Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Die beiden Alten hockten zusammen in ihrer dunklen Schlafkammer. Sie mochten kein Licht sehen. Sie saßen und starrten mit weiten, traurigen Augen in die Finsternis. Die Lider brannten ihnen, die Kehle war ihnen wie zugeschnürt. Sie sprachen kein Wort. Dann und wann hörte eins vom andern ein kurzes Aufschluchzen, indes sie unterdrückten ihren Schmerz nach Kräften, denn sie wollten einander nicht noch mehr betrüben. Da aber fühlte die kleine Frau, wie eine kalte, zitterige Hand auf ihren Knieen tastete, so hilflos suchend und doch voller Sehnsucht, zu trösten und zu lindern. Leise nahm sie die Hand zwischen die eigenen Hände, drückte sie und sagte nur innig: »Mein arm klein Pappa.« – »Mamma!« – Der alte Mann fiel im 244 dunklen Gemach vor sie hin und legte seinen Kopf auf ihren Schoß und weinte sich herzlich satt. Sie hielt ihn und streichelte sein Haar, und so viel Kummer auch in dieser kleinen Schlafstube war, es war noch viel mehr Liebe darin, Liebe zwischen den beiden alten Herzen, die ihr Leben so einfach mitsammen getragen hatten, die sich gefreut hatten über jeden kleinen Fortschritt und die jetzt in eine düstere, sorgenbedrückte Zukunft blickten. So blieben sie lange, ohne viel Worte, nur »Mamma« und »Pappa« sagten sie: darin lag ihnen die Welt mit aller Freude und allem Leid umschlossen.

* * *

Auch Anna wollte jetzt beinahe erlahmen. Ihr war, als sei ihr ganzer Kampf umsonst gewesen. Sie brütete mit schmerzendem Kopf vor sich hin. Sie wußte nicht mehr aus noch ein. Der Konkurs war da. Nun half all ihr Mühen, all ihr Herumlaufen nichts. Sie versuchte zu beten. Aber es gelang ihr nicht. Sie dachte daran, zu Pastor Borchert zu gehen. Aber was sollte sie da? Sie brauchte nichts als Geld, Geld, Geld. – Bernhard ging nicht mehr in Uniform aus. Er vermied es, die Blicke der Leute auf sich zu ziehen.

Die Not war hoch. Das Gesetz ging unerbittlich seinen Weg. Hohl waren die Wangen der beiden alten Leute, und auch Anna schlich blaß herum und versuchte nur bisweilen den Eltern Mut zuzusprechen, den Mut, 245 den sie selber nicht mehr besaß. Einmal traf sie Dr. Körting, von dem es hieß, daß er sich bald mit einem Mädchen aus angesehenem Hause verloben werde. Es verlangte Anna heiß, ein Wort mit ihm zu wechseln. Sie sah ihn an mit bittenden Augen, und er schien eine kurze Spanne zu zaudern, machte ein sehr ernstes Gesicht und schaute bedauernd zu ihr herüber, aber dann zog er den Hut, tief und ehrfürchtig, wie er ihn wohl noch nie vor Anna gezogen hatte, und ging vorbei. – Er hat ja auch nicht das Recht, sich da hinein zu mischen und sich zu erkundigen, dachte Anna seufzend und entsagend.

Alles sollte den Alten genommen werden. Das Haus, die Möbel, die paar Waren. P. C. Behm war stumpf und ließ das Schicksal über sich ergehen, Frau Behm hatte tiefe Thränenfurchen unter den Augen, sie aß kaum etwas, und das wenige, was sie verzehrte, kam ihr noch wie Raub vor. – Rettete denn niemand die Familie P. C. Behm vor dem Untergange?

* * *

Es war ein sonnig warmer Tag. Die Straße lag in blendendem Lichte da, die Menschen gingen langsam und behaglich auf der Seite, wo noch ein wenig Schatten war. Die Fenster und Thüren standen auf, und die Fliegen summten an den Mauern, an denen eine zitternde Luftschicht nach oben strömte. Die Pferde zogen mit trägem Nicken ihre Wagen, und den Kutschern hing die Peitsche schwer in 246 der Hand. Scharf zeichneten sich die Giebel vom hellblauen Himmel ab, und die Ziegeldächer flimmerten ihre roten Strahlen aus. Ein paar Flachsköpfe spielten auf den heißen Steinen. Bäckermeister Jaspersens Kleinster lag auf der Vortreppe und schlief, das Köpfchen nach unten und die bloßen dicken Beinchen auf die oberen Stufen ausgestreckt.

Es kamen Männer mit hartem Schritt, großen Händen und gleichgültigen Gesichtern, schleppten P. C. Behms Hausrat, Stück für Stück, hinaus auf die Straße und stellten ihn neben dem Fußsteig in einer Reihe auf. Denn heute nachmittag war Auktion. Armselig nahmen sie sich nur aus, die kleinen braunen Möbel, und doch hingen zwei Menschenherzen an ihnen, an jedem Stuhl, an jedem Tischchen, mochten sie noch so abgeschabt und wackelig sein. Da standen die Sachen, die sich das treue Paar nach und nach erworben hatte, da standen sie, überbrütet von der Sonne, und harrten ihrer neuen Besitzer, und mit jeglichem Stück, das aus der Thür getragen wurde, ging ein Stück Seele mit hinaus, und Schmach und Not legten sich breit an die leeren Stellen, wo das mühsam Errungene gestanden und seine Spuren aus dem Fußboden und an der Wand eingeprägt hatte. Nur das Allernotwendigste wurde der Familie P. C. Behm gelassen.

Die blieben stumm. Sie wehrten sich nicht, als die Bilder von den Wänden genommen wurden, die schönen Öldruckbilder, die P. C. Behm selbst 247 eingerahmt hatte mit Rahmen aus gebeiztem Tannenholz, es wurde nicht wild in ihnen, als die großen Nußbaumschränke fortkamen, die Frau Behm als Mitgift aus Kopenhagen hergebracht hatte, sie begehrten nicht auf, als man ihnen den blanken Kupferkessel nahm, der der Stolz gewesen war von Frau Behms Küche alle die langen Jahre hindurch. Aber als es öder und öder wurde, konnten die beiden Alten es nicht mehr mit ansehen und krochen wieder in ihre Schlafkammer hinein. Die Betten – die blieben ihnen ja. Sie saßen wie tot und hörten das Rücken der Möbel, den eintönigen Gang der Männer, und es schien ihnen, als würden da lauter Särge weggetragen, lauter Särge, und in jedem lag ein Teil ihres Daseins, ihres Strebens und Hoffens, ihrer Freude und ihrer Sorgen. Wohin nun? Am liebsten hätten sie sich selbst auch hinaustragen lassen, aber nicht auf die Straße, nein, viel, viel weiter, durch das Lübecker Thor zum Friedhof hinaus, wo ihr ältestes kleines Kind lag, das mit einem Jahr gestorben war. Das glückliche Kind!

Mitleidig schauten die Nachbarn auf das, was vorging. Auch Bäckermeister Jaspersen stand vor der Thür und klimperte nach seiner Gewohnheit mit den Moneten. Aber er hatte heute keine rechte Freude an dem Klang. Das war zu traurig mit dem alten P. C. – Gott bewahr' uns, nein, da war ein Begräbnis das reine Schützenfest dagegen. Konnte man denn gar nichts thun? Ja, da mußte man was 248 thun. Er grübelte und rechnete und wurde ganz unruhig. Und als dann noch Minna vorüberging und ihm zurief: »Dat mutt man segg'n: schöne Frünn'n hett de ole Behm. Schafskopf spielen, das können sie mit ihm, aber wenn er in die Schande kömmt, denn hilft ihm kein einer!« – da raffte er sich zusammen, legte seine weiße Schürze und die Bäckermütze ab, zog den Rock an und ging zu den andern Brüdern von der Koggenstedtia. – »Wüllt ji? Veerhunnert geef ick. Dat künnt wi nich up uns sitten laten, dat se em dat Hemd vun'n Lief rieten.« – Es wurden lange Unterredungen, besonders Ahmsetter war nicht leicht herumzukriegen, aber es glückte endlich doch.

Die Leute versammelten sich nach Tisch auf der Straße um den Hausrat, prüften ihn und schätzten ihn ab, probten die Festigkeit der Stühle, betrachteten die Bilder. Neugierige und Kauflustige war untereinander. Dann kam der dicke Auktionator und begann am rechten Ende. Er fing an: »Ein Spiegel, Drei Mark. Wer bietet mehr?« – »Drei fuffzich!« – »Drei Mark fuffzich zum ersten . . .« – »Vier!« – »Vier Mark zum . . .« – »Vier zwanzig!« – »Vier Mark zwanzig zum ersten, zum zweiten . . . wer bietet mehr?« – »Vier vierzig!« – »Vier vierzig zum ersten, vier vierzig zum zweiten, vier vierzig zum . . .« – Seine starke Stimme hallte ins Haus, als wenn mit Keulenschlägen dagegen gepocht würde. Die Alten in ihrem Schlafgemach zuckten 249 zusammen, Anna, die oben saß, stöhnte auf. – »Vier vierzig zum dr . . .«

Da stürmten die Straße herauf Bäckermeister Jaspersen und die übrigen Koggenstedtia-Brüder und winkten dem Auktionator von ferne zu und schrieen: »Holt! Holt! Holt!« – Es gab eine hitzige Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Verkäufer, der sich das Geschäft nicht stören lassen wollte, und die Menge stand herum und schwatzte und freute sich über den schönen Streit. Aber Jaspersen ließ nicht locker und machte mit seinem rundlichen Arm eine Kreisbewegung über alle Sachen hin: »Wir kaufen allens, allens, kein Stück kommt hier weg.« Dann bot er, bot reichlich für die ganze Bescherung zugleich, und keiner war, der ihn überboten hätte, denn er sah sie an, als wollte er sagen: »Untersteht euch!«

P. C. Behms Möbel gingen also in den Besitz der Koggenstedtia über. Der Bäcker ließ seine beiden Gesellen und ein paar Eckensteher kommen und befahl: »Rin mit den Kram, wo he herkamen is.« – Weit sperrte er die Hausthür auf und rief mit dröhnender Stimme: »P. C., laß deine Frauensleute man erst auffeudeln. Denn is dat Ganze bloß 'n Reinmachen gewesen.« – Die Alten horchten auf; schwere, gleichmäßige Tritte kamen wieder die Treppe heraufgestampft, und die Männer fragten Anna, die auf dem Flur stand: »Wohen schall dit? Wohen schall dat?« – Ohne recht zu wissen, was vorging, wies sie ihnen die Plätze an, und das Haus war beinahe 250 schon wieder voll, als die Alten sich endlich, von Ungewißheit getrieben, hinauswagten und verwirrt auf die Sachen blickten, von denen sie vorhin Abschied genommen hatten. Die Koggenstedtianer gingen zufrieden und schmunzelnd umher und waren stolz auf ihr Werk, Jaspersen aber klärte seinen alten Freund auf, der mit ängstlicher Spannung zu ihm blickte, und schließlich zog der Bäcker gemütlich ein Papier hervor und sagte: »So, P. C., nu unterschreib' dich mal. Ordnung mutt sin. Dat is weg'n Leben und Starben. Wir übernehmen einfach allens un damit basta.« –»Oh, oh,« stammelte der Alte, der erst allmählich begriff, daß seine Freunde ihn gerettet hatten. Sein Kopf war ihm zum Zerspringen. Frau Bolette trippelte herum und streichelte ihre Sachen und rückte sie zurecht und sprach mit ihnen wie mit Lieben, die sie lange, lange nicht gesehen hatte. Anna drückte den braven Koggenstedtianern die Hand, dann verbarg sie sich und ließ stürmen in ihrem Herzen, was stürmen wollte. – Bernhard war schon am Morgen früh ausgegangen, er hatte sich einen Tag Urlaub erbeten, er wollte das Schreckliche nicht mit erleben. Als er aber am Abend heimkehrte, scheu und an den Mauern schleichend, fand er alles wie früher, und alle waren vergnügt. – »Na, Gott sei Dank!« atmete er auf und ging gleich hin und zog seine Uniform an. – »Nun wird man doch wieder Mensch,« sagte er.

Die Koggenstedtia hielt eine Festsitzung ab. Der alte Behm mußte aus seinem Brief vorlesen, und 251 danach spielten sie ihren Schafskopf und lachten P. C. aus, weil er viel Geld verlor, und ließen ihn leben und sein' Frau und Kinder daneben, und waren froh und lustig, weil sie Gutes gethan hatten. – Abends im Bett sagte der Alte nur: »Wir haben es behalten, Mamma, – das Haus auch.« – »Lieber, lieber Gott,« flüsterte die kleine Frau, und das war ein Gebet so voll Dankes, so aus innigster Seele heraus, wie sie es noch nie gesprochen hatte. Vor Ermüdung schliefen sie ein, zum erstenmale, ohne das Nachtlicht gelöscht zu haben. Das schimmerte ruhig über die beiden alten Gesichter, die sich im Schlummer ein wenig röteten.

* * *

Los war Familie P. C. Behm ihre Schulden nicht, aber sie konnte ungedrängt nach und nach abbezahlen. Frau Behm saß wieder im Laden und strickte, Bernhard war still und verkehrte fast nicht mit seinen früheren Bekannten. Er gab von seinem Gehalt her, was er entbehren konnte, und freute sich, daß der Platz auf dem Sofa wieder ihm gehörte. Anna schneiderte von früh bis spät. Sie hatte sich in der Zeitung den geehrten Damen empfohlen, und weil die Schneiderinnen in Koggenstedt nicht reichlich waren und überdies nicht viel Geschmack hatten, bekam sie rasch zahlreiche Aufträge von feinerer 252 Kundschaft. Sie arbeitete oben in der Stube, in der sie mit Schelius geschlafen hatte, und jedesmal, wenn sie an ihren verschollenen Mann dachte, wurde ihr heiß, und sie mußte ans Fenster eilen. – Ganz ratlos über den schlimmen Fall war Pastor Borchert. »Nein,« sagte er und blickte zum Himmel auf, »liebe Anna, wie ist das nur möglich! Wie kann man sich so in einem Menschen irren? Der böse Geist ist doch gar mächtig auf Erden, liebe Anna.« – »Ach, Herr Pastor, ich hab' meinen Mann schon bald nach der Heirat durchschaut. Das war keine Ehe, die der liebe Gott geschlossen hatte.« – »Ja, mein Kind, ja, ja, wir dürfen aber doch deshalb nicht an Gottes Güte zweifeln. Wir müssen trotzdem sagen, daß es das Beste für Sie war.« – »Nein, Herr Pastor, das müssen wir nicht. Daß ich an Schelius gekommen bin, ist ein heilloses Unglück für mich – auf Lebenszeit. Das ist gar nicht wieder gut zu machen. Was das mit Gottes Güte zu thun haben soll, versteh' ich nicht. Will ich auch nicht verstehen. Nicht einmal beten kann ich mehr.« – »Gottes unerforschlicher Ratschluß . . .« – »Herr Pastor, damit kommen die Pastoren immer, wenn sie sonst nicht das Geringste mehr zu sagen wissen. Mit der Unerforschlichkeit wird alles überstrichen, und das soll ein Trost sein. O ich will nicht in der Weise getröstet werden. Daß meine Eltern mich zu Schelius überredeten und daß ich mich überreden ließ, war das Schlechteste, was mir passieren konnte. So ist es und nicht anders. Und 253 wenn die Zeit um ist, laß ich mich scheiden. Den Namen will ich wenigstens wieder los sein. Was er mir innerlich angethan hat, davon werd' ich doch nie wieder frei, nie! Im übrigen will ich nun Geld verdienen, viel Geld, damit ich meinen Eltern aufhelfen kann. Das ist alles, wonach ich mich sehne.« – Kopfschüttelnd ging der Geistliche davon. Er sah wohl ein, daß seine bestgemeinten Worte bei dieser verbitterten Frau jetzt nichts verfingen. Sein sanftes Christentum reichte da nicht aus, – es bedurfte der That. Und davon verstand er in seiner behaglichen Weltfremdheit nichts. Er ließ Anna einstweilen ziehen, in der sicheren Hoffnung, der Herr werde ihr die rechten Wege weisen, um wieder zum Glauben an die Allgüte zu gelangen. Hatte sie den, dann kam alles andere von selbst. Das wußte er.

Der alte Behm wollte seinen Packen auf die Schultern nehmen und hausieren gehen wie in früheren Jahren. Aber die Frauen litten das nicht, und er ließ sich auch erst leicht von seinem Vorhaben abbringen. Zu Hause war es freilich viel gemütlicher als auf den Land- und Dorfstraßen. Er saß wie ehemals an seinem Schreibtisch und war mit seinem Brief schon bis 1724, ein glorreiches Jahr für Koggenstedt, denn Herzog Heinrich hielt damals mit seiner holdseligen Braut, der Prinzeß Margarete Luise, ein prunkvolles Beilager hier ab, und sieben böse Hexen wurden verbrannt. Das erzählte er dem Kaiser, damit dieser sehen sollte, daß Koggenstedt von fürstlicher 254 Seite auch zu jener Zeit noch sehr gewürdigt worden war und daß man in Zucht und Ehrbarkeit hier lebte. »Wie das freilich mit der Hexerei war, durchlauchtigste Majestät, darüber bin ich im Zweifel, aber da hohe Obrigkeit sothane Weibspersonen nach ordentlichem Gericht für schuldig befunden, muß doch auch wohl etwas an ihrem ärgerlichen Lebenswandel gewesen sein. Gott sei Dank, daß wir heutzutage von solchen häßlichen Dingen nichts mehr wissen.« – So schrieb er und lebte still dahin. Aber seine Gesundheit war schwach geworden, seitdem er die Tage des Grams und der drohenden Not durchgemacht hatte. Er mußte sich immer mehr schonen, konnte bei rauhem Wetter nicht ausgehen, und Kopf und Hände begannen ihm zitterig zu werden. Dabei sorgte er sich immer um die Zahlungstermine, daß nur ja alle Zinsen auf Heller und Pfennig da waren und genau das abgetragen wurde, was ausgemacht war. Das geschah auch dank Annas Fleiß regelmäßig, – nur einmal, um Johannis war es, da wollte es nicht recht gehen, und Anna begab sich zu Jaspersen, um Aufschub zu erbitten.

Während sie fort war, wurde der Alte auf einmal von Angst befallen und furchtbar aufgeregt. Nun konnten sie nicht bezahlen, nun kamen gewiß bald wieder der Gerichtsvollzieher und die anderen schrecklichen Menschen und nahmen die Sachen weg und stellten sie auf die Straße, in den Rinnstein. In den Rinnstein – seine Sachen! Der Alte fuhr empor, wankte und hielt sich an der Lehne seines 255 Stuhles fest. Nein, das sollte um keinen Preis geschehen. Kein Stück sollte hinaus. Dafür wollte er selbst arbeiten. Hastig schlich er in die Schlafkammer, zog seinen alten Hausierrock und die Stulpstiefel an und ging hinunter in den Laden. – »Mamma, pack' mir meinen Korb. Ich will zu Dorf, nach Feldbeck, und noch ein paar Groschen verdienen.« – »O nein, o nein, das sollst du so Gott nicht, mein Pappa!« – Aber der Alte war hartnäckig und nicht umzustimmen. – »Pack' mir den Korb, Mamma, ich will das,« befahl er ganz energisch, »ein bißchen Wollgarn, Zwirn, Strümpfe, Unterhosen und ein paar Jacken. Braucht nicht viel zu sein. Ich muß was mitverdienen. Die Zinsen müssen bezahlt werden.« – »Anna wird böse, Pappa! Nein, nein, du darfst nicht. Bei der Hitze!« – »Mamma,« sagte der Alte dringend, »ich kann nicht hier sitzen. Ich muß was thun. Hier erstick' ich. Wir kommen wieder in Konkurs. Wir fallen wieder in Schande. Ich geh' ganz langsam, wo Schatten ist, und um fünf bin ich schon wieder hier.« – Seine fliegende Angst teilte sich der kleinen Frau mit. Sie verlor ihr Nachdenken, sie sah auch den Ruin vor Augen, und ihr Widerstand war zu schwach, als daß sie ihren Mann von seinem zähen Willen hätte abbringen können. Sie gab nach, mit Seufzen und Weinen, und that allerhand Wollenes in den Tragkorb, den der Alte aus der Ladenecke hervorgeholt hatte. Sie half ihm den Korb auf den Rücken und befestigte 256 die Riemen an seiner Hüfte. Dann gab sie ihm den Stock in die Hand und setzte ihm die Schirmmütze auf. Er trieb zur Eile, damit Anna nicht erst wieder heim käme, ehe er fort war, denn er wußte wohl, die schloß die Hausthür ab, daß er nicht hinauskam. Als er sich aufrichtete, strammte ihm die ungewohnte Last, und die Luft blieb ihm stehen. – »Bleib' doch bloß, mein Pappa, bleib' doch bloß hier!« – »Nein,« sagte der Alte und atmete mit Gewalt. »Ich will. Kleinen Gang nur. Nur fünf Groschen verdienen. Sonst werd' ich verrückt. Ich fühl' mich jetzt auch schon ganz frisch. Fein geht es. Einfach fein.«

Und wirklich, er raffte sich auf. Seine Frau half ihm die Treppe hinunter, er sagte: »Djüs, Mamma,« und trug seinen Korb, auf den Stock gestützt, in der vornübergebeugten Haltung und mit dem schwankenden Gange, wie er von altersher auf seinen Hausierwegen zu gehen pflegte. Ja, an der Straßenecke machte er noch einmal Halt und drehte sich um und sah mit treuen Augen und freundlich nickend zu seiner Gefährtin zurück, die ihm am liebsten nachgeeilt und mit ihm gegangen wäre, hätte sie nur den Laden verlassen können!

Stolz war P. C. Behm, als er dahinschritt, und dachte: das mach' mir einer mal nach in meinem Alter. Er kam vor's Thor. Unter den Bäumen stapfte es sich gut. Vergangene Tage stiegen vor dem Alten auf. Wie oft war er diesen Weg 257 gefangen. Jeden Garten, jeden Strauch, jeden Stein an der Chaussee kannte er. Wie hoch und dicht war alles gewachsen seit dem letzten Mal. Und die Kilometersteine hatten einen neuen weißen Anstrich und große schwarze Nummern bekommen. Wenn er früher hier entlang ging, stimmte er wohl sein Lied an. Das versuchte er auch heute und begann: »Mein Schiff streicht durch die We–ellen . . .« Aber das wollte nicht mehr, die Luft wurde ihm knapp und der Hals trocken, er mußte sich einen Augenblick ausruhen. Darauf mühte er sich wieder vorwärts.

Wenn er erst in dem kleinen Wald war, der sich dort hinten anschloß, wo der Seitenweg nach Feldbeck von der Chaussee abzweigt, – wenn er dort erst war, hatte er es gut. Dann wollte er sich eine längere Pause gönnen. Waldluft that wohl. Er bog in den Seitenweg ein und freute sich schon auf die Kühle des Gehölzes. Er strebte angestrengt weiter und weiter durch den weichen Sand, – aber es kam kein Wald. P. C. Behm erhob den Blick und spähte umher: kein Baum war zu sehen. Endlich gelangte er auf ein weites, nur mit Gestrüpp bestandenes Feld, aus dem zerhackte Baumstumpfen emporragten und das mit Stücken von Wurzelwerk übersät war, – auf diesem Fleck hatte einst sein schattiger Wald gerauscht, nach dem er sich sehnte! Die Enttäuschung war zu groß für den Alten. Er sank auf einen der Stumpfe nieder, und die Last auf seinem Rücken wurde plötzlich schwer, so daß sie ihn fast niederdrückte. Da löste er die 258 Tragebänder, der Korb fiel hinab, und die Wollsachen zerstreuten sich rings über den Boden hin. In der glühenden Hitze saß der alte P. C. Behm. Fern, ganz fern konnte er die Dächer des Dorfes sehen, in dem er hatte handeln wollen und das er nicht mehr zu erreichen vermochte. So starrte er, und eine Müdigkeit umpreßte ihm den Kopf, die Augen sanken ihm schlaff zu, er bückte sich ganz in sich zusammen und schlief ein. Die Arme hatte er kreuzweis auf die Krücke seines Stockes gestützt, und auf den Armen lag seine heiße Stirn. Er schlummerte, mit offenem Munde die zittrige Luft einholend, und um ihn brütete, summte, duftete und blühte der grelle Sommer.

Anna war nach Hause gekommen, hatte von der weinenden Mutter erfahren, was dem Alten eingefallen war, und stürzte ihm nach in der Hoffnung, daß er den gewohnten Weg eingeschlagen habe. Sie fand ihn. – »Vadding! Mein Vadding! Was thust du uns einmal an!« – Sie rüttelte ihn. P. C. Behm erschrak, erwachte und blickte fremd um sich. – »Was . . .« –»Vadding! Wie kannst du nur! Wie konnte Mutter dich gehen lassen!« – »Geld verdienen,« lallte er. – »Aber das ist alles schon in Ordnung . . . die sind doch nicht so.« – Er zitterte. ». . . denn wieder alles auf die Straße,« murmelte er unruhig. – »Nichts da, nichts da. Wir bezahlen um Michaelis doppelt. Ich habe ja so viel zu thun.« – »Der Betrüger,« sagte der Alte, und Bitterkeit biß ihm die Falten im Antlitz schärfer aus. 259 – »Denk' nicht mehr an ihn. Laß ihn laufen, Vadding. Wir haben uns.« – »Alles nehmen sie uns weg,« fing Behm hartnäckig wieder an, und das klang wie Schluchzen. – »Nichts nehmen sie. Alles gehört uns. Nun komm', nach Hause, nach Hause, Vadding!« – Er sah nach dem Dorf. »Dahin will ich . . .« – »Nein, keinen Schritt gehst du.« – Sie packte die Sachen in den Tragekorb. Der Alte stellte sich wie ein geduldiges Tier neben sie hin und wartete, daß sie ihm die Last wieder aufbürde. – »Du trägst nichts, Vater. Ich trag' es.« – Mit einem Schwunge saß der Korb auf ihrem eigenen Rücken. Dann zog sie den Alten heim. Er wankte, sie mußte ihn halten, er redete wirre Worte und hatte ein dunkelrotes Gesicht. Sie bückte sich, netzte ihr Taschentuch in dem bißchen Wasser, das im Graben war, und kühlte ihm die Schläfen. Er stand still, schloß die Augen und wollte zusammensinken. Sie umkrampfte ihn in Angst und wartete, bis er wieder klarer wurde und eine Strecke gehen konnte. Langsam und mühselig, immer ihm Mut zusprechend, ihn streichelnd, haltend, mit ihrem Schatten ihn beschirmend, kam sie endlich mit ihm ans Thor. Da stellte sie rasch den Korb ein und bat Leute um Hilfe. Der Alte war teilnahmlos und ließ mit sich machen, was sie wollten. Er atmete schwer und kurz dabei, es rasselte in seiner Brust, sein Gesicht war verquollen. Anna sprach jetzt wenig. Die Seelenangst schnürte ihr die Luft ab. P. C. Behm wurde nach seiner 260 Wohnung getragen, wo die Mutter die Hände rang: »Ich bin schuld! O Gott, o Gott, ich bin schuld!« – »Ruhig, Mutter,« sagte Anna fest. »Helfen müssen wir. Nicht in die dunkle Stube. Laß sein Bett hier in die Wohnstube kommen.«

So geschah es. Der Alte wurde sorglich gebettet. Er phantasierte vom Kriegshafen und Zinsenbezahlen und kannte niemanden. Bernhard lief zu Dr. Körtings Onkel, und der alte Sanitätsrat sah bedenklich drein. – »O Herr Rat,« wimmerte Frau Behm, »Herr Rat! Mein guter Mann, unser lieber guter Pappa . . . den müssen wir doch behalten . . . nicht? nicht? Das wird doch wieder besser?« – »Wollen's hoffen, liebe Frau,« sagte der Arzt und gab Anna Anweisungen. – Aber was sie auch thaten, es war vergebens. Es wurde schlimmer und schlimmer mit dem Alten. Seine Phantasieen irrten wild umher. Bald erzählte er ganze Stücke aus seinem Brief an den Kaiser, von den Feuersbrünsten und Hexenverbrennungen und Festlichkeiten und Seeschlachten, bald hielt er sein Bett an den Seitenbrettern krampfhaft fest und schrie, Schelius solle es ihm nicht nehmen, bloß sein Bett solle er ihm nicht nehmen! –

Bernhard war verstört, er hastete herum, lief von einem Zimmer ins andere und machte sich überall zu thun, aber seine Geschäftigkeit hatte keinen Zweck, wenn Anna ihm nicht Bestimmtes zu thun aufgab. Er sagte immer: »Ach, so schlimm wird es nicht sein, so schlimm gewiß nicht. Willst du nicht 'n Paff schmöken, mein 261 Vadding? . . . Das beruhigt so schön.« – Anna und Bernhard wachten des Nachts und schickten die Mutter möglichst früh zu Bett, denn die konnte nicht mehr und war vor Kummer selbst krank. Bei jedem Stöhnen des Alten weinte sie laut auf.

In der dritten Nacht saß Anna allein bei ihrem Vater, der ziemlich ruhig schlief. Er erwachte und war bei Besinnung. – »Mamma,« sagte er. – Anna rief sie, und sie schleppte sich, so rasch sie es vermochte, herbei. Aufgeregt fragte sie, indem sie sich zu ihm beugte: »Wirst du nun wieder besser, mein Pappa?« – Er nickte und sah von der Mutter zu Anna: »Meine Annsch.« – Die streichelte ihm das graue Haar: »Ja, ja, nun ist alles wieder gut!« – Er blickte sie milde, fast lächelnd an. – »Wo ist Bernhard?« – Bernhard kam. Alle drei standen um sein Bett. Das Licht der Nachtlampe bewegte sich eben hin und her, daß sich ihre Schatten an den Wänden verschoben, und die kleine Uhr im Pantoffel sagte tititi.

Vater Behms Augen gingen von einem zum andern. Er streckte seiner Frau die Hand hin und gab sie dann auch Anna und Bernhard. Etwas Verklärtes kam über sein Gesicht, es leuchtete und strahlte darauf, und die Runzeln waren garnicht mehr tief. Beinahe jung sah er aus, als seine Blicke sich voll Liebe und Zärtlichkeit in die weinenden Gesichter der Seinigen versenkten. Er wollte sie noch einmal recht betrachten, recht innig und lange, damit er sie behielte und ihre Bilder mit sich nähme in das andere Leben. 262 Wundersam ruhig und fast erhaben lag er da, der alte P. C. Behm, und begann mit klarer, nur wenig zitternder Stimme: »Ich dank' dir auch vielmals, liebe Mamma, für alles Gute und Treue, was du mir gethan hast. Du hast wohl viel Sorge mit mir durchgemacht, aber ich bin dir dankbar gewesen jede Stunde, liebe Mamma, jede Stunde, wenn ich es auch nicht so gesagt habe. Wir verstanden uns ja. Und dir dank' ich auch, mein klein Anna, du bist immer ein braves Kind gewesen und hast deinen Vater und deine Mutter geehrt, und deshalb soll es dir auch wohl gehen hier auf Erden. Das mit deiner Heirat – ja, das war ein Fehler von uns . . . aber wer konnte alles wissen? Wir wollten ja gern, daß du versorgt warst. Und du sollst auch bedankt sein, mein Bernhard, mein Jung, – du hast es doch zu was gebracht und bist mehr geworden als dein Vater, dem sie alles wegnehmen wollten. Seht man zu, daß ihr immer die Zinsen bezahlen und tüchtig abtragen könnt. Und mein Brief . . . Ja, das nutzt nun alles nichts mehr. Vielleicht schreibt ihn Maack weiter, daß der Kaiser ihn doch bekommt und daß Koggenstedt doch noch Kriegshafen wird.« – Er schwieg eine Weile. Darauf faßte er wieder die Hand seiner Frau. »Mamma, du hast zu leben, sie verlassen dich nicht. Wein' man nicht so. Einmal muß es ja doch zu Ende sein.« –

Er richtete sich empor in den Kissen, schaute großen Auges in der Stube umher und sprach: »Was hat man hier doch alles erlebt! So viel, so viel! Man 263 sollte es gar nicht denken . . .« – Er hob die Arme und legte sie um Frau Behms Schultern und sagte noch einmal mit aller, aller Liebe, die in seinem Herzen wohnte: »Dank' vielmals mein klein Mamma. Immer seid ihr gut zu mir gewesen. Nun müßt ihr nicht traurig sein. Mir thut ja nichts weh, ich hab' es nicht schlecht und nicht kalt. Der liebe Gott wird schon alles zum Besten lenken.« – Und mit einem letzten Blick in das Antlitz seiner Lebensgefährtin flüsterte der Alte: »Mamma, meine gute süße Mamma. Es waren doch schöne, schöne Jahre mit uns zusammen. Ja, ja, du lieber Gott, wir Behms . . .«

Er sank zurück. Das Röcheln kam, und am andern Morgen um neun Uhr hatte er ausgelitten. Pastor Borchert war in der Frühe herbeigeeilt, aber für das Abendmahl war es schon zu spät gewesen. Der Geistliche betete am Sterbelager seine schlichten, frommen Bitten, daß Gott die Seele dieses treuen Mannes gnädig empfahen und die Seinen trösten wolle.

So starb P. C. Behm und ging dahin, wo er nicht mit seinem Packen auf dem Rücken durch die Sonnenhitze zu pilgern, und wo er keine Zinsen zu bezahlen braucht, von wo man aber auch keine schönen Briefe an den Kaiser schreiben kann, daß er in Koggenstedt doch einen Kriegshafen einrichten möge. 264

* * *


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