behm seine Stube zurecht machte.

Um Mittag lernte er Bernhard kennen. Die beiden waren erst sehr förmlich gegen einander, aber Harald Juhl nahm bald das Gespräch in die Hand und erzählte von allem möglichen. Von seinen Reisen, seinen Studentenfahrten, seiner Gefängniszeit und von all den Menschen, die er kennen gelernt hatte. Da waren viele Namen darunter, die Bernhard nur aus der Zeitung kannte, und es imponierte ihm gewaltig, jetzt einen Mann zu sehen, der berichtete: »Ja, also, da sagte der Geheimrat zu mir . . . Den andern Tag ging ich wieder zu Sudermann hin . . . Als ich Friedrich Haase dann nach der Vorstellung sprach . . . Maria Reisenhofer wollte sich krank lachen . . . An dem Abend war Hänel fürchterlich schlecht gelaunt.« – Daß es keine leere Aufblaserei sei, die Juhl trieb, 283 das fühlte man wohl, er hatte auch mancherlei Sachen, Bücher und Andenken, mit den Namenszügen und Widmungen der Berühmten. Diese Dinge holte er aus seinem Koffer, und jedesmal, wenn er wieder ins Wohnzimmer trat, umwehte ihn der leise scharfe Kognakduft. Er zündete sich, um ihn zu verbergen, rasch eine Zigarette an, seine Augen waren glänzender, und sein Gespräch riß die anderen immer mehr fort. – Anna ging an dem Nachmittage nicht hinaus in ihre Schneiderstube, sondern ließ ihre jungen Mädchen machen, was sie wollten. Zum Abendbrot war Juhl nicht da. – »Ich muß meine Lokalkenntnis vervollständigen,« sagte er, als er Abschied nahm, »morgen geht's ins Joch, in den Gaskessel.« – »Kommen Sie nicht spät,« bat Frau Behm, »das macht krank.« – »Ach was,« entgegnete er, »schlafen kann ich ja doch nicht. Ich bin das Nachtleben einmal gewöhnt. Hier ist nur nichts los.« – Das Wort Nachtleben reizte Anna. Das schloß so viel ein, wonach sie sich heimlich dann und wann sehnte, – und sie dachte in dem Augenblick: Die Männer sind zu beneiden, daß sie alles thun dürfen, wozu sie Lust haben. Harald Juhl aber erschien ihr als ein Bild des Lebensgenusses, der Lebenslust, der Freiheit.

»Gehen Sie mit?« fragte Juhl den Oberpostassistenten. Der war auch schon gefangen genommen und hatte das Bedürfnis, mit Juhl Freundschaft zu schließen. Er ging mit, wie er mit Dr. Körting und 284 mit dem falschen Gottlieb gegangen war, und fühlte sich stolz, daß er einer bedeutenden Persönlichkeit an der Seite schritt. Er ward nicht müde, Harald Juhl zu lauschen, der mit ihm von Kneipe zu Kneipe zog. Spät in der Nacht tranken sie in schwedischem Punsch Brüderschaft zusammen. Harald fing an zu phantasieren: »Ihr habt alle keine Ahnung, was in mir steckt. Ein Künstler steckt in mir, ein gewaltiger Künstler. Nur die Form find' ich nicht. Aber wenn ich sie gefunden habe, dann sollt ihr sehen, wie ich mich entwickle. Werke schaffe ich euch . . .! Ich sehe, ich höre, ich fühle alles. Gestalten – manchmal sind sie blutrot und haben Arme wie riesige Ruder, und damit wühlen sie die Luft auf, daß die Wolken nur so pfiff! sagen. Dann seh' ich wieder ganze Haufen – Menschenhaufen. Das wälzt sich und schreit und greift und krallt und beißt und heult und weint und kichert – ach! Ein Maler bin ich, oder ein Dichter, oder ein Bildhauer, oder meinetwegen auch ein Musiker. Ja! diese Tonfolgen, die ich in mir trage, brausend, wie eine Götterorgel. Das wogt, daß die ganze Menschheit davon auf die Kniee geweht wird. Plötzlich ist wieder alles tot und still um mich und weiß. Überall stehen Steine, hohe Marmorsteine. Die haben Menschengesichter, ganz schmale, und große Augenhöhlen ohne Augen, und dazwischen muß ich herumgehen und suchen, mich selbst suchen! Ich poche an die Steine, damit ich höre, welcher von ihnen so klingt wie meine Brust. Und 285 den find' ich nicht und rase immer rascher herum zwischen den Marmorblöcken, bis ich hinkrache und in einen weißen unendlichen Abgrund sinke. Das ist kein Nebel, das sind keine Wände, das ist weiß, das Weiße an sich, verstehst du? Die ungeheure tote Unendlichkeit. Mensch, das gestalten können! Aber die Form! die Form!« – Er bewegte die Arme in großen Kreisen, blickte starr und bleich vor sich hin, hüstelte vom Dampf der Zigarette und brütete in seinen Gedanken. Bernhard war stumm. So etwas hatte er noch nie gehört. Harald Juhl war ja ein Dichter. Und er meinte praktisch: »Du, schreib' das mal auf. So was nehmen sie gewiß gern in der Zeitung.« – »Mensch, du bist –,« erwiderte Harald und sah seinen Ratgeber brutal verachtend an, mit vorgeschobener Unterlippe. »Denkst du, ich werde mich mit Zeitungen befassen? Das hieße sein Heiligstes verraten und in den Schmutz werfen! Nein, ich muß alles für mich behalten. Es reift, es reift, und wenn es da ist: ah, ihr werdet staunen, ihr Erdenmenschen. Das wird sein wie eine neue Religion, eine neue Offenbarung!« – Die Hände hatte er vor sich hingestreckt, die Finger gespreizt. Bernhard wurde es allmählich unheimlich in seiner Nähe. Haralds Augen flackerten, eine tiefe Furche teilte seine Stirn zwischen den Augenbrauen, und dabei trank er immer mehr, immer Schärferes, ohne eigentlich betrunken zu werden, und fing wieder an: »Weißt du: trinken. Dabei löst sich alles in mir auf. Dann hab' ich beinahe 286 die Form, und vielleicht kommt noch die Stunde, wo ich sie greifen kann. Der Alkohol muß mir dazu verhelfen. Wenn ich auch daran sterbe. Was heißt überhaupt sterben? Es giebt Unsterblichkeit. Wir lösen uns nach dem Tode auf in den weißen Urstoff und sind Wellen. Die fluten vorwärts, kreuzen sich, mischen sich mit anderen Wellen, haben Bewußtsein, lieben sich, zeugen mehr Wellen, und die verdichten sich und sinken zur Erde und werden Menschen. So ist es. Ich weiß es, Mensch.« Er schlug Bernhard hart auf die Schulter: »Glaubst du mir? Ich bin dabei gewesen!« – »Natürlich!« sagte Bernhard, »so was Ähnliches hab' ich mir auch schon gedacht. Aber nun laß uns bald nach Hause. Meine Mutter und meine Schwester –.« – »Deine Schwester,« unterbrach ihn Harald, »von der ahnt ihr alle nichts. Ihr fühlt nicht, daß jeder Mensch ein Fluidum um sich hat. Daran erkenne ich die Menschen sofort und weiß, wonach sie sich sehnen. Deine Schwester will sein. Sie hat ein Fluidum um sich wie eine Gewitterwolke. Wenn man die Hand hinhält, sprühen Funken aus ihr, rote Gewitterfunken. Ich kenne sie. Sie ist eine von den Sehnsüchtigen.« – Jetzt wurde Bernhard ärgerlich. Von der Schwester wollte er nichts hören. Er drängte entschieden zum Aufbruch: »Ich muß morgen um acht in Dienst.« – »Ich auch,« sagte Harald und schien auf einmal nüchtern zu werden. »Soll mich verlangen, was das wird. Die Gaslaternen sollen leben!«

287 Sie begaben sich heim und am anderen Morgen war Harald richtig schon vor Bernhard auf den Beinen. Man sah ihm aber an, wie müde er war. Er konnte kaum Kaffee trinken. Anna war böse. Sie hatte gehört, wie spät die beiden nach Hause gekommen waren. – »Sie müssen nicht bummeln, Herr Juhl,« sagte sie, »Bernhard kann es gar nicht haben. Und Sie mit Ihrem Husten. In der alten Wirtshausluft wird der gewiß nicht besser.« – »Ja, was soll man sonst?« fragte Juhl matt. – »Bleiben Sie doch zu Hause. Wir können uns ein bißchen erzählen abends, und Sie können einfach hier Ihr Bier trinken. Wenn Sie erst Ihr Klavier haben spielen Sie uns vor.« – Sie wußte nicht, woher sie den Mut nahm, so frei mit dem fremden Herrn zu sprechen, aber es schien ihr selbstverständlich, daß sie auf ihn aufpassen müsse. Er war jünger als sie, und überdies schickte es sich im Behm'schen Hause nicht, daß man spät heimkehrte. Harald ließ sie ruhig sprechen und erwiderte nur: »Ich will es versuchen. – Also nun wollen wir an die sogenannte Arbeit gehen.« – Damit empfahl er sich. – Bernhard bekam gehörige Ausschelte von beiden Frauen: »Das bild' dir nur nicht ein, daß das hier jetzt Mode wird.« – Er war kleinlaut, trank schwarzen Kaffee und drückte sich zur Thür hinaus.

Das Klavier kam, und es gab jetzt wirklich nette Abende. Die Männer blieben daheim, und wenn gegessen war, setzte sich Juhl an das Instrument und 288 fing an, frei zu spielen. Das rollte und grollte und stöhnte, alles war ungeordnet, von einer Tonart kam er in die andere, nichts klang harmonisch aus. Es war alles grell mit gesuchten Dissonanzen, und plötzlich konnte er wieder schmelzend weich werden. Hatte er geendet, dann saß er stumm, zusammengesunken da, und sein breiter Rücken war tief gekrümmt, sein Kopf hing schwer herunter. Frau Behm mochte diese Art von Musik gar nicht leiden, aber Bernhard fand sie großartig und sagte: »Der reine Wagner! – Wahrhaftig! Ganz wie Wagner!« – In Annas Seele schlugen die fremden Töne eine Saite an. Ihr war, als habe sie manches von dem, was Harald auszudrücken schien, selbst gefühlt. Und wenn sie gerade nachdachte über ihn und sein buntes Leben, drehte er sich wohl auf einmal, als empfinde er ihre Gedanken, jäh mit dem Klaviersessel herum und sah sie an. Dann wurde sie rot. – Mehr und mehr wirkte Juhl auf Anna ein. Er hielt an sich, bezwang seinen Trieb zum Ungeregelten und versah seinen Dienst gut. Desto mehr hatte er Gelegenheit, mit Anna zusammen zu sein. Ihr war sein ganzes Wesen neu und erregend, sie nahm für Frische, was nur krankhafte Lebendigkeit war, und wenn sie mit ihm allein saß, ließ er Worte verströmen, die ihr auf die Dauer den klaren Sinn benahmen.

»Schönheit, Schönheit, das ist's, wonach wir alle lechzen, bewußt oder unbewußt. Herr des Himmels, wie viel stumme Sehnsucht geht ungeweckt zu Grunde, 289 verblutet sich – sich selber und kennt sich nicht einmal. Ist das nicht ein Jammer? Ach, ich möchte den Menschen immer zurufen: laßt doch euer Bestes nicht ungenossen verderben. Ihr habt es in euch – genießt es auch. Ah, ich habe Erinnerungen – – – köstlich!« – Er lehnte sich hinten über und schloß die Augen. – Anna wollte so etwas nicht hören, aber der Reiz war trotzdem zu groß; sie lauschte ihm. Sie hatte noch nicht nachgedacht über das, wovon er schwärmte, jetzt aber betrachtete sie ihre Gestalt im Spiegel und fragte sich: »Bin ich wohl schön?« Und eine Stimme in ihr rief: Ja! – Da brach etwas in ihr durch, was sie nie geahnt hatte: die Sehnsucht nach einer lichten, schwelgerischen Glut. Das war ein ganz anderes Gefühl, als Schelius es ihr aufgezwungen hatte. Damals bedrückte und quälte sie Dumpfheit, aber jetzt schien ihr alles hell, fast so hell und rein wie einst, als sie mit ihrem Mädchenempfinden neben Körting schritt. Nur daß sie jetzt eine Frau, eine Wissende war, die sich an Juhls Phantastereien entzündete und mit einem Schwall von der Erde fortreißen ließ. – Er beschäftigte sie fast den ganzen Tag. Die kleinen Handreichungen, die sie ihm leisten mußte, nährten die Vertraulichkeit, sie forschte, was er am liebsten aß, sie horchte nachts auf sein Husten, und es dünkte sie, als läge er schlaflos auf dem Rücken und sähe zur Decke empor, nach seiner Gewohnheit starr und unbeweglich und nur mit dem Kopfe rückend, wenn der Husten zu schlimm wurde. 290 Dann kamen Tage, wo er krank lag und das Bett hüten mußte. Anna war gezwungen, zu ihm hinein zu gehen, denn Mutter konnte nicht alles besorgen. Als sie sich ein wenig sträubte, ihm die Suppe zu bringen, sagte Frau Behm: »Gott, was ist dabei? Du bist eine verheiratete Frau. Und auch so viel älter als er.« – Das Wort »so viel älter« verstimmte Anna, und als sie in Juhls Zimmer eintrat, sah sie wirklich älter und strenger aus als sonst, so daß er fragte: »Sind Sie auch krank, Frau Anna?« – »Nein,« stieß sie hervor und entfernte sich eilends, denn sie wollte ihm nicht häßlich erscheinen.

Wieviel jünger war er denn? Darüber grübelte sie. Eines Tages war er ausgegangen, und sie fand auf seinem Schreibtisch seinen Militärpaß, mit dem er als dienstuntauglich ausgemustert worden war. Sein Geburtsjahr stand darin – das lag neun Jahre später als das ihre. Für so jung hätte sie ihn nicht gehalten. Sie rechnete und rechnete in der Hoffnung es möchten ein paar Jahre weniger herauskommen, aber es blieb bei den neun, neun ganzen Jahren. – Er sah viel älter aus, meinte sie. Das machte seine große Gestalt und das Gesicht, das schon Falten hatte. Was hatte er auch alles erlebt. Ja, gewiß, darin war sie die jüngere, denn man ist nie älter, als man sich nach dem Inhalt seines Lebens fühlt. Mit dem Trost ging sie auf ihre Stube und zog sich jugendlich hell an, und als sie sich die Schuhe band, freute sie sich über ihren schlanken, schmalen Fuß. 291 Ach, sie war jung, sie wollte jung sein! Neun Jahre – was hatte sie von diesen neun Jahren gehabt? Nur Enttäuschung, Arbeit, Schmerzen. Sie mußte noch zu ihrem Rechte kommen, sie mußte noch einmal wahr und innig geliebt werden, jemanden über alles beglücken. – Dabei dachte sie zuerst nicht bestimmt an Juhl. Nur der Trieb aus dem Einerlei hinaus beherrschte sie. – Sie nahm sich Zeit zum Spazierengehen, besuchte Festlichkeiten und wartete, ob nicht ein Mann käme, der ihr recht gefiel und zu dem sie paßte. Aber immer mehr trat ihr Juhl vor die Augen. Der war stattlich, hübsch, interessant, – gegen ihn waren die anderen alle, die sie kennen lernte, gar nichts.

Frau Behm ging mit auf die Bälle und die Sommerfeste, und auch ihre Augen blickten prüfend und suchend umher, denn sie konnte es nun einmal nicht lassen, ihre Tochter zu verheiraten. Es wäre zu schön gewesen, wenn Anna wieder einen Mann fände. Die Schneiderei konnte sie ruhig beibehalten, die brachte feines Geld ein. Ein recht ruhiger, solider Mann in fester Stellung, – darum bat die kleine Frau den lieben Gott herzlich für ihre Anna. Aber es kam keiner in Sehweite. Und Bernhard, der sonst für seine Schwester schwärmte, meinte eines Tages: »Du, sage mal, nimm mir es aber nicht übel: kleidest du dich nicht ein bißchen auffallend?« – »Wieso? Ich bin doch keine alte Frau? Laß mich gefälligst, wie?« Damit wies sie ihn schroff ab und suchte fortan, aus Widerspruchsgeist, die am meisten 292 bemerkbare Erscheinung zu sein. Dadurch gelangte sie in den Ruf der Koketterie, und man zog sich von ihr zurück. Die Männer sahen sie freilich desto herausfordernder an, und sie senkte den Blick nicht. Wohl bemerkte sie, daß sie nicht mehr so hoch in der Achtung der Leute stand, indessen sie schüttelte das ab: »Laß sie sich mokieren, die gehen mich gar nichts an.« – Juhl gab ihr begeistert recht: »Die blöden Maulwürfe wühlen im Schwarzen, und wenn sie Farbe sehen, thut die ihnen weh. Maulwürfe verachtet man einfach.« –

Unter seinem Einfluß wurde Anna mehr und mehr dazu gebracht, daß sie sich ganz nach ihrem eigenen Kopfe kleidete. Er bewunderte sie dafür und pries ihren Mut. Wohl wußte er, daß sie ihm an Jahren überlegen war, aber das reizte ihn gerade und machte sie in seinen Augen pikant. Er saß abends in seinem Zimmer und horchte auf ihre Tritte, wenn sie in ihrer Kammer war. – Zu Frau Behm sagte er: »Ja, wenn ich eine Frau finde, eine tüchtige Frau, die mich versteht, dann bin ich gerettet. Ich träume eine stille, glückselige Häuslichkeit, wo man allein ist, höchstens mit ein paar Verwandten. Man lebt für sich dahin, und das Dasein fließt glatt bis an das Ende. Das muß schon, das muß herrlich sein!« – »Sie finden gewiß leicht ein junges Mädchen,« erwiderte die Alte, die noch nicht merkte, worauf er hinaus wollte, »Sie haben eine gute Stellung und sind ein gebildeter Mann.« – »Junges 293 Mädchen,« sagte er wegwerfend, »ich habe in meinem Leben nicht für junge Mädchen geschwärmt. Schon als Schüler konnte ich nie begreifen, wie meine Kameraden sich mit Backfischen abgeben mochten. Sehen Sie, Frau Behm, ich bin eben zu reif. Ich habe zu viel erfahren. Ein Mädchen begreift das gar nicht. Ein Mensch wie ich muß eine feste Hand haben, die ihn hält und leitet. Dann wird noch etwas aus mir. Ich will es noch zu etwas bringen und nicht ewig hier in Koggenstedt auf die Gaslaternen aufpassen. Dazu brauch' ich eben eine wirkliche Frau.« – Auf diese Weise rückte er näher und näher an die Mutter heran, und sie verstand ihn schließlich und fragte sich ein wenig erstaunt: ob es wohl ginge? Er und Anna? – Weil er ein Landsmann von ihr war, hatte sie ihn lieb, und da er nicht mehr die Nächte durch ausblieb, vertraute sie ihm jetzt auch. Der Altersunterschied? Mein Gott, sie war ja auch zwei Jahre älter gewesen als ihr Pappa und doch glücklich mit ihm geworden. Darauf kam es am Ende gar nicht an, wenn man sonst nur zu einander stimmte. Sein Vater war Großkaufmann und sein Onkel Gasdirektor, und er selber hatte studiert, – eine gute Partie mochte es also wohl sein. Und wie es schon zweimal geschehen war, geschah es jetzt wieder. Frau Behm kam leise, ganz leise zu Anna hin und hielt ihr gleichsam den Namen dessen vor, den sie sich als Schwiegersohn wünschte, und fragte bescheiden: Hättest du Lust dazu? Sie machte Bernhard Andeutungen, und der 294 war auch gleich Feuer und Flamme, und so wurde von neuem in der kleinen Familie davon getuschelt, daß Anna es »doch man thun« möchte. Sie drängten, Anna aber ließ sich drängen.

Harald Juhl stand, die große Gestalt vornübergebeugt und den Blick auf Anna Behm geheftet. Die Arme hingen ihm leicht gekrümmt herunter, und seine Hände waren halb geöffnet. Er war bereit, nach ihr zu greifen, wenn sie ihm nahe genug kam.

* * *

Und jählings brauste es auf zwischen beiden. Anna und Juhl waren zusammen in der Wohnstube allein. Juhl hatte gespielt in seiner zerfahrenen, wilden Weise, und in Anna jubelten die leidenschaftlichen Töne. – Da sagte Juhl: »Drei Dinge möchte ich besitzen, dann wäre das Leben lebenswert. Fliegen möchte ich können und die Macht haben, unsichtbar zu werden, wann ich wollte, und so viel Gold haben, als ich immer begehre. Wäre das nicht wonnig? Mir ist, als müßte ich das alles können, nur eine Kleinigkeit hindert mich. Ich kann nicht recht sehen, wo dieser kleine Riegel steckt. Sonst würde ich ihn zurückreißen und die Thüren aufsprengen, daß ein Urlicht über uns flutete, und Sie müßten mit in diesem Lichte stehen – mit mir! Sie verstehen mich, köstlich, Sie werden mir vielleicht noch einmal die Form geben, nach der ich ringe. Verstanden hat mich noch keine; 295 wohl geliebt, aber nicht begriffen, was eigentlich in mir tobt. Dazu waren sie alle nicht stark, nicht glühend genug. Sie schmolzen mich alle nicht, daß ich in ihrer Liebe als ein anderer wieder auferstehen konnte. Rede ich zu Ihrer Seele, Anna?«

Die war überströmt von seinen Worten. Das schien ihr alles hoch und schön, und sie glaubte, daß sie ihn voll begriffe. Sie nickte. – Er sprang auf: »Lösen müßte es eine, dann würde ich etwas Großes vollbringen. Aber wer hilft mir? Wo find' ich sie, die mich befreit?« – Anna hätte aufschreien mögen: hier! denn sie wußte, daß er diese Antwort von ihr haben wollte, aber sie vermochte nicht zu sprechen und atmete nur tief. Da stürzte sich Harald vor ihr auf die Kniee und umschlang sie. Seine Augen brannten zu Anna hin, seine Lippen waren trocken vor Durst. Er keuchte: »Weib!«

Sie sah mit einem glückseligen, verklärten Lächeln auf ihn nieder und ließ sich von seinen Küssen die Besinnung rauben. Nur das eine fühlte sie und jauchzte darüber: Ich bin jung, jung, jung!

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Ja, nun muß er sich aber doch eine andere Wohnung mieten,« sagte Bernhard, »als Bräutigam kann er nicht hier im Hause bleiben.« – »Das muß er wohl,« nickte Frau Behm, »aber essen kann er gut hier. Es schmeckt ihm so schön.« 296 – »Na ja, so habt ihr früher auch nie gekocht. Von den fünfundvierzig Mark haben wir sicher nichts übrig.« – »Wir essen eben mit davon.« – Anna wurde gerufen. »Er muß ausziehen, Annsch. sag' ihm das,« bat die Mutter. – Anna errötete. »Das haben wir schon abgemacht,« erwiderte sie. – »Wo wollt ihr denn später wohnen?« fragte der Bruder, »wieder hier?« – »Das ist ganz natürlich,« rief Frau Behm in der Angst, es könne etwas anderes beschlossen werden und sie könne ihre Tochter verlieren, »ich zieh' nach hinten in seine Stube, und ihr habt die beiden schönen Zimmer hier vorne.« – »Wie du meinst, Mudding,« stimmte Anna bei, »bloß nicht nach oben. Da geht es auch gar nicht wegen der Schneiderei.«

Sie besprach sich mit ihrem Verlobten. Der meinte: »Mir ist es egal, wo wir hausen. Lange bleiben wir doch nicht hier. Bei meinen Ideen! Sollst mal sehen, wie du mich begeisterst. Dann wag' ich den großen Schlag, und wir sind aus aller Misere! Großartig!« – Er küßte sie, und sein Küssen roch nach Kognak und Zigaretten. – »Hast du getrunken?« fragte Anna vorwurfsvoll. – »Ich? Getrunken? Nicht im mindesten. Die paar Tropfen. Wie soll ich mich sonst aufrecht halten, wie? Bei dieser Schufterei hier.« – »Thu ja deine Pflicht,« bat Anna, »sonst haben wir gar nichts.« – »Gar nichts? Ein Mensch mit meiner Kraft? Ich soll nur erst meinen Platz finden. Ich kann mehr als alle die Philister auf der Welt. Aber so lange halt' 297 ich geduldig aus, um deinetwillen. Das schwör ich dir!« – Er stand vor ihr und erhob die Hand und sah prächtig aus.

Er zog um, aber seine freie Zeit verbrachte er bei Anna, in der er ganz aufging und die sich mehr und mehr verjüngte. Sie war seine Herrscherin, er folgte ihr willig, sie erlegte ihm Opfer und Entbehrungen auf, daß er nicht mehr trank und nicht in den Wirtshäusern saß, und er war zu allem bereit. – »Nur lieb sollst du mich haben,« flehte er, »lieb, rasend lieb!« – Sie gestattete ihm nicht die kleinste Abweichung von seiner Pflicht, er durfte sich nicht krank melden, und so war sein Onkel sehr mit ihm zufrieden und gab ihm eine bessere Stelle. Nun konnten sie leicht heiraten. Sorglos und freudig sah Anna in die Zukunft und hing zärtlich am Arme Haralds, wenn sie mit ihm ausging, vor das Lübecker Thor, die bekannten Wege, die sie schon oft und in den verschiedensten Stimmungen gewandelt war. Aber er mochte nicht zwischen den Gärten gehen. – »Das ist mir zu eng, zu klein, zu abgeschlossen. Ich muß ins Weite, ich muß Fernsicht haben, Größe.« Sie traten hinaus ins freie Feld. »Siehst du, hier,« sagte er, »das ist wundervoll. Man kann atmen. Das Auge kann Licht trinken.« – Der Wind wehte über die reifen Felder, und die Halme beugten und hoben sich in gelben Wellen. – »Ja,« rief er, »so möcht' ich, daß sich alle vor wir beugten und vor dir, vor dir, Anna!« – Er preßte sie an sich. – 298 »Ich weiß nicht,« fuhr er fort, »Maler möcht' ich werden, – ich glaube, so wie ich würde das kein zweiter sehen und malen. Ach, alles möcht' ich! Aber laß mich nur erst zur Ruhe kommen, zur Ruhe, bei dir. Eines Tages entscheide ich mich, worin ich arbeiten, schaffen will, und von da an giebt es kein Halten mehr.« – Anna glaubte ihm. Es war ihr wohlig, solche Kraft an dem Manne zu fühlen, den sie liebte; sie kam sich leicht und schwebend vor, wenn sie mit ihm ausschritt.

Er wollte sie bilden, brachte ihr philosophische Bücher, die sie lesen mußte und zu verstehen meinte, weil sie eben die Geliebte des Mannes war, der ihr sie gab. Auf einmal aber forderte er wieder, daß sie garnichts lese. »Das ist alles mangelhaft,« meinte er, »du mußt nur von mir lernen. Ich trage das Höchste in mir und belehre dich damit. Du mußt klar sehen, bis hinter die Sterne. Ich habe eine Offenbarung, die soll dich durchleuchten. Siehst du, alle diese Sterne, die wir sehen, alle diese Weltkörper sind lebende Wesen, und wir sind ihre Glieder, sind ihre Lungen, ihre Augen, ihre Hände. Aber in ihrem Innern lebt die Seele, die lebt im Feuer, das Feuer ist die Seele. Und von dieser Seele führt ein feiner unsichtbarer Nerv zu uns, der bewegt uns, und leise Strahlen von der Seele schießen durch uns hin. Dann empfinden wir Liebe, Liebe und Sehnsucht. Die Weltkörper stehen alle durch solche Strahlen miteinander in Verbindung. 299 Sie sprechen damit zu einander. Sie sprechen über die Ewigkeit und über Gott, den sie nicht sehen können. Gott ist so weit, so weit entfernt. Er ruht hinten in der Unendlichkeit, aber ganz allmählich, durch Jahrbillionen hindurch, rückt er vorwärts zu den verschiedenen Sternenhaufen, und wo er kommt, stehen sie still und lösen sich auf in Gottes Materie. Nach unendlich vielen Jahren sind alle Körper in ihm vergangen, und dann ist die große Erlösung geschehen. Dann giebt es nichts Irdisches, nichts Unvollkommenes mehr – es ist alles Gott geworden. Das ist das Ziel.« – So schwärmte er, und Anna lauschte seinen Phantasieen, die ihr unsagbar groß und erhaben däuchten.

Es dauerte nicht lange, bis sie heirateten. Die Trauung fand im Hause statt. Pastor Borchert wußte nicht recht, was er sagen sollte, denn Anna hatte er in der letzten Zeit aus den Augen verloren. und den jungen Ehemann kannte er gar nicht und hörte nur allerhand Wildes von ihm. Bernhard und Haralds Onkel waren zugegen. Gefeiert wurde weiter nicht, denn das Paar fuhr gleich nach der Trauung ab. Harald wollte Anna seinem Vater vorstellen, und sie machten ihre Hochzeitsreise über Kiel und Flensburg nach Kolding. 300

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