Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Zweites Buch.

Mit verbindlichstem Dank zurück von Dr. med. Paul Körting,« stand auf der Karte zu lesen, die bei dem Chronikenbuch lag. Anna hatte das Paket geöffnet, und ihr wollten heiße Thränen aufsteigen, als sie die Worte sah. Aber sie drängte sie hinunter, stellte das Buch auf das Bort und nahm die Karte mit in ihr Stübchen. Da grübelte sie nach. Sie hatte den Bruch selbst gewollt. Wo sie schon tief empfand, schwärmte er nur und dachte an die Zukunft. Und die schien ihm als P. C. Behms Schwiegersohn nicht verlockend genug. So machte er Halt an ihrer Seite, sie aber war nicht etwa stehen geblieben, um ihn zu bitten: ach, geh' doch weiter, nein, sie hatte sich umgewandt und war nach Hause gegangen, nach dem Hause mit den schmalen steilen Treppen und den engen Zimmern. Sie freute sich in all ihrer Schwere, daß sie beim Abschiednehmen die Überlegene, die Größere gewesen war. Sie hatte ihm seine Freiheit wiedergegeben. Das war Gnade von ihr. Nur dies 154 Zusammentreffen mit Mutter und Bruder –, sie erglühte vor Scham, wenn die Erinnerung daran in ihr aufstieg, obschon sie wahrhaftig unschuldig war. Zuerst beabsichtigte sie, Körting zu schreiben, daß ihre Angehörigen oft gegen Abend diesen Weg machten, aber dann ward sie bitter: wenn er ihr mißtraute, hatten sie eben nichts mitsammen gemein gehabt, und es war ein Glück, daß ihre Trennung rechtzeitig erfolgte. Wozu sich verteidigen? Dessen war sein Verdacht nicht wert. Es war aus. »Mit verbindlichstem Dank zurück . . .« – Und wer hatte eigentlich die Schuld an dem Ganzen? Sie war böse, sehr böse auf die Ihrigen gewesen. Aber hatten die in Wirklichkeit etwas Unrechtes gethan? Konnten sie dafür, daß sie schlichte Leute waren? Handelten sie nicht nach ihrer Pflicht, wenn sie darauf hinarbeiteten, es zu einer regelrechten Verlobung zu bringen? Mochten sie es ungeschickt anfangen: ihre Ehrlichkeit hätte Körting achten müssen. Gerecht mußte und wollte sie sein, und nachdem der erste Schmerz vorüber war, that es ihr herzlich leid, heftig gegen Eltern und Bruder geworden zu sein. Ihr Streben war daher, alles nach Kräften wieder gut zu machen und ihrer Familie wieder mit Leib und Seele anzugehören. Sie flüchtete zu den Ihren. Denn wen und was besaß sie sonst? Einsam war sie, enttäuscht und betrogen, und deshalb schmiegte sie sich nun an alles an, was ihr Heim ausmachte; selbst gegen Mies, die sie vordem wenig beachtete, war sie freundlich. Ihrem Vater sah sie seine kleinen Wunderlichkeiten nach und 155 ließ sich geduldig Stücke aus dem langen Brief an den Kaiser vorlesen, ihrem Bruder gönnte sie seine Abende im Wirtshaus und nahm es für wichtig, was er klagend oder renommierend aus seinem Postberuf erzählte, und ihrer Mutter ging sie eifriger denn je zur Hand. Frau Bolette Behm mochte anfangs gar nicht im Laden sitzen, als das mit ihrer Tochter passiert war, denn Minna von gerade schrägüber vor und die anderen, die ihre Haarnadeln, Strickwolle und Korsettbänder in dem kleinen Laden kauften, hatten verfänglich lächelnd neugierige Fragen gethan, unter denen die zaghafte Frau litt. Da setzte sich Anna mutig anstatt der Mutter hinter die Theke und bediente, bis die liebe Welt in der Peterstraße mit einem anderen Menschenpaare beschäftigt war. Sie schaute den Leuten klar und frei in die Augen, daß die wohl fühlten, sie habe sich nichts vorzuwerfen. Dadurch wurde es still über sie und Körting.

Ihn, der ihr so weh gethan hatte, sah sie nur selten, mied ihn aber keineswegs. Wenn sie einander trafen, zog er den Hut tief und ehrfurchtsvoll, und sie grüßte wohlerzogen. Ihre Blicke streiften sich nur, als seien sie einander kaum bekannt. Dieses förmliche Wesen wirkte auf Annas Empfindungen zurück, sie wurde immer ruhiger, und es kam wieder Friede in sie und damit in die Familie P. C. Behm. Bernhard hatte zwar in der ersten Zeit mehrfach geäußert, er müsse im Grunde genommen Dr. Körting fordern und sich mit ihm schießen, aber Anna antwortete auf derlei 156 nichts als: »Das fehlte noch. Thut mir den einzigen Gefallen und redet keinen Ton mehr von der Geschichte. Die ist längst vergessen.« – Das sagte sie recht herb und kurz, und allen war es schließlich lieb, das Vergangene nicht mehr zu berühren. Ja, es wurde wieder einträchtig hinter der Lammel-lammel-Glocke, und Zufriedenheit blinkte aus den klargeputzten Fensterscheiben. – Nur bisweilen, wenn sie allein war, sprudelte es in Anna auf. Dann atmete sie schneller, sah ängstlich auf die Wände, die nahe um sie herum waren, als wollten sie sie erdrücken, dann sehnte sich etwas in ihr, und sie öffnete die Fenster, damit Luft herein kam. Weit, weit lag es hinter ihr, daß sie mit einem Menschen gegangen war, aus dessen Mund ganz andere Rede floß, als sie zu Hause hörte, weit lag es, daß sie freudig und begierig von ihm gelernt hatte, daß sie voll gewesen war von ihm. Und daß ihre Lippen je an anderen geruht hatten, war für sie ein Traum, ein Traum mit leisen, jungfräulichen Regungen, der ihr aber, so schön er sein mochte, doch nicht ganz erlaubt, nicht völlig rein erschien. Sie schloß die Augen und wandte den Kopf ab von dem Bilde mit den warmroten Farben. Sie war Anna Behm und hatte nichts mit irgend einem Manne. Sie wollte sich selbst genug sein.

Danach rang sie. Aber an einer Stelle fühlte sie sich leer, wie ruhig sie sonst auch wurde. Ihr Kinderglaube war dahin. Den hatte er mit sich genommen und ihr nicht zurückgegeben. Sie suchte, 157 ob sie nicht wieder einen Glauben finden könne. Aber sie fand nur Scherben, die nicht zu einander paßten, – sie gaben kein Ganzes. In ihrer Zeit mit Körting war sie kaum zur Kirche gegangen. Die Mutter hatte das oft leise bedauert, dem Vater war es ziemlich gleichgültig gewesen, und Bernhard lobte sie sogar: »Das moderne Weib,« sagte er, denn er hatte das aus dem Amt in der Probenummer einer neuen Frauenzeitung gelesen, »das moderne Weib muß sich aus den Fesseln der Kirche lösen.« – Anna sagte einfach: »Jeder muß selbst wissen, ob er zur Kirche gehen will oder nicht.« – Und weil sie da nichts mehr fand, blieb sie weg. Körting hatte unter den Wurzeln ihres Glaubens eine Höhlung gegraben, und als der Regen kam, der warme, befruchtende Regen ihrer Liebe zu ihm, wuschen sich die Wurzeln bloß, und ihre Glaube stürzte um. Das Gottvertrauen war von ihr gewichen über dem Menschenvertrauen. Das Mystische, in dem sie sich vordem wohl befand, war vertuscht worden von etwas, das sie Klarheit nannte und das ihr doch, ohne daß sie es ahnte, viel unklarer war als ihr einstiger harmloser Gottesglaube. So war sie fremd geworden mit Gott, jetzt aber, wo die Menschenliebe sie im Stiche ließ, stand sie ratlos und ernüchtert da. Was war nun wahr? An irgend etwas mußte sie glauben, irgendwo mußte sie eine Stütze haben für ihr Gefühlsleben, und in dieser Sehnsucht nach innerer Befriedigung, nach einem Halt, nach etwas Hohem gedachte sie wieder Gottes, der ihr 158 unzertrennlich war mit der Kirche. Ja, sie wollte wieder zur Kirche, sie wollte wieder das gläubige Kind werden! So versäumte sie keine Predigt bei Pastor Borchert, trank ihm mit Aug' und Ohr die Worte von den Lippen und ging ihm mit Eifer nach, wie er sie führte. Es war ihr ein Genuß, wenn er davon sprach, daß der Mensch zum Dulden und Schweigen geboren sei und daß hienieden alles eitel wäre, daß man leiden müsse, ohne zu klagen, und daß es nur einen festen Hort, nur einen Tröster und Versöhner gäbe für all unsere Wirrnisse, Leiden und Verfehlungen: den lieben Herrn Jesus, sitzend zur Rechten Gottes des Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten. Annas Seele schwankte freilich doch, wie gern sie immer solche Worte vernahm. Denn so wie ehedem konnte sie das nicht mehr in sich aufnehmen, sie mußte darüber nachdenken, sie faßte es mit dem Verstande an, was sie früher nur mit dem Gemüt umfangen hatte. Und sie folgerte: als du dich abwandtest vom Heiland und dein Glück bei den Menschen suchtest, da hast du die Enttäuschung erfahren, daran kannst du also sehen, wie sträflich das war, was jener dich lehrte. Pastor Borchert muß wohl recht haben. So schob sie ihre Gedanken mit Gewalt wieder zur Kirchenthür hinein.

Einmal traf sie den Geistlichen auf der Straße. – »Nun, liebe Anna?« redete er sie freundlich an, »es freut mich, daß ich dich jetzt wieder in meiner Gemeinde sehe. Ich habe dich vermißt, aber ich 159 dachte: sie kommt schon wieder. Anna Behm ist allezeit ein gutes Mädchen gewesen. Was war 's denn?« – »Ach, Herr Pastor, das kann ich nicht sagen. Ich meinte, es sei nicht so, wie Sie es predigen.« – »Wie ich es predige?« Der Pastor schüttelte das Haupt. »Kind, habe ich sie denn gemacht, die Predigt vom Worte Gottes? So viel Ehre mußt du mir nicht anthun. Ich diene nur. Auch dir, liebe Anna. Und wenn du zweifelst, komm' zu mir. Dann sprechen wir mitsammen. Wer zweifelte nicht bisweilen? Aber Gottes linde Hand schiebt uns immer wieder zurecht, wenn wir 's nur ernst nehmen. Und eine Ernste bist du ja. Komm' zu mir, liebe Anna, schütte aus, was dein Herz bedrückt. Das wird dir wohl thun!« – In dieser Weise redete der gute Seelsorger zu ihr, ohne weiter zu forschen, und sie war ihm dankbar und suchte ihn auf. Sein Einfluß und die Bücher, die er ihr zu lesen gab, bewirkten, daß sie frömmer wurde als zuvor. Weil es aber kein einfältiger, ihr natürlicher Glaube mehr war, den sie nun hatte, begann sie unduldsam zu werden gegen die, die anders dachten als sie selbst. Sie bekam Bekehrungseifer, ging ins Missionskränzchen, zierte daheim die Stuben mit auf Stramin gestickten und eingerahmten Bibelsprüchen, und wenn sie das Wort Heiland sprach, klang es schwärmerisch. Auf die Art wandelte sie sich in wenigen Monaten um. Die frische Anna war in ihr nicht mehr zu erkennen. Sie trug sich mit Vorliebe in dunkleren Farben, sah auf der Straße keinen Mann 160 an und unterdrückte alles in sich, was von irdischer Liebe flüsterte, denn diese Liebe war Sünde, und sie wollte nur von himmlischer, heiliger Minne etwas wissen. Eines Tages sagte sie zu Pastor Borchert: »Ich möchte gern barmherzige Schwester werden, Herr Pastor.« – Der forschte in ihrem Gesicht. »Wissen deine Eltern schon von diesem Plan?« – »Nein. Ich habe noch nicht mit ihnen darüber sprechen können. Es wird mir in der letzten Zeit überhaupt schwer, ernste Dinge mit ihnen zu bereden. Sie sind doch ganz anders als wir.« – »Liebe Anna,« warnte der Geistliche, »da schaut Hochmut heraus. Den laß in dir nicht wurzeln. So lieb es mir ist, daß du nach der Gotteskindschaft ringst, – hüte dich davor, diejenigen gering zu achten, die vielleicht in der Heiligung viel weiter vorgeschritten sind als du und ich, obschon sie nicht Wesens davon machen.« – Anna senkte beschämt den Kopf. »So meinte ich es ja auch nicht, Herr Pastor.« – Aber er ließ sich nicht beirren. »Du giebst Eindrücken rasch nach, mein Kind. Du hast das, was man gemeiniglich die Kirche nennt, schnell fortgeworfen und später – die Ursache will ich gar nicht wissen – ebenso schnell wieder danach hingegriffen. Nun sehe ich und habe mein Bedenken dabei, daß du ins Asketische willst. Ob das deiner Natur entspricht, liebes Kind? Jedenfalls mußt du dich erst lange prüfen, ehe du an die Ausführung deines Planes gehst. Es gehört eine große, große 161 Selbstüberwindung und Charakterfestigkeit dazu, Schwester zu sein. Einstweilen kann dich deine gute Mutter wohl auch nicht entbehren.« –

Anna war verstimmt. Sie hatte gehofft, ihr Pastor werde sie loben und preisen ob ihres weltentfliehenden Entschlusses, und nun riet er selber ab? Riet ab, weil er an ihrer Beständigkeit zweifelte? Die Woche nach dem Gespräch war Anna Behm lange nicht so fromm wie sonst. Sie bestrafte den Pastor für sein Mißtrauen damit, daß sie weniger oft betete. Als aber Bernhard einmal sagte: »Ich weiß nicht, – wo man jetzt bei uns hinkiekt, liegen so 'ne alten schwarzen Bücher. Lies doch lieber was Vernünftiges,« da begehrte sie auf und erwiderte scharf: »Ich habe etwas gefunden, was höher ist denn alle Vernunft.« – »Oho!« ließ Bernhard sich vernehmen, und auch der alte Behm scheuerte sich unbehaglich an der Stuhllehne. – »Ja, ja,« meinte Frau Bolette Behm, »das ist alles gut und schön. Man bloß nicht zu viel davon, klein Anna. In Kopenhagen war mal ein junges Mädchen, Rigmor Sörensen hieß sie, die wurde so Gott verrückt von lauter Kirchengehen. Und nachher ging sie zu Wasser.« – »Die hat eben keine Charakterfestigkeit gehabt,« entgegnete Anna, der dies Wort von der Unterredung mit dem Pastor her immer mahnend im Ohr lag. »Wer die wahre Selbstüberwindung besitzt, den wird Gottes Wort nie verwirren.« – »Junge, Junge, der reinste Paster,« murmelte Bruder Bernhard. – Der Alte zog die 162 Augenbrauen hoch und paffte. Dann schielte er einen Augenblick zur Seite nach seiner Tochter hin und sprach bedächtig: »Ich bin sehr für das Ideale. Sehr. Dafür hab' ich ja unsern Klub gegründet. Aber dies, dies – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, – dies immerlos Fromme, das haben wir hier doch gar nicht nötig, mein' ich.« – Bernhard pflichtete ihm bei: »Nee, wahrhaftig nicht. Wir sind Menschen. Wir leben im neunzehnten Jahrhundert. Wer glaubt denn an all den Kram?« – Anna wurde herb: »Das ist eben das Schlimmste, daß keiner mehr glaubt, und daß alle über einen spotten, wenn man dem Heiland folgen will.« – »I bewahre, spotten,« wehrte der Vater ab. »Verspotten soll dich hier niemand. Aber früher warst du anders, und ich wollte . . .« – Er schwieg, Frau Behm indessen sprach in ihrer Schlichtheit das aus, was er eigentlich im Sinne hatte: »Du sollst nur erst einen tüchtigen, braven Mann haben, mein klein Deern, so giebt sich alles von selbst.« – »Stimmt auffallend,« sagte Bernhard. – Da war Anna gekränkt: »Ihr versteht mich nicht. Früher nicht und jetzt nicht. Ihr wollt bloß das Gewöhnliche, und ich will das Hohe. Das ist der Unterschied. Aber was nützt es, wenn wir uns darüber unterhalten? Wir kommen nicht zusammen.« – Sie ging auf ihre Stube, und weil sie wußte, daß die da unten es hören konnten, nahm sie ihr Gesangbuch und begann zu singen: »Ich will von meiner Missethat mich, Herr, zu dir bekehren . . .« 163 Der Widerspruch zu den Ihrigen bewirkte, daß sie ihrem Pastor die Kühle, mit der er sie behandelt hatte, vergab und wieder fromm ward.

* * *

Die Koggenstedtia hatte es sich gemütlich eingerichtet. Aller vierzehn Tage kamen die Mitglieder abends bei P. C. Behm zusammen und berieten mächtig. Das Bierbezahlen ging die Reihe um, und der Präsident las seinen Brief vor, der jetzt schon bis zum Jahre 1411 vorgerückt war, wo der große Ratsherrenmord in Koggenstedt passierte, für den nachher der Mörder, ein wilder Schustergeselle, und seine zwei Frauen gehenkt und gevierteilt wurden. Das hörten die Bundesgenossen gern, denn es war schön gruselig, und sie meinten: »Dunniweddi, nu is 't doch en ganzen Barg beeter in de Welt. Ratsherrn ward'n nu nich mehr afmurkst.« – »Na, na,« bemerkte Pfeifendrechsler Ahmsetter dagegen, »die Sozialdemokraten wollen das auch beinah.« – »Du tühnst, Ahmsetter,« warf Jaspersen mit de Moneten hin. »Die Sozis sünd gar nich so schlimm. Ich hab' 'ne ganze Menge Kundschaft von ihnen. Ich muß sie kennen. Bloß daß sie den Kaiser abschaffen wollen, das ist ja Kinderei. Aber sonst – sie haben lange nicht Unrecht. Der Mittelstand muß viel mehr verdienen. Die großen Brotfabriken nehmen einem alles vor der Nase weg.« – Auf die Fabriken waren 164 die Koggenstedtianer freilich alle böse. Die mußten rein vom Erdboden weggetilgt werden. – »Und wenn ich wieder wähl',« fuhr der Bäckermeister fort, »ich weiß nicht, ob ich denn nicht lieber den Gastwirt von den Sozis nehm' als unsern großspurigen Rentier.« – »Hm,« bemerkte Hannes mit'n scharpen Blick bedächtig, »aber die Roten wollen keine Kriegsschiffe bauen.« – »Na Gott, so schrecklich viele brauchen wir am Ende auch nicht,« sagte Buchbinder Maack mit aa und ck. – Damit hatte er aber den Präsidenten schwer getroffen. Der richtete sich auf und fragte: »So? Und wovon soll Koggenstedt denn Kriegshafen werden, wenn wir nicht immer mehr Schiffe kriegen?« – »Ja, das ist nun auch wieder wahr,« gab Maack zu und senkte beschämt den Kopf. – »Na, nu laß uns man unsern Pott spielen,« schlug Jaspersen vor, »so viel Politik strengt höllschen an.« – »Aber, lieben Freunde,« widersprach P. C. Behm, »wir sind hier doch, um für das deutsche Vaterland zu beraten. Ein Vergnügungsverein ist unsere Koggenstedtia wahrhaftig nicht. Meint ihr, ich sitz' zum Pläsier jede Nacht und schreib' an meinem Brief? Wenn ich ihn nicht mal in unsern Versammlungen vorlesen soll, hab' ich überhaupt keinen rechten Spaß mehr daran.« – Er war tief gekränkt, daß man seine Arbeit gering achtete und sie hinter den Schafskopf stellte. Die Brüder fühlten ein menschliches Rühren. – »Na, denn les' man vör, P. C., mach' es aber bloß nicht so lang,« meinte der Bäckermeister, »das wird ja ein ganzes Buch.« 165 – »Nicht wahr?« nickte P. C. Behm stolz. »Was denkt ihr wohl, wenn der Kaiser das in die Hand kriegt? Da bekommt er erst einen Begriff von Koggenstedt, sag' ich euch.«

Er holte eifrig sein umfangreiches Schriftstück her und las: »Es war aber allhier am 4. November des Jahres 1416 ein so arger Sturm und Wirbelwind, daß der Turm von Sankt Anscharius zur Erde geschleudert ward, als welcher ein kleines Kind, so mit einem Korbe ausgeschickt war, Eier zu holen, beinahe erschlagen hätte. Hat sich aber durch die Gnade Gottes das Wunder ereignet, daß selbigem Kindlein von dem Hahn des Turmes just nur der Korb vom Arme gerissen wurde, worauf denn die Eier auf die Straße rollten und zerschellten. Ist das Kind also mit dem bloßen Schrecken davongekommen. Hat aber sehr geweint und sich gefürchtet, es möchte wegen der zerschlagenen Eier von der Mutter gestrafet werden.« – »Na, davör kann so'n Fru doch ehr Lütt nich hauen,« warf Jaspersen ein. – »Ach,« meinte Maack, »die Frauensleut sind manchmal riesig unvernünftig. Da war 'ne Tante von meinem Onkel Gätje, 'ne geborene Mehding . . .« – »Nee, nu ward vorlest,« wehrte der Bäcker dem Redseligen. »Din Familiengeschichten kannst uns naher vertellen.« – P. C. Behm hub wieder an: »Und im Jahre 1420 ist ein harter Winter, kalter Majus und nasser Sommer gewesen und hat es erschrecklich gedonnert und geblitzet, auch ist sehr großer 166 Hagel gefallen, der das Korn im Felde verdorben. Also ist eine Teuerung über die gute Stadt gekommen und hat der Scheffel Roggen gegolten 5 Schilling, Gerste 3 Schilling und Hafer 2 Schilling. Sind einige Leute sogar Hungers gestorben. Hingegen ist das Jahr 1422 ein sehr billiges gewesen, sodaß der Scheffel Gerste hat gegolten nur 8, auch 9 Witten, Roggen 6 oder 7 Witten, Hafer 4 Witten. Hieraus ersehen Eure allerdurchlauchtigste Majestät schon, welch' ein wechselvolles Schicksal unserer getreuen Stadt Koggenstedt von jeher bereitet gewesen ist. Ich muß aber, um solches noch weiter zu belegen, ein paar fernere Thatsächlichkeiten und merkwürdige Begebenheiten nach alten Chronikabüchern hier anführen, wie sie sich zugetragen haben, damit Eure Majestät so recht erkennen, wie notwendig es ist, daß Koggenstedt Kriegshafen werde. Deshalb gehe ich zu dem Jahre 1433 über . . .« – »Dor blief nu man erst mal, P. C.,« bat Jaspersen mit de Moneten. »Nun haben wir für heute genug gearbeitet. Nu ran an den Schapfkopp. Allens mit Maßen und das Bier mit Seideln, is min Meenung.« – Die anderen stimmten ihm bei, P. C. Behm mußte sich fügen, und die Karten klappten. So strebten die wackeren Koggenstedtianer unverdrossen für das Wohl der Stadt. 167

* * *

Es stand in der Zeitung zu lesen, daß am nächsten Freitag Familienabend im Jünglingsverein wäre, mit Ansprache, gemeinschaftlichem Gesang, Vorträgen des Posaunenchores und lebensgroßen Lichtbildern aus der heiligen Geschichte. Dazu waren alle lieben Freunde und Gönner des Vereins herzlichst eingeladen. Der Eintritt kostete zwanzig Pfennige. Pastor Borchert war der Vorsitzende des Jünglingsvereins, und es war recht sein Steckenpferd die jungen Leute im christlichen Glauben, in Zucht und Ehrbarkeit und in der Furcht des Herrn zusammen zu halten, wenn das Leben mit den mannigfachen Versuchungen an sie herantrat. Anna war die treueste Besucherin der Familienabende, und meist ging Mutter mit, denn das Posaunenblasen klang schön, und man konnte bei Pastor Borcherts erbaulichen Worten nett stricken, was in der Kirche nicht anging. Und als sie lasen, daß es Freitag Lichtbilder gab, bekam der alte Behm auch Lust, zu Familienabend zu gehen. – »Ich muß sagen,« meinte er, »solche Zauberlaterne, womit man diese Bilder macht, die hab' ich mir immer gewünscht, schon von klein auf an. Aber mein Vater hat mir nie eine geschenkt, weil sie teuer waren. Na, wenn man älter wird, kauft man sich ja so was nicht. Da kommt es einem wie Spielerei vor. Aber die Bilder seh' ich gern. Ich denk' wohl, wir gehen zusammen.« – Bernhard hatte nicht recht Geld zu Bier mehr, weil es schon der achtzehnte war, und deshalb kam es ihm gelegen, einmal einen Abend billig 168 verbringen zu können. Die Lichtbilder lockten ihn ebenfalls. Die waren unterhaltsam. – »Nun,« fing er von oben herab an, denn er genierte sich gleichwohl, daß er in den Jünglingsverein gehen wollte, »schließlich mach' ich den Rummel auch noch mit. Ich stehe sonst natürlich auf völlig anderem Standpunkt als diese Mucker da. Was der Mensch nicht weiß, soll er auch nicht glauben, sagt Schiller oder Goethe oder irgend ein anderer von den berühmten Dichtern. Der gebildete Mensch braucht die Salbaderei nicht, und wenn man bei der Post ist, hat man überhaupt keine Zeit für all das Spintisieren. Da lernt man eben das Leben kennen, wie es ist, und nicht, wie es sein soll. Aber sie werden einen wohl nicht gleich bekehren wollen, wenn man sich mal zeigt. Und die Bilder zu den alten Sagen (er betonte das Wort Sagen und sah Anna dabei triumphierend an: siehst du, auf welcher Höhe ich wandle?) mögen am Ende interessant sein.« – »Das macht für uns alle achtzig Pfennige,« rechnete Behm, »aber man hat auch was dafür.« – Anna saß und hörte die Reden an und dachte: wenn sie bloß für die Unterhaltung hingehen, sollten sie lieber fort bleiben. Aber sie sagte nichts; sie wollte keinen Streit, der die Eltern und Bernhard vielleicht noch anderen Sinnes machen konnte, denn Pastor Borchert freute sich gewiß sehr, wenn sie alle vier kamen. Sie schwieg, und da Bruder Bernhard keinen Widerspruch hörte, hatte er auch keine Gelegenheit, 169 sich noch weiter als aufgeklärten Menschen zu erweisen. Es war abgemacht: sie gingen Freitag miteinander.

Im Familienabend war es schön. Viele Leute saßen da in dem großen Saal, an dessen einem Ende eine Bühne war. Die Männer hatten ein Glas Bier vor sich und rauchten in aller Gemütlichkeit, und die Frauen tranken mit kleinen Schlucken ihre Tasse Kaffee und aßen mitgebrachte Stuten dazu. Dazwischen wurde zu der Posaunenbegleitung, die von der Bühne herab schallte, ein frommes Lied gesungen. Dann trat Pastor Borchert an das Rednerpult in der Ecke links von der Bühne und hielt eine erbauliche Ansprache darüber, wie schlecht die Menschheit sei und daß alle Zeichen für den nahen Weltuntergang da wären. »Ja, meine Lieben,« sagte er im Verlaufe seiner Rede, »wenn wir, die wir die felsenfeste Gewißheit der heiligen Schrift als des untrüglichen Wortes des lebendigen Gottes besitzen, wenn wir lesen die Weissagungen des Propheten Daniel im zweiten und siebenten Kapitel und die Offenbarung Johannis, Kapitel sechs, so müssen wir erkennen, daß bald die Zeit erfüllet ist, wo Krieg, Hunger, Seuche und Pest die Welt verderben werden. Und aus diesem Kriegeswirrwarr wird sich erheben und alle Gewalt an sich reißen das Kind des Endes, das Tier des Abgrundes, der Antichrist, welcher sagt, ich bin Gott, es giebt keine höhere Macht, keine jenseitige Welt, betet mich an, und denen, die ihm zufallen – und derer ist die Mehrzahl – verstattet 170 er ein Leben ungezügelter Sinnlichkeit, wie es Offenbarung Johannis Kapitel dreizehn näher ausgeführt wird. Ja, meine Lieben in Christo, die beiden charakteristischen Zeichen der Endgeschichte werden sein: erstlich der sittliche Zerfall der Welt, und der andere Zug der Endgeschichte wird die große Trübsal, eine Trübsal ohne gleichen sein, ausgedehnt über die ganze Erde. Es werden die beiden Heerlager Glaube und Unglaube in ihrer krassesten Gestalt, gleichsam ausgeschäumt von dem wildbewegten Völkermeer, den Kampf an der Oberfläche offensichtlich führen. Wenn dann die einen höhnend und spottend zum Himmel blicken, die andern sehnsüchtig bittend anhalten: »Komm', Herr Jesu,« dann plötzlich wird des Menschen Sohn wiederkommen zum Weltgericht, empfangen von den ersten mit Heulen und Zähneknirschen, weil er doch lebt, den sie tot wähnten, von den andern mit Thränenströmen freudigsten Dankes. Und fragen Sie mich nun,« so schloß der gute Pastor Borchert seine Ansprache, »in welcher Zeit befinden wir uns denn jetzt? so antworte ich: Nach meinem Dafürhalten, ich bin aber kein Prophet, leben wir in dem letzten Stadium vor der Endgeschichte. Alle Anzeichen der Zeit deuten darauf hin. Doch sei es, wie es sei, ob wir nun oder unsere Kinder sie erleben; achten wir nicht auf die Sirenenstimmen, die uns umschwirren, sondern nehmen wir die Güter, die das Wort unseres Gottes uns vermittelt, die Freiheit, den Frieden, die Wahrheit, die Hoffnung, damit auch wir einst mit 171 stürzenden Freudenthränen ihn begrüßen, an den wir hier geglaubt. Dazu verhelfe uns Gott durch Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn und Heiland. Amen.«

Der alte Behm war betroffen über diese traurigen Prophezeiungen. Was sollte aus dem Koggenstedter Kriegshafen werden, wenn die Welt bald unterging? Frau Behm weinte. Sie gab Pastor Borchert recht. Die Menschen waren gar zu schlecht. Was hatten sie alles über Anna und Doktor Körting zusammengeklatscht. Bernhard sah mit der Miene des Weltweisen drein. Er glaubte nicht an das, was der Geistliche sagte. Nach seiner Überzeugung war die Welt nicht schlechter, sondern besser geworden. Früher hatte ein Brief nach Hamburg vier Schilling gekostet, und jetzt? Für zehn Pfennige konnte man überall hinschreiben in ganz Deutschland und ganz Österreich-Ungarn. Das war ein Beweis dafür, daß wir uns im Stadium der Höherentwickelung befanden, wie Oberlehrer Mante neulich am Stammtisch gesagt hatte. Aber die Pasters mußten ja Trübsal blasen, das erkannte Bernhard voll an. Dafür wurden sie bezahlt. Auf Anna hatte die Ansprache einen tiefen Eindruck gemacht. Die Enttäuschung, die ihr im Herzen saß, machte sie empfänglich für die Gedanken des Untergehens und des Sterbens, und sie dachte sich das Weltende im Grunde ganz nett. Bloß verbrennen wollte sie nicht gern, – überhaupt: weh thun durfte es nicht. – Am Honoratiorentisch, in der Mitte 172 des Saales, saßen die alten kleinen Koggenstedter Lehrerinnen. Die vertrauten felsenfest auf alles, was ihr guter Hirte sagte, und knütteten mit aller Gewalt an ihren Strümpfen und Unterjacken, denn die sollten noch fertig werden, ehe das Weltgericht kam. Sie hatten ein ruhiges Gewissen. Sie waren immer brav gewesen und fleißig zur Kirche gegangen, und Gotteslästerung und Schlechtigkeit waren ihnen Zeit ihres Lebens unmögliche Dinge. So wollten sie fröhlich mit ihrem lieben Pastor in die schöne Ewigkeit gehen und oben im Himmel wieder an Familienabenden um ihn herum sitzen und knütten, ein geistlich Lied singen und dabei Theekuchen in süßen Kaffee stippen. Das war gewiß noch viel herrlicher als hier unten in Koggenstedt, wo der Magistrat immer so wenig Pension bezahlen wollte.

Pastor Borchert hatte sich nach seiner Rede ein bißchen gestärkt und ein paar freundliche Worte mit diesem und jenem gewechselt. Nun trat er wieder auf die Bühne und sagte: »Lasset uns nun, meine Lieben, das köstliche alte Lied gemeinsam singen, das uns Johann Matthäus Meyfahrt gedichtet hat: Jerusalem, du hochgebaute Stadt. Den Text kennen wir wohl alle, und die Melodie auch.« – Die kleinen Lehrerinnen nickten ja ja ja, Herr Pastor! – Und der Posaunenchor begann gar mächtig: Jeh–rusaalem, du hochgebaute Stadt, – weil aber die lieben Posaunenjünglinge, ob sie schon alle einem und demselben Jünglingsverein angehörten, doch jeder für sich 173 seinen eigenen Christenglauben hatte, so hatten sie auch jeder seine eigene Melodie, und wenn der eine die Posaune lang auszog, schob der andere sie gerade kurz zusammen, und dann stimmte es ja nicht allemal, wie es wohl sollte. Aber man konnte die Melodie im großen und ganzen erkennen, und Pastor Borchert, der den Taktstock mit feierlichen Bewegungen führte, als wenn er eine Leiche erster Klasse einsegnete, sang zugleich laut dazu, daß die Posaunen eigentlich kaum nötig gewesen wären. Die Männer nahmen einen Schluck Bier, thaten einen Zug aus der Zigarre und brummelten: »Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat und ist nicht mehr bei mir.« Den alten Lehrerinnen liefen bei diesem ihrem Lieblingsliede die Thränen über die mageren Backen. Was waren das für herrliche Worte, wenn man singen konnte: ». . . thu auf die Gnadenpfort'! Wie große Zeit hat mich verlangt nach dir, eh' ich bin kommen fort aus jenem bösen Leben, aus jener Nichtigkeit . . .« und ferner: »Wenn dann zuletzt ich angelanget bin im schönen Paradeis, von höchster Freud' erfüllet wird der Sinn, der Mund von Lob und Preis! . . .« Ja, im himmlischen Jerusalem wurde man gewiß wieder jung, und vielleicht, ach Gott! vielleicht bekam man da sogar eine liebe Seele, die man so recht sein eigen nennen konnte. Wie sehnten sie sich nach Jeh–rusaalem, die lieben, kleinen, alten Lehrerinnen.

Bernhard sang nicht mit, dazu stand er geistig zu hoch über der Menge. Aber er besaß Taktgefühl und 174 trank deshalb während des ganzen Liedes keinen Schluck Bier, obgleich er Durst hatte, und die Zigarre ließ er ausgehen, trotzdem er wußte, daß sie nachher, wenn er sie neu anzündete, nicht mehr so gut schmecken würde. Er empfand es sogar peinlich, daß die Kellner bei dem frommen Lied hin und her liefen und der Wirt klapp klapp ein frisches Faß ansteckte, und er sagte zweimal: »Sch! Sch!« – Mehr konnte er wahrhaftig nicht thun, um dem Volke die Religion zu erhalten. Vater Behm saß still und fand das Lied erhebend. Anna sang inbrünstig, den Blick zur Decke gerichtet, die Hände schlaff im Schoß. Frau Behm strickte und nippte und summte dazwischen leise mit, – sie kannte die Worte nicht recht und hörte auch lieber zu. Wie brauste das, wenn die Posaunen alle zusammen losbliesen! – ». . . mit hunderttausend Zungen, mit Stimmen noch viel mehr, wie von Anfang gesungen des Himmels selig Heer!« . . . Da war das Lied zu Ende, und die Posaunen schwiegen. Pastor Borchert aber sagte, nachdem er sich die Tropfen von der Stirn gewischt hatte: »Ja, meine lieben Freunde, und nun wollen wir uns an den schönen Bildern aus der heiligen Geschichte erlaben. Unser lieber Freund Schelius, der zu Gottes Ehre eifrig für unsern Verein wirkt, hat sie uns besorgt und wird gewiß alles aufs beste einrichten. Die Textstellen aus der heiligen Schrift, die sich auf die Bilder beziehen, verlese ich und sage auch, welchen Vers wir jedesmal singen.« – Er trat von der Bühne herab, und 175 allsogleich erhob sich an einem Tische im Saal ein langer, hagerer junger Mann, der in Schwarz gekleidet war. Er lächelte die Versammlung an, wobei sich sein blasses, bartloses Gesicht in viele freundliche Falten legte, und strich sich mit den Händen links und rechts vom Mittelscheitel das graublonde Haar glatt um die Schläfen. Sein Hals, der weit aus dem Kragen hervorsah, war immer in Bewegung, so oft mußte er den lieben Freunden zunicken, indem er mit den Armen vorwärts ruderte, um zur Bühne zu gelangen.

Da bereitete er mit Hilfe von ein paar anderen Jünglingen sein Werk vor. Ein großer Rahmen mit darüber gespannter Leinwand wurde vorn auf der Rampe aufgestellt, und dahinter arbeitete man geschäftig.

Pßßß–ßßt! sagte es plötzlich, und auf der Leinwand ward ein heller Kreis sichtbar. »Düster maken!« rief eine Stimme im Saal. Das war Peter Krellenberg, der arbeitete auf der Gasanstalt und wußte deshalb mit solchen Sachen Bescheid. Die Kellner drehten das Licht aus, und es blieben nur zwei kleine Flammen brennen, eine an der Seite der Bühne, damit Pastor Borchert die heilige Schrift lesen konnte, und eine am Buffet, wo das Wasser für Pastor Borcherts Weingrog mit Rum brodelte. Dann ging es los, und alle sahen gespannt auf den hellen Kreis an der Leinwand. Pßßß–ßt sagte es noch ein paar Mal. Zuerst erschien der Stall von Bethlehem 176 mit der heiligen Mutter, die das Christus-Kindlein auf dem Schoß hielt, und mit dem guten Vater Joseph und den drei Weisen aus dem Morgenlande und den Englein und den Hirten und den Öchslein, den Eselchen und den treuen Schafen. Das war alles schön zu sehen, bloß daß es auf dem Kopf stand, denn der liebe Schelius hatte die Platte verkehrt in den Apparat gesteckt. – »Ümdreihn!« rief Peter Krellenberg, der sich auf derlei Lichtsachen trefflich verstand. – »Ja ja ja,« sagte Pastor Borchert ganz beunruhigt. Es war fast eine Profanation, wenn man die heilige Geschichte auf die Art auf den Kopf stellte. – »Ach so, jawohl,« flüsterte Schelius hinter dem Schirm und steckte das Bild richtig hinein, und alle Familienabendteilnehmer blickten ehrfürchtig auf die heilige Geburt. – Pastor Borchert verlas das Weihnachtsevangelium: »Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzet würde. Und diese Schätzung war die allererste . . . alsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobeten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!« – Darauf wurde, nachdem Pastor Borchert zur Vorsicht den Text vorgesprochen hatte, der erste und zweite Vers von dem prächtigen Gesange: »Vom Himmel hoch, da komm' ich her« gesungen. Ja, das war erbaulich und erquicksam für ein jegliches Gemüt. Bild auf Bild leuchtete an dem 177 Schirm auf, und zu jedem Bilde vernahmen sie das Evangelium, und hinterher sangen sie ein passendes geistliches Lied. Die alten kleinen Lehrerinnen wußten sich nicht zu entsinnen, daß sie je einen so herrlichen Jünglingsvereinsfamilienabend erlebt hatten, und wisperten einander zu: »Ja, Schelius . . . Schelius, der kann so etwas. Schelius ist eine große Stütze.«

Als das letzte Bild erloschen, das letzte Lied verklungen war, rief Peter Krellenberg von der Gasanstalt wieder: »Licht – an!« – Es wurde hell gemacht im Saale, man räumte Schirm und Apparat beiseit, Pastor Borchert bekam ein recht warmes Glas Weingrog mit Rum, und die Posaunenjünglinge klommen wieder auf die Bühne und posaunten.

Schelius kam, nachdem er seine Sachen ordentlich verpackt hatte, lächelnd und nickend in den Saal. Er fand aber seinen Stuhl von einem kurzsichtigen alten Herrn besetzt, der vom eigenen Platze aus nicht recht hatte sehen können. Der wollte aufstehen, Schelius jedoch breitete wie segnend seine großen, ziemlich roten Hände aus und sagte: »O bitte, bitte, – ich finde schon.« – Er sah sich um und fand, daß an dem Tisch, wo Behms saßen, neben Anna, ein Stuhl frei war. – »Wenn Sie gütigst gestatten,« flüsterte er und lächelte mit einem Rundblick alle Familienglieder an. Bernhard erhob sich halb und lud ihn mit einer Handbewegung ein, P. C. Behm machte eine Art Verbeugung vom Sitz aus, Frau Behm duckte zusammen, als wollte sie einen Knix 178 machen, und Anna neigte eben den Kopf. – Schelius saß nun bei dem jungen Mädchen und bemerkte mit einem abermaligen Rundblick: »Ich heiße Schelius.« – »Angenehm,« entgegnete Bernhard, »Behm mein Name, Postassistent. Mein Herr Vater, Kaufmann Behm, seine Frau Gemahlin, mein Fräulein Schwester.« – Das war die Vorstellung. Schelius wand den Hals nach allen Richtungen hin, besonders anmutig jedoch war die Biegung, die er zu Anna machte. Und Bernhard dachte bei sich: Das ist nun einerlei, – so dies Vorstellen, das kann ich doch. Gentlemanlikemang. Es ist nicht leicht, sich den nötigen Schliff anzueignen. Er erhob sein Glas und trank Herrn Schelius zu: »Erlaube mir Spezielles für ganz vorzügliche Lichtbilder.« – »O bitte bitte bitte danke sehr,« dienerte Schelius und ließ sich schnell Bier bringen, um nachkommen zu können. Dazu trank er einen kleinen Kognak und meinte entschuldigend. »Man wird warm bei diesen Lichtbildern, und ich erkälte mich leicht.« – Er goß den Kognak mit einem wuppdig hinunter, und sein Adamsapfel glitt ihm im Halse auf und ab, als ob er lustig würde von dem dunkelgelben Trank. Darauf fuhr Schelius, zu Anna gewandt, fort: »Ich trinke sonst nie Spiritösen, im Alkohol sitzt ein wahrer Teufel, und den sollen wir meiden.« – Er hatte eine leise, langsame, feierliche Sprechweise, seine Stimme war etwas heiser. Anna nickte. – »Für das Geld,« sagte er weiter, »das andere für die schädlichen Getränke brauchen, 179 kaufe ich mir lieber ein schönes Buch. Das sind Güter, die den inneren Menschen fördern.« – »Ja,« stimmte Anna zu. – »Aber es kommt doch vor, daß man einmal eine Kleinigkeit zu sich nehmen muß,« setzte Schelius seine Rede fort, »gewissermaßen als Medizin, um den Körper vor Krankheiten zu hüten. Denn wir sollen des Leibes warten. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.« – Anna nickte wieder. Bernhard mußte jetzt auch etwas sagen. »Jawohl,« begann er. »Gesundheit ist das halbe Leben. Und wissen Sie, wenn man anstrengenden Dienst hat, wie unsereins zum Beispiel, auf dem Amt, bei dem kolossalen Betrieb, denn muß man direkt sein gewisses Quantum Bier trinken. Sonst wird man flau.« – »So ist es, Herr Oberpostassistent,« entgegnete Schelius geschmeidig, »jeder Mensch hat das Recht auf Erholung. Dazu sind die Gottesgaben geschaffen, daß wir sie weise und mit Maß genießen. Ich weiß, was anstrengender Dienst ist, glauben Sie mir das. Ich bin stellvertretender Bureauvorsteher bei Rechtsanwalt Liedke. Früher war ich Kaufmann,« unterbrach er sich und sah P. C. Behm an, als wolle er dem eine Schmeichelei sagen, »aber das Juristische zog mich von jeher an. Leider konnte ich nicht studieren, weil mein Vater mir zu früh genommen wurde. Meine liebe Mutter hat mich leider auch schon verlassen,« wandte er sich zu Frau Behm, auf daß sie ihn bemitleiden sollte, »und so stehe ich allein auf dieser Welt.« – Er 180 faltete die Hände und sah mit schiefem Kopf in sein Bierglas. – »Ja, ja, so geht es manchmal,« meinte P. C. Behm. Seine Frau fühlte Rührung und fragte: »Haben Sie denn sonst keine Verwandte mehr?« – »Nein,« antwortete Schelius, »ich habe mich ohne irgend jemanden durchringen müssen. Und Gott der Herr hat mir gnädig geholfen. Wenn man ein gefestigter Charakter ist, widersteht man leicht den Versuchungen, die an einen herantreten.« – Anna schaute ihn prüfend an. Einen Augenblick durchzuckte es sie, ob er wohl prahle, und sein Gesicht fand sie nicht gerade hübsch. Aber man sollte nie etwas auf das Äußere geben, um danach einen Menschen zu beurteilen, schalt sie sich, – und wenn er fühlte, daß er ein gefestigter Charakter war, mußte sie ihm das glauben und ihn dafür achten. Bernhard war die Moralpaukerei, wie er es nannte, nicht behaglich. Er rückte auf seinem Stuhl umher. Das merkte Schelius und beeilte sich, auch auf den Herrn Postassistenten einen günstigen Eindruck zu machen: »Natürlich bin ich der Lebensfreude nicht abgeneigt. Im Gegenteil. Ich meine sogar, daß jeder junge Mensch sich gewissermaßen ein bißchen austoben muß. Aber selbstverständlich darf dies nur in streng christlichem Wandel geschehen. Man hat hier in Koggenstedt leider nur wenig Gelegenheit, mit wahrhaft gebildeten Menschen zu verkehren. Das entbehre ich sehr.« – »Das ist es eben,« pflichtete ihm Bernhard lebhaft bei, »aber wissen Sie, ich habe 181 doch einen ganz netten Kreis gefunden. Wenn ich Sie vielleicht an unserm Stammtisch einführen darf? Da kommt sozusagen alles, was ein bißchen was Besseres ist, zusammen.« – Es that ihm wohl, den Protektor spielen zu können. – »Sehr gütig, sehr gütig, Herr Oberpostassistent,« dankte ihm Schelius. »Wenn es meine Zeit erlaubt, komme ich gern. Ich habe freilich in meinen freien Stunden viel für den Jünglingsverein zu thun, und ich thu' es gern, wenn ich auch manchmal Undank ernte. Man müht sich eben nicht für äußere Anerkennung ab.« – Damit traf er eine verwandte Saite in des Alten Seele. – »Ja, so ist es,« sagte P. C. Behm. »Wer für die Allgemeinheit arbeitet, der hat es oft schwer. Was hab' ich schon alles erleben müssen.« – »Oh, das bedaure ich von Herzen,« meinte Schelius.

Da wurde ihr Gespräch unterbrochen. Pastor Borchert hatte sein stärkendes Gläschen aus, man sang noch ein Lied, der Abend wurde mit einem herzlichen Segensspruche geschlossen, und die alten kleinen Lehrerinnen packten ihr Strickzeug zusammen. Alles ging befriedigt nach Hause. – Es traf sich aber, daß Schelius sich der Familie Behm anschloß und sie begleitete. Frau Behm und Anna gingen voran, und dahinter schritten in einer Reihe Bernhard, P. C. Behm und Schelius nebeneinander. Wenn sie an einer Straßenlaterne vorüberkamen, betrachtete Schelius die stattliche Gestalt des jungen Mädchens, das wurde jedoch niemand gewahr. Er redete immerzu 182 und allen zum Munde. Er lobte die Großartigkeit und Sicherheit des Postwesens, er verdammte die Warenhäuser, die dem kleinen Kaufmann den Verdienst wegnahmen, und als der Alte darauf zu sprechen kam, daß alles besser würde, wenn Koggenstedt erst Kriegshafen wäre, rief er begeistert: »Ja, das ist eine wahrhaft geniale Idee! Die ist Gold wert! Nein, Herr Behm, und darauf sind Sie gekommen?« – »Ja, ja,« schmunzelte der Alte, »nicht wahr? Das ist ein Gedanke!« – »Den müssen Sie durchführen,« sagte Schelius erregt, »das ist eine hohe Lebensaufgabe. Darauf wird Segen ruhen!« –

Als sie vor P. C. Behms Hause stehen blieben, fragte er: »So? Hier wohnen Sie? O die Firma kenn' ich. Ich habe mir schon oft Ihr Schaufenster besehen. Ich finde, es ist immer geschmackvoll dekoriert. Und Sie haben wirklich die neuesten Artikel. Ich verstehe mich darauf aus meiner früheren Praxis.« – Er nahm ehrerbietigen Abschied und bedankte sich, daß sie dem Jünglingsverein die Freude gemacht hätten hinzukommen, und daß er sie habe begleiten dürfen. – »Es war so anregend.«

Die Familie saß noch ein paar Minuten im Wohnzimmer. – »Ein netter Mann,« sagte Frau Behm. – »Er hat Verständnis,« meinte P. C. Behm mit Überzeugung. – »Bischen fromm, aber das giebt sich, wenn er in die richtigen Hände kommt,« urteilte Bernhard, dem der Oberpostassistent noch angenehm in den Ohren klang.

183 Und auch Anna hatte nichts gegen Herrn Schelius einzuwenden, weil er ja ein gefestigter Charakter war.

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