Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Familie P. C. Behm feierte Weihnachten. Vater und Mutter waren schon fünf Tage vorher zu Michaelsen in der Langen Straße gegangen und hatten die Gans gekauft. Denn ohne Gans waren es keine Weihnachten. Sie wählten sorgfältig, und der Alte tupfte die gerupften Vögel mit dem Zeigefinger auf die Brust, um zu fühlen, welche am fettesten war. Denn gerade an dem Gänseschmalz hatte man ja die ganze Weihnachtszeit über seine Freude. Das mußte halb mit anderem Schmalz und mit Äpfeln ausgebraten werden, dann reichte es länger 55 und schmeckte doch so schön wie reines Gänseschmalz. Es war auch nicht so dünn, als wenn es unvermengt blieb. Die große Frage war nur, wieviel die Gans wohl wiegen durfte. Frau Behm war immer für eine recht gewichtige von mindestens dreizehn Pfund. »So haben wir davon bis nach Neujahr, mein Pappa; es ist rein, als kaufte man schieres Fleisch.« – Aber P. C. Behm wollte gern ein paar Pfund abknappsen. Sechsundsechzig Pfennige das Pfund machten einen tüchtigen Posten aus, wenn man sie dreizehnmal nahm. – »Sieh mal, Mamma, wenn wir nun bei zehn Pfund bleiben, . . .« – »So haben wir bloß mehr Knochen als bei der anderen, Pappa, glaub' mir das zu.« – Sie besahen den dreizehnpfündigen Vogel, der seinen langen Hals wehmütig vom Tisch herunterhängen ließ. Mamma rühmte die Brust und die Keulen und den Steert, der immer Pappas Deputat war, und als sie sagte: »Ja, denn brat' ich ihn, daß er wird recht braun und knusperig und innen doch zart . . .« da roch P. C. Behm liebliche Düfte und schmatzte, weil ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Die dreizehnpfündige Gans siegte. Vater zog seinen Lederbeutel heraus, zählte das Geld auf, und als Frau Michaelsen, die ebenso wohlgenährt und glänzend aussah wie ihre Gänse, freundlich fragte, ob sie die Gans nicht hinschicken sollte, wehrten beide lebhaft ab, denn das wäre gegen jeden Brauch gewesen. Man konnte auch nicht wissen, ob Frau Michaelsen sich nicht vergriff und schließlich eine andere schickte. Frau 56 Behm holte den geräumigen Marktkorb hervor, den sie während der Wahl beiseit gestellt hatte, und der Vogel wurde sorgsam hineingepackt, daß nur sein Schnabel zwischen Deckel und Korbrand hervorsah, als wollte er Luft schnappen. Dann faßten Vater und Mutter auf je einer Seite an den Henkel und trugen ihren Braten heim. Der Korb jankte ordentlich, so schwer war er. »Soll ich Äpfel und Pflaumen nehmen und füllen sie mit? Oder bloß Äpfel?« fragte Frau Behm. – »Nein, nein, man ja beides. Die Pflaumen geben gerade den süßen Geschmack,« antwortete P. C. Behm und fuhr sinnend fort: »Grobknochig ist sie nicht. Wenn man so die Beine anfaßte . . .« – »O,. sie ist jung,« rief Frau Behm. »Sie wird zart und saftig. Und die Leber . . . wenn ich die brat'!« – P. C. Behm schmatzte wieder. Sie trugen ihren Vogel und besprachen ihn von hinten und von vorn und durch und durch.

Zu Hause sollte Bernhard die Gans auch bewundern. Aber der weigerte sich erst: »Kinder, wenn ihr so viel zu thun hättet wie ich, würdet ihr euch wahrhaftig nicht um Gänse kümmern.« – Doch der Weihnachtsbraten lag blank und säuberlich da, und Bernhard konnte sich schließlich dem lockenden Anblick nicht entziehen. Er trat näher und sagte: »Mutter, die eine Keule leg' aber in Sauer. Das giebt was Pikfeines.«

Anna war still und nickte nur, als Frau Behm sie fragte, ob es nicht eine schöne Gans sei. Sie 57 war überhaupt in der letzten Zeit nicht gesprächig. Bei allem, was sie that, dachte sie an Körting, was der wohl dazu sagen würde und wie sie das mit ihm besprechen könnte. Sie war unzufrieden, und ihre Familie war ihr fast fremd geworden. Und trotzdem dünkte es sie, als lerne sie die Ihren jetzt erst kennen, durch den Gegensatz zwischen ihnen und Körting. Klein und kleinlich war jeder Raum im Hause und jedes Wort, das da gewechselt ward. Das nichtige Hin- und Hergerede über die Gans schien ihr schrecklich, sie hätte am liebsten rufen mögen: Giebt es denn nichts Höheres, worüber man sich unterhalten kann? – Aber das wäre ein Ruf gewesen, wie ihn die Wände noch nie gehört hatten, und sie hatte Angst davor, ihn laut werden zu lassen. Desto unmutiger war sie bei sich und trug etwas von Verachtung gegen ihre Eltern und ihren Bruder in der Brust herum. Als indessen das milde, alles Harte abschleifende Weihnachtsfest kam, schalt sie sich ihres Hochmuts wegen und war doppelt zuthunlich zu den Ihrigen.

Familie P. C. Behm feierte Weihnachten um den Gänsebraten herum. Die Gans war eigentlich das Christkindchen bei ihnen. Mittags wurde gefastet. Mutter Behm backte Förtchen in Schmalz, die sie Nüssebacks nannten, und man trank Kaffee dazu. Bernhard hatte furchtbaren Hunger und aß deshalb auf Kraft von den heißen, spritzelnden Dingern, die inwendig Apfelmus trugen, bis er zwanzig von ihnen 58 herunter hatte. Nachmittags putzte Anna den kleinen Baum auf mit altem Zuckerwerk und Lametta und Schneewatte und siebenzehn Lichtern, denn der eine Kneifleuchter von den anderthalb Dutzend hatte voriges Jahr die Feder verloren und saß nicht mehr. Frau Behm war den ganzen Nachmittag über mit der Gans beschäftigt und konnte daher um fünf auch nicht mit zur Kirche gehen. Von der Kirche ging Bernhard erst zum Dämmerschoppen und trank ein paar Glas Grog. – »Wissen Sie,« meinte er zu seinem Nachbar, dem Regierungs-Supernumerar Weise, »ich bin sehr für Religion. Sie muß dem Volk erhalten werden. Durchaus. Aber wenn die Leute ihre Kirchen nicht heizen, dann können sie sich schließlich nicht wundern, daß der Atheismus immer mehr um sich greift. Man will doch da nicht frieren, wie? Übrigens, was heißt Atheismus?« – Regierungs-Supernumerar Weise wußte es nicht genau. – »Ich bin im Grunde auch Atheist,« legte Bernhard weiter dar und zermalmte den Zucker im Grog mit dem Löffel. »Das heißt: im höheren Sinne. Sie verstehen: als gebildeter Mensch.« – Er trank seinen Grog als Atheist und gebildeter Mensch.

Mollig und warm kam er nach Hause. Überall duftete es nach Gans, und Bernhard bekam wieder einen mächtigen Hunger. P. C. Behm ging auch mit schiefem Magen in der Stube auf und ab und roch dann und wann einmal zur Thür hinaus: »Wird sie gut braun, Mamma? Sohße übergießen, Mamma, 59 immer Sohße übergießen!« – Mamma steckte ihr rotes, verschwitztes Gesicht aus der Küche: »Laß mich man, mein Pappa, sie wird braun und schlank wie dein Meerschaumkopf.« – Endlich kam der große Augenblick, wo die Gans auf der ovalen Schüssel hereingetragen wurde. Sie setzten sich und schmausten, und P. C. Behm bekam die Keule. Die andere lag längst in Sauer. Bernhard hatte ein Dutzend Bock spendiert, von denen er nach und nach selbst die Hälfte trank, und es war ein Lobens und Preisens unter ihnen über das schöne, wunderschöne Essen. Mutter Behm saß stolz dabei und lächelte – mitessen konnte sie nicht, sie war satt von all dem Geruch und müde vom vielen Stehen. – Anna war an diesem Abend ganz bei ihrer Familie. Weit entfernt schien ihr, was draußen an sie herangetreten war, und sie vermißte nicht die Frische und die neuen Gedanken, mit denen Körting sie sonst einnahm. – Mies bekam nur Kartoffeln und Tunke, denn die Knochen von der Gans wurden aufbewahrt, davon kochte Mutter Behm noch starke Suppe. Deswegen durften sie auch nicht abgenagt, sondern mußten nur mit dem Messer und der Gabel behandelt werden. – Nach Tische, als alles abgeräumt war und nur der Duft noch an den herrlichen Weihnachtsbraten erinnerte, zündete Anna die Lichter auf dem Baum an, sie bescherten einander ihre Kleinigkeiten und freuten sich darüber. Bernhard schenkte seinem Vater eine Kiste Zigarren zu fünf Mark fünfzig mit Leibbinde, und der Alte rauchte 60 die Leibbinde mit, weil er dachte, das gehöre sich so. Es schmeckte ihm aber nicht und roch auch nicht gut. Er kam darum nur bis zur Hälfte der Binde, da belehrte ihn Bernhard, daß sie nur zum Schmuck sei. Und gleichzeitig meinte der Sohn dann bei sich: Ja, wie sind die Eltern eigentlich gegen einen zurückgeblieben. Unsereins wußte mit zwölf Jahren, daß man die Leibbinden nicht mitraucht. – Sie plauderten, knackten Nüsse, spielten Affenspiel und Hammer und Glocke, und Mutter Behm saß im Lehnstuhl mit vornübergebeugtem Kopf und schlief. – P. C. Behm erzählte: »Jetzt wird der Klub bald gegründet. Meinen Brief an den Kaiser hab' ich schon angefangen. Den muß der Klub dann genehmigen und denn – ihr sollt sehen!« – Bernhard fragte Anna: »Na, was machte denn wohl jetzt dein Dokter, wie?« – »Ich hab' keinen Doktor.« – »Sei man nicht gleich ungemütlich, klein Deern. Ich scherz' ja man. Der sitzt nun zu Haus in Hamburg und feiert. Da geht's gewiß höher her als hier bei uns. Sein Vater hat massig Geld. Der fabriziert Petroleum-Apparate. Ja, wenn man eine von seinen Schwestern kriegen könnte. Hübsche Mädchen. Er zeigte mir neulich ihr Bild. Reich, jung, schön – alles, was meinem Vater seinem Sohn gut passen könnte. Das wächst nur nicht für einen armen Postassistenten. Aber das nimm mir nicht übel, Schwesting: ein ganz klein bißchen ist zwischen euch doch los.« – »Ach wo.« – »Na na. Ich sehe, was ich sehe. Postdienst schärft den 61 Menschenblick.« – »Wie denn, wie denn?« fragte der alte Behm, der von der Unterhaltung nicht viel verstanden hatte. – »Bernhard ist bloß naseweis,« antwortete Anna. – P. C. Behm war abseits, in seiner Welt. – »Kinder, laßt uns nur erst Kriegshafen sein ebenso wie Kiel, denn macht sich alles andere von alleine,« murmelte er und blickte träumerisch in sein Glas. – Anna pustete die Lichtstümpfchen aus, und der brenzliche Geruch der glimmenden Dochte zog Frau Behm in die Nase, daß sie niesen mußte. Davon wachte sie auf. Ihre Haube hatte sich verschoben. Sie blickte fremd um sich und fragte halb im Traum: »Hat Mies nu die Knochen doch gekriegt?« – Die anderen lachten sie aus, und P. C. Behm machte einen Scherz, indem er nach der Melodie des Abendsignals mit seiner heiseren Stimme sang:

»To Bett, to Bett, wer'n Leefste hett,
Wer gor keen hett, geiht so to Bett,
To Bett – to Bett – to Bett!«

Das war ein lustiger Schluß von dem gemütlichen Weihnachtsabend. Sie verteilten sich in ihre Schlafstuben. Bernhard nahm sich noch eine Zigarre und eine Flasche Bock mit auf seine Kammer. Das paffte und lutschte sich da so angenehm.

Anna saß halb ausgezogen auf ihrer Bettkante und dachte: Wie er es jetzt wohl hat? Ob er wohl Weihnacht feiern könnte, wie wir es gethan haben? – Seltsam, sie vermochte sich nicht vorzustellen, daß 62 er mit an ihrem Familientische saß. Und als sie es zwingen wollte und ihn an ihre Seite, zwischen sich selbst und ihren Vater setzte, und nun die Gespräche vorüberziehen ließ, die heute abend geführt waren, kam ihr bei manchem geredeten Wort, das in ihr nachhallte, ein Pein auf, und sie schämte sich, daß er das anhören mußte. Was dachte er nur? Schleunig führten ihn ihre Gedanken vom Familientische hinweg und hinaus, wo sie beide allein waren. Da brauchte sie sich nicht mehr zu schämen.

* * *


 << zurück weiter >>