Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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So lange das Eis war, trafen sich Anna und Körting fast jeden Tag auf dem Hafen. Er kam gewöhnlich früher und wartete auf sie, und waren sie beide zusammen, so sausten sie lustig los, weit, weit auf die Reede, bis sie von Koggenstedt nur noch die Türme von Sankt Anschar und Sankt Jakobi sahen und den oberen Teil vom Alten Palast, der jetzt als Amtsgericht diente, den spitzen Giebel und jene hohe Warte, von der einst Prinzeß Munde (sie hieß eigentlich Rosamunde, aber das Volk hatte sie lieb und gab ihr einen Kosenamen) herabgestürzt war, als sie ihren Geliebten, den jungen, blonden Grafen Kai, über die Ostsee heimkommen sah. Er war gegen die Wikinger ausgewesen und zwanzig Monde hatte sie sein geharrt. Jetzt kam er endlich in seinem hochbugigen Schiff mit den roten Segeln. Da wollte Prinzeß Munde vor Sehnsucht fliegen und 47 lag unten, tot. Im Pflaster war noch ein runder Stein zu sehen mit einem verwischten Andreaskreuz. Den hatten die Koggenstedter damals eingerammt an der Stelle, wo Mundes liebeheißes Blut verrann. – Das erzählte Anna ihrem Begleiter, denn sie hatte von ihrem Vater zum Geburtstag ein Buch geschenkt bekommen, darin stand die Koggenstedter Chronik. Er bat sie, ob er das Buch nicht lesen dürfe, und sie brachte es am anderen Tage mit und gab es ihm, etwas scheu, denn ihr war fast, als reiche sie ihm ein Band zu, dessen eines Ende sie selbst in der Hand behielt. Er aber freute sich, etwas zu fühlen, was sie berührt hatte. Und als er in dem Buche las, konnte er das Empfinden nicht los werden, daß auf den Blättern ein Schimmer von Annas Blicken haften geblieben war, der nun auf ihn überstrahlte. Das Buch vermittelte zwischen den beiden.

Froh genossen sie die herrliche Eiszeit. Bernhard hatte im kaiserlichen Weihnachtspostdienst so ungeheuer viel zu thun, daß er selten zum Hafen kommen konnte. War er aber da, dann standen Körting und Anna einander plötzlich fremd gegenüber, waren alltäglich, nüchtern, trocken, sprachen geziert, und Körting machte ihr Verbeugungen und nannte sie gnädiges Fräulein. Sie redeten vom Wetter, und, was Bernhard immer gern hatte, von dem großen Postbetrieb, und Körting meinte, in seiner Vaterstadt Hamburg sei der Betrieb um Weihnacht doch noch viel größer als in Koggenstedt. Bernhard gab das zu. »Aber,« 48 bemerkte er, »sehen Sie, Dokter, der einzelne Beamte hat nicht so viel zu verantworten wie hier. Dort hat man mehr nur die Aufsicht. Es ist anstrengender hier. Ich wollte, ich säß' in Hamburg. Die Kollegen da sind gegen uns die reinen Rentiers. Wir reiben uns auf.« – Und sein Doppelkinn lugte ihm freundlich über die Brust auf das Bäuchlein hinab. Körting behandelte den Bruder seiner Freundin jetzt sehr gut und höflich. Er hatte nicht mehr den leise spottenden Ton gegen ihn, weil er Anna nicht weh thun wollte. Er wollte das nicht, denn er fühlte, wie sie selbst über Bernhard dachte.

Ja, andere Menschen waren sie in Bernhards Gegenwart, er hüllte sie ein in die laudunstige Luftschicht, die um ihn herum saß, und sie konnten nicht zu einander hindurch sehen. Wenn aber Bruder Bernhard ächzend seine Schlittschuhe abgeschnallt hatte und zum schweren Dienst gegangen war, wurde es plötzlich wieder hell vor ihnen. Sie erkannten eins das andere und kreuzten freudig die Blicke, und er sagte nicht »gnädiges Fräulein« und auch nicht mehr »Fräulein Behm«. Er sagte nur »Fräulein –« Das »Anna« fügte er noch nicht laut hinzu, aber in seiner Rede machte er hinter Fräulein eine kurze Pause, bis er zu sprechen fortfuhr. Als wenn er im Schreiben einen kleinen Raum frei ließe. Beide füllten in Gedanken diesen Raum richtig aus und wußten, was da für ein Wort stehen sollte. Sie unterhielten sich über vieles, wovon Anna noch nie 49 etwas gehört hatte. Von sich selbst sprachen sie fast gar nicht mehr, aber sie tasteten hin und her an ihren Seelen, um einander recht kennen zu lernen. Anna empfing von ihm, und er, der Gebende, glaubte doch, der Empfangende zu sein.

»Ja, wenn Sie es sagen,« meinte sie etwa, »ich habe mir das bisher immer anders vorgestellt.« – »Ich sag' es nicht, Fräulein . . ., ich finde nur, daß andere recht haben, wenn sie es sagen.« – »Wenn man aber auch nicht alles glauben soll was in der Bibel steht – Jesus . . . Jesus ist doch nicht ein Mensch gewesen wie wir.« – »Freilich nicht. Nicht wie wir. Aber doch Mensch. Ein großer Mensch.« – »Und das mit der Auferstehung und der Himmelfahrt . . . das soll ich nicht wörtlich nehmen? Pastor Borchert würde furchtbar böse, wenn er so etwas hörte.« – »Böse werden die Herren immer, wenn man sie in ihrer Bequemlichkeit stört. Es ist nämlich so bequem, das mit dem Glauben, der höher sein soll als alle Vernunft. Damit können sie den Leuten den ärgsten Widersinn einbilden. Und sie thun's auch.« – »Aber nicht alle. Nur die ganz Frommen.« – »Liberale Priester giebt es im Grunde nicht, Fräulein. Die sich so nennen, glauben selbst nicht an ihre Toleranz. Ein Priester ohne Dogma ist unmöglich. Wo aber Dogma ist, herrscht auch Gewissenszwang.« – »Dogma . . .,« wiederholte Anna, als habe sie das Wort nicht verstanden. – »Nun ja!« sagte er mit Nachdruck. »Dies starre Festhalten 50 an einzelnen Glaubenssätzen, wenn auch die Wissenschaft tausendmal beweist: Kinder, was ihr euch vorstellt, ist ja unmöglich. Giebt es zum Beispiel nicht unzählige Weltkörper, die genau so aussehen, genau in demselben Stadium sind, genau aus denselben Stoffen bestehen wie unsere Erde? Muß es auf ihnen also nicht genau solche Geschöpfe geben wie wir? Menschen, oder wie sie sich nun nennen, mit denselben Leidenschaften und Sünden, wenn ich denn dies Wort gebrauchen will? Und wollen wir nun wirklich hochmütig sein und annehmen, wir seien die einzigen lebenden Geschöpfe im Weltraum, in der Unendlichkeit, die Gott lieb hätte? Wäre das nicht eine fürchterliche Überhebung? Wenn aber Gott, wie das doch sein muß, alle seine Geschöpfe liebt, muß er ihnen auch allen helfen wollen, muß ihnen allen Erlöser senden, vorausgesetzt, daß er uns einen gesandt hat. Und woher alle diese unzähligen Erlöser? Entweder Gott hat Billionen Söhne, das heißt, er nimmt Billionen Male menschliche Gestalt an, oder Christus, der Eingeborene, müßte das Erlöserwerk von Stern zu Stern thun. Ich kann mir beides nicht denken.« – »Aber die anderen Sterne gehen uns ja auch nichts an. Christus hat uns doch erlöst von den Sünden. Das hat er doch.« – »Und trotzdem treiben wir hier viel Schlechtes, haben Krankheit über Krankheit, und die Priester drohen uns, den Erlösten, mit ewiger Verdammnis, wenn wir nicht hübsch fleißig zur Kirche gehen. Bedürfte der Erlöste 51 noch der Mahnung und Drohung und Lehre? Ich sehe die Erlösung nirgends.« – »Dann sind Sie ein Heide, Herr Doktor,« rief Anna, und ihre Stimme bebte vor Erregung. – »Soll das ein Tadel oder ein Lob sein?« fragte er lächelnd. – »Und zum Abendmahl . . . gehen Sie auch nicht zum Abendmahl?« – »Nein. Ich möchte wohl ein Gedächtnisfest für Christus feiern. Aber das müßte schon mit Gleichgesinnten Freunden sein. Von einem Geistlichen, der mir Brot und Wein von oben herab, als eine Gnade des heiligen Konsistoriums erteilt, kann ichs nicht nehmen.« – »Und wenn Sie tot sind . . . glauben Sie nicht, daß Sie dann in den Himmel kommen oder . . .« – »Oder in die Hölle? Gott ist größer, Fräulein, als seine Diener. Wenn es eine Unsterblichkeit giebt, und ob es eine giebt, das weiß niemand, auch Pastor Borchert nicht, so wird Gott sich nicht kindisch rächen für ein paar Kleinigkeiten, die ich meiner Natur und meiner Gehirnanlage gemäß begehen mußte, sondern wird dafür sorgen, daß ich in einem höheren Zustande meine Sache besser mache.« – »Das ist ganz anders, ganz anders, als ich es sonst gehört habe,« sagte Anna, und tiefes Weh sprach aus ihren Worten. – »Ich will Sie nicht aus dem Paradiese verjagen,« beteuerte er, »wahrhaftig nicht. Aber warum soll ich mit meiner Meinung zurückhalten? Wir verstehen uns, nicht wahr, Fräulein? Sie wissen, daß ich Ihnen keinen Schmerz bereiten will. Glauben Sie ruhig weiter, was Pastor 52 Borchert Ihnen sagt. Ich bin der letzte, der behauptet, daß ich etwas Genaues von all diesen Dingen weiß. Bleiben Sie bei Ihrem Glauben.« – »Wenn ich das nur kann,« sagte Anna und sah ernst zu Boden.

Sie hätte weinen mögen darüber, daß jemand so frei sprechen konnte, sie hätte ihn von sich weisen mögen, aber immer wieder machte sie sich unwillkürlich klar, daß Körting doch kein böser Mensch war. Und gerade diese Gewißheit war es, die ihrem bisherigen Glauben einen argen Stoß versetzte. Sie hatte ihren Kinderglauben als etwas Selbstverständliches mit ins Leben genommen, und er reichte bisher aus, um alles, was in ihrem engen Kreise geschah, zu erklären oder zu entschuldigen. Aber jetzt war aus dem Kreise ein Stück herausgebrochen, und sie stand mit beiden Füßen in der Lücke, und ihre Augen wunderten sich, daß sie nirgendwo wieder einen Kreis sahen, durch den alles hübsch eingezäunt war. Sie hatte das Gefühl, in Grenzenloses zu schauen, und Körting kam ihr vor, als ob er fliegen könnte in diesem Grenzenlosen. Es erfaßte sie die Lust, vollends aus der Lücke herauszutreten und es ihm gleich zu thun im Fliegen. – Nie zuvor war ihr Kinderglaube auf die Probe gestellt worden. Wäre vielleicht Bernhard gekommen und hätte daran gerüttelt, dann hätte sie sich nur fester an das geklammert, was Pastor Borchert sagte, und dem Versucher entrüstet zugerufen: Schäme dich! Aber in der Fülle anderer Gefühle, die Körting in ihr erweckte, sank ihr das gleichsam unter, was sie 53 bis jetzt an Religion gehabt hatte. Sie war willig, ihm zu folgen. Das Neue erschien ihr rein, klar, einfach. So wurde denn ihr Widerspruch gegen Körting bald immer schwächer. Ihre Angst, einst Strafe leiden zu müssen dafür, daß sie den Schatz fortgab, den ihr Pastor ihr in die Hände gelegt hatte, schwand mehr und mehr, sie ließ sich die Ehrfurcht rauben und gebrauchte jetzt viel das Wort »natürlich«. – »Natürlich giebt es keine Engel, . . . natürlich kann es keinen Teufel geben.«

Die schlichte Dorfkirche, der ihr Glaube bis dahin geglichen hatte, räumte Körtings Einfluß schnell, ohne Staub und ohne Gepolter ab. Nun war da ein leerer Platz. Nur ein paar Steine vom Fundament ragten noch hervor. – Das Mädchen merkte nicht, daß es nicht etwa ein anderer Glaube war, dem sie das Bisherige in ihr preisgab, sondern daß es der Mann selbst war, der den Glauben verdrängte, weil sie sich in seine Gedanken einlebte in dem weiblichen Wunsche zu gehorsamen. Wie ein Stück weiches Eisen nach dem elektrischen Strom, richtete sich ihr Wesen nach Körting. Und als Weihnacht kam, als der Wind aufs Eis fiel und es zerbrach, als die Konsortiumsmänner im strömenden Regen ihre Bank und ihre Kasse zusammenpackten, da war Anna weit fort von dem, was sie ehemals für heilig gehalten hatte. Sie glaubte nicht einmal mehr an das alte Koggenstedter Gesangbuch, das eigentlich noch höher stand als Bibel und Katechismus, weil darin der besondere 54 Koggenstedter, also der einzig richtige Glaube hinter den Gesängen und Gebeten in sechsunddreißig ansehnlichen Kapiteln oder Hauptstücken beschrieben war. – Ein freier Platz, wo die kleine Dorfkirche sonst ragte. Der Rasen flocht sich über die wenigen zurückgebliebenen Steine und überspann den ganzen Ort, und Blumen erblühten auf dem Rasen. Erst nur kleine Marienblümchen, darauf die brennenden Sonnen des Löwenzahns und dann auch weißgelbe Kamillen mit feingliederten Blättern voll würzigen Duftes, sattroter Mohn und stolze Königskerzen. Die Blumen wußten nichts mehr von dem Kirchlein, auf dessen Estrich sie aussprossen, sie wußten nur von dem Lichte, das von oben kam und das sie liebten, – das Licht mitten im trüben, naßkalten Winter.

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