Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Tuh tuh! kam es gedämpft aus der Ferne herüber. Körting sah scharf auf den Hafen hinaus. – »Da müssen wir hin,« sagte er lebhaft, »sie eisen einen Dampfer ein.« – Anna schüttelte ihre Gedanken ab, ihre Neubegier ward rege: »Ja, das möchte ich gern sehen.« – Er hielt ihr die rechte Hand hin, sie nahm sie, und der kräftige Druck, den sie spürte, drängte das Beklommene aus ihr hinaus. Sie segelten im Takt und beschrieben Bogen. Anna war aufmerksam, daß sie tüchtig mit ihm vorwärts kam. Ein freies Gefühl erfüllte sie, eine Freude über ihr eigenes, elastisches Gleiten, und über die Festigkeit, mit der Körting sie führte. Bald lag die Bahn mit den Menschen hinter ihnen, und nun flogen sie auf dem unberührten Eise dahin. Silbergrün schimmerte der glasblanke Boden, auf dem wunderbar zierliche Schneesternchen in Blumen- und Blätterformen glitzerten. – »Wie schön!« jauchzte Anna. »Als wenn wir über weißes Farrenkraut und Edelweiß laufen. Es thut mir ordentlich leid, daß wir die hübschen Blüten durchschneiden.« – »Sie wachsen wieder, Fräulein Behm, und in der unendlichen Menge, die hier verstreut ist, kommt es auf die paar, die wir zerstören, nicht an.«

Sie schwiegen und hörten nur ihr eigenes Ss-r ss-r ss-r, mit dem sie die runden Striche in das Eis einzeichneten, daß es zu ihren Seiten aufstäubte und der Saum von Annas Kleid weiß ward. Rasch kamen sie auf der unabsehbaren, menschenleeren Fläche 33 vorwärts. Der Dampfer hob sich schon über das Eis, und sie konnten erkennen, daß er unten rot und oben schwarz angestrichen war. Wenn bei dem Schornstein der von der Sonne hellgelb gefärbte Dampf herausdrang, der sich am blauen Himmel wie Zucker auflöste, so dauerte es schon gar nicht mehr lange, bis sie das Tuh tuh vernahmen. Immer kleiner wurde der Zwischenraum. Dann und wann ging ein Schüttern und Zittern durch das Eis unter ihren Füßen. Der Dampfer zerbrach die knackenden Schollen. Und jetzt sahen sie bei dem Dampfer viele Männer, die schwangen blinkende Hacken. Dumm dumm ertönte es, wenn die Eisen niederhieben. Sie waren am Ziel. – Eine große Reihe von Peekschlitten stand da mit Mänteln, Geräten, Kaffeekannen aus Blech, Flaschen und Körben bepackt, und in zwei Reihen, backbord und steuerbord voraus vor dem riesig aufragenden, qualmenden Dampfer, an dessen Bug der Name »Franziska Maas« gemalt war, arbeiteten die Fischer. Sie trugen graugelbe Wolljacken, die in der Kälte dampften, und ihre faltigen Hosen steckten in hohen Wasserstiefeln, über deren Spann dicke Riemen geschnallt waren. Die Riemen hielten eiserne Spitzen unter den Sohlen fest. Ab und zu machte einer Halt und schob den Südwester zurück, der über die Stirn gerutscht war. Dabei lehnte er sich auf den Baum seiner Hacke, der ihm bis an die Brust reichte und oval aus zähem Pitschpine- oder Eichenholz geschnitzt war. Unten am Stiel saß, in etwas stumpfem Winkel aufgetrieben, 34 das dicke, lange, vierkantige Eisen, das in einen scharf sich verjüngenden Halbmond auslief. Mächtige Wucht lag in solcher Hacke, aber um sie immer wieder zu schwingen, dazu gehörten auch starke Arme. Und die hatten sie, die Koggenstedter Fischersleute. – In Gruppen zu je zweien schlugen sie auf vorgemerkten Linien ins Eis, daß die großen Splitter davonstiebten, bis der Halbmond ganz in der schmalen Rinne verschwand und schließlich das Wasser herausplatschte. Bei jedem Hieb fuhr ihnen die Luft mit einem kurzen Ha! aus der Brust. Waren sie an ihrer Stelle fertig, dann gingen sie, vom Dampfer weg, weiter zurück und begannen ihr Werk von neuem. Der Dampfer, bei dem Anna und Körting standen und zusahen, wartete ruhig so lange, von Eistrümmern umzackt. Waren in weiter Strecke die beiden Linien vor dem Schiff feucht geworden, so verbanden die Fischer die Enden mit einem Querschnitt; nun lag, aus dem übrigen losgehauen, eine gewaltige, länglich viereckige Scholle da. Die Fischer sammelten sich beim Querschnitt, und zwanzig von ihnen bildeten eine Reihe. Je ein Mann zu beiden Seiten schlug vom festen Eise aus, etwa von fünf zu fünf Metern auf den Dampfer zu, Kerben in die Scholle. Die Fischer faßten einander an den Händen und gingen langsam zum Dampferbug vorwärts, taktmäßig mit den stachelbewehrten Stiefeln stampfend und mit den gebogenen Knieen nachdrückend. Dazu sangen sie unbeweglichen Angesichts abwechselnd in einem tiefen und einem höherem Ton: 35

»Haalt Brot, haalt Kees', haalt Wust,
Haalt Amsterdam, Rotterdam, Schie–dam,
Haalt Schnaps, haalt Köhm, haalt Beer.«

Unter dem Massengewicht brach das Eis in den Kerben ab. Das Wasser wurde emporgepreßt, und schnell traten die Fischer von dem schräg hinuntergedrückten Eisstück auf's nächste Flach über. Da that wohl einer einen Fehltritt oder war nicht flink genug, dann sank er bis an den Leib in die Rinne, aber die anderen hielten ihn fest und zogen ihn in die Höhe. Dabei wurde nicht etwa gescherzt. Mit ernsthaften, gefurchten Gesichtern sangen sie ihr einförmiges:

»Haalt Brot, haalt Kees', haalt Wust,
Haalt Amsterdam, Rotterdam, Schie–dam.«

Dicht vor dem Dampfer ließen sie einander los und trennten sich, suchten ihre Schlitten, nahmen einen Schluck und peekten sich nach dem inneren Hafen zu, wo zwei Kameraden die beiden Hacklinien an einer quergelegten und immer mehr zurückgeschobenen Stange weiter vorgemerkt hatten. Nach »Franziska Maas« sahen sie nicht zurück: die mochte sehen, wie sie nachkam; sie hatten ihre Pflicht gethan. An der neuen Arbeitsstelle verließen sie die Schlitten wieder und splitterten ins Eis, daß es krachte. – »Franziska Maas« aber sagte tuh tuh, der Kapitän, der oben auf der Kommandobrücke neben dem 36 Steuermann und dem Lotsen stand, rief seinen Befehl: »Vullspiet vörut!« durch das Sprachrohr in die Maschine hinunter, die Schraube fing an zu wühlen und zog Wasser und Eis in ihre Wirbel. Der Bug drängte sich gegen die zerkleinerten Schollen, die beiseite und über und unter das Eis wichen, sich aufbäumten und dumpf gegen die Schiffswände polterten, daß das ganze Fahrzeug erbebte. Wild knirschten die zerriebenen Eisstücke, scheuerten dem Dampfer die Farbe ab, barsten, zersprangen wie Glas, versanken, tauchten triefend auf, torkelten über einander, fraßen das eine vom andern, reckten sich wie flehend und schmerzvoll auf und ließen sich entmutigt sinken, während »Franziska Maas« siegreich und selbstbewußt durch das Schollengewimmel hindurchdrang, als hätte sie ganz allein die Haft des Frostes gesprengt und könne nimmer gehemmt werden. Aber als sie an das neue große Eisrechteck anstieß, fiel ihr der Mut, und sie sah ein, daß mit ihrer Macht nichts gethan war. Der Kapitän ließ stoppen, und Wasser und Eis hinter der Schraube wurden glatt und still, bis er wieder nahe herangekommen war, der Gesang:

»Haalt Amsterdam, Rotterdam, Schie–dam,
Haalt Schnaps, haalt Köhm, haalt Beer.«

Anna und Körting glitten neben »Franziska Maas« her. Sie hatten sich nicht mehr angefaßt, und Anna war keck: sie lief bis ganz dicht an die 37 Fahrrinne heran, daß ihr das übergespülte Wasser um die Schlittschuhe plätscherte. Darauf drehte sie sich um und sah Körting lachend an, und er nickte und kam zu ihr. Endlich waren sie des Schauspiels müde, die Dämmerung kam, und der Südwestwind erhob sich, der von der Stadt herwehte. – »Jetzt müssen wir nach Hause – wenigstens ich,« sagte Anna. – »Ja, und ich muß meine beiden Patienten besuchen. Hoffentlich sind sie nicht inzwischen gesund geworden.« – Sie liefen in den Hafen hinein. Der Wind strammte Annas Kleid über den Knieen, das hinderte sie am Ausholen, und sie atmete kurz. Da schob sich Körting hinter sie, faßte sie mit beiden Händen sacht um den Rücken und stieß tüchtig vorwärts. Anna stand gerade, hielt die Füße dicht nebeneinander und zuckte nur bisweilen zusammen, wenn sie an eine knupprige Stelle kamen. Sie plauderten allerhand vom Eineisen. Nach und nach wurde Körting doch müde, Anna fühlte, wie seine Hände sich schwerer auf sie lehnten. Da sagte sie, indem sie zur Seite lief: »Danke, Herr Doktor, jetzt kann ich wieder.« – Sie kreuzten die Arme und schlugen ihre Bogen. Die Dunkelheit senkte sich schnell nieder, und als sie auf der ganz weißen und ziemlich verlassenen Bahn anlangten, blinkten vom Lande her schon die Straßenlaternen, und an den Häusern schimmerten die Fenster. Draußen über dem Eise lag es diesig, die Ufer waren schwarze Haufen, und der Himmel trieb voll graugrüner Wolken. Leise 38 Schneeflocken schwebten umher und setzten sich in Annas Barett und in ihrem kleinen Pelzkragen fest. Und wenn ein Flöckchen ihr auf die Nase fiel, pustete sie es munter weg. Das sah Körting gern. Er schnallte ihr die Schlittschuhe ab, sprang aus den seinen, und sie gingen, als ob sich das von selbst verstände, mit einander heimwärts durch die stillen Gassen. Die Kniee sangen ihnen, die angenehme Ermattung ihrer Glieder ließ sie wohlig dahinschlendern. In den Ohren tönte ihnen noch immer das Klirren der Eisen, das Krachen des Eises, der Gesang der Fischer, das Tuh tuh des Dampfers. Ihre Augen ruhten in dem gedämpften Lichte von dem Glitzern und von dem Weißen aus. Sie fühlten traulich zueinander und gingen eng, fast Schulter an Schulter. Er trug ihre Schlittschuhe, und die klangen manchmal gegen seine eigenen. Bei der Bewegung war alles in ihnen angespannt gewesen, jetzt sank die Spannung ab, und sie überließen sich der Schlaffheit.

Zuerst sprachen sie kaum. Dann sagte er auf einmal: »Sind Sie immer bloß hier in Koggenstedt gewesen, Fräulein Behm?« – »Ja,« war die Antwort. »Leider. Ich möchte gern mal hinaus. Etwas anderes sehen. Aber ich muß wohl hier bleiben. Wer soll das zu Haus alles thun? Mutter sitzt im Laden, und Mädchen halten können wir uns nicht. Ich bin eben das Mädchen.« – »Sie würden aber sicher viel Genuß haben, wenn Sie in andere Luft 39 kämen.« – »Gewiß,« sagte Anna, »und arbeiten wollt' ich auch mit Wonne dafür. Es fragt sich nur, was? Das Lehrerinnenexamen hab' ich nicht gemacht. Nur schneidern hab' ich gelernt. Und als Stütze . . .« – »Ach, das Elend!« – »Ja, das sag' ich auch. Darum bleib' ich lieber hier. Aber ich träume oft davon, wie schön es sein muß, wenn man andere Gesichter und andere Häuser sieht. Man lernt viel und merkt sich etwas und wird überhaupt weiter in seinen Ansichten. Mehr als davon zu träumen giebt es für mich nur nicht. Höchstens könnt' ich auf ein paar Wochen nach Kopenhagen. Da stammt Mutter her, und die hat dort noch irgend einen Verwandten. Aber der wohnt im Keller und hat sieben Gören. Für das Logis dank' ich.«

Sie sprach offen. Ihr war das natürlich, und sie dachte sich nichts dabei, er jedoch fühlte etwas wie Bewunderung für das junge Mädchen, das gar kein Hehl aus seinen Verhältnissen machte. Die paßt nicht hin, wo sie ist, dachte er. Das wollte er nicht aussprechen, aber etwas Ähnliches mußte er ihr andeuten, und darum sagte er laut und entschieden: »Nein, wahrhaftig, in einen Keller gehören sie nicht hinein. Da würden Sie ersticken.« – Das Wort wirkte heftig auf Anna. Es war, als ob sie den Sinn begriff. Ihr enges Haus stand plötzlich vor ihr. War das nicht ein Keller? Mußte sie nicht fürchten zu ersticken? Sie holte dreimal tiefer Atem. – »Ich fühle wohl,« spann Körting seinen Faden weiter, »man versauert 40 und versimpelt leicht in diesem Koggenstedt. Sie sprechen hier bloß über Zigarren und Pflastersteine. Die Welt fließt da draußen, und man sitzt auf der Abseite. Ich bin ja eben so gebunden wie Sie. Ich warte, bis mein Onkel Sanitätsrat die Praxis aufgiebt, dann komm' ich in eine feine Landkundschaft hinein und hab' eine Existenz. Also aushalten, Fräulein Behm!« – Ihrer beider Schicksal schien ihm einen Augenblick gleich, und es bereitete ihm Freude, daß er dasselbe zu leiden hatte wie sie. Das zog ihn noch mehr zu ihr hin, das war etwas Gemeinsames zwischen ihnen. Es mußte sie gewiß trösten, wenn sie sah, daß auch er nicht fortkonnte. Sein Schritt ward munterer, kräftiger, er raffte Anna mit auf, daß sie die leichte Trübung, die ihr auf der Stirn dicht über den Augenbrauen saß, wegschüttelte. Ein Hauch des Gemeinsamkeitsgefühles, das ihn beseelte, schwebte auf sie hin, ihr däuchte, als hätte sie ihn längst gekannt, als wäre er ihr Freund, mit dem sie alles bereden konnte. – »Haben Sie keinen Umgang hier, Herr Doktor?« fragte sie. – »Das bißchen. Und alles nur Formsache. Die Männer verkehren am liebsten in der Kneipe (wie Bernhard, dachte Anna) und die Damen« er zuckte die Achseln – »die sind alle gleich so . . . so standesamtlich aufgelegt. Mit zwei Patienten kann ich doch nicht heiraten, und Onkel ist noch bei vortrefflicher Muskulatur. Na, ich würde auch keine von denen nehmen. Meine Frau . . . das muß ein ideales Weib sein!«

41 Das sagte er in einem Tone der Begeisterung, und es klang zugleich das Selbstvertrauen daraus hervor, daß er mit Recht ein ideales Weib für sich zu verlangen habe. Die Zuversicht drückte erst auf Anna, denn sie kam sich unwert vor im Vergleich zu der, die einst würdig sein sollte, ihren Begleiter zu heiraten. Aber es hob sie, daß er so von den anderen Mädchen sprach, die er kannte. Sie erschien ihm also wohl nicht standesamtlich aufgelegt. Das war sie ja auch nicht. Und etwas Verachtung hegte sie wider ihre Altersgenossinnen, die sich mit einem jungen Manne nicht ohne Nebenabsichten unterhielten. Sie dünkte sich kameradschaftlich mit Körting und blickte froh und stolz geradaus. – Körting fing von etwas anderem an: »Kommen Sie Sonntag Morgen wieder zu Eis, Fräulein Behm?« – »Nein, Sonntags morgens kann ich nicht. Da muß ich zur Kirche.« – »Gehen Sie jeden Sonntag zur Kirche?« – »Ja, das versteht sich doch von selbst. Gehen Sie nicht?« – Er schwieg erst. Dann meinte er: »Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand dort wirklich etwas findet.« – »Sie finden nichts da?« – »Hm. Und Sie sagten eben: ich muß zur Kirche. Gehen Sie denn nicht freiwillig?« – »Ja, freiwillig, natürlich. Das bin ich gewohnt seit meiner Konfirmation.« – »Aha, gewohnt.« – »O darüber muß man sich nicht lustig machen, Herr Doktor.« – »Das thu' ich auch nicht. Ich meine nur: Sie sind es gewohnt, zur Kirche zu gehen. Es ist nicht jedesmal ein 42 Herzensbedürfnis, was Sie hintreibt.« – »Das vielleicht nicht. Aber es ist meine Pflicht. Ich hab's doch bei meiner Konfirmation versprochen, daß ich recht fromm sein will.« – »Kann man nicht fromm sein, ohne zur Kirche zu gehen?« – »Nein, niemals!« rief Anna mit vollster Bestimmtheit. »Das sagte Pastor Borchert noch neulich: die Leute, die so sprächen, hätten gar keine Religion und keinen Glauben.« – »Daß Pastor Borchert so spricht, glaub' ich wohl.« – »Und da hat er gewiß recht.« – »Von seinem Standpunkt aus, ja.« – »Aber Sie denken anders, Herr Doktor, nicht?« – »Ja, allerdings.« – »O Herr Doktor,« sagte Anna und hatte Angst um eine verlorene Seele, »Sie werden doch nicht gottlos sein!« – Es rang etwas in ihr um sein Heil, weil er ihr lieb war. Es war dunkel. Ihr Schritt wurde hastig. Er blieb ruhig, und so kamen sie aus dem Gleichtakt im Gehen. – »Gottlos, Fräulein Behm? Nein, die Kinderkrankheit hab' ich hinter mir. Wenn einer sagt, ich bin ohne Gott, däucht mir das dasselbe, als wenn ein Fisch im Wasser sagen wollte: ich will nichts vom Wasser wissen, ich leugne, daß es Wasser giebt. Wir sind mitten in Gott, immer. Die Frage ist nur, wer sich Gott richtiger vorstellt, Pastor Borchert oder andere Leute.« – Anna war es unbegreiflich, wie jemand ihres Pastors Meinungen in Zweifel ziehen konnte. Das hatte sie noch nie erlebt, das konnte nur ein schlechter Mensch thun. Aber Körting war doch kein schlechter Mensch, ihr 43 Herz verteidigte ihn gegen diese Anklage. Sie hatte bisher immer gedacht, jemand, der nicht zur Kirche gehe, sei auf bösen Wegen, sodaß er auch bald ins Gefängnis kam. Von Körting konnte sie das nicht denken. Sie war des Zwiespalts voll und klammerte sich an die Autorität. – »Aber Pastor Borchert ist ja eben Pastor, der muß es wissen.« – »Weil er seine theologischen Examina gemacht hat? Sollte es wirklich ein so einfaches Mittel geben, um Gott zu erkennen? Dann würde ich noch heute anfangen, Theologie zu studieren. Das wäre wahrhaftig der Mühe wert.« – Als Pastor konnte sich Anna ihren Eisherrn nicht vorstellen. Es schien ihr fast komisch, wenn sie sich das ausmalte: »Sie und Pastor!« – Das Bild stimmte sie heiter und verdrängte die Unlust. Er ging rasch auf ihren scherzenden Ton ein, denn er wollte sie nicht verletzen, indem er weiter in die große Frage hineinschritt. – »Na, das wäre nicht übel, Fräulein Behm. In meine Kirche kämen jedenfalls ein paar Leute mehr, als in meine Sprechstunde. Ich wollte ihnen die Hölle schon heiß machen. Aber lieber bin ich doch schon Arzt. Da kann man auch oft den Seelsorger spielen. Gesunde Seele, gesunder Leib.« – Nun erschien ihr sein Beruf beinahe eben so schön wie der eines Geistlichen, und sie war mit ihm versöhnt. Ihre Schritte gingen wieder im Takt.

Sie kamen an P. C. Behms Haus. Anna blieb stehen. – »Ach so,« sagte er, der mit ihr gegangen war, ohne zu wissen, wo sie wohnte. – »Ja, hier 44 ist es.« – Sie langte nach ihren Schlittschuhen: »Vielen Dank, Herr Doktor.« – Sie reichte ihm die Hand, die er fest drückte. Er klappte die Hacken zusammen, zog die Pelzmütze tief und grüßte ehrerbietig. – »Auf Wiedersehen, Fräulein Behm.« – »Adieu, Herr Doktor.«

Schnell schwenkte er ab. Anna zog sich am Geländer die Steintreppe hinauf. Und als sie auf die vierte Stufe kam, warf sie einen Blick am Hause hinauf, das nur eben von der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand sie es klein und schmal. Nur der Laden und die Hausthür . . . das war die ganze Front. Die Luft, in die sie eintrat, war ihr dick nach der Frische da draußen. – Sie sagte der Mutter im Laden guten Abend und zog in ihrem Stübchen das Hauskleid an.

Der Abend verlief wie jeder Abend bei Behms. Nur daß sie heute alle vier zusammen aßen, weil Vater Behm nicht in den Jordan gegangen war. – »Ich hab' die Statuten fertig,« erzählte P. C. Behm und schmunzelte. »Nun können wir anfangen und den Klub gründen. Und denn geht es los.« – »Das thut ihr man, mein Pappa,« sagte Frau Bolette Behm gutmütig. – »Na?« fragte Bernhard und blinzelte Anna an, »du und der Dokter, ihr habt euch ja wohl mächtig unterhalten, wie? Er hat mich beim Dämmerschoppen gebeten, ich soll dich grüßen.« – Das war nicht wahr, aber er wollte sich wichtig 45 machen. – Anna dachte: was zieht er einen Dritten hinein? und erwiderte kurz: »Das hatte er gar nicht nötig.« – »Na, man nicht gleich patzig, Kleine, bös ist es nicht gemeint,« begütigte Bernhard, dem seine Lüge doch leid that. – »Warum soll er nicht und lassen dich grüßen?« meinte die Mutter. »Du bist ein gebildetes Mädchen. Er kann es wahrhaftig gut bekannt sein lassen und kennen dich.« – »Laßt doch,« wehrte Anna ab. Ihr kam es wie Entweihung vor, was die da hin und her redeten. Nach dem Essen wusch sie eilends auf und sagte gute Nacht. »Ich hab' Kopfschmerzen.« – Sie schloß sich in ihrem Stübchen ein, was sie sonst nie that. Und lange stand sie am Fenster. Der Himmel war sternenhell geworden. Das funkelte und glitzerte oben in dem tiefen Blau. Rein, klar war das alles, ruhig und hoch. Und ein Sehnen schwoll auf in der Brust des jungen Mädchens, ein Sehnen nach etwas, das sie nicht kannte und das sie doch hätte in die Arme schmiegen mögen, gern, o wonnig gern. Sie dachte an den Nachmittag, an das Dahingleiten über die glatte Weite, an die Schneesternchen, und sie hätte immer so auf stählernen Sohlen fliegen mögen, ins Freie, bis in den Himmel, zu den grüßenden Sternen, in die große Klarheit. Vieles drängte sich in ihr, vieles sah sie, aber sie hörte nur eines: das war der feste Ton, in dem Körting zu ihr sprach. Sie lauschte ihm und wiederholte alles, was er und sie selbst gesagt hatten. Das löste die Sehnsucht, das gab ein erleichterndes Gefühl 46 oben auf der Brust. Das machte ruhig. Sie legte sich zu Bett und dachte weiter, und ihre Eltern, ihren Bruder nannte sie bei sich: die da unten. Es lag Geringschätzendes in der Bezeichnung. Endlich entschlief sie.

Eine seine Wurzel hatte Fäserchen in einen kleinen Riß im Sandstein gesenkt. Die weißen, saftigen Fäserchen quollen.

* * *


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